Alanlandhe - Mirko Steinkamp - E-Book

Alanlandhe E-Book

Mirko Steinkamp

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Beschreibung

Die freien Völker Alanlandhes stehen vor einer dunklen Bedrohung. Beunruhigende Neuigkeiten werfen ihre todbringenden Schatten voraus. Prinzessin Kastanéa muss schwerwiegende Entscheidungen treffen, um das Königreich Kasta-Nién zu verteidigen. Lilién, ihre Beraterin macht sich auf den Weg, um die weiße Herde davon zu überzeugen sich dem bevorstehenden Kampf anzuschließen. Unterwegs macht sie eine ungeahnte Entdeckung. Agariá, die Fee, Nimbi, der Wicht, Marinus, der Waldmeister, Attacus, der Sommervogel und Ester, die Melisse, begeben sich unterdessen auf eine gefährliche Reise. Doch wird es den freien Völkern schließlich gelingen das Unheil abzuwenden? Ihre einzige Chance ist Illu-Cail! Doch keiner weiß wo er sich aufhält. Alte Überlieferungen und Prophezeiungen scheinen dabei mehr Verwirrung als Klarheit zu schaffen. Und was hat es mit dem großen Greifen auf sich? Glaube und Zweifel, Freundschaft und Verlust. Dies alles treibt die Gefährten an nicht aufzugeben und sich ihren größten Ängsten zu stellen. Die Saga von Alanlandhe beginnt...

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Viele Jahre sind vergangen…

...in denen sich die Welt Alanlandhes immer mehr vor mir entfaltete. Ich durfte spannende Entdeckungen machen und habe so manch emotionale Achterbahnfahrt erlebt. Die abenteuerliche Reise ist noch längst nicht beendet, denn Alanlandhe birgt noch viel mehr Geheimnisse die es zu entdecken gilt.

Ich danke Kathrin, meiner Frau, für die unermüdliche Unterstützung und die unzähligen Ermutigungen, nicht aufzugeben und das Werk weiterzuführen. Mein Dank gilt auch Tanja Omenzetter für das Lektorat und den spannenden sowie inspirierenden Austausch.

Vor allen anderen danke ich Dir, Herr, der Du mir Inspiration, Kreativität und Durchhaltevermögen geschenkt hat. Es war ein wunderbares Erlebnis – genau wie Du – eine Welt zu erschaffen und zu erforschen.

Mirko Steinkamp

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In Liebe meinen beiden Töchtern gewidmet.

Corelia Elisabeth und Finola Fernande Johanna

»Dies ist die Geschichte Alanlandhes, niedergeschrieben im Buch der Meloden. Seine Verse geben Aufschluss über unser Leben, unsere Kriege und unser Schicksal. Es ist das Annuarium der freien Völker und ihrem Bündnis mit Illu-Cail. Prächtig ist Illu-Cail! Licht ist sein Kleid und Sturm sind seine Schwingen! Bewahret diese Chronik und überliefert sie zum Wohl künftiger Generationen!«

Maroneé

1. Prinzessin von Kasta-Nién

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Epilog

~ Prolog ~

Hinter ihm tönten die Musik und der schiefe Gesang der Wichte aus dem Gasthaus lange nach. Erst nachdem er einige Zeit gelaufen war, erschien ihm die ausgelassene Heiterkeit nur noch wie ein leises Rauschen in seinen Ohren und vermischte sich mit dem sanften Flüstern der Bäume.

Die Schritte fielen ihm schwer und Müdigkeit lag wie Blei auf seinen Beinen, nachdem er das rauschende Fest in der Schänke verlassen hatte. Es war spät geworden und er war sich nicht einmal sicher, wirklich auf dem richtigen Weg zu sein. Bei Nacht sah im Wald einfach alles gleich aus. Wobei es vielleicht weniger mit der Nacht selbst zu tun hatte, als mehr mit seinem übermäßigen Genuss des ausgezeichneten Bieres, das Vater Knusen, der Schankwirt, in höchster Vollendung zusammenbraute.

Es mochte inzwischen einige Zeit vergangen sein, nachdem er sich von der ausgelassenen Festgesellschaft verabschiedet hatte. Ihm kam es jedoch vor, als seien inzwischen Wochen verstrichen. Sie hatten kräftig gefeiert an diesem Abend. Anlass war die sechste Geburt im Hause Bâldir. Der stolze Vater hatte zu einem großen Fest eingeladen. Jede Menge Wichte waren gekommen und hatten auf den neugeborenen Sohn angestoßen. Zum Höhepunkt des Abends wurde ein großes Horn herumgereicht, welches bis zum Rand mit Bier gefüllt war. Es stammte von einem riesenhaften Nashornkäfer, der die Wichte in seiner Größe zuvor überragt hatte. Ausgehöhlt und mit dem Getränk versehen, ließ es sich mühsam, nur mit zwei Händen haltend, weiterreichen. Es war etwa so lang wie der Arm eines Wichtes und doppelt so breit. Jeder der geladenen Gäste nahm einen Schluck daraus, während der stolze Vater, der es in Umlauf brachte, zu guter Letzt den restlichen Inhalt komplett in einem Zug leeren musste. Da die meisten Wichte betont kleine und symbolische Schlucke aus dem Horn tranken, war es immer noch äußerst gut gefüllt, wenn es den Gastgeber zum Schluss wieder erreichte. Dieser leerte dann das Gefäß und rief, nachdem er es absetzte, »Auf den Nachwuchs aller Wichte! Er soll Wândik heißen!«

Mit der öffentlichen Bekanntgabe des Namens für das neugeborene Kind brach allgemeiner Jubel los und es wurde bis spät in die Nacht hinein musiziert und getanzt.

Ôltrir blieb abrupt stehen und sah auf die Weggabelung vor sich. Er überlegte einen Augenblick und schlug dann den linken Weg ein. Sicher war er sich mit seiner Entscheidung nicht, zu stark wirkte das Bier in seinem Kopf. Ein bisschen weniger wäre sicher mehr gewesen. Seine heftiger werdende Müdigkeit erschwerte den Heimweg zusätzlich. Immer weiter schleppte er sich dahin, als er plötzlich eine huschende Bewegung aus dem Augenwinkel heraus wahrnahm. Er drehte sich um und hielt mit übernächtigten Augen Ausschau. Weil nichts zu sehen war, wollte er sich gerade wieder in Bewegung setzen, als das Huschen erneut seine Aufmerksamkeit in Anspruch nahm – diesmal aus einer anderen Richtung. Er spähte angestrengt in die Nacht, um etwas erkennen zu können.

»Mein lieber Ôltrir, da bildest du dir schön etwas ein«, murmelte er mit einem Kopfschütteln zu sich selbst.

»Sieh zu, dass dich deine müden und alten Beine nach Hause bringen und dann fall in dein Bettchen, damit du schnell wieder einen klaren Kopf bekommst!«

Wie zu einer Antwort raunten die Blätter der Baumkronen im leichten Wind. Hoch über ihm erstreckten sich die Wipfel zu einem Gewölbe. Das sonst im Tageslicht funkelnde smaragdgrüne Strahlen war jetzt in tiefe Schatten und undurchdringliches Schwarz gehüllt. Nur hier und da ließen sich das leichte Funkeln der Sterne und der blasse Schein des Mondes erahnen.

»Ôltrir«, raunte es unverhofft aus der Dunkelheit bedrohlich hervor.

»Was?« Erschrocken drehte sich der Wicht in alle Richtungen, um zu sehen, woher die Stimme gekommen war.

»Was soll das? Wer ist da? Kommt heraus, damit ich Euch in die Augen sehen kann. Seid Ihr Manns genug, Euch einem Wicht von Angesicht zu Angesicht zu stellen?«

Es kam keine Antwort, nur das Wispern des Dickichts war zu hören. Aufgeregt drehte sich Ôltrir im Kreis. Grimmig hielt er seine Hände, zu Fäusten geballt, schützend vor sich.

»Ôltrir, komm!«, raunte es erneut aus der Schwärze zu ihm.

»Beim Barte der Wichte«, wie zur Bestätigung seiner Worte strich er dabei über seinen eigenen graubraunen hüftlangen Bart.

»Ihr habt es hier mit einem Wicht zu tun, der sich zu wehren weiß. Was seid Ihr, ein Waldmeister, der sich nicht traut, seine Tarnung zu verlassen?«

Seine Stimme klang längst nicht so sicher, wie er es wollte. Der Schweiß trat ihm auf die Stirn und er wurde zunehmend nervöser. Ein Waldmeister konnte es nicht sein, sie waren nicht die Richtigen für derlei geschmacklose Späße. Vielleicht ein paar halbstarke, junge Wichte? Ihm wollte nicht recht in den Sinn kommen, wer sonst dafür verantwortlich sein könnte. Eine unnatürliche Kälte strich über seinen Nacken und sorgte dafür, dass sich trotz der lauen Nacht die Härchen an seinen Armen aufrichteten.

Ôltrir knirschte mit den Zähnen, seine Augen hatten sich zu Schlitzen verengt. Gebannt versuchte er, in der Dunkelheit einen Angreifer ausfindig zu machen. Er spielte mit dem Gedanken fortzulaufen, wollte sich diese Blöße jedoch nicht geben. Er vermochte sich keinen Reim auf diesen makabren Spaß zu machen und wünschte sich gleichzeitig, doch etwas weniger Bier getrunken zu haben. Ein flaues Gefühl brachte Unruhe in seine Eingeweide – ohne recht zu wissen warum. Diese Stimme war ihm auf eine seltsame Weise vertraut. Sie erinnerte ihn an einen längst tot geglaubten Feind. Aber nein, er musste sich irren!

Etwas Bedrohliches kreiste ihn ein, gleich einem Raubtier, welches versuchte, sein Opfer einzuschüchtern. Er hob seine Fäuste höher und tänzelte unruhig auf der Stelle. Hektisch drehte er seinen Kopf in alle Richtungen, um einen eventuellen Angriff nicht zu verpassen. Nun konnte er nicht mehr fliehen, ging es ihm durch den Kopf!

Nur allzu gut spürte er, dass dies blutiger Ernst war und hatte alle Hoffnungen abgelegt, dass es sich um einen dummen Streich handelte. Die Präsenz des Bösen war unmissverständlich zu spüren.

»Wer bist du?«, schrie er heraus und glaubte die Antwort doch längst zu kennen. Weit zurück liegende Bilder und Erinnerungen an einen Krieg wurden wieder in ihm lebendig. Er wollte es nicht glauben und dennoch sah er sich hier und jetzt dem Schatten ausgeliefert. Dem Schatten, der doch längst nicht mehr sein konnte. Nicht sein durfte! Er hoffte sehr sich zu irren.

»Wer ich bin?«, kam die unheilvolle Antwort zischend aus dem Nichts heraus.

»Du weißt, wer ich bin!«

»Aber das kann nicht sein! Verflucht sei der Schatten!«

»Verflucht auf immer?«, kam die spöttische Antwort zurück. Ôltrir stöhnte angstvoll auf. Seine Lippen bebten.

»Und nun«, zischte die verhasste Stimme, »stelle dich deinen Ängsten, Ôltrir ….«

~ 1 ~

Der Abend war längst fortgeschritten und wurde von der Nacht bereitwillig abgelöst. Das Land Kasta-Nién lag friedlich und still unter der silbrig bauchigen Kugel des Mondes. Die Wälder waren in seinen sanften Schein gehüllt. Ein glitzerndes Mosaik ließ die Gewässer wie vergessene Spiegel einer eitlen Riesin wirken. Vergessen, irgendwo in den Wäldern Kasta-Niéns. Alanlandhe lag unter einem Tuch sanfter Kühle und eines erholsamen, traumlosen Schlafes.

Ein Knacken im Unterholz verriet einen Marder, der umherstreifte, um nach Nahrung zu suchen. Eulen raunten sich gegenseitig zu und schienen in ein Gespräch vertieft. Ein leises Piepsen in den Büschen ließ ein Mäuschen erahnen, das lieber gar nicht wissen wollte, worüber sich die beiden Raubvögel in den Baumwipfeln unterhielten. Eine klare und stille Nacht. Sie wäre noch friedvoller gewesen, wären die Wichte nicht so sehr nachtaktiv, was das Schankleben betraf.

Tief in den Wäldern Kasta-Niéns rumorte und polterte es, hier und da wurde laut und hemmungslos gelacht, gestritten und unbekümmert gefeiert.

Die Wichte waren ein stolzes Volk. Sie pflegten ihre Eigenarten und taten sich einigermaßen schwer damit, die Allgemeinsprache zu verwenden. Taten sie es aber doch und gerieten in Rage, verfielen sie wieder in ihre Wichtmundart zurück. Die scharfe und harte Sprache war wie geschaffen für das grobe und ungeschlachte Auftreten der Wichte.

In eben dieser Nacht machten sie einen derartigen Radau, dass es im Unterholz, der beliebten Gaststätte, dröhnte, als hätte sich eine Horde Bergtrolle im Wald verlaufen.

Die Gaststätte wurde von Öllampen und Glasbehältern beleuchtet. Glühwürmchen, die in den Glasbehältern gehalten wurden, tauchten mit ihren vergeblichen Versuchen, ihrem Gefängnis zu entkommen, den Schankraum in ein flackerndes Licht. Lange Schatten wurden an die Wände geworfen und in einer Ecke, nahe dem Tresen, kochte ein großer Kessel unter einem knisternden Feuer, um den deftigen Knollenwurzeleintopf warmzuhalten.

»Ich sage doch, dass mein Ur-Ur-Urgroßvater, der altehrwürdige Kândir, der tapferste Wicht in ganz Alanlandhe und darüber hinaus war!« Die Stimme klang nicht mehr so fest, wie sie eigentlich klingen sollte, woran der dritte Becher Bier nicht ganz unschuldig war. Wenn Nimbi eine Schwäche hatte, dann war es wohl - neben seinem ungestümen Temperament - das Gebräu im Wirtshaus.

»Es gab keinen vergleichbaren Krieger, der so mutig im Kampf gegen …«, er rülpste unbedacht, »… gegen Faal gezogen ist wie der alte Kândir. Ja, ihr könnt mir ruhig glauben!« Dies bekräftigte er mit einem unbeholfenen Faustschlag auf den wackeligen Holztisch. Seine Gegenüber blickten ihn mit gelangweilten Mienen an, die besagten, dass sie diese Geschichte nicht zum ersten Mal zu hören bekamen.

»Nach allem, was wir wissen, Nimbi, war dein Ur-Ur-Urgroßvater zur Zeit des Faal-Krieges bereits zu schwach, um am Stock zu gehen. Auf wen hat er denn mit seiner Krücke eingeschlagen? Dann könnten wir denjenigen vielleicht fragen, ob es noch wehgetan hat!«, erwiderte einer der anderen Wichte belustigt.

Das ganze Schankhaus brach in lautes Gelächter aus, da Nimbis ur-ur-urgroßväterliche Lobreden nicht zu überhören waren. Er erhob sich von seinem Hocker und zeigte mit ausgestrecktem Arm auf den Spötter, konnte sich dabei aber ein Grinsen selbst nicht verkneifen.

»Wie kannst du es wagen, derart über den altehrwürdigen Kândir herzuziehen? Er hat dem Volk der Wichte mehr Dienste geleistet als ihr alle zusammen!«

Ein Wicht, der in eine grüne Schürze gekleidet war, trat an den Tisch heran. »Nimbi, setz dich! Wir wissen natürlich, dass wir dem alten Kândir eine Menge zu verdanken haben. Und jetzt schmeiß ich eine Runde für euch alle, ihr Nichtsnutze!«

Nimbi, der Häuptling der Wichte, setzte sich wieder und schaute in die Runde. Anschließend stieß er mit den anderen erneut auf Ur-Ur-Urgroßvater Kândir an. Vater Knusen zwinkerte in die Runde und wandte sich anschließend einem Nachbartisch zu, um dort eine Bestellung aufzunehmen. Der alte Schankwirt hatte stets ein offenes Ohr und einen gut gemeinten Rat für seine Gäste übrig. Zudem sorgte er mit äußerster Strenge in seiner Gastwirtschaft für Ordnung. Zusammen mit Mutter Knusen betrieb er eine der beliebtesten und urigsten Schänken in Alanlandhe. Nicht nur Wichte taten sich gütlich an der ausgezeichneten Küche, dem Selbstgebrautem oder dem reifen Nektar, auch Waldmeister, Melissen und Feen waren gern gesehene Gäste. Die Wirtschaft selbst lag verborgen unter den kräftigen Wurzeln einer knorrigen, hoch aufragenden Eiche.

»Na, was ist denn? Nun spielt schon weiter, ihr Halunken!«, tönte Vater Knusen, da die Musiker angesichts der Ausführungen Nimbis verstummt waren. Sofort ertönten Fidel, Flöte und Tamburin erneut und stimmten einen fröhlich ausgelassenen Reigen an. Augenblicklich, wie aus einem kurzen Schlaf erwacht, johlten, klatschten und tanzten die Gäste lautstark und ließen die Wirtschaft erbeben.

In einer hinteren Ecke, etwas abseits des allgemeinen Trubels, geschützt durch einige dünne und wichthohe Holzwände, saßen die Prinzessin von Kasta-Nién und zwei ihrer Hofdamen. Gerne saß auch sie mitunter im Schankraum und ließ sich von der ausgelassenen Heiterkeit der Wichte anstecken. Doch manchesmal nahm die Begeisterung des Volkes über ihre geliebte Prinzessin überhand und sie zog sich in die geschützte Ecke zurück, die Vater Knusen eigenhändig für sie eingerichtet hatte. Wenn Prinzessin Kastanéa sich hier aufhielt, dann geboten es die Sitte und der Anstand, sie nicht zu belästigen.

Auch an diesem Abend saß die Prinzessin in Begleitung ihrer beiden Beraterinnen Agariá und Lilién in der Loge und trank von dem vorzüglichen Rosennektar, den Mutter Knusen selbst herstellte. Die drei verband eine enge Freundschaft miteinander, die Kastanéa nicht mehr missen wollte. Das Ungestüm der Wichte in der Schänke ignorierte die kleine Runde. Nimbis Temperament war ihnen nur allzu gut bekannt. Der energische und stürmische Wicht war seit langer Zeit in treuen Diensten des Hofstaates, genau waren es einhundertsiebenunddreißig Sommer.

Die Prinzessin war in ein dunkelbraunes Gewand aus Brokat gekleidet. Es war durchwirkt von silbrig funkelnden Fäden. Ein Rankenmuster zierte den schweren Stoff und ließ ihn gebührend edel erscheinen. Ihr Gesicht wurde eingerahmt von langem gewelltem Haar, das die Farbe weißer Kastanienblüten hatte. Auf dem Kopf trug sie eine Krone, die aus einer getrockneten Kastanienschale gefertigt worden war. Die handwerkliche Kunst der Feen hatte ein filigranes Meisterwerk daraus geschaffen. Agariá war in ein blassrotes Seidengewand gekleidet, besprenkelt mit grünen Tupfen. Es war ein derart zarter Stoff, der die Anmut der ätherischen Erscheinung noch zu unterstreichen wusste. Lilién trug ein kostbares, grünlich schimmerndes Gewand, ebenfalls aus Seide. Es war bestickt mit kleinen Blüten.

Mutter Knusen betrat geschäftig die Loge, um nach dem Rechten und dem Wohlergehen von Prinzessin Kastanéa und ihren Begleiterinnen zu schauen.

»Ihr seid doch zufrieden, Eure Hoheit? Kann ich Euch noch einen Wunsch erfüllen? Darf es noch etwas sein? Mein Mann ist ja so unaufmerksam! Ich habe ihm schon vor geraumer Zeit aufgetragen, sich nach Eurem Wohlergehen zu erkundigen. Verzeiht seinem löchrigen Gedächtnis! Wenn es darum geht, sich etwas zu merken, dann sind die Männer doch alle gleich! Sagt, sind Eure Männer auch so? Also, ich kann's Euch sagen, es ist schon eine Last mit diesem Männe. Alles muss man ihm zweimal sagen. Was würde er nur ohne mich tun? Manchmal frage ich mich, wie er nur diese Wirtschaft halten könnte, wenn er mich nicht hätte?«

Sie machte eine vielsagende Geste und deutete auf ihn.

»Da, schaut nur herüber. Da steht er am Tisch und schwätzt in einem fort. Und ich? Ich muss die Gäste bedienen, das Bier zapfen, den Nektar rühren, die Küche überwachen. Ach du lieber Waldgeist, da hinten winkt schon wieder einer und will seinen Becher gefüllt sehen!«

Geschäftig wirbelte sie wieder in den lauten Schankraum zurück, stürzte sich in das bunte Treiben der Gäste, nahm hier und dort weitere Bestellungen auf. Nach süßem Kraut duftende Rauchschwaden zogen durch den Raum, stiegen aus glühenden Holzpfeifen auf, an denen die Wichte genussvoll sogen. Becher und Krüge klirrten aus allen Ecken.

»Mir scheint, Mutter Knusen ist heute ein wenig hektisch«, bemerkte Lilién belustigt.

»Ihr kennt sie doch«, entgegnete Kastanéa mit einem Schmunzeln, »eine temperamentvolle Dame, wenn auch gelegentlich ein wenig verworren. Sie hat nicht einmal gemerkt, dass sie nach unseren Männern fragte. Ich weiß nicht, wie es euch geht aber ich bin noch keinen männlichen Feen begegnet! Also, so wie Vater Knusen auf sie angewiesen ist, so wäre sie ohne ihn sicher auch nur die Hälfte.«

Durch eine Aussparung in der Holzwand schauten die drei der beleibten Wichtfrau hinterher. Ebenso wie der Wirt war auch die Wirtin überaus beliebt bei den Gästen. Ihre herzliche und warme Art wogen mehr als ihr gelegentlich ruppiges Auftreten.

Plötzlich sprang Agariá bestürzt auf.

»Prinzessin … bitte … schaut nicht hin!«

Während sie dies sagte, war sie tiefrot angelaufen und machte ihrem Namen alle Ehre, der übersetzt „Die von der Erdbeere Stammende“ hieß. Trotz ihrer Aufforderung schauten natürlich alle hin. Sowohl die Prinzessin, Lilién als auch die beiden Leibwächter, die vor dem Eingang der Loge Wache schoben und augenblicklich in lautes Gelächter ausbrachen.

Kastanéa amüsierte sich sichtlich über die genierte Reaktion ihrer Gefährtin.

»Agariá«, lachte sie, »ich sage doch, die beiden können gar nicht ohne einander!«

Vater Knusen hatte liebevoll den Po seiner Gemahlin getätschelt und ihr bedeutsam zugezwinkert. Daraufhin war die Wirtin nicht mehr ganz so aufgeregt wie zuvor und sah - auch nach dreihundertdreiundzwanzig Sommern - an der Seite ihres Mannes immer noch wie ein verliebtes Mädchen aus.

»Anscheinend entgeht uns etwas ohne Männer, wenn ich mir Mutter Knusens Gesicht so anschaue«, bemerkte Kastanéa mit einem verschmitzten Lächeln in Agariás Richtung.

»Prinzessin, wie kannst du so etwas sagen!«

Die erste Beraterin war fassungslos und fühlte sich in ihrer Haut nicht besonders wohl, als die beiden Wächter wieder in ihr mehrdeutiges Lachen ausbrachen und die Prinzessin samt zweiter Hofdame dazu einstimmten.

»Agariá, komm schon, hab dich nicht so«, forderte Kastanéa sie auf, »oder ich lasse einen der beiden hübschen Waldmeister da drüben in die Loge holen.«

Immer noch peinlich berührt, lächelte sie den anderen nun zaghaft zu und sorgte dann für eine allgemeine Überraschung.

»Der rechte von ihnen heißt Marinus«, kam es ihr eher ungewollt über die Lippen, während ihr Blick offensichtlich Bände sprach.

»Agariá!«, nun war es Lilién, die ungläubig in die Runde blickte.

Für eine Fee war es in der Tat sehr ungewöhnlich, derartige Gefühle zu hegen. Dennoch kam es vor, dass sich auch eine Fee verliebte. Wenn dies geschah, dann war meist ein Waldmeister der Auserkorene.

Von den Waldmeistern wurden die Feen auch „die Blütengeborenen“ genannt. Entstand in der Zeit der neuen Triebe eine besonders große Knospe, dann deutete dies auf die Geburt einer neuen Fee hin. Der Name der Blütengeborenen wurde stets jener Pflanze zugeordnet, der sie entstammten. Die Neuankömmlinge wurden schließlich mit einem Fest, das von den Feen Blütenend genannt wurde, willkommen geheißen.

Die Waldmeister selbst waren kleine wichtähnliche Wesen. Sie waren jedoch weniger kräftig, hatten eine hellbraune Haut und ein elegantes, leichtfüßiges Auftreten. Ohne diese Wächter des Waldes würde Kasta-Nién weitaus weniger grün erstrahlen und gedeihen. Die Pflege aller Pflanzen war ihre leidenschaftliche Aufgabe. Waren sie im Wald unterwegs, bot sich einem Beobachter kaum die Chance, sie im Unterholz zu entdecken. Auf dem Kopf trugen sie einen aus Seide hochstehenden zylindrigen Hut, der grün schillerte, sobald sich Sonnenstrahlen auf seiner Oberfläche spiegelten. Diese Kopfbedeckung war somit auch das einzige, das einen Waldmeister im grünen Dickicht zu verraten vermochte. Doch trotz dieser Umstände bot ein Waldmeister ohne seinen Hut einen seltenen Anblick.

Auch im Schankraum saßen zwei Waldmeister vor einem Kelch Nektar und waren in ein Gespräch vertieft. Die drei Feen sahen von ihrer Loge aus zu ihnen hinüber.

»Ich nehme an, er weiß noch nichts von seinem Glück?«, hakte die Prinzessin nach.

Agariá, immer noch mit geröteten Wangen, lächelte verlegen.

»Wo denkst du hin, Kastanéa! Ich weiß nicht einmal, wie es mit ihm steht oder ob es an seiner Seite schon eine Waldmeisterin gibt!«

»Ich glaube, da kann ich dich beruhigen, denn ich kenne ihn. Soweit ich weiß, gibt es da bisher keine Wächterin des Waldes an seiner Seite. Er wurde erst kürzlich zum stellvertretenden Sprecher Corians bestimmt, dein Marinus.« Letzteres betonte sie mit einem vielsagenden Lächeln.

Agariás Wangen wurden wieder ein wenig dunkler. Kastanéa langte nach einem Stück Heidelbeere auf dem Tablett vor sich und biss in das saftige Fruchtfleisch hinein, als Mutter Knusen mit sehr gesunder Gesichtsfarbe die Loge erneut betrat.

»Prinzessin«, stöhnte sie leidvoll, »es tut mir ja so leid! Ich bin doch einfach gegangen, ohne abzuwarten, ob Ihr noch irgendwelche Wünsche habt. Darf ich Euch noch etwas bringen, selbstverständlich auf Kosten des Hauses?«

»Vielen Dank, Mutter Knusen! Ich denke, wir sind alle gut bedient. Euer Nektar ist köstlich wie immer!«

»Das freut mich, Verehrteste, das freut mich! Es tut doch gut, bisweilen hier in der Loge zu sein und dem Trubel des Schankraumes, wenn auch nur kurz, zu entfliehen!« Sie setzte sich auf einen freien Hocker, um ein wenig zu verschnaufen.

»Es ist doch ganz schön was los heute!«, sagte sie mit ihrer hohen hektischen Stimme und machte ein gespielt überfordertes Gesicht.

»Ja«, entgegnete Lilién ein wenig verschmitzt, »das haben wir gesehen!«

Kastanéa und Agariá schauten Lilién belustigt und vorwurfsvoll zugleich an und hatten Mühe, ihr Grinsen zu verbergen. Die Wirtin hatte die Bemerkung jedoch überhört und berichtete bereits redselig davon, was man sich in der Schänke alles erzählte. Die Gerüchteküche brodelte gewohnt wie der Kessel mit Eintopf. Hier und da kamen Begebenheiten zu Tage, die sicher nicht immer ganz der Wahrheit entsprachen. Mutter Knusen fuhr in einem fort.

»… und der Waldmeister da hinten, der soll sich doch tatsächlich in eine Fee verliebt haben. Das haben mir die Melissen da vorne in der Ecke erzählt. Der arme Kerl, so jung und schon so unglücklich! Trifft sich öfters hier mit seinen Freunden, immer höflich und weiß, was sich gehört. Das kann man von den meinen ja nicht immer behaupten. Warum schaut er sich nicht lieber nach einer netten Waldmeisterin um? Sind doch so hübsche Dinger! Seht nur die da hinten, mit den langen grünen Haaren, das wäre doch die richtige, findet Ihr nicht auch? Das übliche hört man natürlich auch. Und ob Ihr es glaubt oder nicht, Schatten will man gesehen haben, aber das wisst ihr sicher schon ….«

Die drei Feen hatten sich bedeutsam angesehen, als die Schankwirtin auf den Waldmeister zu sprechen kam. Diese jedoch war nicht zu bremsen und sprudelte weiter wie eine Quelle, die lange kein Wasser mehr von sich gegeben hatte. Zwischenzeitlich senkte sie geheimnisvoll ihre Stimme, wenn sie etwas Heikles berichtete, dann hob sie sie wieder an, in vollster Entrüstung über eine Unmöglichkeit, die sich zugetragen hatte. Dann lachte sie laut, wenn sie etwas äußerst komisch fand, um dann wieder mit erboster und grimmiger Mine fortzufahren, wenn ihr etwas gar nicht in den Kram passte. Sie erzählte und erzählte und es schien, als wollte sie kein Ende finden.

Plötzlich stoppte sie abrupt in ihrem Monolog, verstummte und erhob sich tief seufzend vom Hocker. Sie strich sich ihre Schürze glatt, die schon einige Flecken von überschwappenden Bechern und überfüllten Kelchen aufwies.

»Meine Prinzessin, wenn Ihr mich dann bitte entschuldigen wollt, die Pflicht ruft mit der Stimme von durstigen Gästen. Wenn ich Euch noch etwas bringen darf, so verlangt nach mir!«

»Vielen Dank, Mutter Knusen. Auch für die unterhaltsamen Neuigkeiten«, antwortete Kastanéa fröhlich.

»Vielleicht wärt Ihr in der Tat so gut und würdet meiner Garde noch einen Becher bringen?«, sie deutete auf die beiden stämmigen Wichte, die vor der Schwingtür zur Loge standen.

»Natürlich, meine Liebe, zwei Große für die beiden Jungs hier«, Mutter Knusen lächelte den beiden mütterlich zu. Da die Wichte jedoch mit dem Rücken zur Loge standen, bemerkten sie es nicht. Ein Schmatzen verriet aber, dass sie das Gespräch verfolgt hatten und sich auf den Nachschub freuten.

»Mögen die Schatten weit von uns sein!«, murmelte sie noch, während sie die Loge verließ.

»Das sind sie«, erwiderten die Feen gleichzeitig. Es war die übliche Antwort auf diese Abschiedsformel, die noch ein Überbleibsel aus längst vergangenen Zeiten war.

»Er hat sich also verliebt, in eine Fee, der arme Waldmeister«, betonte die Prinzessin bedeutungsschwanger und nicht ohne ein Schmunzeln auf den Lippen. Lilién kicherte in sich hinein und Agariás Gesicht wurde erneut eine Nuance dunkler vor Aufregung.

»An wen mag er dabei nur denken?«, stellte Lilién die rhetorische Frage in den Raum.

»Nun hört schon auf, ihr beiden«, entgegnete Agariá und versuchte, dabei ärgerlich zu klingen. Ihre verstohlenen Blicke in den Schankraum hinaus sprachen jedoch eine andere Sprache.

»Wir sollten ihn vielleicht doch in die Loge einladen!«

»Kastanéa«, Agariá sah sie mit aufgerissenen Augen an, »ich bitte dich, ich würde im Erdboden versinken!«

»Keine Sorge, ich werde mich gebührend zurückhalten«, die Prinzessin lächelte.

»Kastanéa«, brachte Lilién sich in das Gespräch ein, »verzeih mir den plötzlichen Themenwechsel, aber Mutter Knusen sprach von Schatten!«

»Ja«, entgegnete die Prinzessin, »ich habe es jedoch nur am Rande mitbekommen. Es ging alles so schnell. Wie steht es mit euch?«

»Nein, ich konnte ihren schnellen Gedankensprüngen auch nicht folgen«, entgegnete Lilién.

Auch Agariá bedeutete mit einer Geste, dass sie nicht näher darauf geachtete hatte.

»Cirsim, Urtic, habt ihr Mutter Knusens Berichten lauschen können?«, wollte Kastanéa von den Wächtern wissen.

Die beiden drehten sich um und bejahten mit einem Grinsen.

»Es ist schwer, sich ihrer Stimme zu entziehen, Prinzessin«, sagte Cirsim mit kehliger, tiefer Stimme.

»Sie sprach von einem Wicht mit dem Namen Ôltrir. Das Gerücht seiner Erzählungen geistert seit einigen Sonnenumläufen durch die Schänken.

Man sagt, er sei dem Schatten in den Wäldern leibhaftig begegnet. Es sollen zwar nur schwache Silhouetten gewesen sein, aber es kursiert jedoch das Gerücht, er sei wieder zurück. Wenn ihr mich fragt, findet sich immer irgendein betrunkener Wicht, der etwas gesehen haben will! Das ist reiner Wichtzinnober. Ein Becher Bier zu viel und man sieht eine Menge Dinge, die andere nicht sehen können.«

»Ich danke dir, Cirsim.« Kastanéa drehte sich wieder zu ihren Gefährtinnen um.

»Was haltet ihr davon?«

Beide schauten sie nachdenklich an. Es war Lilién, die sich zuerst äußerte.

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass etwas an der Geschichte dran ist.

Hätten wir nicht längst davon mitbekommen, wenn sich Schaduw wieder geregt hätte?«

»Wie hätte er auch sollen?«, fügte Agariá hinzu. »Er ist im Anadélem. Wie hätte er seiner Verbannung entkommen sollen? Ich halte es für unmöglich.«

»Ich verstehe eure Bedenken.« Kastanéa schwieg einen Augenblick.

»Dennoch möchte ich den alten Wicht persönlich sprechen und mir ein Bild von dem machen, was er zu berichten hat.«

Entschlossen wandte sich Kastanéa den Wichten zu.

»Cirsim, Urtic, sorgt dafür, dass Ôltrir morgen vor Sonnenhöchststand in den Palast gebracht wird. Ich möchte ihn selbst in dieser Angelegenheit befragen.«

»Ich werde alles veranlassen, meine Prinzessin!«, entgegnete Cirsim.

»Ich danke dir!«

Die Wächter deuteten eine Verbeugung an und drehten sich wieder in Richtung Schankraum. Gerade in diesem Moment kam eine junge Wichtin heran und hielt zwei große, bis an den Rand gefüllte Becher in den Händen. Nachdem sie den beiden das Getränk überreicht und ein wenig mit ihnen gescherzt hatte, verschwand sie wieder in Richtung Theke.

Der restliche Abend verlief ausgelassen und ohne Gespräche über den Schatten. Sowie in der Loge als auch im Schankraum war man in heitere Gespräche vertieft oder lauschte den Klängen der Musiker.

»Prinzessin, es ist spät geworden.« Lilién unterdrückte nur mühsam ein Gähnen.

»Wartet, einen Augenblick noch! Seht, die Wichte haben die Bühne verlassen, um zu pausieren.« Kastanéa forderte ihre Beraterinnen auf, ihrem Blick zu folgen.

Agariá und Lilién schauten durch die Öffnung in den Schankraum. Agariá nutze die Gelegenheit, um einen zaghaften Blick auf den Waldmeister zu werfen. Nachdem die Wichte sich im Schankraum an die Tische verteilten, bestieg eine Melisse das Podest und nahm eine kleine Harfe zu sich auf den Schoß. Sie zupfte ein wenig an den Saiten, um das Instrument neu zu stimmen und begann anschließend, leise darauf zu darauf spielen.

»Lasst uns noch die Weise der Melisse abwarten, dann können wir zurück in den Palast fahren.«, flüsterte Kastanéa. »Sie hat eine bezaubernde Stimme, findet ihr nicht?«

Die beiden Gefährtinnen nickten und lauschten ebenfalls der Sängerin und ihrer Harfe. Mit ihrem Betreten der Bühne war es im Schankraum augenblicklich so ruhig geworden, dass man sogar das schwache Summen der Glühwürmchen in ihren Glasbehältern wahrnehmen konnte. Über allem lag nun ein Schleier der Musik. Sämtliche Gäste blickten wie hypnotisiert zur Bühne herüber. Die musikalischen Fähigkeiten der Melissen waren hoch gelobt in ganz Alanlandhe. Sie besaßen die Gabe, ihre Hörer in eine Welt voller Wünsche, Sehnsüchte und süßer Melancholie zu entführen. Es war die Schwermut der Melissen, von denen ihre Lieder zeugten und sprachen.

Sie waren etwas kleiner als die Feen und wirkten dabei sehr grazil. Die winzigen, durchscheinenden, libellenartigen Flügel ließen sie dabei noch zerbrechlicher wirken. Bekleidet mit einem Blatt, das sie mit einem Halm um ihren Körper banden, sahen sie beinahe selber aus wie der Teil eines Melissenstrauches. Durch ihre feinen, fast durchsichtigen Haare, die ihre schmalen Schultern umflossen wie ein Strom Wasser, hinterließen sie den Eindruck einer unwirklichen Erscheinung. Dies hatte ihnen auch den Namen Melissenelfen eingebracht. Sie lebten in der Regel ein sehr abgeschottetes Leben tief in den nördlichen Waldregionen. Dort befanden sich die Melissenböschungen, in denen sie ihre Nester zwischen den ausladenden Ästen der riesigen Melissenpflanzen befestigten.

Die Melisse hatte unterdessen ihr Vorspiel beendet. Sie legte die Laute beiseite und verließ schweigend – beinahe teilnahmslos - das Podest. Sie ging in Richtung eines Tisches, an dem weitere Angehörige ihres Volkes auf ihre Rückkehr warteten. In vollkommener Stille hatte sie der ganze Schankraum mit Blicken verfolgt. Tief berührt von der Darbietung vergaß man sogar das Klatschen. Nur sehr schleppend kam anschließend wieder Bewegung in das zuvor heitere Treiben. Zuerst klirrten ein paar verschämte Becher und hier und dort wurden Seufzer ausgestoßen.

Endlich aber kamen die Wichte erneut auf die Bühne und stimmten eine Weise an, die es schaffte, die Stimmung im Saal neu anzuheizen.

Die Melissen schien dies alles nicht zu kümmern. In ihrer gewohnten Schwermut waren sie in ein Gespräch vertieft. Ihren Mienen nach zu urteilen, erzählten sie sich keine heiteren Begebenheiten. Die Regung eines Lächelns war den Melissen beinahe fremd. Wohl hatten sie einen gütigen und zufriedenen Ausdruck, aber niemand konnte sagen, wie wohl eine lachende Melisse klingen mochte.

Als die Stimmung im Gasthaus wieder ihren ursprünglichen Pegel erreichte, kam auch Bewegung in die Prinzessinnenloge. Kastanéa, ihre Begleiterinnen und die beiden Wächter verließen das Gasthaus. Als sie dabei an den Tischen vorbeikamen, verbeugten sich die Schankgäste und sprachen Lob auf die Prinzessin aus. Hier und dort hörte man einen Trinkspruch auf ihre Gesundheit. Agariá erhaschte im Vorbeigehen einen Blick von Marinus, dem Waldmeister, und sah verlegen zur Seite. Kurz vor Verlassen der Schenke blickte sie noch einmal zurück. Marinus schaute ihr nach und erwiderte ihr angedeutetes Lächeln. Für beide schien die Zeit einen Augenblick stehen geblieben zu sein.

Draußen an der frischen Luft begaben sie sich zum Wagen, der bereits von einem Stallknecht bereitgehalten wurde. Der junge Wicht verbeugte sich und öffnete der Prinzessin und ihren Begleiterinnen die Tür. Bewundernd schaute er ihnen beim Einsteigen mit großen Augen zu. Einer der Wächter stellte sich hinten am Wagen auf ein angebrachtes Trittbrett, um von dort die Fahrt zum Palast zu überwachen. Der andere stieg vorne auf und nahm das Zaumzeug in seine schwieligen Hände. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass alle auf ihren Plätzen saßen, gab er mit einem Ruck das Signal zur Abfahrt. Die zwei wendigen Eichhörnchen zogen an und der Wagen rauschte davon. Cirsim zwinkerte dem Stallburschen noch einmal zu und verschwand dann mit den anderen in der Dunkelheit.

~ 2 ~

Kastanéa saß auf ihrem Thron und hörte sich ungeduldig an, was Agariá über die anstehenden Audienzen dieses Morgens berichtete. Immerzu spukte ihr der Bericht des Wichtes Ôltrir im Kopf herum, weshalb sie den Ausführungen ihrer Beraterin nur schwer folgen konnte.

Cirsim beteuerte nach wie vor, dass es sich um bloßen Wichtzinnober handelte und sie hatte inständig gehofft, er würde damit recht behalten.

Ihr Verstand redete unaufhörlich auf sie ein, dass es unmöglich sein konnte! Dennoch durfte sie die Wahrheit nicht länger ignorieren, nach allem, was geschehen war. Sie konnte nicht absehen, welche Macht Faal bereits wieder besaß! In drei Mondumläufen würden die freien Länder erneut Illuvâr feiern und vielleicht würde es gelingen, den Schatten mit dem Gesang der Meloden wieder in seine Verbannung zu drängen, doch bis dahin ….

Wie hatte Schaduw seinem Bann entrinnen können? Über viele Generationen, genaugenommen seit dem Faal-Krieg, wurde stets zur Sommersonnenwende Illuvâr, das Lichtfest, gefeiert. In Gemeinschaft aller freien Völker Alanlandhes zelebrierte man an diesem besonderen Gedenktag den Sieg über die Schatten und über Faal, den Herrn der Schatten. Die zentrale Handlung war dabei der liturgische Gesang der Prinzessin von Kasta-Nién. Dabei handelte es sich um einen Gesang aus den Versen der Schìrrì, die im Buch der Meloden niedergeschrieben waren.

Es war eine Sammlung von Liedern und unvertonten Strophen. Das Buch der Meloden setzte sich aus verschiedenen Schriften, Briefen und geschichtlichen Aufzeichnungen zusammen. Alle diese Schriften gingen auf Illu-Cail zurück. Allein seine Worte aus dem Schírrí, gesungen im Glauben an seine Kraft, vermochten die Schatten dorthin zu vertreiben und in Fesseln zu halten, wo sie geboren waren. In den Urtiefen der Zeit, lange vor der Werdung Alanlandhes.

Seit siebenhundertdreiundzwanzig Sommern war sie, Kastanéa, Herrscherin in Alanlandhe und somit auch die Sängerin Illuvârs. Die gewirkte Kraft der gesungenen Worte musste zu jedem Fest wieder bekräftigt werden, gleich einem Siegel, welches in Wachs gepresst wurde.

Der Gesang der Meloden war nach dem Faal-Krieg von Illu-Cail selbst eingesetzt und den freien Völkern übergeben worden.

Die gesungenen Meloden sorgten dafür, die Festsetzung Faals aufrecht zu erhalten. Bis jetzt.

Konnte sich dies wirklich geändert haben? Wie sollte er eine Möglichkeit gefunden haben, der Kraft Illu-Cails Worten etwas entgegen zu setzen? Sie musste sofort mit Illu-Cail Kontakt aufnehmen. Wer, wenn nicht er, sollte etwas Genaueres darüber wissen? Sie wünschte, sie könnte wie die anderen glauben, dass es sich lediglich um die Geschichte eines trunkenen Wichtes handelte. Doch auch die übrigen Ratsmitglieder würden sicher bald schon anders darüber denken. Sie hoffte, sie konnte sie überzeugen.

Niemand hatte je seit der Grundlegung Alanlandhes Illu-Cail gesehen. Um genau zu sein, wusste sie gar nicht, wie sie sich eigentlich an ihn wenden sollte. Nach Thiar, seinem Aufenthaltsort, zu gelangen, würde sich als sehr schwierig erweisen. Er selbst fand sich nur zu Zeiten Illuvârs in Kasta-Nién ein. Genau genommen trat nur ein Teil Illu-Cails in Erscheinung. Ein bloßes Abbild, ein Spiegel seiner selbst. Über sein wirkliches Aussehen wusste niemand etwas zu sagen. Er traf in Form eines hellstrahlenden Lichtballs ein und stand wie ein guter Stern über den gesamten Feierlichkeiten. Zu deren Ende verließ dieser Stern Kasta-Nién wieder.

Wohin genau, wusste niemand. Das Hinterland - wie Thiar auch genannt wurde -, in dem Illu-Cail lebte, war unbekannt. Nur eines wusste man sich zu erzählen, dass es weit hinter Dubh-Anam, dem ehemals blühenden Fifaldra, verborgen lag. Fifaldra war einst das Land der Sommervögel, bevor es vom Schatten während des Faal-Krieges vollkommen vernichtet wurde. Doch ob Thiar dort wirklich lag, war nichts als ein Gerücht. Denn niemand war so verrückt, Dubh-Anam zu durchqueren, um nach dem Land Illu-Cails zu suchen.

»Kastanéa«, fragte Agariá mit erhobener Stimme, um ihre Herrscherin aus ihren Tagträumen zu reißen, »hörst du mir eigentlich zu? Ich habe den Eindruck, als wärst du mit deinen Gedanken weit fort.«

»Verzeih mir, Agariá! So wichtig die Audienzen auch sein mögen, aber ich sehe einen dringenderen Anlass, dem ich verpflichtet bin. «

»Wie meinst du das?«, hakte die Beraterin weiter nach.

»Die Geschicke Alanlandhes könnten auf dem Spiel stehen, Agariá! Wohin die zukünftigen Wege der freien Völker führen, ist somit ungewiss. Die Zeit läuft uns jedoch davon und wir dürfen nicht länger warten!«, entgegnete Kastanéa. Ihre Stimme war leise und wirkte gedrückt wie unter einer großen Last.

Agariá spürte, dass etwas im Argen lag.

»Kastanéa«, fuhr sie mit ermunterndem Tonfall fort, »ich weiß, wie sehr dich die Erzählungen Ôltrirs beunruhigen! Sollte auch nur ein kleiner Teil dessen der Wahrheit entsprechen, sind wir gezwungen, rasch zu handeln, doch bisher hat es keine weiteren Vorfälle dieser Art gegeben. Du wirst sehen, es ist und bleibt die harmlose Fantasie eines alten Wichtes!«

Harmlos, dieses Wort bekam für Kastanéa eine völlig neue Dimension. Wie unbedarft ihre Freunde dieses Wort in den letzten Tagen immer wieder verwendet hatten! Wie fleißige Bienen den Honig, so suchten sie unaufhörlich nach Ausreden.

»Ich bin verpflichtet, auf die Sicherheit unseres Landes zu achten, Agariá.

Die freien Völker vertrauen auf unsere Gewissenhaftigkeit. Als Wächter an Illu-Cails statt sollten wir mit unserem Urteil nicht vorschnell sein! Wir sind eingesetzt, um zu schützen, was uns anvertraut wurde.

Avellá wird mich gewissenhaft vertreten. Schicke nach ihr, sie wird sich der Bittsteller annehmen. Der Rat muss unverzüglich zusammenkommen!«

Ihr Tonfall klang entschlossen und bestimmt.

»Meine Prinzessin, wie es dein Wunsch ist. Ich werde alles veranlassen und Avellá bitten, sich um alles weitere zu kümmern.«

»Ich danke dir! Du wirst schon bald verstehen, warum ich gezwungen bin, den Erzählungen Ôltrirs mehr Bedeutung beizumessen, als ich es selbst möchte. Es gibt da etwas, was ich dem Rat mitteilen muss. Ich habe zu lange gezögert und hätte bereits früher die Vertreter der freien Völker zusammenrufen müssen.«

»Wann soll der Rat tagen?«, wollte Agariá wissen.

»Sobald die Sonne ihren höchsten Stand erreicht hat. Wir können nicht warten, bis sich Cinà und Corian eingefunden haben. Sende dennoch unverzüglich Boten in die Waldmeisterstadt und zu den Melissenböschungen, um sie in den Rat zu bitten. Auch Gandril soll zu uns stoßen. Nach Nimbi lasse ich durch Urtic schicken und Attacus werde ich einen Gedankenruf senden.«

Agariá ließ keinen Moment verstreichen, erhob sich und stieg die Stufen in den Saal hinab, wenn auch ein wenig unwillig da sie die Entscheidung der Prinzessin nicht nachzuvollziehen vermochte. Ihr Gewand aus rotem Brokat mit eingesponnenen Goldfäden glitzerte bei jedem ihrer Schritte.

Das Sonnenlicht erhellte den Saal durch die großen Spitzbögen der Fensteröffnungen. Verschiedenste Düfte zogen neben der wohltuenden Wärme in den Thronsaal mit ein. Wie zu einem Empfang trafen sich die erdigen Gerüche des Waldes mit den anregenden Schwaden der Hofküche.

Nachdem ihre Beraterin den Saal verlassen hatte und das große Tor aus verziertem Holz sich hinter ihr schloss, fühlte sich Kastanéa wie verloren und vergessen. Zurückgelassen und allein saß sie auf dem Thron. Das erste Mal seit Beginn ihrer Herrschaft kam es ihr so vor, als würde ihr dieser zu groß werden.

Draußen entstand ein Tumult. Die Bittsteller waren von der Entscheidung ihrer Herrscherin überrascht und wurden gebeten den Vorraum zu verlassen. Bald schon würden sie mit ihren Anliegen Avellá in Atem halten. Sie selbst konnte sich jetzt nicht darum kümmern, auch wenn das Volk ihr am Herzen lag. Die Sicherheit des Landes stand auf dem Spiel und es musste Klarheit her, was dies alles zu bedeuten hatte.

Attacus, Fürst der Sommervögel, sandte sie ihre Gedanken aus. Ihr Gedankenruf verklang in ihrem Kopf. Sie wirkte abwesend und leicht verklärt dabei. Einige Augenblicke verstrichen, als sie die erhoffte Antwort in ihren Gedanken empfing.

Kastanéa, Ihr klingt sehr besorgt, ich spüre starke Schwankungen in Euch! Seine Gedanken hallten in ihrem Kopf.

Ich wünschte, sie würden sich als grundlos erweisen! Sie atmete auf. Es tut gut, Eure Stimme zu hören. Ist es Euch möglich, zum höchsten Stand der Sonne im Palast zu sein?

Eine kurze Stille setzte ein, bis sie seine Antwort empfing.

Das sollte es!

Seine Stimme klang erfrischend klar und lebenslustig. Geomé und ich schwirren gerade durch die Wälder Eures Landes. Ich denke, dass sollte zu schaffen sein!

Kastanéa musste lächeln. Sie wusste, was es hieß, wenn ein Schmetterling sagte, er schwirre durch den Wald. In Wahrheit lieferten sich die beiden gerade einen Wettflug. Die Sommervögel waren sehr gute und wendige Flieger, jedoch mit der Angewohnheit, während des Fluges auf eigensinnige Art und Weise zu schaukeln. Schaute man ihnen von unten zu, sah es aus, als ob sie tanzten. Manche nannten sie aus diesen Gründen auch Lufttänzer.

Hey, jetzt hat er mich doch glatt überholt…

Nach diesem halb entrüsteten, halb amüsierten Aufschrei riss die Gedankenübertragung ab.

Kastanéa musste lachen. Es tat ihr gut. Die Sorgen um die bevorstehenden Ereignisse hatten sie bereits fester im Griff, als sie es wahrhaben wollte. Sie stieg von ihrem Thron herab, ging auf das Portal zu, öffnete es und wandte sich an Urtic. Der Wächter der Garde lauschte aufmerksam dem, was die Prinzessin von Alanlandhe ihm auftrug.

~~ ~~ ~~ ~~ ~ ~

Die Sonne hatte noch nicht lange ihren höchsten Stand erreicht, als sich das Portal zum Thronsaal öffnete und Agariá eintrat. Ihr folgte Gandril, der Wicht. Das mächtige Portal fiel mit einem lauten Schlag ins Schloss zurück und hallte dabei in der weiten Halle nach. Die beiden kamen näher. Agariá schritt erneut die Stufen hinauf und setzte sich auf einen der kleinen Nebenthrone, die zu beiden Seiten des Hauptthrones aufgestellt worden waren. Gandril blieb zu Füßen der Treppe stehen und verbeugte sich vor der Prinzessin. Er war wie ein gewöhnlicher Soldat in schwere Stiefel, eine nussbraune Leinenhose und ein weißes Hemd mit ausladenden Ärmeln gekleidet. Die Schnürung des Hemdes über der Brust war verborgen von einem dunkelbraunen, ledernen Wams. Einzig durch eine kleine Verzierung, die kunstvoll in das Käferleder gebrannt war, ließ sich erkennen, dass es sich hier nicht um einen Soldaten handelte, sondern um den Oberbefehlshaber der Hofgarde.

Seine kräftigen Gliedmaßen standen im Gegensatz zu der filigranen Erscheinung der Feen. In seinem derben Gesicht standen jedoch Hochachtung und Ehrerbietung gegenüber seiner Herrscherin. Sein langer brauner Bart, der vom Kinn ausging wie ein Pferdeschweif, reichte bis hin zu dem schwarzen Gürtel, der das Wams zusammenschnürte. Der Rest seines Gesichtes war rasiert. Grimm schien aus seinen Augen zu stechen, was ihm eine einschüchternde Erscheinung verlieh. Die buschigen Brauen verstärkten diesen Eindruck zusätzlich. Gandril hatte dennoch, im Kontrast zu seinem groben Auftreten, ein freundliches und friedfertiges Wesen.

Wenn es jedoch darauf ankam, konnte er im Kampf eine Zähigkeit und Hartnäckigkeit an den Tag legen, mit der er bereits viele seiner ehemaligen Feinde zur Strecke gebracht hatte. Er diente der Garde bereits während der Kobold-Kriege und sein strategisches Geschick hatte sich erfolgreich bewährt. Mit der Axt in der Hand vermochte er Angst und Schrecken zu verbreiten, egal, wie groß seine Gegner auch sein mochten. Seine Doppelklinge und sein Streithammer waren nicht zu unterschätzende und gefährliche Gegenspieler. Nicht umsonst wurde er eines Tages vom einfachen Kadetten zum Befehlshaber ernannt und wenig später zum Oberbefehlshaber der gesamten Wichtarmee.

»Meine Prinzessin«, brachte er mit tiefer, brummiger Stimme hervor. »Ihr wolltet mich sehen?!«

»So ist es, Gandril. Ein besorgniserregendes Anliegen zwingt uns dazu, eilends Rat zu halten. Nimbi und Attacus befinden sich ebenfalls auf dem Weg. Bis sie eintreffen, setzt Euch unterdessen und nehmt vom Nektar.«

Sie deutete auf eine Tafel, die im Saal stand und für Beratungen und Feste genutzt wurde.

Gandril deutete eine weitere Verbeugung an, ging hinüber und setzte sich.

Während er sich einen Becher mit Nektar eingoss, kam auch Kastanéa die Stufen hinab und gesellte sich gemeinsam mit Agariá zu ihm. Er schenkte den beiden ebenfalls Nektar ein und reichte ihnen die Trinkgefäße.

»Kastanéa, was ist mit Lilién? Sollte sie nicht ebenfalls anwesend sein?«, bemerkte Agariá.

»Sie wird kommen. Ich habe sie bereits über unsere Zusammenkunft informieren lassen.«

»Was beschäftigt dich nur so, Kastanéa?«

»Habe noch ein wenig Geduld, Agariá. Ich werde alles im Rat berichten.

Dann wirst du verstehen, weshalb ich berechtigten Grund zur Sorge habe.«

Die Bilder schossen ihr wieder durch den Kopf. Sie hatte sich alleine in ihren Gemächern aufgehalten, Agariá und Lilién hatten sich bereits zurückgezogen, als etwas ihre Aufmerksamkeit erregte...

»Prinzessin«, begann Gandril und riss sie aus ihren Erinnerungen, »wenn es Eure Absicht ist, einen Rat einzuberufen, dann ….« Er hielt inne, doch Kastanéa führte seinen Satz zu Ende.

»… sehe ich in der Tat eine große Bedrohung aufziehen, mehr, als uns allen lieb ist. Ihr werdet gleich schon mehr erfahren.«

Gerade in diesem Moment öffnete sich das Portal und herein trat Lilién, die zweite Beraterin der Prinzessin. Ihrer Herkunft gemäß in ein pastellgrünes Gewand gekleidet, schritt sie näher und begrüßte die Runde. Ihre hellen, fast weißen Haare waren kunstvoll geflochten und zierten ihren Kopf wie eine heimliche Krone. Gandril erhob sich von seinem Platz und deutete eine Verbeugung an, während Lilién sich zu Agariá setzte. Dunkle Schatten spukten unterdessen in Kastanéas Kopf herum, die sie daran hinderten, sich unbekümmert an der Unterhaltung der anderen zu beteiligen. Das plötzlich aufkommende Geräusch schlagender Flügel von den Fensteröffnungen her erregte die ungeteilte Aufmerksamkeit der Anwesenden und verscheuchte für einen willkommenen Moment auch die Schatten aus Kastanéas Gedanken.

~~ ~~ ~~ ~~ ~ ~

Urtic stapfte zu dieser Zeit durch die Gänge und Korridore des weitläufigen Palastes. Er passierte dabei zahlreiche Feen und weitere Wichte, die ihrem Rang entsprechend salutierten. Ähnlich wie Gandril war er in der hohen Position, Leibwächter der Feenregentin zu sein – zudem verband ihn eine enge und lange Freundschaft mit Nimbi, dem Häuptling.

Insgeheim war er stolz darauf, um die Sicherheit Kastanéas bedacht zu sein, ließ es sich aber nicht anmerken. Wichte machten sich generell nichts aus Einfluss und Macht. Ein Handwerker wurde ebenso geschätzt wie ein Bauer, Wirt oder ein Edelmann. Jedem waren Aufgaben und Stärken zu eigen, die von den anderen genutzt und gebraucht wurden.

Das Licht der Sonne spiegelte sich in den kristallenen Wänden des Palastes wider und ließ sie fast durchsichtig erscheinen, was jedoch täuschte. Das Mauerwerk war von derart besonderer Beschaffenheit, dass nicht einmal ein flüchtiger Ansatz eines Schattens hindurch zu sehen war.

Sonnenstrahlen verfingen sich in den dicken Wänden und tauchten den Palast in ein weiches Licht. Das hoheitliche Gebäude war ein Meisterwerk der Baukunst und zeugte bis in den letzten Winkel von der außergewöhnlichen Kunstfertigkeit der ersten Feen.

Diese hatten bereits mit Beginn der Bäume, Blumen und Pflanzen den Einzug in diese Welt erhalten. Mit den ersten Blüten, die sich öffneten, erblickten sie bereits vor vielen anderen in Alanlandhe das Licht der Sonne.

In jenen Tagen wurde auch der Palast erschaffen. Keiner der Wichte vermochte zu sagen, wie die Blütengeborenen dieses Unikum gefertigt hatten und zeigten dementsprechend großen Respekt davor.

In die Kristallwände waren Türen aus Holz eingesetzt, die mit allen nur erdenklichen Verzierungen, Fresken und Ornamenten feeischen Ursprungs versehen waren.

Urtic, endlich am Ziel angekommen, blieb vor einer tiefblauen Tür stehen.

Die intensive Farbe spiegelte sich in den umliegenden Wänden wider, so dass der Korridor in einen gedämpften blauen Schleier gehüllt war. Hier waren die Gemächer Nimbis, Sohn des Nimbus, Sohn des Nibûr, Sohn des Keldris, Sohn des Kândrus, Sohn des Kândir. Einer der bedeutendsten Wichtfamilien seit der Entstehung Alanlandhes. In Kândir sahen die Wichte ihren ersten Anführer, der sie als ein geeintes, starkes Volk durch die frühen Wirren und Unruhen geführt hatte. Er war bemüht um den Dialog zu anderen Völkern Alanlandhes und Begründer der feeischen Dynastie, die er als die Herrschenden über Kasta-Nién vorgeschlagen und unter den Augen Illu-Cails eingesetzt hatte. Seit diesem bedeutenden und tragenden Ereignis bildeten die Feen forthin das Herrschergeschlecht über die freien Völker Kasta-Niéns.

Drei Krönungen wurden seither in der Geschichte Alanlandhes vollzogen.

Die erste eingesetzte Herrscherin war Maroneé, ihr folgte Sylva und nun war es Prinzessin Kastanéa, die noch immer den Thron innehatte.

Urtic hob seinen rechten Arm und schlug drei Mal mit der Faust gegen die Tür.

»Auuuuuuuuuuuhhhh«, tönte es durch das Holz aus den Gemächern.

»Nimbi?«, rief der Wächter ein wenig besorgt, da er nicht wusste, was da vor sich ging.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte er erneut mit erhobener Stimme, da keine Antwort folgte.

Ohne weiter darüber nachzudenken, drückte er die versilberte Klinke herunter und stürmte in die Räumlichkeiten. Im Wohnraum war niemand zu sehen und er drang weiter in die Gemächer ein, um nach Nimbi zu suchen. Auch das Schlafgemach lag verlassen vor ihm. Urtic fragte sich, was geschehen war und rief weiter nach dem Gesuchten.

Dann plötzlich stand ein Wicht vor ihm, der aus einem kleinen Nebenzimmer getreten war. Urtic erstarrte und sah zu ihm herüber.

»Nimbi?«

Mehr brachte der Wächter nicht heraus, denn er fragte sich, was sein Gegenüber da gerade anstellte. Nimbi war in ein weinrotes Oberhemd gekleidet, das an der Brustschnürung offenstand und den Blick auf seinen kräftigen, beharrten Oberkörper freigab. Den schwarzen gestärkten Harnisch, aus dem Panzer eines gewaltigen Hirschkäfers gefertigt, hatte er noch nicht übergestreift. Die ebenfalls schwarze, aus Hanf gewebte Hose, reichte ihm bis zu den Knien. Seine Stiefel standen noch im Schlafgemach vor dem Bett.

Urtic wunderte sich, dass Nimbi seine Nase fest mit beiden Händen umklammerte und leise vor sich hin jammerte. Die Geste sah ein wenig merkwürdig im Vergleich zu der groben und einschüchternden Erscheinung des sonst so großspurigen Wichtes aus.

»Beim Barte der Wichte!«, platzte Nimbi dumpf heraus, da seine großen Hände auch seinen Mund verdeckten.

»Was glaubst du, was du da tust, du Dämel?«

Urtic zögerte ein wenig aufgrund der Beschimpfung, wenn gleich er es von Nimbis Temperament durchaus gewöhnt war.

»Aber … was ist denn passiert?«, fragte er.

»Was passiert ist? Du fragst mich, was passiert ist?«

Er machte eine künstliche Pause, um dem Moment mehr Dramatik zu verleihen.

»Ich habe mich, vermaledeit noch mal, geschnitten, weil du wie ein dämlicher Troll an die Tür bollerst und damit den halben Palast zum Einsturz bringst.«

»Aber warum hältst du dir dann die Nase?«, wollte Urtic wissen.

Dass sich Nimbi rasierte, war nichts Ungewöhnliches. Viele Wichte trugen der Mode nach nur einen Kinnbart, der ihnen jedoch bis zur Hüfte hinabreichte. Einige trugen auch einen Schnauzer, der, an beiden Enden geflochten, bis auf die Brust hing. Nur die Alten trugen noch den üblichen Vollbart, der nahezu das halbe Gesicht verdeckte. Das Haupthaar trugen die Wichte lang. Zumeist in einem Zopf gebunden, der auf ihrem Rücken lag, aber auch kombiniert mit zwei Seitenzöpfen, die über die Schultern schwangen.

Dann endlich antwortete Nimbi auf die Frage des Wächters.

»Weil ich gerade damit beschäftigt war, meine Nasenhaare zu stutzen!«

Auf Urtics Gesicht machte sich der schwache Glanz eines Lächelns bemerkbar.

»Ich warne dich, wenn du es wagen solltest zu …!«

Nimbi konnte seinen Satz nicht zu Ende bringen, als sein Gegenüber auch schon in ein grunzendes Gelächter ausbrach. Urtic hätte wirklich mit allem gerechnet, aber nicht damit! Noch niemals in der Geschichte Kasta-Niéns hatte man von einem Wicht gehört, der sich die Nasenhaare rasierte. Urtic war nicht mehr zu bremsen und vergaß sich so sehr, dass er sich sogar setzen musste. In der Tat hatte er selten so gelacht. Zwischendurch verstummte seine Heiterkeit, doch als er Nimbi völlig empört und schimpfend vor sich stehen sah, sich noch immer die Nase haltend, begann sein Gekicher von neuem.

Als es ihm zu bunt wurde, verschwand Nimbi im Nebenzimmer, um mit besorgter Miene nach seiner Nase zu schauen. Nachdem Urtic sich endlich beruhigt hatte und fähig war, ein konstruktives Gespräch zu führen, gedachte Nimbi, es erneut zu versuchen.

»Also los, du Spaßvogel, bring mir meinen Harnisch und dann sag mir endlich, was du eigentlich von mir willst!«

Der Wächter, wieder bereit, Gehorsam zu leisten, holte den Panzer aus dem Schlafgemach, brachte ihn Nimbi und half ihm, diesen überzustülpen.

Der provisorische Verband um Nimbis Nase stellte sich dabei als nicht sonderlich hilfreich heraus. Drei Versuche benötigten sie, um mit der Kopföffnung nicht mehr an dem Verband hängen zu bleiben, was wiederum dazu führte, dass Nimbi jedes Mal quietschend aufschrie und Urtic erneut anfing zu wiehern. Als beide endlich aus dem Bad herauskamen, zog sich Nimbi, schlecht gelaunt, seine Stiefel an und der Besucher teilte ihm die Neuigkeiten der Prinzessin mit.

»So, du denkst also, sie will einen Rat einberufen. Aaahhh, soweit ich weiß, hat man dich nicht zum Denken angestellt«, nölte Nimbi herum, unzufrieden mit sich und seiner Nase.

»Nun, es wirkt ganz so, als sei etwas im Gange!«, entgegnete Urtic. »Sie hat sämtliche Bittsteller vertrösten lassen und Avellá gebeten, sich um die höfischen Angelegenheiten zu kümmern. Wenn du mich fragst, dann ist da was faul!«

»Na hör sich einer diesen Wurzwicht an! Kaum passieren Dinge, die nicht in sein bärtiges Schema passen, ist ein Königreich in Gefahr! Sag mal, hat dir schon mal jemand anvertraut, dass du neben reichlich Bier auch eine Menge Unfug verzapfst? Aaah ….«, stöhnte der Wichthäuptling theatralisch auf, »mit dir ist man schon bestraft. Na los, mach dich nützlich, mein Harnisch drückt am Rücken noch ein wenig!«

Urtic ließ Nimbis Schimpftiraden schweigend über sich ergehen. Er wusste, dass es nicht so gemeint war und Nimbi sich auf diese Art und Weise für sein Lachen an ihm revanchieren wollte. Seine Launen waren durchaus bekannt. Jedoch schmälerte dies nicht seine Beliebtheit unter den Wichten, denn er war ein treuer Freund und vor allen Dingen ein guter Häuptling und Sprecher der Wichte. Stets hatte er ein offenes Ohr für die Anliegen seines Volkes und versuchte, wenn möglich, allen und allem gerecht zu werden. Gelang dies nicht, war er darum bemüht, für alle Beteiligten den bestmöglichen Kompromiss auszuhandeln.

»Nun gut, und weiter, was hast du noch gehört?«, hakte Nimbi neugierig nach.

Urtic zögerte und überlegte.

»Wenn du mich fragst, dann hat es etwas mit Ôltrirs Berichten zu tun. Ich kann meine Hand dafür nicht ins Feuer legen, aber ich meine doch, etwas von Schatten aufgeschnappt zu haben! Ich bekam mit, wie sich Avellá und Agariá miteinander darüber unterhielten. Sie waren zwar peinlichst bemüht, davon nichts an unsere Ohren kommen zu lassen, es ist ihnen aber nicht gelungen. Du weißt, dass die Beschaffenheit der Kristallwände in bestimmten Winkeln den Schall verstärkt … und was soll ich sagen …? Die beiden standen sehr ungünstig, wenn es darum geht, ein Geheimnis miteinander zu besprechen!«

Ein vielsagendes Grinsen huschte über sein Gesicht, während sich Nimbis Augen zu konzentrierten Schlitzen verengten.

»Ich sagte dir doch, dass der alte Ôltrir keinen Zinnober erzählt. Mir scheint, dies hat auch Kastanéa eingesehen.«

Urtic schnaubte, halb belustigt, halb entrüstet.

»Und noch etwas will ich dir sagen, Urtic! Vor uns liegen düstere Ereignisse! Mögen die Schatten weit von uns sein! Wir werden sehen, was uns der Rat bringen wird. Ich bin mir sicher, dass der eine oder andere schwer zu überzeugen sein wird, was die Tatsache der Schattenaktivitäten anbelangt.«

»Ich kann mich ebenso wenig für die Fantasien Ôltrirs erwärmen, das weißt du … doch will ich mich gerne eines Besseren belehren lassen. Es ist und bleibt mir jedoch unverständlich, wie Faal sich aus dem Bann befreit haben soll!«

»Niemand sagt, dass er das geschafft hat!«, fuhr Nimbi dazwischen. »Wir wissen bisher nur, das Schaduw – wenn auch nur schwach – und in welcher Art und Weise auch immer, Kontur angenommen hat. Allein, ohne Faal, seinen Herrn, wäre er dazu allerdings nicht in der Lage gewesen.«

Die beiden Wichte tauschten düstere Blicke aus und schwiegen, in Gedanken versunken, eine Weile.

»Jetzt aber los, sonst beginnt der Rat ohne mich.«, bemerkte Nimbi schließlich.

Urtic erhob sich und beide wandten sich zur Tür, als der Wächter noch einen letzten Einwand erhob.

»Was ist mit deinem Verband? Willst du ihn so lassen? Ich meine, es könnte sonst passieren, dass du unterwegs keine Luft mehr bekommst.«

Ein unterdrücktes Glucksen verriet, dass er es nicht unbedingt ernst meinte.

»Sehr spaßig, du solltest dich vielleicht im Unterholz als Possenreißer anstellen lassen.«

Nimbis Stimme klang aufgrund des vielen Stoffes in seinem Gesicht ein wenig nasal.

»Warte mal«, sagte Nimbi mehr zu sich selbst und fummelte an dem provisorischen Verband herum. Endlich hatte er seine Nase befreit und schielte angestrengt nach unten, um zu sehen, ob alles in Ordnung war.

»Na, nun sag schon«, forderte er Urtic auf, »blutet sie noch?«

»Nein, sie ist nur ein wenig rot. Lass mal sehen, wo genau ist denn der Schnitt? Uuuuhhh...«

Er kam nahe an die Nase heran und begutachtete sie ausgiebig. Nimbi konnte nicht sehen, dass er mit seinen zuckenden Mundwinkeln zu kämpfen hatte. Nach einer Weile kam Urtic wieder hoch und sah seinen Häuptling fragend an.

»Sag mal, womit hast du dich eigentlich rasiert, mit deiner Axt?«

Jetzt sah nicht nur Nimbis Nase rot. Er schleuderte dem Wächter seinen Verband entgegen und verließ wutschnaubend die Räumlichkeiten. Urtic versuchte, vergeblich, Schritt zu halten.

Durch die zahllosen Gänge erreichten sie schließlich das Eingangsportal zum Thronsaal. Der zurückgebliebene Wächter salutierte einen Gruß und öffnete dann die mächtige Tür. Nimbi betrat die große Halle. Als hinter ihm das Portal wieder ins Schloss fiel, begrüßten ihn die bereits Anwesenden und erhoben sich von ihren Plätzen.

Neben Prinzessin Kastanéa entdeckte er Agariá und Lilién, ihre beiden Beraterinnen, Gandril, den Oberbefehlshaber der Wichtgarde, der ein persönlicher und enger Freund von ihm war. Abseits des Tisches stand ein großer Schmetterling bei den anderen und wippte leicht mit seinen Flügeln. Es war die Eigenart der Sommervögel, dies zu tun, wenngleich sich Nimbi immer wieder fragte, warum die zappelnden Flieger nicht einen Augenblick still verharren konnten. Ihre Flügel waren immer in Bewegung, selbst wenn sie schliefen. Der Wicht wartete geradezu darauf, dass einer der Schmetterlinge einmal versehentlich abhob, während er friedlich vor sich hinträumte. Er trat näher heran und nickte in die Runde.

»Prinzessin, ich grüße Euch! Agariá, Lilién, Gandril«, er drehte sich zum letzten Anwesenden herum, »Attacus, Fürst der Sommervögel, auch dich heiße ich herzlich willkommen!«

»Vielen Dank, Nimbi.«, antwortete dieser. »Sag, was ist mit deiner Nase geschehen? Wir haben dich doch nicht etwa bei einem Becher Bier im Unterholz gestört?«

Seine Frage war die reine Ironie. Er hatte seinen Spaß daran, den Wicht ein wenig zu necken. Dies beruhte durchaus auf Gegenseitigkeit und es war ein stetiges kleines Spielchen zwischen den beiden. Nimbi sah ihn an und überlegte, was er darauf antworten sollte.

»Du bist zu gütig, aber wenn du es genau wissen willst, hat mich einer der deinen bei einem Ausflug fallen lassen und ich stürzte leider sehr unglücklich auf meine hübsche Nase.«

Die schlagfertige Antwort sorgte für allgemeine Erheiterung in der Runde.

Denn alle wussten nur zu genau, dass Nimbi das Fliegen nicht vertrug und, sofern es möglich war, dieses vermied.

»Nimbi, setzt Euch doch bitte«, lud ihn Kastanéa ein, »wir haben wichtige Dinge zu besprechen und je eher wir beginnen, umso besser.«

»Ihr macht mich neugierig«, entgegnete der Neuankömmling, während er seinen Platz einnahm.

Erst jetzt bemerkte er zufällig, dass Attacus nicht allein gekommen war.

Durch eine Fensteröffnung konnte er im Hofgarten noch einen weiteren Schmetterling erkennen. Er lag dösend im Gras und wippte dabei mit seinen Flügeln. Aufgrund ihrer Farbe und Musterung konnte man sie gut auseinanderhalten und er registrierte, dass es Geomé sein musste, der gerade ein ausgiebiges Sonnenbad genoss.

Die Sommervögel waren massiger als übliche Schmetterlinge. Groß wie Greifvögel, konnten sie ohne Mühe die kleinen Bewohner Alanlandhes auf ihren Rücken transportieren. Seid der Zerstörung Fifaldras im Faal-Krieg lebten sie zumeist in Capall-Thar, auch Wildweiden oder Land der Einhörner genannt. Doch man sah sie nicht selten auch durch die Wälder Kasta-Niéns streifen. Sie beherrschten die Gemeinsprache und verfügten über die Gedankensprache, ebenso wie die Feen.

»Ich glaube, wir alle sind neugierig, was uns Kastanéa zu berichten hat«, warf Lilién ein.

»Dann sollt ihr jetzt nicht länger warten müssen. Ich denke, vor uns wartet eine große Aufgabe. Auf das Eintreffen von Cinà und Corian können wir nicht warten. Es sind bereits Boten unterwegs zur Waldmeisterstadt und zu den Melissenböschungen.«

Die Prinzessin machte eine kurze Pause. Gespannt schauten die anderen sie an.

»Zuerst sollten wir nun aber, der Vollständigkeit halber, Attacus von der Geschichte Ôltrirs berichten! Alle übrigen werden sie kennen, wenn ich nicht irre.«

Ein bestätigendes Nicken ging durch die Runde.

»Lasst mich kurz wiedergeben, was der alte Wicht uns vor gut einem halben Mond zu berichten wusste.« Kastanéa begann mit der Schilderung der Geschehnisse.

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Das mit Runen reich verzierte Portal zum Thronsaal öffnete sich und herein kam Cirsim, einer der Leibwächter der Regentin. Mit großen Schritten erreichte er den Thron, auf dem die Prinzessin an diesem Tag schon einige Kasta-Niér empfangen hatte. Sie waren mit den unterschiedlichsten Anliegen vor sie getreten. Als Herrscherin über das Land hatte sie sowohl die Vollmacht als auch die Pflicht, über Streitigkeiten zu bestimmen, sowie über ihren Ausgang zu urteilen. Nun wartete sie mit wachsender Ungeduld auf das Erscheinen Cirsims. Als dieser endlich den Saal betrat und berichtete, Ôltrir, der Wicht, warte draußen, ließ sie den Besucher unverzüglich herein zu holen.

Neben ihr saßen jeweils zur Linken und zur Rechten Agariá und Lilién. Gespannt sahen sie den alten Wicht näherkommen. Cirsim begleitete ihn. Vor den drei Feen macht der Alte eine Verbeugung und nahm auf einem angebotenen Stuhl Platz.