Alba Nera - Giancarlo De Cataldo - E-Book

Alba Nera E-Book

Giancarlo de Cataldo

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Beschreibung

Kommissarin Alba jagt ein Monster, das ihr stets einen Schritt voraus zu sein scheint. In einer heruntergekommenen Villa an der Via Nettunense, südlich von Rom, wird ein halbtotes Mädchen gefunden, gefesselt nach der japanischen Shibari-Tradition, systematisch und brutal misshandelt. Wer sie so zugerichtet hat, hat viel Zeit und Energie aufgewendet. Das Werk eines Verrückten. Das weiß Alba Doria, die in ihrer Persönlichkeit gestörte, brillante Hauptkommissarin der Staatspolizei. Es erinnert sie an die sadistischen Praktiken eines Serienkillers, doch der ist seit zehn Jahren tot. Damals hatte sie gemeinsam mit zwei Freunden von der Polizeischule in ein obskures Nest aus Geheimdiensten, Kriminellen und korrupten Politikern gestochen und viel riskiert. Nun holt die Vergangenheit sie wieder ein. Ein komplexer Fall um Latino-Banden, rumänische Zuhälter, Schattenbankiers, den Geheimdienst und das Darknet.

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Foto: Nicola Calocero

Giancarlo De Cataldo, geboren 1956 in Taranto; lebt und arbeitet als Richter am Berufungsgericht in Rom. Er ist erfolgreicher Verfasser zahlreicher Romane, Erzählungen und Drehbücher für Film und Fernsehen. Mit Romanzo Criminale hat er einen mehrfach verfilmten und europaweit ausgestrahlten Politthriller über Roms Drogenkartell der 1970er-Jahre geschrieben.

Zuletzt auf Deutsch bei Folio: die Bestseller Suburra (2015) und Die Nacht von Rom (2016) (gem. mit Carlo Bonini) sowie Der Vater und der Fremde (2017) und Der Agent des Chaos (2019).

GIANCARLO DE CATALDO

ALBANERA

THRILLER

AUS DEM ITALIENISCHEN VON KARIN FLEISCHANDERL

Inhalt

TEIL EINS

Kapitel I.

Kapitel II.

Kapitel III.

Kapitel IV.

Kapitel V.

Kapitel VI.

Kapitel VII.

Kapitel VIII.

Kapitel IX.

Kapitel X.

Kapitel XI.

Kapitel XII.

Kapitel XIII.

Kapitel XIV.

Kapitel XV.

Kapitel XVI.

Kapitel XVII.

Kapitel XVIII.

Kapitel XIX.

Kapitel XX.

TEIL ZWEI

Kapitel I.

Kapitel II.

Kapitel III.

Kapitel IV.

Kapitel V.

Kapitel VI.

Kapitel VII.

Kapitel VIII.

Kapitel IX.

Kapitel X.

Kapitel XI.

Kapitel XII.

Kapitel XIII.

Kapitel XIV.

Kapitel XV.

Kapitel XVI.

Kapitel XVII.

Kapitel XVIII.

TEIL DREI

Kapitel I.

Kapitel II.

Kapitel III.

Kapitel IV.

Kapitel V.

Kapitel VI.

Kapitel VII.

Kapitel VIII.

Kapitel IX.

Kapitel X.

Kapitel XI.

Kapitel XII.

Kapitel XIII.

Kapitel XIV.

EPILOG

TEIL EINS

I.

Südlich von Rom, in einem heruntergekommenen Anwesen an der Via Nettunense, zanken sich zwei Jungen.

Jaime ist achtzehn. Ramon zweiundzwanzig. Die Narbe auf seiner Stirn besagt, dass er das Kommando hat. In der Pandilla aus dem Giardinetti-Viertel ist er der Ranghöchste. Jaime schuldet ihm Gehorsam und Respekt.

Zwei unruhige und hungrige junge Hunde. Untersetzt, muskulös, voller Tattoos.

Die Straße war ihre Schule. Um in die Bande aufgenommen zu werden, mussten sie Gesichter zerschneiden, zustechen, Feinde verprügeln, und auch ihre Gesichter sind zerschnitten worden, auf sie ist eingestochen und auch sie sind verprügelt worden. Sie haben Knochen gebrochen und Gesichter zerschnitten, sie haben sich mit Gewalt Respekt verschafft.

Aber so etwas haben sie noch nie erlebt. Niemals.

Auf dem Boden eines ehemals großen Aufenthaltsraumes, zwischen Gerümpel und verrosteten Nägeln, liegt ein Mädchen.

Ihre Augen sind geschlossen, und von ihrem winzigen, in eine Decke eingewickelten Körper, auf dem sich rote Blutflecken und weitere undefinierbare Flecken befinden, steigt ein säuerlicher Geruch auf. Tiefe Rillen in der weißen Haut, und unter den Fesselungsknoten, die aus merkwürdigen bunten Schnüren bestehen, sieht man ein Netz aus blauen Flecken und Schnitten.

Der, der sie so zugerichtet hat, hat viel Zeit und Energie dafür aufgewendet.

„Das ist das Werk eines Verrückten“, sagt Jaime, der Verrückte hasst.

„Das ist nicht unser Problem, hermano“, antwortet Ramon.

„Nicht? Ramon, die puta krepiert.“

„Na und?“

„Das gefällt mir nicht, gehen wir.“

„Zuerst der Job, hermano.“

„Was für ein Job?“

„Der da.“ Grinsend holt Ramon eine Machete hervor. Er geht zum Mädchen hin und macht Jaime ein Zeichen, er möge ihm folgen. „Los, hilf mir. Wir erledigen das und dann fahren wir nach Hause.“

„Was hast du vor?“

„Was glaubst du?“

Schwer atmend umrundet Ramon den Köper des Mädchens. Er hält inne und hebt die Klinge, wie um zu zielen. Jaime begreift, was er von Anfang an geahnt hat, jedoch nicht glauben wollte.

Der Job. Die chica zerstückeln. Wie man es in TV-Serien sieht, wie man es in den Erzählungen der Alten hört, die sich noch an die Todesschwadronen unten im fernen Salvador erinnern.

Brechreiz steigt aus seiner Speiseröhre auf. Er hat zugestochen, zugeschlagen, zugehauen. Doch noch nie getötet. Bis jetzt. Gut, es gibt immer ein erstes Mal. Aber das bedeutet nichts. Tja, wenn Raufereien an der Tagesordnung sind, kann schon mal einer ins Gras beißen. Und die Verteidigung des Territoriums ist heilig, wie auch die Verteidigung deiner Familie, deiner Brüder, deiner Frau. Doch es muss einen Grund geben, sonst ist es nur locura, Wahnsinn.

Mit ganzer Kraft unterdrückt Jaime den Brechreiz und macht einen Schritt in Richtung seines Freundes. Er muss Zeit gewinnen.

„Warte.“

„Was ist?“

„Und was machen wir mit der … Leiche?“

„Stimmt. Geh zum Lastwagen und hol die Müllsäcke.“

„Ramon …“

„Hast du Angst?“

„Ramon, sag mir wenigstens, warum!“

„Was warum?“

„Das! Wegen dem Geld? Unsere Geschäfte laufen gut, wir brauchen kein Geld.“

„Es geht nicht ums Geld. Wir tun einem großen Tier einen Gefallen. Jemandem, der uns helfen kann, selbst groß zu werden.“

„Wem?“

Ramon gibt einen wilden Fluch von sich. Wenn er bei Pater Rodriguez zur Beichte geht, muss er sich daran erinnern: Flüche sind eine Sünde und bringen Unheil, wie seine mamita immer sagt. Jaime übertreibt wieder einmal! Ein Weichei ohne cojones. Wäre er nicht der Neffe von Hernan, el lobo, einer Bandenlegende, würde er dafür sorgen, dass er der chica Gesellschaft leistet.

„Du gehst mir auf die Nerven, amigo. Hol die Säcke und beenden wir die Sache!“

Er hebt die Machete, um den ersten Schlag zu führen, und während Jaime resigniert und in heller Panik die Augen zusammenkneift, um sich zumindest den Anblick des Massakers zu ersparen, verspürt Ramon einen heftigen Schlag und die Machete fliegt davon. Eine laute, heisere Stimme brüllt: „Halt, Polizei, auf den Boden, oder ich bringe euch um!“

„Nicht schießen!“, schreit Jaime, legt die Hände auf den Kopf und seufzt erleichtert.

Ramon zögert einen Augenblick. Aber nur so lange, wie er braucht, um einen massigen Typ mit weißen Haaren – carajo, ein Alter! – zu erblicken, der jedoch mit beiden Händen eine Halbautomatische hält, danach folgt er dem Instinkt. Er springt zur Seite, zieht gleichzeitig ein Messer aus der an der Achsel befestigten Scheide und schleudert es wie ein wahrer Messerwerfer auf die bewaffnete Silhouette.

Der pistolero sieht die Gefahr, bückt sich, um dem Messer auszuweichen, verliert dabei das Gleichgewicht und geht mit dem Gesicht voran zu Boden. Mit einer schnellen Bewegung verhindert er, dass ihm die Pistole entgleitet. Ein Schuss löst sich, der an der Decke verhallt.

Ramon überlegt, die Situation auszunutzen. Immerhin ist er jünger und kampfgeschult. Doch der Typ sieht aus wie ein Profi und hat eine Pistole. Außerdem hat er sich als Polizist ausgewiesen und ist vielleicht nicht allein, sondern wartet auf Verstärkung. Zum Teufel mit dem Job, sagt sich Ramon, das ist eine Falle, offenbar hatte Jaime, dieser Hosenscheißer, recht. Er rennt zur Tür und schreit seinem Freund zu, er solle ihm folgen.

Doch Jaime denkt gar nicht daran. Er bleibt auf dem Boden liegen, nur wenige Zentimeter von dem röchelnden Mädchen entfernt, das kurz davor ist zu krepieren. Ein Grund mehr, nichts mit dieser Geschichte zu tun zu haben. „Nicht schießen, ich ergebe mich, ich ergebe mich“, sagt er immer wieder, eine müde Litanei.

Der Typ mit der Pistole ist aufgestanden. Er betrachtet den Jungen, der heulend am Boden liegt. Draußen hört man Motorengeräusch. Der Kumpan haut ab. Der Typ sagt sich, ich bin ein Idiot, ich hätte die Reifen des Lastwagens aufschlitzen sollen, doch jetzt ist es zu spät.

Fürs Erste sichert er den Tatort. Mit den Plastikhandschellen, die er immer dabeihat, fesselt er den Jungen an Händen und Füßen.

„Eine Bewegung und ich bringe dich um.“

Dann geht er zu ihr. Er hebt ihren Kopf an. Ihre Augen sind weit aufgerissen, doch sie ist nicht im Koma. Wahrscheinlich steht sie unter Schock, denkt er und weiß, dass er sich nicht irrt. Immerhin hat er eine gewisse Erfahrung. Seit zehn Jahren arbeitet er auf der Straße. Sie wird sich erholen, aber im Augenblick kann man sie nicht befragen. Er flüstert ihr tröstende Worte zu. Sie scheint nicht zu verstehen. Vielleicht ist sie Ausländerin, der Hautfarbe nach kommt sie aus dem Osten. Eine Hure? Zu früh, um das zu sagen. Außerdem ist das im Augenblick nicht wichtig. Mit ruhigen, vorsichtigen Bewegungen befreit er sie von der schmutzigen Decke. Sie ist nackt. Nackt und voller Wunden. Er zieht seine Jacke aus und bedeckt damit den mageren Oberkörper, er streicht ihr eine Haarlocke aus der Stirn, sie glüht vor Fieber, ihre Lippen sind aufgesprungen, und er hat nicht einmal einen Tropfen Wasser bei sich. Mitleid und Gewalt überwältigen ihn. Er betrachtet den gefesselten jungen Mann, am liebsten würde er ihm die Rippen brechen. Er hält sich nur deshalb zurück, weil er in einem peripheren Bereich seines Gehirns eine Tatsache zur Kenntnis nimmt, die er erst jetzt, mit etwas Verspätung, verarbeiten kann.

Er konzentriert sich wieder auf das Mädchen, schiebt die Jacke beiseite und schaut genauer. Die Knoten. Die Knoten und die bunten Bänder. Die Art, wie sie angeordnet sind.

Er macht ein paar Handyfotos. Dann nimmt er ihre Hand und streichelt ihr über das Haar. Seine raue Stimme ist zärtlich und tief. Er beginnt ganz leise zu singen, als ob sein Gesang den sinnlosen Schmerz lindern könnte.

Er heißt Gianni Romani, früher trug er den Spitznamen Biondo. Er ist Polizeikommissar. Er ist hier, weil Pulce, ein Informant, ihm den Tipp gegeben hat, dass sich in dem alten Anwesen zwielichtige Gestalten herumtreiben.

Er ist gekommen, um sich umzusehen, insgeheim und mit der Hoffnung, einen kleinen Dealer zu erwischen.

Doch nun steht er seiner Vergangenheit gegenüber.

Mit einem hinterhältigen Grinsen wendet er sich an den gefesselten Jungen. „Wir beide unterhalten uns jetzt.“

II.

„Herr Doktor, erinnern Sie sich an die Wissenschaftlerin, die mit den Gorillas zusammenlebte, die von Wilderern umgebracht wurde?“

„Dian Fossey?“

„Genau.

„Haben Sie geträumt, Dian Fossey zu sein?“

„Aber nein, ich habe geträumt, ein Gorilla zu sein.“

„Ein Gorilla?“

„Ich war ein prächtiger Bursche, groß und mächtig, mit riesigen Muskeln …“

„Wirklich interessant. Ein Männchen? Ich frage Sie, weil Sie ‚ein Bursche‘ sagten.“

„Tatsächlich. Männlich. Ja, männlich.“

„Reden Sie bitte weiter.“

„Also. Ich flüchte vor … keine Ahnung, ich glaube, vor Jägern … mit einem Wort, sie sind hinter mir her, ich höre Schüsse, sie schießen, aber ich bin nicht verletzt. Ich bin in einer Art Wald, dann befinde ich mich plötzlich auf … einer Art Klippe, und darunter ist das Meer, Felsenklippen, und das Meer schäumt, kocht. Ich würde sagen, eine bretonische Landschaft, oder vielleicht die Maremma im Winter.“

„Und weiter?“

„Dann falle ich. Eigentlich fliege ich. Typisch, oder?“

„Interessant.“

„Während ich fliege, falle, oder was auch immer, stelle ich fest … dass unten, auf einem Strand mit ganz feinem, weißem Sand – ich kann sogar die glitzernden Körnchen sehen, die in der Sonne, einer schönen Hochsommersonne glitzern –, eine kleine Familie sitzt. Eine typische italienische Kleinfamilie, der Vater ein wenig übergewichtig, die Mutter im Badeanzug und ein Mädchen mit Zöpfen. Sie haben ein Badetuch oder vielleicht eine Decke ausgebreitet und bereiten ein Picknick vor … die Mutter hat eine Kühltasche mitgebracht, Sie wissen ja, eine Dose mit kalter Pasta, kaltem Nudelsalat, und etwas Obst … Weintrauben und Feigen … und der Vater hat eine große Melone eingekühlt … ins Meer gelegt …“

„Das ist vielleicht eine Erinnerung an Ihre Herkunft. Wenn ich nicht irre, stammen Sie aus Apulien …“

„Ach, ich bitte Sie, ersparen Sie mir das alte Lied von den Erinnerungen, der Familie … Wenn ich in meiner Kindheit ans Meer fuhr, dann mit Chauffeur, Haushälterin und einer Gouvernante für mich und meine Schwester, meine Mutter hätte sich niemals in den Sand gesetzt, um Gottes willen, bei den vielen Leuten, den Keimen … Nein, es geht nicht um Erinnerung, es geht um etwas anderes.“

„Erzählen Sie es mir.“

„Während ich falle und den Leuten immer näher komme, bin ich mir ganz sicher, dass ich ihnen wehtun werde. Ich weiß es. Vielleicht werde ich sie fressen oder …“

„Es ist bemerkenswert, dass Sie sich mit einem Gorilla identifizieren, der doch Vegetarier ist … Wen wollten Sie vor allem fressen?“

„Ich hatte das Gefühl, dass ich auf sie drauffallen würde, dass sie mir ausgeliefert waren, und … das machte mir einen Riesenspaß. Ich meine das Gefühl der Macht. Ja. Die Angst, die sie gleich verspüren würden, der Schrecken. Und das alles hing von mir ab. Ja, es machte mir einen Heidenspaß.“

„Und dann?“

„Was dann?“

„Haben Sie die kleine Familie erschlagen?“

„Nein. Ist sich nicht ausgegangen. Ich bin aufgewacht.“

Eine kleine Vibration geht der Antwort des Arztes voraus. Doktor Salzano lächelt vage, schüttelt seine rabenschwarze Mähne und nickt. „Sie sind nicht ans Ende des Traums gelangt, doch wir sind am Ende der Sitzung angelangt. Wir sehen uns nächsten Dienstag. Zur gleichen Stunde.“

„Ich werde pünktlich sein.“

Sobald er allein ist, atmet Salzano das zarte Parfüm mit der Bitterkakaonote ein, das sie zurückgelassen hat. Worin besteht dieser kaum wahrnehmbare Duft, der dem Aroma beigemengt ist? Wenn er ihn doch nur erkennen könnte … Alba Doria. Hauptkommissarin der Staatspolizei. Der Doktor hat einige Chefs der Sicherheitspolizei in Therapie, sogar ein paar große Tiere der Geheimdienste. Die häufigsten Probleme: Depressionen und mangelnde Impulskontrolle. Doch Alba Doria gehört nicht dazu. Ein in wissenschaftlicher Hinsicht sehr interessanter Fall. Er sollte etwas darüber schreiben. Offiziell hat sie sich wegen posttraumatischem Stresssyndroms an ihn gewandt: Vor einigen Monaten hat sie einen gewissen Cardine, einen Serienkiller, gestellt und umgebracht, einen hater, der zur Tat geschritten war und zwei Jugendliche angestiftet hatte, ihre Familien auszurotten. Bevor er ins Gras biss, hatte er noch ihren Vorgesetzten, Paolo Petti, eine Art Polizistenlegende, umgelegt. Alba hatte Lobeshymnen geerntet, große Zeitungsartikel, man hatte sie im Fernsehen interviewt. Bei der ersten Sitzung hatte sie gesagt, sie könne sich nicht verzeihen, gescheitert zu sein. Die Vorstellung des toten Petti ließe ihr keine Ruhe.

Nach zwölf Sitzungen war Salzano zu der Erkenntnis gelangt, dass die posttraumatische Störung nur ein Vorwand war. Alba hatte ein viel größeres Problem. Ein viel tiefer sitzendes. Wäre er nicht ein hochgeschätzter Profi, worauf er stolz ist, würde er ein Wort verwenden, das er sich aufgrund von Berufsethos und Erkenntnis versagt: Wahnsinn.

In Alba Doria steckt Wahnsinn. Seine Aufgabe ist es herauszufinden, welcher Art und in welchem Ausmaß. Im Augenblick ist Doktor Salzano einzig und allein davon überzeugt: Die Frau ist gefährlich.

Und jetzt kann er dem zarten Aroma, das ihm noch immer zu denken gibt, auch einen Namen geben. Es ist der Intimgeruch einer Frau. Dieser Geruch. Albas Geruch.

Jetzt, wo er den Geruch definieren kann, wird er konkret, nimmt Form und Gestalt an und dringt wie eine ungesunde und nicht tilgbare Wolke in jeden Winkel der würdevollen Praxis mit den soliden, antiken Mahagoni-Möbeln. Eine Gischt, an der er trinken kann, zwischen deren Wellen er schwimmen kann, bis er untergeht … Der Arzt weiß, dass dieser Geruch nur in seinem Kopf existiert, und die Tatsache, dass er sich dessen bewusst ist, verstärkt die Spannung. Was ist mit ihm los? Er ist nicht bereit, zwei Jahrzehnte Berufserfahrung über Bord zu werfen. Der riesige Aufwand für die Ausbildung … und jetzt diese Frau …

Wäre er nicht ein geschätzter Profi, worauf er stolz ist, wäre er schon vor geraumer Zeit über sie hergefallen. Vielleicht sollte er die Therapie beenden. Sich diplomatisch eine Krankheit einfallen lassen und die Sache beenden.

Oder vielleicht auch nicht.

Seufzend nimmt Doktor Salzano das iPhone zur Hand und gibt ein Sprachkommando: „Öffne die Doria-Datei.“

Die Datei ist offen.

Salzano diktiert mit geschlossenen Augen: „Rom, 4. Dezember. Zum ersten Mal ist mir die Patientin zumindest teilweise aufrichtig erschienen …“

Alba schließt das schwere Tor des alten Palazzo im Della-Vittoria-Viertel und unterdrückt zum x-ten Mal den Wunsch zu rauchen. Sie hat beschlossen aufzuhören und wird es auch schaffen. Während sie über die von den letzten Platanenblättern bedeckte Allee geht, denkt sie, dass sie nicht so oft zu einer Sitzung gehen sollte. Wenn sie in diesem Rhythmus weitermacht, wird Salzano irgendwann zum Angriff übergehen. Nicht, dass sie nicht imstande wäre, eventuelle Avancen abzuwehren. Sie hat schon schlimmere erlebt und im Grunde missfällt ihr dieses Spiel nicht. Er ist ein gut aussehender Mann, wahrscheinlich ein guter Liebhaber. Doch die Banalität der Situation schreckt sie ab. Die Patientin, die mit dem shrink in einer klassischen Übertragungssituation fickt. Nein, das ist ihrer nicht würdig. Und vielleicht ist Salzano tatsächlich ein guter Psychoanalytiker. Der ihr helfen kann, ihr Problem zu lösen.

So bezeichnet Alba die Dunkle Triade, ihre stille Lebensgefährtin. Die Persönlichkeitsstörung, die sie an sich festgestellt hat, während sie den Serienmörder Cardine gejagt hat. Die Triade ist ein Cocktail aus Narzissmus, Soziopathie und manipulatorischen Fähigkeiten. Sieger leiden daran genauso wie Verlierer. Die Triade kann dich auf den Olymp führen oder in die Hölle. Wer unter der Triade leidet, ist vorherbestimmt. So fühlt sich Alba: vorherbestimmt. Doch wofür? Das ist das wahre Dilemma. Für das Licht oder die Dunkelheit? Und warum bezeichnet sie das Ganze als Problem und nicht als Ressource? Auf jeden Fall war sie heute Salzano gegenüber nahezu aufrichtig. Sie hat wirklich geträumt, und zwar genau das, was sie ihm erzählt hat.

Zumindest bis der Gorilla zu der Familie gelangt ist. Und sie zerfleischt hat.

Während er die Leute zerfleischte, lachte er. Dabei verspürte sie ein merkwürdiges Gefühl der Befriedigung. Dieselbe Befriedigung wie an jenem Abend, als sie Nino Cardine erschoss, während er … Nun, diesen Teil des Traums hat sie verschwiegen. Und natürlich auch das Ende. Das Ende mit dem unstillbaren Heulkrampf und der bodenlosen, schwarzen, verzweifelten Traurigkeit …

„Ciao, Alba.“

Sie zuckt zusammen und greift instinktiv in die Tasche des Trenchcoats, wo sie für gewöhnlich die Pistole und jetzt den Pfefferspray aufbewahrt. Sie hasst es, überrascht zu werden. Sie hasst es, wenn ihre Aufmerksamkeit nachlässt.

Sie hasst es, wenn …

Dann sieht sie ihn. Er lehnt an einem blattlosen Stamm, eine Zigarette zwischen den Lippen. Groß und schwerfällig, mit Schultern wie ein Rugbyspieler, die ehemals aschblonden Haare sind jetzt weiß, er ist ein wenig dick geworden, etwas mitgenommen, sein Ausdruck ist halb sarkastisch und halb ratlos, die ursprünglich leuchtenden grauen Augen sind erloschen. Sie erinnert sich, wie ihr Herz in den gemeinsamen Nächten, im Dienst, in den seltenen Momenten der Ruhe, geklopft hat, sogar dann noch, als ihre Beziehung von Tag zu Tag schwieriger wurde und die Trennung nicht mehr zu verhindern war. Sie versucht sich an das Gefühl von damals zu erinnern, und es überrascht sie, dass sie es nicht mehr heraufbeschwören kann. Dass sie unfähig ist, sich im Detail daran zu erinnern.

Sie geht zu ihm und streckt ihm die Hand hin. „Ciao, Gianni“, sagt sie, ernst und kalt.

III.

Polizeiakademie, die Kaderschmiede für die zukünftigen Bullen-Führungskräfte. Italienisches Schießzentrum, Nettuno, Provinz Rom. Beim fünften Durchgang mit der Dienstwaffe, einer halbautomatischen Pistole, Kaliber 9 x 19, standen die Wetten fifty-fifty für Biondo und Dr. Sax. Wie bei allen früheren Übungen, als sie beide die Besten waren. Die anderen Schüler hatten keine Chance: Biondo und Dr. Sax waren einsame Spitze.

Von den Mädchen, die sich seinem Wikingercharme nicht entziehen konnten, wurde Gianni Romani Biondo genannt, und die Neidischen nannten ihn wegen seines mörderischen rechten Hakens Klaus Kinski.

Giannaldo Grassi war für Freund wie Feind Dr. Sax, denn wenn er sich nicht in den Kopf gesetzt hätte, die Straße von den Bösen zu säubern, wäre er gewiss bei einem großen Orchester gelandet, so gut spielte er.

Von Anfang an stand fest, dass die beiden die vielversprechendsten Kandidaten des Jahrgangs 2006–2008 waren. Sie konnten mit der Pistole umgehen und strategisch denken, sie hatten eine Ahnung von japanischen Kampftechniken und vom Strafgesetz, von Spurensicherung und Beschattung, Stichwaffen und Booleschen Operatoren. Außerdem waren sie sympathisch, und das rief noch mehr Neider auf den Plan, denn es war unmöglich, ihre Schwachpunkte zu finden: Vielleicht hatten sie gar keine, und wenn doch, verbargen sie sie erstaunlich gut. Außerdem waren sie befreundet. Obwohl sie körperlich wie charakterlich ganz verschieden waren. Biondo war athletisch und leidenschaftlich und gleichzeitig verschlossen und düster, Dr. Sax war schmächtig, stets mit einem ironischen, ja sarkastischen Lächeln auf den Lippen, nicht gerade ein Covermodel. Charismatisch der eine, sympathisch der andere, ein perfektes Paar.

Doch ein wahres Ranking gab es im Kurs nicht, man kam durch oder nicht. Der offensichtliche Egalitarismus war allerdings nur eine Fassade. Die Aktivitäten der Schüler wurden von Supervisoren überwacht, die über die zukünftige Karriere der Schüler entschieden. Und es verstand sich von selbst, dass sich Typen wie Biondo und Dr. Sax die begehrtesten Jobs unter den Nagel reißen würden.

Den anderen blieben nur die Wetten.

Und die Wetten waren der Grund für den fünften Durchgang, den es eigentlich gar nicht hätte geben dürfen, weil im Rahmen des Kurses nur vier vorgesehen waren. Sowohl Dr. Sax als auch Biondo kamen mit dem ex aequo gut zurecht. Was brachte der fünfte Durchgang, wenn nach dem sechsten dann doch wieder Gleichstand herrschte? Wichtig war nur, dass nach ihnen lange nichts kam.

Doch die Jungs, die Jungs hatten einen Riesenspaß bei dem Wettkampf. Und vor allem liebten sie die Wetten.

Eigentlich waren Wetten verboten, da es sich um zukünftige Ordnungshüter handelte. Doch die Vorgesetzten tolerierten sie, solange man nicht übertrieb. Im Grunde trugen sie sogar dazu bei, den Gruppengeist zu stärken. Wenn in der Zeitung oder in einem Film von Kameradschaft die Rede ist, denkt man, das sei bloß Rhetorik, doch wenn man sie wirklich erlebt, ist es ganz was anderes, und ob!

Und so hatte man letzten Endes beschlossen, doch noch einen fünften Durchgang zu machen.

Natürlich durfte man dem Wettkampf keinen offiziellen Anstrich geben. Um ihn zu rechtfertigen, hatte man einen Trick angewandt. Es gab eine neue Kommissarsanwärterin, Frau Dr. Alba Doria, die an den früheren Durchgängen nicht teilgenommen hatte, weil sie erst später in den Kurs aufgenommen worden war. Irgendjemand im Ministerium hatte die Unterlagen verschlampt und Doria war fürs Erste nicht aufgenommen worden. Sie hatte vom Verwaltungsgericht einen Aufschub erhalten, und ausnahmsweise hatte in der höheren Etage die Klugheit gesiegt. Anstatt zu mauern, hatte die Verwaltung die verspätete Aufnahme bewilligt. Versuchen wir es mit der Tussi und schauen wir, aus welchem Holz sie geschnitzt ist. Wenn sie gut ist, behalten wir sie. Sonst schmeißen wir sie wieder raus, wie die anderen Trottel. Und niemand kann uns Diskriminierung oder sonst was vorwerfen.

So flankierten Biondo und Dr. Sax diesmal ein hochgewachsenes Mädchen. Ihre schwarzen Haare hatten einen brünetten Schimmer, die schräg geschnittenen Augen changierten zwischen Grün und Aquamarin, nur die hohen, nahezu slawischen Backenknochen störten die Perfektion des zarten Gesichts. Schwanenhals, konzentrierter Blick, ohne die Spur eines Lächelns.

Gut gebaut, wenn auch etwas dünn, dachte Biondo, mit dem Geschmack des zukünftigen mittleren Beamten. Als selbstsicher, wenn nicht gar arrogant, schätzte hingegen Dr. Sax sie ein, den ihr fester, trockener Händedruck beeindruckt hatte.

Der Ausbildner teilte Gehörschutz und Waffen aus.

Dann begann der Wettkampf.

Und am Ende des Wettkampfs gab es einen neuen Star: Alba Doria.

Alba Doria hatte sie plattgemacht. Eigentlich hatte es gar keinen Wettkampf gegeben. Die Frau schoss wie Rambo und Tex Willer gemeinsam. So etwas hatten sie noch nie gesehen. Der Ausbildner war sprachlos. Die Jungs, die gewettet hatten, waren stinksauer. Natürlich war keiner von ihnen auf die Idee gekommen, auf das Mädchen zu setzen. Niemand außer Ugo Ippoliti, der größte Trottel unter den Schülern, ein Schwachkopf aus der Poebene, ein perfekter Niemand, ein Loser.

Er hatte als Einziger auf Alba Doria gesetzt und würde nun drei Monate lang von dem Wetterlös leben können.

Biondo und Dr. Sax hingegen trösteten sich bei Nonno, einer alten Pizzeria, die der betagte Besitzer stur im alten Stil weiterbetrieb, in einem Viertel, das sich allzu schnell änderte.

Sie saß an einem Ecktisch, allein bei einem Glas Bier. Ippoliti versuchte vergebens, ein Gespräch anzuknüpfen.

Biondo und Dr. Sax gingen zu ihr hin.

„Dürfen wir Platz nehmen?“

Noch bevor Alba antwortete, stellten sie zwei Stühle an den Tisch und setzten sich.

„Wenn ihr eine Revanche wollt …“, sagte sie, nach wie vor ernst, ohne eine Spur von Lächeln.

Dr. Sax hob kapitulierend die Arme. „Keine Revanche. Ein andermal.“

Sie antwortete nicht, blieb steif und distanziert.

„Im Ernst“, sagte Biondo, „du spielst in einer anderen Liga. Kompliment.“

Sie sah ihn kühl an. „Wenn das Kompliment ernst gemeint ist, nehme ich es an. Für gewöhnlich könnt ihr Männer nicht damit umgehen, einer Frau unterlegen zu sein …“

Biondo fragte sich, ob sie Spaß daran hatte, blöd daherzureden. Im Übrigen konnte auch er ein Arschloch sein. „Das hängt davon ab. Ich würde gern im Bett unter dir liegen …“

Dr. Sax lachte nervös, als wollte er sagen: „Das ist nur ein Witz, nimm es nicht ernst.“ Kameraderie hat nichts mit der Beziehung zwischen Mann und Frau zu tun.

Ungerührt hob sie das Bierglas und schüttete es Biondo über den Kopf.

Und während er wild fluchend aufsprang, stand sie auf und ging wie eine würdevolle Eiskönigin hinaus.

Ippoliti lief ihr nach, scharwänzelte wie ein Hündchen um sie herum. „Darf ich dich nach Hause begleiten?“

„Warum nicht?“

Ein paar Tage später, als der Kurs beendet war, überreichte Biondo Alba einen riesigen Blumenstrauß.

„Ich bin ein Trottel. Tut mir leid.“

Zum ersten Mal lächelte sie. „Ich glaube, ich bin dir ein Bier schuldig, Biondo.“

Innerhalb von zwei Wochen waren sie ein Paar.

IV.

Alba hat sich nicht verändert, sagt sich Biondo. Zumindest nicht äußerlich. Sie sieht noch immer sehr gut aus. Sie weiß, dass ihr die Schönheit Macht verleiht, und sie genießt es, sie zu missbrauchen. Ein leichter, lästiger Nieselregen fällt. Keiner der beiden hat einen Schirm. Gianni zieht eine Leinenmütze aus der Tasche und reicht sie ihr. Eine instinktiv schützende Geste.

Sie tut, als würde sie es nicht bemerken, und zeigt auf das Schild einer Bar. „Da drinnen stehen Tische. Da können wir uns unterhalten.“

Dann hakt sie sich bei ihm ein, als wäre nicht viel Zeit vergangen, als hätte es nicht so viele schreckliche Missverständnisse zwischen ihnen gegeben. Gianni verspürt den Impuls, sich loszumachen. Unbeabsichtigt hat die Berührung einen undefinierbaren Schauer bei ihm ausgelöst. Erregung. Oder Qual. Doch schließlich folgt er ihr gefügig, mit gesenktem Kopf.

Ein kleines Lokal, das nach Putzlappen und fettigen Kacheln riecht, um diese Uhrzeit ist es leer. Hinter der Theke ein pickeliger, grinsender Chinese.

Er bestellt ein Tonicwater, sie einen Cappuccino und einen Vanillekrapfen. Gianni muss lächeln. Er hat einen ihrer kleinen Ticks wiedererkannt. Alba konnte tagelang von Wasser und Gemüsesäften leben. Doch wenn sie sich in die Enge gedrängt fühlte, fraß sie wie ein Scheunendrescher. Die Begegnung nach so langer Zeit lässt sie also nicht kalt.

„Was ist los, Gianni? Du hast dich jahrelang nicht gemeldet.“

„Du hingegen …“

„Ich?“

Gianni seufzt, nickt und beginnt zu erzählen. Nur wenige Worte, ein nervöser Bericht, denn er will zum Punkt gelangen. Das Mädchen, das Foto. Die Knoten.

Sie hört unkonzentriert zu, als der Chinese ihr den Krapfen serviert, macht sie Biondo ein Zeichen, er solle einen Augenblick lang schweigen. Sie beißt mit Genuss in den Krapfen, schließt die Augen, dann bedeutet sie ihm, er möge fortfahren. Er kommt rasch zum Schluss. Sie gähnt.

„Ich verstehe nicht. Du bekommst einen Tipp von einem Informanten und dringst in ein Bauernhaus außerhalb deines Reviers ein, ohne auf Verstärkung zu warten. Du beginnst einen Schusswechsel mit zwei nervösen Jungs, einer haut ab, der andere ergibt sich und singt wie ein Vogel. Es stellt sich heraus, dass es sich um Pandilleros der Mara Salvatrucha, der MS13, handelt, der widerlichsten Latinobande, die in den letzten Jahren in Italien aufgetaucht ist. Geht es um Drogen? Nein. Irgendjemand, wir wissen nicht, wer, hat dem größeren der beiden Jungs den Auftrag gegeben, das Anwesen zu betreten und ein Mädchen zu eliminieren. Merkwürdig, zweifellos. Die Frage ist jedoch: Was geht das mich an?“

Darauf hat er gewartet, er reicht ihr das iPhone und fügt flüsternd hinzu: „Schau dir die Fotos an, Alba.“

Sie nimmt das Handy und wirft einen zuerst zerstreuten, dann ungläubigen, dann konzentrierten und schließlich beunruhigten Blick darauf. Als sie das Handy auf den Tisch legt und ihn anblickt, blitzt Angst in ihren Augen auf.

„Vielleicht ist es nur ein Zufall, Gianni.“

„Vielleicht auch nicht.“

„Wir sollten Sax benachrichtigen.“

„Deshalb bin ich hier.“

Alba nickt, sucht in ihrer Tasche nach dem Handy, tippt schnell eine kurze Nachricht ein, dann überlegt sie es sich anders, löscht sie, schreibt eine neue, löscht auch diese. Dann aktiviert sie die Sprachfunktion.

„Wir müssen uns sehen. Es geht um Arielle.“

V.

Eine große Villa an der Appia Antica. Riesiger Park. Im Frühling und im Sommer würde man die Landschaft an der Grenze zwischen Stadt und Land als „lieblich“ bezeichnen. Doch an einem Tag wie diesem, düster und melancholisch grau, wirkt dieses Adjektiv fehl am Platz.

Das Handy, das in der Tasche einer schwarzen Joggingjacke auf der Bank neben einem Tennisplatz steckt, leuchtet auf. Das Handy piepst immer wieder, doch die vier Männer, die gerade ein spannendes Doppel spielen, achten nicht darauf.

Ein hagerer Sechzigjähriger mit der stolzen Haltung eines Soldaten schlägt auf, es könnte sein Matchball sein. General Cono di Sangiorgio, ein hohes Tier im Geheimdienst. Er stammt von einer adeligen Familie aus Salerno ab, unter seinen Vorfahren befinden sich Condottieri und Kardinäle, und nur wenige Auserwählte, die sein Vertrauen genießen, wagen ihn mit dem Namen anzusprechen, unter dem er in den wichtigen Kreisen bekannt ist: Silberfuchs. Ein Ausbund an Scharfsinn, ein Sir mit feinem Humor, freundlich und im Zweifelsfall unbarmherzig.

Sein Partner, der deutlich jünger ist, mit kurzen schwarzen Haaren, schmächtig, aber sportlich, hat kein Problem damit, dass man ihn „Doktor Sax“ nennt. Wenn man ihn freundlich auffordert, hat er kein Problem damit, vor einem kleinen Kreis von Freunden und Vertrauten zu spielen, und obwohl er Karriere gemacht hat – im Augenblick ist er Conos engster Mitarbeiter, eigentlich seine rechte Hand –, hat er noch immer die freundliche und uneitle Art wie damals, als er bloß ein zukünftiger Jäger von Verbrechern war. Cono und Giannaldo sind ein eingespieltes Team: ein schönes Beispiel für eine geeinte Familie, denn Giannaldo hat Conos einzige Tochter Luisella geheiratet, und er ist der Vater von Gaspare, Gasparino, Rino genannt, des einzigen Enkels des Silberfuchses.

Auf der anderen Seite des Netzes steht Aldo Silla, fünfzig Jahre, schlank, nicht sehr groß, weißes Haar, klassischer Verführertyp, charismatisches Lächeln. Ein Mann, der gern im Schatten lebt und äußerst diskret agiert. Er würde niemals öffentlich auftreten, eine offizielle Erklärung abgeben, sich äußern. In den sozialen Medien gibt es kein Bild und keine Meinungsäußerung von ihm, auch im Netz zirkulieren nur ganz wenige Fotos von ihm. Silla muss sich nicht zeigen, genauso wenig wie Cono, beide müssen nicht protzen. Silla und Cono sind die wahre Macht, und die wahre Macht bewegt sich im Dunkeln, braucht keine Scheinwerfer.

Worin diese Macht besteht, ist schnell gesagt. Cono führt ein kleines Heer von Profis an, deren Aufgabe es ist, das Land vor äußeren und inneren Feinden zu schützen. Silla ist einer der größten Schattenbankiers der Welt. Ein Finanzmagier. Seine Aufgabe besteht darin, die ungehemmte Zirkulation des Kapitals vor inneren und äußeren Feinden zu schützen. Anders gesagt, zwei aufrechte Verteidiger der Demokratie, Feinde jeglichen Aggressors, egal welcher Hautfarbe oder welcher ideologischen Ausrichtung.

Der vierte Spieler ist William Negrete, Sillas Sekretär und Mädchen für alles. Ein kleiner, introvertierter, schweigsamer Mann, der jedoch vielen zufolge äußerst effizient ist. Cono di Sangiorgio schlägt auf und Silla antwortet mit einer tiefen, aber langsamen Forehand. Dr. Sax retourniert backhand, der Ball scheint über dem Netz innezuhalten, dann fällt er weich und leicht zu Boden. Silla, der einen Smash erwartet hat, ist rechtzeitig losgeschnellt. Denselben Kampfgeist würde man von Sax erwarten, doch der steht unbeweglich auf seinem Platz, vielleicht rechnet er nicht damit, dass Silla den Ball noch erwischt. Doch Silla hebt ihn von unten über das Netz, dorthin, wo die Gegner ihn nicht erwischen.

Spiel, Match, Sieg.

Silla jubelt, hebt die geballte Faust grinsend und vielleicht drohend Richtung Sax, der unbeweglich hinten auf dem Spielfeld steht. Cono grinst halbherzig. William Negrete, der nicht zu Gefühlsausbrüchen neigt, geht mit gesenktem Kopf zur Bank. Sax setzt sich extrem langsam, fast widerwillig, in Bewegung. Als er seine Joggingjacke nimmt, stellt er fest, dass das Display des Handys leuchtet, doch er hebt nicht ab. Nichts kann so wichtig sein, dass man es nicht nach einer erfrischenden Dusche erledigen könnte.

Als sich Sax etwas später die Haare abrubbelt, ein weißes Handtuch um die schlanke Hüfte geschlungen, fragt ihn Silla provokant: „Dachtest du, ich würde den Ball nicht mehr erwischen?“

„Ich dachte, ich hätte dich aufs Kreuz gelegt“, sagt Sax leise und feindselig.

„Da hast du dich getäuscht“, erwidert Silla, „du solltest wissen, dass ich nie kapituliere. Für mich gibt es keine Freundschaftsspiele. Sieg oder Niederlage …“

Sax kommentiert nicht. Silla nickt zufrieden. Der Dialog hat unter Negretes Blick stattgefunden. Als Sax den Blick des Mexikaners kreuzt, glaubt er in seinen dunklen Augen Solidarität aufblitzen zu sehen.

Ein paar Minuten später verabschieden sich die vier. Silla und Negrete steigen in eine Limousine mit abgedunkelten Scheiben. Cono und Sax bleiben zurück. Auf der Schwelle des Haupthauses der Tenuta Tina (so heißt die Villa zu Ehren von Concepita di Sangiorgio, Conos verstorbener Mutter) taucht die Haushälterin auf und verkündet, dass der Tee angerichtet sei. Dr. Sax unterdrückt eine unwirsche Geste. Sein Schwiegervater mit seiner unerträglichen Anglophilie! Wie oft hat er ihm stolz die Geschichte von seinem Ururgroßvater erzählt, der während der Revolution 1799 Luisa Sanfelice festnahm: „Hast du verstanden, Gianna’? Es reichte ihr nicht, eine Frau zu sein, sie wollte die Welt verändern.“ Antijakobiner und auch noch stolz darauf. Ein Diener Tausender Herren. Also ein Diener von niemandem.

Schwiegervater und Schwiegersohn gehen aufeinander zu. Endlich gibt Cono ein überzeugtes Lachen von sich. Seit Jahren bestimmt er den Ausgang des Matches. Er legt sogar die Punktezahl fest. In diesem Fall war beschlossen worden, dass das Duo Silla-Negrete das letzte Set beim Tiebreak gewann. Sax ist sein Komplize. Sie irren sich nie. Bisher ist noch niemand draufgekommen. Ein kleiner psychologischer Trick, der Cono dabei hilft, sein Netzwerk noch weiter auszubauen. Unglaublich, dass sogar die Schlauesten wie Silla drauf reinfallen. Aus Narzissmus, Arroganz, Eitelkeit. Hin und wieder ist das Spiel wirklich aufregend. Wenn es darum geht, einen ehemals Mächtigen, der im Dreck gelandet ist, sechs-null, sechs-null zu zerschmettern.

Gibt es eine hinterhältigere und befriedigendere Methode?

„Hin und wieder ist Silla wirklich ein Trottel“, fällt Cono wie so oft in den Dialekt seiner Heimat.

Sax zuckt mit den Achseln. „Auch nicht mehr als alle anderen.“

„Er hat einen Haufen Fehler und ich weiß, dass du ihn nicht magst“, fährt der andere hartnäckig fort. Seine Stimme wird härter, während er sich bei Giannaldo einhakt und etwas fester als notwendig zudrückt.

„Doch solange ich an meinem Platz bin, ist Silla tabu. Er ist zu wichtig.“

Sax antwortet nicht. Das Thema „Ende der Dienstzeit“ ist bei seinem Schwiegervater tabu. Formal wird Cono auf zwei Jahre von der Regierung gewählt. Dabei handelt es sich um einen gemeinschaftlichen Beschluss mehrerer Minister. In wenigen Monaten wird für die nächsten zwei Jahre entschieden. Die einflussreichsten Kommentatoren prophezeien, dass nach sieben Amtszeiten sein Ende gekommen sei. Die neue Mehrheit hat geschworen, reinen Tisch zu machen. Conos Kopf wird wahrscheinlich als Erster rollen.

Giannaldo ist unter seinen Fittichen groß geworden, doch mittlerweile ist er flügge. Vorsichtig hat er bereits die ersten Kontakte geknüpft. Er hofft, dass er sich an die richtigen Personen gewandt hat. Er hat keine Lust, sich vom General mitreißen zu lassen. Doch Cono hat seit einigen Tagen so gute Laune, dass es dafür einen Grund geben muss. Tatsächlich lächelt er wohlwollend und streicht ihm über die rechte Handfläche: eine der Gesten, die er ihm im Lauf der Zeit beigebracht hat.

„Ich fürchte, dass du mich noch ein paar Jahre als deinen Vorgesetzten akzeptieren musst, mein Junge …“

Aha, daher der große Optimismus! Der alte Bastard hat zum x-ten Mal die Fahne gewechselt.

„Glaubst du, dass auch die … die neuen …“, sagt Sax und erwidert die Bruderschaftsgeste.

„Ich habe unzähligen Republiken gedient, mein Junge. Drei, vier, ich habe den Überblick verloren … Glaub mir, immer wenn einer kommt und ein anderer geht, machen alle große Ankündigungen, versprechen unglaubliche Neuerungen und so weiter und so fort … doch letzten Endes gibt es immer eine Übereinkunft.“

Sax antwortet mit einem bemühten Lächeln. Conos Selbstsicherheit verspricht eine weitere Phase relativer Ruhe. Doch Sax hat die ganze Routine satt. Wie lange muss er noch warten, bis sein Augenblick gekommen ist? Es war nicht einfach, die übelwollenden Blicke seiner schmierigen Kollegen zu ertragen, die bösartigen Witze über den Parvenü, der die Tochter seines Chefs geheiratet hat. Auch wenn er im Feld seine Tapferkeit bewiesen hat. Auch wenn er heikelste Fälle gelöst, Lob eingeheimst, die Welt bereist hat … Kann er sich darauf verlassen, dass die Politiker, mit denen er sich zum Essen getroffen hat, in der Hoffnung, den Alten auszubooten, diesen nicht bereits von seinen Machenschaften informiert haben?

„Ach, wie schön, der Kleine und der Großvater!“

Als Rino, das fünfjährige Quecksilber, zwischen seinen Beinen durchläuft, strahlt Cono, und Sax nimmt wieder einmal zur Kenntnis, dass sogar ein kaltblütiges Tier wie er zu echten Gefühlen fähig ist. Ein hübsches, dunkles Kind, ein glücklicher und ausgelassener Krauskopf. Gewiss gerät er nicht nach Luisella, die ihn mit süßlichem Lächeln auf dem schiefen Gesicht und dem Kittel einer Vollzeitmutter im Haus empfängt. Immer wenn Sax seine Frau sieht, erscheint sie ihm noch hässlicher. Nicht, dass er sie verabscheute. Luisella ist in Ordnung, eine tadellose Mutter und auch eine tadellose Ehefrau. Solange man auf Dinge wie Begehren, Leidenschaft, Fröhlichkeit, Spaß verzichtet. Luisella: Gott, wie langweilig!

„Papa, spielen wir den Breimarsch?“

Vielleicht hat Rino sein musikalisches Talent geerbt, denn kaum hat ihm die Kindergärtnerin eine Blockflöte in die Hand gedrückt, hat der Kleine ihr wie ein alter Profi Kaskaden von Tönen entlockt. Und jetzt bittet er seinen Vater Tag für Tag, ihm ein Stück beizubringen. Den Breimarsch zum Beispiel. Beziehungsweise When the Saints Go Marching In, für Saxofon und Blockflöte. Sax wirft Luisella einen Blick zu und sie verschwindet kurz in der großen Villa und kommt gleich darauf mit Saxofon und Flöte zurück. Sax’ Handy vibriert noch immer. Mit einer automatischen Geste schaut er auf das Gerät. Eine Nachricht von Alba Doria: „Schau dir die Fotos an, es ist dringend!“

„Papa!“

„Einen Augenblick, Schatz.“

Sax öffnet die Datei, die Alba ihm geschickt hat. Er wirft einen raschen Blick auf die Fotos, wird blass, versucht die Aufregung mit einem halbherzigen Lächeln zu bannen.

„Papa, komm schon!“

Sax packt mechanisch das Instrument und beginnt ein paar leise und langsame Töne zu spielen, damit der Kleine einstimmen kann und den Rhythmus errät. Dann schließt er die Augen.

Er hofft, dass Alba sich irrt.

Alba und Biondo kommen um circa zehn in die Villa. Der Regen hat aufgehört, aber es ist feucht, und der kalte Nordwind jagt Wolken über den Himmel.

Alba parkt den Smart neben einem karminroten Alfa Stelvio und führt Gianni über einen Kiesweg, der zum Haupthaus führt.

„Warst du schon einmal hier?“

„Wir sind in Kontakt geblieben.“