Albtraumland - Gabi Kreher - E-Book

Albtraumland E-Book

Gabi Kreher

0,0
5,49 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die 23-jährige Madlen lebt mit ihren jüngeren Geschwistern und dem älteren Bruder Chris auf dem Bauernhof ihrer Eltern. Der Alltag ist geprägt von der Gewalt und Lieblosigkeit des alkoholabhängigen Vaters. Aus Sorge um ihre Geschwister wagt sie es nicht, von Zuhause fortzugehen. Um ihrem Martyrium zeitweise zu entfliehen, hilft sie am Wochenende in einer Bar aus. Dort lernt sie den Jungunternehmer Luis kennen und verliebt sich. Doch dann eskaliert das Verhältnis zwischen Chris und ihrem Vater …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


 

HYBRID VERLAG

Vollständige elektronische Ausgabe

11/2023

 

Albtraumland

 

© by Gabi Kreher

© by Hybrid Verlag

Westring 1

66424 Homburg

 

Umschlaggestaltung: © 2023 by Juliane Buser – Grafikdesign (www.jb.grafikdesign.de)

Lektorat: Eva Kunadt, Nadine Engel

Korrektorat: Petra Schütze

Buchsatz: Lena Widmann

Autorenfoto: privat

 

Coverbild ›Mein ist die Strafe‹

© 2020 by Creativ Work Design, Homburg

Coverbild ›Aljizar – Das Folterhaus‹

© 2021 by Creativ Work Design

Coverbild: Datei-Nr. 192894435 Portrait of beautifulgirl,

Bildnachweis: olly

 

ISBN 978-3-96741-232-1

 

www.hybridverlag.de

www.hybridverlagshop.de

 

 

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

 

Printed in Germany

 

 

Gabi Kreher

 

Albtraumland

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Roman

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Für Michelle, die mich zu dieser Geschichte

inspirierte.

 

 

Prolog

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

20.

21.

22.

23.

24.

25.

26.

27.

28.

29.

30.

31.

32.

33.

34.

35.

36.

37.

38.

39.

40.

41.

42.

43.

44.

45.

46.

47

48.

49.

50.

51.

52.

Epilog

Nachwort

Danksagung

Die Autorin

Hybrid Verlag …

 

Prolog

 

Ich war sechzehn, als ich das erste Mal bei einem Zahnarzt war. Jetzt bin ich dreiundzwanzig. Mein Name ist Madlen.

Caro fragte mich kürzlich, warum wir nie zum Jugendamt gegangen sind. »Wir dachten, das ist normal«, antwortete ich ihr.

Tief im Inneren hatte ich aber immer schon gespürt, dass wir von der Norm abweichen. Merkte es an den Blicken, die uns die anderen zuwarfen. Das Gefühl einer unsichtbaren Mauer war allgegenwärtig. Ihre Angst, wir könnten ihnen zu nahekommen. Sie anstecken — mit was auch immer.

Wir, die Assis vom Pechsteinhof.

Besonders deutlich wurde mir der Unterschied nach meiner Einschulung bewusst. Anders als die Eltern unserer Mitschüler gingen Mutter oder Vater nie zu einem Elternabend von uns Kindern. Zu keiner Zeit haben sie uns in die Schule gebracht oder von dort abgeholt. Doch man kannte uns auch so in Breitenbach.

Mehr noch, wir schienen die Attraktion zu sein.

»Schaut mal, Maddys hässliche Mutter. Sie sieht aus wie eine Hexe. Sie stinkt«. In Grüppchen standen die anderen Kinder wispernd und lachend im Pausenhof zusammen.

Eine graue, abgewetzte Fleecejacke und eine zerschlissene Jeans. In meiner Erinnerung trug unsere Mutter stets diese beiden Kleidungsstücke. Ständig schien sie zu frieren. Ihr ungepflegtes Äußeres mit ihren strähnigen Haaren habe ich nie als solches empfunden. Ihr Aussehen wirkte auf mich normal.

 

Wenn Chris die Gemeinheiten unserer Mitschüler mitbekam, baute er sich wutentbrannt vor ihnen auf und drohte mit unserem Vater. Das jagte ihnen Angst ein. Immerhin hatte der gewalttätige Pechstein-Bauer schon mal für kurze Zeit im Gefängnis gesessen.

Von uns fünf Geschwistern haben Chris und ich immer am engsten zusammengehalten. Wir standen uns von jeher sehr nahe. Er ist der Erstgeborene, zwei Jahre älter als ich. Nick ist neunzehn, Ben fünfzehn und Jenny vierzehn Jahre alt. Dann gab es noch Tim. Er wäre jetzt siebzehn. Er ist tot. Unsere Eltern haben ihn sterben lassen. Einfach so.

Ich habe mich oft gefragt, warum wir von ihnen in die Welt gesetzt wurden. Dabei ist die Antwort so simpel wie offensichtlich: billige Arbeitskräfte, das war der Grund. Nur dafür brauchten sie uns.

Unser Hof ist ein heruntergekommenes, baufälliges Anwesen, das an ein Gebäude aus der Nachkriegszeit erinnert. Zu den wenigen neuzeitlichen Errungenschaften zählen ein Traktor und ein paar altertümliche Geräte, die wir benötigen, um die Felder zu bewirtschaften.

Die Tage auf unserem Hof sind lang, ausgefüllt von der harten Arbeit. Alle müssen mit anpacken und ständig drehen wir uns im Kreis. Nie ist ein Ende in Sicht.

Wenn wir etwas für die Schule erledigen sollten, pflegte Vater zu sagen: »Ihr wollt euch nur vor der Arbeit drücken.«

Gerade auf Chris traf dies am wenigsten zu. Sein sehnlichster Wunsch war es, den Hof zu übernehmen. Alles zu erneuern. Er träumte davon, einen Biohof zu bewirtschaften, doch Vater blieb unnachgiebig. Chris hatte keine Chance.

Lange Zeit fragte ich mich, warum ausgerechnet Chris immer Vaters Tobsuchtsanfälle und Prügelattacken einstecken musste, aber irgendwann fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Vater hatte mit der Intelligenz seines Sohnes ein Problem. Er war unfähig, die unzähligen Fragen dieses wissbegierigen Kindes zu beantworten. Chris begab sich selbst auf die Suche nach Antworten. Löcherte seine Lehrer, lieh sich Bücher und sog alles an Wissen wie ein Schwamm in sich auf. Bald schon war er Vater in vielen Dingen überlegen.

Als Kind bekam er Schläge aufgrund seiner Widerworte und rotzfrechen Art. Die Gewalt wurde zu seinem ständigen Begleiter, bis er sich mit neunzehn Jahren zu wehren begann. Zu dem Zeitpunkt überragte er Vater um einen halben Kopf.

Ich weiß noch genau, wie Chris seinen Arm in der Luft abfing, als er wieder einmal bereit war zuzuschlagen. Mit versteinertem Gesicht hatte er Vater angestarrt. Von diesem Tag an erhob Vater nie wieder die Hand gegen meinen Bruder.

Bis vor drei Monaten, am 11. Juni 2017.

1.

 

Freitag, 12. Mai 2017

 

Ein kurzer Blick auf mein Handy zeigt mir, dass es bereits nach neunzehn Uhr ist. Wenn ich nicht schon wieder zu spät kommen will, sollte ich mich beeilen. Chris muss meine Geste bemerkt haben. Er kommt den Gang entlang und greift nach dem mit frischer warmer Milch gefüllten Eimer neben mir. »Geh schon, ich mach das fertig.« Mit dem Kopf deutet er zur offenen Stalltür.

»Hast was gut.« Dankbar drücke ich ihn kurz an mich. »Kannst dafür morgen eine halbe Stunde länger liegen bleiben«, rufe ich ihm beim Hinausgehen über die Schulter zu. Ironisch lacht er auf. Wir wissen beide, dass Vater ihn aus dem Bett schmeißen wird.

Mit raschen Schritten gehe ich in meinen Gummistiefeln über den verdreckten Hof. Das Geld reicht nicht einmal für einen einfachen Teerbelag. Jetzt, nach ein paar Regentagen, ist alles aufgeweicht und ein einziger Matsch.

Das Graubraun der schlammigen Masse zu meinen Füßen harmoniert perfekt mit dem Farbton des Wohnhauses vor mir. Der abgefallene Putz an der Fassade verdeutlicht den maroden Zustand des Gebäudes. Durch das undichte Dach der Scheune zu meiner Rechten dringen ein paar letzte Wassertropfen. Die penetrante Kombination aus feuchter Witterung und Stallgeruch kriecht unaufhaltsam meine Nase hoch. Im Schuppen neben dem Haus tausche ich die Stallschuhe gegen meine Crocs. Rasch gehe ich die Stufen zur Haustür hoch. Wie immer steht sie offen. Vor der Küche bleibe ich kurz stehen. Mit auf den Händen abgestütztem Kopf sitzt Mutter am Tisch. Ein paar hellbraune Strähnen haben sich aus ihren im Nacken zusammengebundenen Haaren gelöst. Langsam hebt sie den Blick. »Was gibt’s zu glotzen?«, fragt sie mit tonloser, müder Stimme.

Ihr rechtes Auge schimmert in blau-violetten Tönen. Vermutlich ist Vater mal wieder die Hand ausgerutscht und in diesem Moment wird er mit großer Wahrscheinlichkeit im Adler, seiner Stammkneipe, die Erinnerung daran ertränken. Ihre Frage ignorierend steige ich die Treppe in den ersten Stock hinauf. Die abgenutzten Holzstufen knarzen bei fast jedem Schritt und die nackte Raufasertapete löst sich an manchen Stellen von der Wand. Hier oben befinden sich unsere Zimmer. Wenigstens hat jeder sein eigenes. Jennys Tür steht halb offen. Im Vorbeigehen nehme ich aus dem Augenwinkel wahr, wie sie auf ihrem Bett sitzt und aus dem Fenster starrt. Ich bleibe stehen und lehne mich an den alten Türrahmen, dessen Farbe an einigen Stellen schon absplittert. »Hey, alles klar?«

Sie scheint mit den Gedanken ganz woanders zu sein. Langsam dreht sie den Kopf und sieht mich an.

»Hallo, aufwachen!« Mit der Hand deute ich eine wischende Bewegung durch die Luft an.

Sie blinzelt ein paar Mal und lächelt. »Hey, ja, alles ok.«

Jetzt erst fällt mir auf, dass sie einen Rollkragenpulli trägt. Etwas unpassend für Mitte Mai, wie ich finde.

»Bist du nicht zu warm angezogen?« Ich runzle die Stirn.

»Mir ist kalt.« Sie zuckt mit der Schulter. »Gehst du heute Abend wieder ins Fellini? Nimmst du mich mit?« In ihrem hoffnungsvollen Blick liegt etwas Drängendes.

Ich lege den Kopf schräg und ziehe die Augenbrauen nach oben. »Du weißt, dass das nicht geht. Man muss sechzehn sein und selbst dann darfst du höchstens bis zehn bleiben.«

Aus ihren großen dunklen Augen sieht sie mich so unglücklich an, dass es mir ins Herz schneidet. Sie tritt ans Fenster und starrt hinaus. Ich gehe zu ihr und lege meine Arme um ihre schmalen Schultern. Wann nur ist aus dem kleinen Mädchen dieser hübsche Teenager geworden? Aus der schlaksigen Gestalt hat sich ein wohlgeformter Körper mit Proportionen an genau den richtigen Stellen entwickelt.

Wir Geschwister halten zusammen. Schließlich haben wir nur uns. Am stärksten jedoch kommt mein Beschützerinstinkt bei Jenny zum Ausdruck. Das liegt eindeutig daran, dass sie die Jüngste und außerdem ein Mädchen ist. Wir stehen eine Weile zusammen am Fenster, als sie sich ruckartig umdreht und in meine Arme wirft. Für den Bruchteil einer Sekunde habe ich das Gefühl, ein verzweifeltes Aufblitzen in ihren Augen zu sehen.

 

In meinem Zimmer lehne ich mich einen Moment an die Tür. Bildfetzen tauchen hinter meinen geschlossenen Lidern auf. Das Aufschnappen eines Klappmessers, ein abgedunkelter Raum. Nein, ich kann jetzt nicht darüber nachdenken. Ich atme tief durch und stoße mich entschlossen von dem alten Holz ab.

Waschen, anziehen, Make-up. Darauf sollte ich mich konzentrieren. Zuerst schäume ich mein Haar ein. Es kann trocknen, während ich mich am Waschbecken in meinem Zimmer mit Seife und Lappen frisch mache. Baden ist uns nur einmal die Woche gestattet — samstags. Niemand wagt es, diese Regel zu brechen.

In meine Schranktür ist ein großer Spiegel eingefasst. Nackt und frisch gewaschen stehe ich davor. Das rotbraune Haar fällt feucht und leicht gewellt auf meine Schultern. Langsam lasse ich den Blick über meinen Körper gleiten. Ich beginne bei den Füßen. Sie sind von durchschnittlicher Statur. Ich trage Größe neununddreißig, was zu einer Körpergröße von 1,72 m vermutlich ganz gut passt. Nacheinander betrachte ich meine Schienbeine, Knie und Oberschenkel. Sie sind ein wenig kräftig, jedoch ohne dick zu wirken. Durchtrainiert, von der körperlichen Arbeit geformt. Von meinem flachen Bauch wandern meine Augen langsam höher, zu meiner Brust. Mein Busen ist weder zu groß noch zu klein, also vermutlich perfekt? Das kann ich nicht beurteilen, bei keiner Stelle meines Körpers könnte ich das. Es ist, als würde er jemand anderem gehören. Ich studiere mein Gesicht. Braune Augen mit bernsteinfarbenen Sprenkeln sehen mich an. Darüber thronen kräftige Augenbrauen. Die eine etwas höher als die andere. Zwischen meinen hohen Wangenknochen sitzt eine unspektakuläre, gerade Nase und neben den vollen Lippen hat sich ein verbitterter Zug eingegraben, so kommt es mir zumindest vor. Keine Ahnung, ob ich hübsch bin. Vielleicht meine Augen. Ja, ihre Farbe mag ich. Aber sonst? Ich starre mein Spiegelbild an und fühle nichts. Plötzlich wird mir klar, weshalb. Ich betrachte eine leblose Puppe, eine Tote.

 

Mein zusammengebundenes Haar ist noch immer feucht. Bevor ich mich aufs Fahrrad schwinge, ziehe ich rasch eine Beanie-Mütze über. Eine Erkältung kann ich mir nicht leisten, meine Geschwister würden es ausbaden müssen.

Es ist kurz vor halb acht. Ich bin gut in der Zeit. Bis in die Stadt hinunter benötige ich ungefähr eine Viertelstunde, zum Fellini etwa weitere fünf Minuten.

Außer unserem Anwesen sind weitere vier Höfe oben auf dem Stockerberg angesiedelt. Sie liegen alle einen guten Kilometer auseinander. Bis auf den Sigelhof haben wir keinen Kontakt untereinander. Mit denen vom Pechsteinhof will niemand etwas zu tun haben.

Trotz der fortgeschrittenen Stunde ist es recht mild und ich genieße es, mit dem Mountainbike die Serpentinenstraße hinunterzufahren. Ich habe es mir von meinem Lohn und dem Trinkgeld abgespart. Vater hat es stillschweigend hingenommen. Aus gutem Grund. Diego versorgt mich regelmäßig mit Übriggebliebenem aus seiner Küche. Vater weiß genau, wenn ich kein Fortbewegungsmittel habe, um am Wochenende zur Arbeit zu gelangen, geht er leer aus.

Ich spüre den Abendwind in meinem Gesicht und der Duft der Tannen, die rechts und links die Straße säumen, steigt mir in die Nase. Ich kann den Frühling riechen. Es ist ein berauschendes Gefühl und für einen Moment vergesse ich unser armseliges Leben.

 

Zuerst vernehme ich nur ein leichtes Grollen. Es kommt von hinten, aus der Ferne, schwillt aber rasch zu einem immer lauter werdenden, tiefen Brummen an. Irgend so ein Idiot bekommt anscheinend den Fuß nicht vom Gas.

Ungefähr zweihundert Meter vor mir biegt ein silberner Van um die Kurve. Er beschleunigt und kommt rasch näher.

Das wird verdammt eng. Ich habe den Gedanken kaum zu Ende gedacht, da schießt auch schon eine schwarze Rakete mit Vollgas an mir vorbei, worauf der Van eine Vollbremsung hinlegt und hupt. Von dem dunklen Geschoss ist nur ein tiefes Röhren zu hören, bevor der Fahrer zweimal hintereinander herunterschaltet, um nach der Kurve hinter den Bäumen zu verschwinden.

Zitternd halte ich am Straßenrand an und sehe, wie sich die Fahrertür des Vans öffnet. Ein Mann in Jeans und T-Shirt, Typ Familienvater, steigt aus und fragt bestürzt, ob alles in Ordnung sei. Noch immer höre ich das leise schwindende, dunkle Grummeln, das von dem Auto dieses Wahnsinnigen herrührt, der beinahe eine Katastrophe verursacht hätte.

 

Nachdem ich dem hilfsbereiten Van-Fahrer versichert habe, dass es mir gut geht, setzt er seine Tour fort. In Wahrheit fühlen sich meine Knie jedoch wie Pudding an und das Herz schlägt mir bis zum Hals. Unfähig, auf das Rad zu steigen, schiebe ich es die ersten paar Meter.

Der Schreck sitzt mir noch immer in den Gliedern, als ich mein Fahrrad im Hinterhof abstelle. Schattenspendende Lindenbäume säumen den menschenleeren Biergarten. An der Eingangstür halte ich kurz inne und lasse den Blick nach oben schweifen. Ein großes nostalgisches Schild leuchtet mir entgegen. Fellini – Bar - Ristorante. Ich atme tief ein und wieder aus und gehe ins Innere.

Meine Augen benötigen einen Moment, um sich an das dämmerige Licht zu gewöhnen. Dem dunkelbraunen Mobiliar ist es zu verdanken, dass es trotz der großen Fenster hier drinnen nie richtig hell zu werden scheint, aber gerade das macht es so gemütlich. Es ist wenig los. Einer der zehn Tische, die den vorderen Bereich ausfüllen, ist von zwei Pärchen besetzt. In der schummrigen Sitzecke ganz hinten haben es sich vier junge Frauen auf dem überdimensional großen Sofa bequem gemacht. Die fünf erhöhten Tische mit den dazugehörigen Barhockern sind noch frei.

Hinter der mindestens acht Meter langen Theke wuselt Diego geschäftig hin und her und bereitet Cocktails vor — vermutlich für die vier Ladys auf dem Sofa.

Michi, ein Student, der wie ich am Wochenende hier jobbt, nimmt die Bestellung der beiden Pärchen am Fenster entgegen.

Ich verstaue Tasche und Jacke im Nebenraum und ziehe das apfelgrüne T-Shirt, die Arbeitskleidung, die wir hier alle tragen, glatt.

»Buonasera alla mia bellissima donna.« Ein Strahlen geht über Diegos Gesicht. »Gut, dass du bist da, cara.« Er greift nach meinen Händen. Mit zusammengekniffenen Lippen sieht er mich einen Moment mitfühlend an. Er hat die beiden Pflaster entdeckt und weiß, dass sie die Schrunden verdecken sollen. Ich kann cremen und salben, soviel ich will, meine Hände sehen aus wie die einer alten Frau.

Ich helfe ihm bei der Zubereitung der Cocktails. Wir verlieren kein Wort, aber es ist ein angenehmes Schweigen. Bei Diego muss ich mich nicht verstellen. Er weiß von meinem Zuhause. Ich habe ihm damals alles erzählt. Das war seine Bedingung, mich einzustellen.

 

Auf die Anzeige bin ich durch Zufall gestoßen. Eigentlich gehörte es zu Bens Aufgaben, den Holzofen für den Abend vorzubereiten, aber mir war es wichtig, dass er seine Hausaufgaben erledigt, also übernahm ich seinen Dienst. Gerade wollte ich eine weitere Seite der alten Tageszeitung zusammenknüllen, als mir die fettgedruckten Buchstaben ins Auge stachen.

Fellini – Bar - Ristorante - Servicekraft gesucht. Eine gefühlte Ewigkeit saß ich da und starrte auf die Worte. Endlich über ein eigenes Einkommen verfügen. Was würde ich mir alles leisten können? Ungeachtet der Tatsache, dass ich ohnehin nie Gelegenheit haben würde, coole Klamotten zu tragen, war der Gedanke auf die Chance, ein wenig Unabhängigkeit zu erlangen, verlockend. Wieder und wieder spielte ich im Kopf durch, wie ich mit einer Doppelbelastung klarkommen könnte.

In der Regel waren wir abends um sieben mit der Stallarbeit fertig. Wenn ich mich beeilte, würde es mir vielleicht gelingen, eine halbe Stunde herausholen. Frühestens um acht könnte ich anfangen.

Eine Lehre habe ich nie begonnen. Vater verweigerte seine Zustimmung, denn meine Arbeitskraft wurde auf dem Hof gebraucht. So gerne wäre ich weiter zur Schule gegangen. Als ich drei Jahre nach meinem Hauptschulabschluss volljährig wurde, fehlte mir der Mut und die Kraft, mich gegen Vater durchzusetzen.

 

Die Anzeige spukte in meinem Kopf herum. Ich entschloss mich vorbeizugehen. Nicht einmal Chris hatte ich davon erzählt.

Das Herz schlug mir bis zum Hals, als ich vor der verschlossenen Tür stand. Natürlich, es war Montag — Ruhetag. Ein paar Mal hatte ich geklopft, aber selbstverständlich war niemand erschienen. Meine kleine dumme Hoffnung erlosch wie die Flamme einer abgebrannten Kerze. Es wäre ja auch zu schön gewesen. Mit hängendem Kopf beschloss ich, den Rückzug anzutreten. In diesem Moment bewegte sich der Schlüssel im Schloss. In der Tür erschien ein kleiner, drahtiger Mann. Fragend sah er mich an. »Bella donna, was kann ich tun für Sie?«

Mein Arm schnellte nach vorne und ich hielt ihm die Anzeige unter die Nase. »Ist die Stelle noch frei?«

Einen Moment musterte er mich konzentriert. Vermutlich bemerkte er meine Nervosität, denn schlagartig verzog sein Mund sich zu einem Lächeln. Doch seine nächste Frage begrub meine zaghafte Hoffnung. »Können Sie vorweisen Erfahrungen?« Er sah mich aus seinen dunklen Augen an. Frustriert senkte ich den Kopf und flüsterte ein leises »Nein«.

Das konnte ich vergessen.

Einen Moment herrschte Stille. »Nun, vielleicht können Sie arbeiten Probe?«

Als ich den Blick hob und die Wärme in seinen Augen sah, verzog mein Mund sich zu einem breiten Grinsen. Plötzlich war ich mir sicher, die Stelle zu bekommen.

An meinem Schnuppertag stellte mir Diego zuerst sein Team vor. Die Studenten Michi, Claudia und Anke sind abwechselnd samstags und sonntags da. Ben, Marco und Steffi arbeiten in Vollzeit. Dann ist da noch Caro. Sie kommt wie ich jedes Wochenende. In der Küche wird Diego von seiner Schwester Maria unterstützt. Sie ist eine richtige Mamma und wie ihr Bruder ein Mensch voller Herzensgüte.

Ich gab mein Bestes an diesem Freitag und es gefiel mir. Die Arbeit strengte mich an und nachdem die letzten Gäste gegangen waren, sank ich erschöpft auf einen Stuhl. Aber all das war nichts gegen die Plackerei zu Hause.

Von Diego und dem gesamten Team wurde ich mit wahren Lobeshymnen überschüttet. Ich war so glücklich.

Bis Steffi sich zu Wort meldete. »Wissen sie daheim, dass du das hier machst?« Mit verschränkten Armen sah sie mich herausfordernd an. Alle verstummten.

Die Erkenntnis rieselte wie ein Regenschauer auf meine Haut. Steffi, sie war mit Chris in dieselbe Klasse gegangen und somit bestens über uns informiert.

Diego hatte darauf bestanden, mich nach Hause zu fahren. Mein altes Fahrrad lud er in den Kofferraum seines VW-Busses. Ein beklemmendes Schweigen legte sich während der knapp zehnminütigen Fahrt über uns. Als wir den Wald hinter uns gelassen hatten und in der Ferne unser Hof auftauchte, hielt Diego am Straßenrand an. »Ich denke, du möchtest aussteigen hier?« Fragend hob er die Augenbrauen. Ich nickte, mein Blick war verschwommen.

»Erzähl, du kannst erzählen mir alles.«

Und das tat ich.

 

Tja, und jetzt stehe ich hier hinter der Theke zusammen mit Diego und mixe Drinks.

Nach und nach trudeln die anderen ein und das ist auch gut so, denn bald wird es hier drin brechend voll werden.

Das Fellini ist beliebt. Ich schätze, im Umkreis von dreißig Kilometern kommen die Leute hierher in unsere kleine Stadt. Dornberg hat gerade einmal fünfzehntausend Einwohner — zusammen mit den Eingemeindungen. Es gibt noch ein paar Clubs in den umliegenden Städten, aber das ist nicht dasselbe. Wer so etwas wie das Fellini sucht, muss schon nach Stuttgart fahren.

»Hey Süße!« Caro wirbelt herein und drückt mich flüchtig an sich. »Diego, soll ich dich ablösen?« Ohne eine Antwort abzuwarten, nimmt sie seinen Platz ein. Mit einem Seufzer der Erleichterung schiebt er ihr die Gläser zu und verzieht sich in die Küche. Caro schielt zu mir rüber. »Alles ok?«

Ich zucke mit der Schulter. »Das Übliche.«

Sie hält inne und fasst mitfühlend nach meinem Arm.

»Du weißt, ich helfe dir, wenn du da raus willst.«

Das weiß ich. Ich komme mit allen im Fellini zurecht. Aber mit Caro verbindet mich mehr. Sie ist mir in den anderthalb Jahren, in denen ich hier arbeite, ans Herz gewachsen. Eine unverzichtbare Freundin — die erste in meinem Leben. Unter der Woche wohnt sie in Tübingen. Sie studiert Psychologie und das passt total gut zu ihr. Sie besitzt eine enorme soziale Intelligenz und eine außergewöhnliche Menschenkenntnis. Mit ihrem Röntgenblick durchleuchtet sie jeden und mit ihrer persönlichen Einschätzung liegt sie fast immer richtig.

Manchmal sieht sie mich mit ihrer durchdringenden Art an und scheint etwas zu entdecken, von dem sie noch keinerlei Kenntnis haben kann. Denn auch sie weiß nicht alles. Unvorstellbar, bestimmte Dinge auszusprechen.

»Na, dann versorgen wir die Tussis dahinten mal mit ihren Cocktails.« Ich folge ihrem Blick zu den vier Mädels auf dem Sofa. Geld spielt bei denen keine Rolle, das sieht man sofort. Sie wirken alle komplett durchgestylt. Weißblonder Kurzhaarschnitt und exklusiv-verwaschener Jeanslook. Dunkelbrauner Bob mit knallroten Lippen. Langes, hellblondes Haar und High Heels. Rote Locken, der Rest ganz in Schwarz. Und das ist nur die flüchtige Kurzfassung. Sie sind all das, was ich nie sein werde. Ich atme tief durch und schlage den Weg Richtung Sofa ein.

Die vier bemerken mich zuerst nicht, sosehr sind sie ins Gespräch vertieft.

»Ich sage euch, das ist total abgefahren. Du denkst, du stehst unter freiem Himmel, mitten in Italien auf irgendeiner Piazza. Dabei ist das alles im Inneren des Hotels. Die Pflastersteine auf dem Platz glänzen, als hätte es eben erst geregnet.« Wie gebannt hängen weißblonder Kurzhaarschnitt und roter Lockenkopf an den knallroten Lippen von dunkelbraunem Bob.

»Ja, das Venetian ist mega, aber ich finde das Caesars interessanter.« Lässig lehnt sich High-Heel-Blondie zurück und verzieht ihre perfekten Lippen zu einem breiten Grinsen. »Ich sage nur Bradley Cooper …«

»Uuuhu …«, stimmen die anderen drei kichernd mit ein.

Rote Locke wirft ihr einen verschwörerischen Blick zu. »Vergiss nicht, du hast deinen eigenen Bradley Cooper.«

»Und wirst ihn bald heiraten«, fügt dunkelbrauner Bob mit singender Stimme hinzu. »Und Gnade ihnen Gott, wenn die Jungs davor auch so einen Hangover haben.«

Sie prusten alle los und dann endlich registrieren sie mich.

»Wer bekommt die Caipis?« Ich schaue in die Runde. Dunkelbrauner Bob und Rotlocke strecken unisono den Finger in die Luft. Nacheinander stelle ich die beiden Gläser vor ihnen ab. Eine Wolke aus unterschiedlichsten Parfümdüften schlägt mir entgegen, als ich Blondie den Mai Tai und Kurzhaar den Mojito reiche. Letztere starrt mich plötzlich unverhohlen an. »Hey, ich kenn dich.«

Innerlich zucke ich zusammen.

»Du bist Madlen.«

Vier Augenpaare sind auf mich gerichtet. Und da erkenne auch ich sie. Jessica, sie sieht ganz anders aus mit der neuen Frisur. Früher hatte sie eine lange, dunkelblonde Mähne. Ihr Gesicht hat sich im Grunde kaum verändert, wenn ich sie jetzt so ansehe. Besser gesagt, anstarre. Maddy stinkt, hämmert es lautlos in meinem Kopf.

Sie lächelt. »Gut siehst du aus«, und nach einer kurzen Pause, »Wow …«

Aus meiner Starre erwachend räuspere ich mich. »Ja, stimmt, Jessy … Hab dich gar nicht gleich erkannt mit den kurzen Haaren«. Krampfhaft versuche ich zu lächeln. Alles in mir ist auf Flucht programmiert.

»Wie geht es dir?« Erwartungsvoll sieht sie mich an. »Wohnst du hier in der Stadt?«

Mein Mund fühlt sich trocken an. »Nein, zu Hause.«

Im Bruchteil von Sekunden spüre ich, dass wir denselben Gedanken teilen. Ich blinzle ein paar Mal und versuche das aufkeimende Gefühl zu verscheuchen.

»Tja, ich muss dann wieder.« Mein Daumen zeigt Richtung Theke.

Sie nickt. »Ja, natürlich. War nett, dich mal wieder zu sehen.« Plötzlich scheint auch ihr die Situation unangenehm zu werden.

Das Tablett unter den Arm geklemmt gehe ich mit steifen Schritten davon. War nett, dich mal wieder zu sehen — ja klar. Aufgewühlt starre ich vor mich hin und marschiere Richtung Theke.

Im letzten Moment gelingt es mir, zur Seite auszuweichen, bevor ein Kerl mit finsterem Gesichtsausdruck grußlos an mir vorbeirauscht. Die drei Typen, die ihm folgen, scheinen besserer Laune zu sein. Sie sagen freundlich »Hallo« und im Vorbeigehen sehe ich, wie einer von ihnen dem Griesgram mit einem kumpelhaften »Mensch Alter, mach dich locker, ich hatte alles im Griff«, den Arm auf die Schulter legt.

Sie steuern auf die vier parfümgeschwängerten Diven zu.

Aha, das sind also die Gegenstücke. Sie passen perfekt.

»Geht’s eigentlich noch? So was Ungehobeltes.« Caro wischt mit ihrem Lappen energisch über die Theke. Ihre zusammengezogene Stirn zeigt Richtung Sofa. Die Typen haben sich neben ihren besseren Hälften niedergelassen. Dass sie zusammengehören, ist unübersehbar.

»Wie ich diese arroganten, reichen Snobs hasse!«

»Wieso, kennst du die?« Ich werfe Caro einen Blick zu.

Sie schüttelt ihren blonden Bob und schiebt sich ihre schwarzgerahmte Brille zurecht. »Drei davon.« Mit dem Kinn deutet sie in deren Richtung. »Der Schwarzhaarige, der gleich von der Roten aufgefressen wird, ist Sebastian Müller, Arztsohn. Seinem Vater gehört die chirurgische Praxis drüben am Kriegdamm. Er ist ein Aufschneider. Die Kurzhaarige ist die Tochter des größten Arbeitgebers der Stadt.«

»Ich weiß, Jessica Mosca.« Ohne mein Gesicht von der Gruppe abzuwenden, nicke ich mechanisch mit dem Kopf.

»Du kennst sie?« Überrascht sieht sie mich an.

»Wir sind zusammen zur Schule gegangen.«

»Dann weißt du ja sicher auch, dass das ihr Bruder ist. Luis Mosca, Juniorchef von Mosca-Metall.« Wieder deutet sie mit dem Kinn ans Ende des Raumes. »Der, der dich fast umgerannt hat.«

Das war mir neu. Aber es überrascht mich keineswegs.

Bis auf die Tatsache, dass ich damals das Mobbingopfer von Jessy und ihrer Clique war, hat uns nichts miteinander verbunden. Ich sehe ihn mir genauer an. Er muss ein paar Jahre älter sein. Vielleicht Ende zwanzig?

Er hat sich zurückgelehnt und den Arm locker um die Blondine gelegt. Seine Miene erscheint inzwischen zwar weniger finster, aber er starrt vor sich hin, als wäre er mit den Gedanken ganz woanders. Mir kommt das Bild dieser Parfüm-Werbung in den Sinn, die ich vor ein paar Tagen in einer Zeitschrift gesehen habe. Mit dem Dreitagebart, dem dunklen Teint und dem stechenden Blick könnte er dieser Typ sein.

»Gehst du oder ich?« Zwei schnipsende Finger tanzen vor meinem Gesicht. »Halloo!«

»Was?« Irritiert blinzele ich.

Caro lässt ihre Augen zwischen mir und der Clique hin und her schweifen.

»Ich nehme die Bestellung auf und du bringst sie, ok?« Bittend schaue ich sie an.

Einen Moment mustert sie mich wieder mit diesem Ausdruck, als wüsste sie genau, was in mir vorgeht.

»Jessy-Schatz und du, ihr wart wohl nicht die besten Freundinnen, hab ich recht?« Sie legt die Stirn in Falten.

Ich sehe sie nur stumm an, schnappe meinen Scanner und mache mich auf den Weg. Mittlerweile ist es richtig voll geworden. Auch am Tresen sitzen schon eine Handvoll Leute. Im Hintergrund läuft gedämpfte Radiomusik.

Wieder bemerkt mich zunächst niemand, aber das ist eigentlich auch kein Wunder. Im unsichtbar sein habe ich schließlich jahrelange Übung. Als ich mich über den niedrigen Tisch beuge und mit dem Feuerzeug die Kerze in dem bauchigen Glas anzünde, unterbrechen sie ihre Diskussion, die sich um die Hochzeit der Blondine mit Jessys Bruder zu drehen scheint.

»Was kann ich euch bringen?« Abwartend schaue ich in die Runde. Während Jessys Freund noch in der Getränkekarte blättert, nehme ich die Bestellung von Bob-Freund und diesem Sebastian auf. Letzterer mustert mich von oben bis unten. Plötzlich habe ich das Gefühl, nackt dazustehen.

Mit seinem weißen Hemd, der solariumgebräunten Haut und dem zurück gegelten Haar erinnert er mich an einen Zuhälter. Die beiden Silberkettchen an Arm und Hals tragen ihr Übriges dazu bei.

Er ist mir sofort unsympathisch. Das Gefühl verstärkt sich, als er mir sagt, was er haben will.

»Mir wäre nach einem Sex on the Beach, Süße, kannst du dich darum kümmern?« Er grinst mich anzüglich an und es scheint ihn in keiner Weise zu interessieren, dass seine Freundin diesen erbärmlichen Versuch einer Anmache mitbekommt. Alle lachen und finden die Situation ungeheuer lustig. Selbst Jessys Bruder zeigt mittlerweile ein leichtes Grinsen und schüttelt kaum merklich den Kopf.

Als sie endlich checken, dass ich das weder witzig noch sonderlich amüsant finde, besinnen sie sich.

»Ok Baby, ich denke, ich nehme doch lieber einen Whisky auf Eis.« Arztsohn Sebastian grinst mich noch immer unverschämt an und seine Freundin tut so, als würde sie es nicht bemerken. Jessys Freund will ebenso wie Bob-Freund ein Weizen und Luis Mosca bestellt ein Pils. Er wirft mir dabei einen kurzen Blick zu.

Sie führen ihr Gespräch fort und während ich mich in Bewegung setze, dringt mir die Stimme von Blondie ans Ohr.

»Schatz, wir könnten doch dein Auto nehmen. Rote Rosen auf deinem schwarzen Maserati …«

Der Rest des Satzes beginnt sich in einem Nebel der Erkenntnis aufzulösen. Und da fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Ich knalle das Tablett auf den Tresen und rufe beim Hinausgehen der verdutzten Caro noch schnell die Bestellung zu.

In Sekundenschnelle scanne ich den voll besetzten Parkplatz ab. Es ist bereits dunkel und trotzdem sehe ich es sofort. Das schwarze Geschoss, das mich um ein Haar umgemäht hätte. Plötzlich fühle ich eine unglaubliche Wut in mir aufsteigen. Diese verdammten, eingebildeten Schnösel mit ihren Designerhemden und Edeljeans. Was um alles in der Welt bilden die sich ein? Mit ihrer scheiß Kohle meinen sie, sich alles erlauben zu können. Ich atme einmal tief durch, drehe mich auf dem Absatz um und gehe wieder rein.

Caro muss meinen entschlossenen und zugleich wütenden Gesichtsausdruck bemerkt haben. Ohne ein Wort zu sagen, spitzt sie die Lippen und zieht die Augenbrauen hoch.

»Ich erledige das.«

Kommentarlos macht sie mir Platz. Sie runzelt die Stirn, als ich das alkoholfreie Pils auf das Tablett zu den anderen Getränken stelle.

Zum dritten Mal begebe ich mich auf den Weg zur Sofaecke. Inzwischen sind alle Tische besetzt und auch an der Theke ist kein Platz mehr frei. Im Hintergrund spielt die Musik von Blue October. Ich liebe diese texanische Band.

Es läuft Sway. Obwohl der Titel etwas Gegenteiliges verspricht, spüre ich, wie der Song mir plötzlich Kraft verleiht, der Rhythmus in jede einzelne Pore meines Körpers fließt. Mit entschlossenen Schritten zwänge ich mich im Takt der Musik durch die Menge.

Diesmal bemerken sie mich sofort. Ich knalle nacheinander die beiden Weizen, den Whisky und das alkoholfreie Pils auf den Tisch. Während die anderen überrascht aufblicken, greift Luis Mosca mit gerunzelter Stirn nach dem Bier und nimmt es genauer unter die Lupe.

»Entschuldige, ich habe kein Alkoholfreies bestellt.« Er sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen an.

»Tja, ich dachte, ich bring dir trotzdem eins, bevor du heute noch jemanden über den Haufen fährst.«

Einen Moment sieht er mich verständnislos an. Er leckt sich über die Lippen und kippt den Kopf.

»Kannst du mir das bitte genauer erklären? Habe ich was verpasst?«

Alle am Tisch sehen uns an und scheinen gespannt zu sein, wie sich die Situation entwickelt.

»Wenn du mit verpasst meinst, dass dir entgangen ist, wie du mich beinahe mit deinem supertollen Schlitten vom Rad geschleudert hättest, dann hast du wohl eine ganze Menge verpasst. Danke auch. Ich wünsche euch noch einen schönen Abend.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, drehe ich mich auf dem Absatz um und schieße davon.

Das hat richtig gutgetan. Erst als ich hinterm Tresen stehe und die Wasserflasche ansetze, merke ich, wie meine Hand zittert.

»Was war das jetzt?« Caro kommt mit einem Tablett leerer Gläser um die Ecke. »Hat die High Society Stress gemacht?«

Nachdem ich ihr von meinem Beinahe-Unfall erzählt habe nimmt sie mich in den Arm. »Und das verrätst du mir erst jetzt?« Sie reißt die Augen auf. »Oh, oh …«.

Langsam drehe ich mich um. Luis Mosca steuert auf uns zu.

Er trägt eine schwarze Jeans und ein schwarzes Slim Fit Hemd, das er lässig an den Armen hochgeschlagen hat. Sein Gesichtsausdruck ist konzentriert. Aber da ist noch etwas anderes in seinem Blick. Bestürzung.

Den Bruchteil einer Sekunde treffen sich unsere Augen und dieser Moment verändert alles. Ich habe das irrationale Gefühl, mit Luis Mosca allein im Raum zu sein. Die Geräusche verstummen. Alles ist auf seltsame Weise gedämpft und wir scheinen uns in Zeitlupe zu bewegen. Irritiert blinzle ich ein paar Mal und so schnell, wie dieser Augenblick gekommen ist, verfliegt er wieder.

»Kann ich kurz mit dir reden?« Mit der Hand greift er sich an den Nacken. Wir stehen uns gegenüber. Nur der Tresen trennt uns voneinander.

Einen Moment sehe ich ihn stumm an.

»Ok, gehen wir nach draußen.« Kurz schiele ich zu Caro.

»Lass dir Zeit.« Sie winkt ab und ich weiß jetzt schon, dass sie vor Neugier platzen wird.

Es ist ganz schön kalt geworden und ich bereue es, keine Jacke mit raus genommen zu haben.

»Willst du nicht besser eine Jacke holen?«

Scheinbar kann er Gedanken lesen.

»Geht schon, ich muss eh gleich wieder rein.«

Er presst kurz die Lippen zusammen und nickt. »Ja, klar, natürlich.« Dann sieht er mich wieder an. »Du warst das also mit dem Fahrrad.« Er schaut in den Nachthimmel und schüttelt den Kopf. »Es tut mir leid.«

»Mmh, das kommt jetzt reichlich spät.« Mit verschränkten Armen sehe ich an ihm vorbei.

»Sebastian saß am Steuer, dieser Idiot.« Er lacht verächtlich auf. »Was natürlich nichts entschuldigt. Ich hätte es wissen müssen. Sebi übertreibt es gerne ein wenig, mit allem.«

Bei der Erkenntnis, dass es nicht Luis gewesen ist, der mich beinahe angefahren hätte, durchströmt mich ein eigenartiges Glücksgefühl.

»Ihr seid einfach weitergefahren«, stelle ich dennoch anklagend fest. Betreten schaut er zu Boden. »Ich habe gesehen, dass du ok bist.« Er sieht mich an. »Aber du hast recht, was wir getan haben, war absolut verantwortungslos. Ich habe den ganzen Abend darüber nachgedacht.«

»Das erklärt einiges.« Ironisch ziehe ich die Augenbrauen nach oben. Irritiert runzelt er die Stirn. »Na ja, dein Gesichtsausdruck und warum du mich fast umgerannt hast.«

»Umgerannt?« Jetzt zieht er die Augenbrauen hoch. »Ich habe dich nicht umgerannt.«

Mein Mundwinkel hebt sich und ich zucke mit der Schulter. »Weil ich einen Schritt zur Seite gegangen bin, andernfalls hätte es geknallt.«

Einen Augenblick ist er sprachlos, dann fährt er sich mit den Händen übers Gesicht. »Oh Mann, das wird ja immer schlimmer.« Er lächelt zerknirscht. »Kann ich das irgendwie wiedergutmachen?«

Ich lächle zurück. »Ist schon ok. Eine Entschuldigung reicht.«

Einen Moment stehen wir uns etwas unentschlossen gegenüber.

»Ich frag mich gerade …«, er senkt kurz den Blick, »wie man dich übersehen kann?«

Seine dunklen Augen sind wie zwei Magnete. Sie ziehen mich an und ich kann nichts dagegen tun. Das Kribbeln beginnt im Bauch. Von da breitet es sich langsam aus. Es legt sich wie winzig kleine Brausebläschen um jede einzelne Zelle meines Körpers. Erst als die Tür aufgeht und eine Gruppe Jugendlicher an uns vorbei geht, komme ich wieder zu mir. Ich blinzle ein paar Mal und straffe mich.

»Ähm, ich denke, wir sollten besser wieder rein.« Mit dem Kopf deute ich zur Eingangstür. Er sieht mich noch immer an und nickt ein paar Mal. »Ja … ja, du hast recht, das sollten wir.«

Bemüht, meine Stimme locker klingen zu lassen, wünsche ich ihm noch einen schönen Abend.

Meine Hand umfasst bereits die Türklinke, da scheint ihm offenbar noch etwas einzufallen.

»Warte!«

Ich dreh mich um. »Ja?«

»Wie heißt du eigentlich?«

»Madlen.«

»Madlen.« Es scheint, als müsste er einen Moment über diesen Namen nachdenken. »Es tut mir leid, Madlen.« Wieder sieht er mich mit diesem stechenden Blick an. Und plötzlich weiß ich, dass ich nur noch weg muss. Rasch drücke ich die Klinke nach unten und verschwinde im Inneren.

Geschäftig mache ich mich hinter der Theke an die Arbeit. Caro ist dabei, irgendwelche Gäste zu versorgen. Marco und Steffi haben ihren Platz eingenommen. Sie sind beschäftigt und nehmen keine Notiz von meiner Anwesenheit. Das ist mir gerade recht. Immer noch ganz durcheinander räume ich die Spülmaschine ein. Caro kämpft sich mit ihrem Tablett durch die Menge. »Boah, das ist ja heute abartig, mir tun jetzt schon die Füße weh.« Sie wischt sich mit dem Arm über die Stirn, dann mustert sie mich. »Hat das kleine Arschloch sich wenigstens entschuldigt?«

»Einer seiner Freunde saß am Steuer und er hatte keine Ahnung, dass ich das war.« Rasch schnappe ich die leeren Gläser von Caros Tablett, räume sie in die Spülmaschine und drücke die Starttaste.

»Es war sein Auto.« Caro runzelt missbilligend die Stirn.

Ich wische mir die Hände an meiner Jeans ab und zucke mit der Schulter. »Er hat sich entschuldigt.« Automatisch huscht mein Blick Richtung Sofaecke. Aus dem Augenwinkel nehme ich Caros Blick wahr und bin mir sicher, sie hat mich durchschaut.

 

Zum Glück wird es nicht so spät an diesem Abend. Die letzten Gäste brechen nach Mitternacht auf. Keine Ahnung, um welche Zeit Luis Mosca mit seinen Freunden das Fellini verlassen hat. Irgendwann hat Caro bei ihnen abkassiert. Erfolgreich ist es mir gelungen, meine Aufmerksamkeit auf andere Dinge zu lenken. Das wird mir kein weiteres Mal passieren — er ist verlobt. Die Vernunft hat gesiegt und ich habe mich wieder im Griff.

Caro hat wie immer darauf bestanden, mich nach Hause zu fahren, also verstaue ich mit geübten Griffen mein Rad im Kofferraum des Kombis. Das Auto gehört ihren Eltern. Wenigstens hat sie, im Gegensatz zu mir, einen Führerschein.

Wie immer hat Maria mich mit Resten aus der Küche versorgt. »La mia povera bambina, du must gehen ins Bett.« Sie drückt mich an ihren großen Busen und streicht mir übers Haar. Sie weiß, dass mir nur ein paar Stunden Schlaf vergönnt sind.

Schweigsam folgen wir der Serpentinenstraße durch den Wald. Wir lassen die Bäume hinter uns und fahren an der Abzweigung nach Breitenbach vorbei. Ob Vater noch im Adler sitzt? Wieder einmal scheint Caro meine Gedanken zu erraten. »Meinst du, er ist noch unterwegs?«

Die digitale Zeitanzeige über dem Lenkrad zeigt eine Viertelstunde bis eins. »Ich denke nicht … ich hoffe nicht!«, korrigiere ich schnell. Erschöpft lehne ich meinen Kopf an die Fensterscheibe. Am liebsten würde ich im Auto sitzen bleiben und einfach mit Caro weiterfahren. Die Stunden im Fellini entführen mich in eine andere Welt. Heimzukehren bringt den alltäglichen Albtraum zurück. Der einzige Grund, warum ich bleibe, sind meine Geschwister. Niemals könnte ich sie zurücklassen. Hätte ich eine Wahl gehabt, ich hätte die Schule mit dem Abitur abgeschlossen, um Kunst zu studieren. Ich liebe es, zu malen. Ohne ein Wort zu sagen, ist es mir möglich, auf diesem Wege meine Gedanken und Gefühle zum Ausdruck zu bringen. Es kommt einer Befreiung gleich. Inzwischen besitze ich zwei volle Mappen. Keiner hat die Arbeiten je gesehen. Nicht einmal Chris oder Caro. Ein Geheimnis mehr, das ich mit niemandem teile.

Wir biegen in den schmalen Weg ein, der nach ungefähr zweihundert Metern in unserem Hof endet.

 

»Fahr vorsichtig!« Ich umarme Caro und sehe ihr in die Augen. »Und danke, danke, dass du immer für mich da bist.«

Sie lächelt. »Keine Ursache. Du weißt, ich mache das gerne.«

Ihr Gesichtsausdruck verändert sich. Sie mustert mich abschätzend. »Was hältst du davon, ins Kino zu gehen? Ich würde gern La La Land mit Ryan Gosling und Emma Stone ansehen.« Ihre Züge nehmen einen verträumten Ausdruck an.

»Ich war noch nie im Kino.«

Ungläubig sieht sie mich an. »Was?«, flüstert sie.

Ratlos zucke ich mit den Schultern. »Wann und mit wem sollte ich ins Kino gehen?«

Fassungslos schüttelt sie den Kopf. »Wir sind seit eineinhalb Jahren befreundet und jetzt erzählst du mir, dass du noch nie in deinem Leben im Kino warst?«

Als ich ihr eine Antwort schuldig bleibe, nimmt ihr Gesicht einen entschlossenen Ausdruck an. »Das werden wir ändern. Sonntagabend gehen wir. Ich werde das gleich morgen mit Diego klären. Um diese Zeit ist eh wenig los. Und jetzt ins Bett mit dir. Los, hau schon ab. Du hast nur noch ein paar Stunden.«

Ein letztes Mal drücke ich sie. »Du bist die Beste.«

Ich sehe ihr hinterher, bis die roten Rücklichter ihres Autos zwischen den Bäumen verschwinden.

Mein Rad stelle ich im Schuppen ab und gehe die Treppe hoch. Vater ist zu Hause. Sein alter Kombi steht da. Leise öffne ich die Haustür und schleiche mich, ohne den Lichtschalter zu betätigen, in die Küche. Die Hofbeleuchtung spendet genug Helligkeit.

Der Kühlschrank ist fast leer. Das ist gut. Es sichert mein Dasein im Fellini. Solange ich für Nachschub sorge, wird mir niemand diesen Job verbieten. Zusammen mit den beiden Salatschüsseln verstaue ich den großen Behälter mit der Sauce Bolognese.

Ich lehne mich an die geschlossene Kühlschranktür und lasse den Blick über die Kücheneinrichtung schweifen. Das Mobiliar ist aus den Achtzigern und entsprechend verschlissen. Einmal wurde die Eckbank neu bezogen, aber das ist mindestens fünfzehn Jahre her. Aus den Rissen, die sich durch das abgewetzte Material ziehen, quillt Schaumstoff. Der Plattenboden ist mit zahlreichen Macken übersät und im Winter zieht es durch die alten, undichten Fenster mit ihren dünnen Scheiben. Egal, wie sehr wir versuchen, Ordnung zu halten, alles auf diesem Hof wirkt immer irgendwie verkommen und ungepflegt.

Mein Blick gleitet zur Uhr. Der kleine Zeiger hat längst die eins passiert. Mir bleiben also weniger als vier Stunden Schlaf vergönnt. Aber obwohl ich am Ende dieses anstrengenden Tages eigentlich tot umfallen müsste, bin ich hellwach. Die Müdigkeit wird mich erst morgen Nachmittag einholen.

Darauf bedacht, das Knarren der Stufen unter meinen Füßen zu vermeiden, gehe ich die Treppe vorsichtig nach oben. Vorbei an Chris’, Nicks und Bens Zimmer. An Jennys Tür bleibe ich stehen. Sie wälzt sich in ihrem Bett. Leise drücke ich die Klinke nach unten. Sie träumt. Immer wieder wirft sie den Kopf im fahlen Schein des Mondlichtes hin und her. Sie krallt ihre Finger in die Bettdecke. Ihre Stirn ist schweißnass.

Bevor meine Hand beruhigend über ihr Haar zu streichen versucht, ist ihr gleichmäßiger Atem zu hören. Ich warte einen Moment. Ihr Brustkorb hebt und senkt sich wieder in entspanntem Rhythmus. Auf leisen Sohlen verlasse ich das Zimmer.

Keine Minute später liege ich mit hinter dem Kopf verschränkten Armen hellwach im Bett und starre an die Decke. Hat jemand ein Aufputschmittel in mein Glas gekippt? So fühlt es sich zumindest an.

Am Sonntag werde ich mit Caro ins Kino gehen. Das erste Mal im Leben. Ein Gefühl der Vorfreude durchströmt mich. Wie hieß der Film gleich? La La Land oder so ähnlich. Und wer spielt da nochmal mit? Ryan Dings und Emma, Emma …

Ich schließe die Augen. Natürlich weiß ich ganz genau, wie dieser Film heißt und ich kenne die Namen der Schauspieler.

Der einzige Grund, warum ich dieses kleine Ablenkungsmanöver starte, sind die Bilder in meinem Kopf.

Ich spüre ihn noch immer, diesen Blick aus Luis Moscas dunklen Augen.

2.

 

Samstag, 13. Mai 2017

 

Zwanzig Minuten vor fünf klingelt der Wecker.

Um fünf stehen wir im Stall. Achtzehn Kühe warten darauf, gemolken zu werden. Wir müssen alle mit anpacken, auch Nick, bevor er zur Arbeit aufbricht. Er steckt noch in der Ausbildung zum Land- und Baumaschinenmechatroniker. Das macht er nicht freiwillig. Sein Wunsch war es, eine Lehre als Industriemechaniker zu beginnen, aber Vater verweigerte sein Einverständnis, denn davon hätten wir hier auf dem Hof keinen Nutzen gehabt. Zumindest hat Nick als einziger von uns einen motorisierten Untersatz. Mit dem alten, klapprigen Mofa fährt er jeden Morgen ins drei Kilometer entfernte Breitenbach zu seinem Ausbildungsbetrieb. Ben und Jenny nehmen nach getaner Arbeit täglich um sieben den Bus. Er hält vorne an der Straße und bringt sie von Montag bis Freitag zur Schule nach Dornberg. Sobald die drei das Haus verlassen haben, genehmigt sich der Rest der Familie in der Regel eine Pause. Nick ist heute auf der Arbeit — hin und wieder leistet er samstags ein paar Überstunden. Auch er kann jeden zusätzlichen Cent gebrauchen. Ben und Jenny sind vermutlich oben in ihren Zimmern.

Als ich in die Küche komme, steht Chris an der Anrichte und überbrüht das Kaffeepulver in seiner Tasse mit heißem Wasser aus dem Kocher.

Wir schauen uns in die Augen. Unnötig zu fragen, was der andere denkt. Wir wissen das auch so. In diesem Blick liegt so viel. Trauer, Wut, Hoffnungslosigkeit.

Aber da ist noch mehr und das ist viel wichtiger als alles andere. Verstehen, Vertrauen, Liebe. Und füreinander da sein — immer. Das kann uns keiner nehmen. Wir lächeln uns an und das ist es, was uns wieder Kraft gibt. Wir wissen, wir sind nicht allein.

»Was grinst ihr so idiotisch?« Mutter steht vom Küchentisch auf. Ohne eine Antwort abzuwarten, humpelt sie zur Spüle, um ihr benutztes Geschirr darauf abzustellen.

Ich frage mich, ob das nachziehende Bein auch Vaters immer öfter auftretenden Ausrastern zuzuschreiben ist.

Chris und ich setzen uns an den Tisch.

»Danke«, sage ich, als er eine Tasse heißen, löslichen Kaffee vor mir abstellt.

»Verdammtes Asylantenpack!« Vater hat die regionale Tageszeitung vor sich liegen. Messerstecherei prangt da in großen Buchstaben.

Das ist seit Neuestem sein Lieblingsthema — die Flüchtlinge.

»Und wir können die Bagage durchfüttern!«, regt er sich weiter auf. »Die Amis machen es richtig, eine Mauer sollte man hochziehen.«

»Nicht alle sind so.« Vorsichtig setzt Chris seine Tasse ab.

»Der Sigelbauer hat zwei Syrer eingestellt. Martin sagt, sie sind sehr zufrieden mit ihrer Arbeit.«

Vater beugt sich vor und sieht ihn mit lauerndem Blick an. »Was willst du mir damit sagen?«

Zuerst bleibt Chris stumm. Seine Augen schweifen zum Fenster und er beißt sich auf die Lippen. Dann sieht er Vater entschlossen an. »Es wäre eine Möglichkeit.« Er zuckt mit der Schulter. »Vor allem wäre es eine Entlastung — für uns alle.«

Vaters rotes, unrasiertes Gesicht verfärbt sich noch ein Stück dunkler. »Eine Entlastung für uns alle.« Ironisch zieht er die Worte in die Länge. Mit dem Kinn deutet er auf mich. »Damit deine Schwester sich noch öfter bei diesem Itaker rumtreiben kann, meinst du wohl?«

Ich blicke auf. »Ihr profitiert auch von diesem Itaker.« Manchmal kann ich mir diesen ironischen Tonfall einfach nicht verkneifen. Seine Faust donnert auf den Tisch und lässt mich zusammenzucken.

»Halts Maul! — Soweit kommt’s noch, dass ich mir solche Terroristen ins Haus hol!«

Ich gebe Chris unauffällig ein Zeichen, doch natürlich kann er nicht aufhören. Entschlossen beugt er sich vor. Ein paar dunkelblonde Haarsträhnen fallen ihm in die Stirn.

»Wie lange willst du noch so weitermachen?« Mit erhitztem Gesicht sieht er Vater herausfordernd an. »Warum lässt du mir nicht freie Hand?« Er presst die Lippen zusammen und schüttelt kurz den Kopf. »Ich könnte aus dem Hof etwas machen. Es gibt Fördergelder. Ich habe mich informiert.«

»Das willst du also«, gefährlich leise kommen die Worte aus Vaters Mund, »dir den Hof unter den Nagel reißen, alles, was ich aufgebaut habe, zugrunde richten.« Er nickt immer wieder vor sich hin.

Chris steht auf. »Das muss ich nicht. Der Hof ist doch schon lange am Ende.« Leise schnaubend wendet er sich ab.

Ich stelle mir vor, wie Lava im Inneren eines Vulkans langsam höher und höher steigt und schließlich, einer Explosion gleich, herausgeschleudert wird. Genauso ist es bei Vater jetzt, nur, dass die Lava aus Wut und unvorstellbarem Hass besteht, der in seinen Augen lodert. Einen Moment ist es noch ganz ruhig und obwohl ich weiß, dass es gleich wieder eskalieren wird, zucke ich zusammen, als er von seinem Platz aufspringt und der Stuhl laut auf dem Boden aufschlägt. Er ballt seine großen Hände zu Fäusten. »Du bleibst da, wenn ich mit dir rede.«

Chris hält mitten in der Bewegung inne. Langsam dreht er sich zu uns um. »Reden? Mit dir kann man nicht reden.«

Er geht auf Vater zu und bleibt dicht vor ihm stehen. Mit versteinertem Gesicht sieht er ihn an.

»Du hältst uns wie Arbeitstiere. Einen Hungerlohn bekommen wir. Lieber versäufst du dein Geld im Adler und schlägst deine Frau grün und blau.« Tonlos kommen die Worte über seine Lippen. Ich halte die Luft an. Einen kurzen Augenblick stehen sie sich wie zwei Kampfhähne gegenüber und plötzlich schnellt Vaters Hand nach vorne und er packt Chris am Hemdkragen. »Sei still, du arroganter Schweinehund!« Mit zusammengebissenen Zähnen starrt er ihn an. Ein paar Haarsträhnen fallen in seine weit aufgerissenen Augen. Er erinnert mich an Jack Nicholson aus dem Horrorfilm Shining.

»Dasselbe mache ich mit dir und deinem Geschwisterpack, wenn du nicht dein Maul hältst!« Speicheltröpfchen treffen Chris’ Gesicht. Mein Bruder schließt einen Moment die Augen und dann ist er es, der Vater am Kragen seines Hemdes packt. Er drückt ihn mit voller Wucht an die Wand.

»Untersteh dich!« Chris’ Augen blitzen gefährlich auf.

Mir ist nicht bewusst, dass ich aufgestanden bin. Meine Haltung gleicht der einer Schaufensterpuppe.

Sie streiten oft, aber das hier ist etwas anderes.

Mein Leib ist wie erstarrt. Die Angst fließt in jede Faser meines Körpers. Wie eine Zange umschließt sie meinen Brustkorb.

Ich sehe diesen unvorstellbaren Hass in Vaters Augen und habe das Gefühl, jemand würde mir die Hände um den Hals legen und ganz langsam zudrücken.

Die ganze Zeit über schaut Mutter teilnahmslos aus dem Fenster.

 

Wie ein Besessener schaufelt Chris den Mist in die neben ihm stehende Schubkarre. Ich lasse ihn in Ruhe, denn ich weiß, dass er jetzt nicht reden will. Wir sind allein im Stall. Mutter versorgt die Hühner und Vater ist mit dem Traktor auf dem Feld. Eine Weile arbeiten wir stillschweigend nebeneinander her. Aus dem Augenwinkel nehme ich seinen noch immer wütenden Gesichtsausdruck wahr. Plötzlich haut er mit voller Wucht die Mistgabel in die bereits gut gefüllte Karre. Er dreht sich zur Wand, stützt sich mit den Händen daran ab und starrt mit gebeugtem Kopf auf den Boden.

Ich halte inne. »Chris …«, langsam gehe ich auf ihn zu.

»Nichts wird sich jemals ändern.« Mit der Faust schlägt er gegen die Wand und da bin ich auch schon bei ihm. Meine Hand berührt seine bebende Schulter. »Irgendwann schon. Wir müssen nur noch ein wenig Geduld haben. Sie werden schließlich auch nicht jünger und dann wird Vater einsehen, dass er auf deine Unterstützung angewiesen ist. Du bekommst den Hof, da bin ich mir sicher.«

Beschwörend rede ich auf ihn ein. Sein Atem wird ruhiger. Mit hängenden Schultern dreht er sich schließlich um und sieht mich an. »Wann Maddy? In fünf, in zehn oder vielleicht werden es auch fünfzehn Jahre?« In seinem Blick liegt eine so große Hoffnungslosigkeit, dass es mir das Herz zusammenschnürt. Langsam schüttelt er den Kopf. Seine Stimme gleicht einem heiseren Krächzen. »Nein Maddy, machen wir uns nichts vor. Ich werd ihn nie bekommen.«

3.

 

Samstag, 13. Mai 2017

 

Ich mache mir Sorgen um Chris. Er hat sich verändert. Stets trug er diesen Kampfgeist in sich und war überzeugt, alle Hürden überwinden zu können. Wenn der Hof erst einmal sein Eigen war, würde alles anders werden. In seinen Augen loderte ein Feuer und sein Blick war voller Energie. Jetzt ist da nichts mehr. Das Feuer ist erloschen. Da ist nur noch Resignation.

 

Am Nachmittag sind wir auf dem Feld. Chris fährt den Traktor mit der Kartoffelsetzmaschine, auf der Ben und ich unseren Platz eingenommen haben. Wir sind damit beschäftigt, immer wieder Knollen in die dafür vorgesehenen Räder zu schütten. Während ich zusehe, wie in regelmäßigen Abständen eine Kartoffel nach der anderen durch das Rad in die Furche auf den Boden fällt, beginnt ein Plan in mir zu reifen.

Chris geht abends nie weg. Bevor ich angefangen habe, im Fellini zu arbeiten, bin auch ich nie ausgegangen. Wir sind einfach zu kaputt, um noch etwas zu unternehmen. Mein Wunsch nach ein wenig Unabhängigkeit war so groß, dass ich bereit war, die Doppelbelastung zu tragen. Chris jedoch steckt seine ganze Energie in die Arbeit auf dem Hof. Er sieht nichts anderes und er hat anscheinend vergessen, dass er gerade mal fünfundzwanzig Jahre alt ist. Aber jetzt denke ich, ist es an der Zeit, ihn aus diesem Hamsterrad herauszuholen. Wenigstens für ein paar Stunden.

Wir biegen mit dem Traktor auf den Hof ein. Vater kommt aus dem Stall. Er scheint es eilig zu haben.

»Halt mal an!«, rufe ich Chris zu und er tritt auf die Bremse. Ich klettere aus meinem Sitz und springe auf den Boden. »Vater!« Ich gehe ihm hinterher. »Kann Chris heute Abend das Auto haben?« Abwartend bleibe ich stehen.

»Wozu?« Mürrisch kommt das Wort aus seinem Mund, während er weitergeht. Aus dem Augenwinkel nehme ich Chris’ überraschte Miene wahr und setze mich in Bewegung. »Diego hat gefragt, ob wir eine Waschmaschine gebrauchen können.«

Das zeigt Wirkung. Er bleibt stehen und dreht sich um. Misstrauisch mustert er mich. »Eine Waschmaschine?«

»Ja, seine Schwester ist in die Wohnung über ihm eingezogen und sie macht ihm die Wäsche.«

Das stimmt tatsächlich. Diego hat mir vor Kurzem angeboten, dass wir seine Waschmaschine haben könnten. Mit dem Hintergedanken, das Angebot irgendwann einmal als Trumpf bei Vater auszuspielen, bat ich Diego, das gute Stück erstmal bei sich aufzubewahren.

Unsere Maschine funktioniert zwar noch, aber sie ist bestimmt schon mehr als zehn Jahre alt und außerdem lässt Vater sich solch eine Gelegenheit nicht durch die Lappen gehen. Wo es etwas umsonst gibt, ist er sofort zur Stelle.

»Wie viel Jahre hat die auf dem Buckel? So ein altes Ding haben wir nämlich selbst, da kann ich drauf verzichten.«

Die Hände in die Hüften gestemmt, beäugt er mich mit lauerndem Blick. Groß gewachsen und breitschultrig sieht er älter aus, als er mit seinen zweiundfünfzig Jahren ist. Die ungepflegten, fast schulterlangen Haare hat er im Nacken mit einem einfachen Gummi zusammengebunden. Ein paar grau-braune Strähnen fallen in sein rotes, aufgedunsenes Gesicht. In seinen kleinen wässrigen Augen spiegelt sich die Alkoholsucht.

»Sie ist erst drei Jahre alt«, beeile ich mich zu sagen.

Nachdenklich reibt er sich über sein unrasiertes Kinn.

»Was will er dafür?«

»Nichts, er will nichts«, beeile ich mich zu sagen.

»Meinetwegen.« Er dreht sich um und ohne ein weiteres Wort zu sagen, verschwindet er im Haus. »Kannst du mir verraten, was das sollte?« Mit energischen Schritten kommt Chris auf mich zu. Er bleibt vor mir stehen und stützt die Hände in die Hüften.

Meine Brust hebt und senkt sich. »Du musst mal raus, was anderes sehen.« Arglos zucke ich mit der Schulter. »Setz dich für ein, zwei Stunden an den Tresen und trink ein Bier. Was ist schon dabei?« Meine Hand legt sich sanft auf seinen Arm. »Chris, es wird dir guttun.« Beschwörend sehe ich ihm in die Augen.

Mit einem resignierten Schnauben schüttelt er den Kopf, dann sieht er mich an. Er atmet ein und wieder aus. »Vielleicht hast du recht.«

 

Jenny ist dabei, frisches Stroh in die beiden Pferdeboxen zu streuen. Sie wirkt konzentriert und hebt nur kurz den Blick, als sie uns registriert.

»Hey, kleine Schwester, kommst du klar?« Chris zwinkert ihr zu und erntet ein Lächeln. Jenny bewundert ihren über zehn Jahre älteren Bruder und sieht zu ihm auf. Er ist eine Art Vaterfigur für sie. Ich bleibe stehen und sehe ihr einen Moment zu. »Komm, ich helfe dir.«

Entschlossen packe ich mit an und gemeinsam kleiden wir die Boxen mit dem Stroh aus. Dann machen wir uns zusammen auf den Weg zur Pferdekoppel, um die beiden in die Jahre gekommenen Haflingermädchen Fee und Joy zu holen. Die Tiere gehören uns nicht. Nachdem sich die Lebenssituation des Besitzers verändert hatte, bat er darum, die Stuten weiterhin bei uns unterstellen zu dürfen. Gegen einen sehr guten finanziellen Ausgleich war Vater natürlich sofort dafür zu haben. Jenny und mich freut es, denn unsere Aufgabe ist es, mit den Pferden regelmäßig auszureiten.

Wir gehen schweigend nebeneinander her. Ich werfe meiner kleinen Schwester einen Seitenblick zu. Ihr Gesicht wird durch ihr Haar teilweise verdeckt. Trotzdem spüre ich, dass sie etwas beschäftigt.

»In der Schule alles ok?« Wieder schiele ich zu ihr rüber.

»Mm.« Sie nickt.

»Mit Sophia auch alles im grünen Bereich?«

Wieder bejaht sie meine Frage mit einem abgehackten Nicken.

»Und die Jungs, wie sind die so?« Sanft stoße ich die Schulter an ihre und als keine Reaktion kommt, greife ich grinsend nach ihrem Arm und zwinge sie so, stehen zu bleiben. Ich streiche ihr das Haar aus dem Gesicht und mein Lächeln gefriert. Ihr linker Wangenknochen leuchtet in einer violett-grünen Farbe.

»Was ist passiert, wer war das?« Bestürzt versuche ich, in ihren Augen zu lesen, aber sie wendet den Kopf ab.

»Jenny, du sagst mir jetzt sofort, wer das war!« Ich packe sie etwas unsanft an den Schultern. »Sieh mich an!«

Sie wendet mir den Kopf zu und bleibt stumm.

»Ist das in der Schule passiert? Lassen sie dich immer noch nicht in Ruhe?« Vor meinem inneren Auge taucht das Martyrium auf, das mich all die Jahre begleitet hat. Ich weiß genau, wie gemein Jugendliche in dem Alter sein können.

»Soll ich mit deinem Klassenlehrer reden?«

Erschrocken hebt sie den Blick. »Nein!«

Ich greife mir an die Stirn. Tausend Gedanken schwirren durch meinen Kopf. Mir ist klar, was geschieht, wenn der Lehrer Bescheid weiß. Er trommelt alle Beteiligten zu einem Gespräch zusammen. Sie geloben Besserung. Alles hört sich toll an und dann geht es weiter, nur schlimmer als zuvor, denn letztendlich wird man von ihnen auch noch fürs Petzen bestraft.

»Wer war das?« Mit sanft drängendem Ton frage ich sie noch einmal.

Sie beißt sich auf die Unterlippe. Ihre Augen huschen zur Seite. »Sie haben mich geschubst, dann bin ich gestolpert und habe mich am Tisch gestoßen.«

Ich atme ein und lasse die Luft langsam durch die Nase entweichen. »Versprich mir, dass du das nächste Mal sofort zu mir kommst, ok?«

Mit zusammengepressten Lippen nickt sie hastig. »Ok.« Leise flüsternd kommt das Wort aus ihrem Mund.

Behutsam nehme ich sie in die Arme und streiche über ihren Rücken. Es tut mir so unendlich leid, was sie durchmachen muss. Das Schlimmste ist, sie ist allein mit dieser Situation. Ich kann ihr nicht helfen.

4.

 

Samstag, 13. Mai 2017

 

Nick kniet am Boden und schraubt an seinem Mofa. Ich schwinge mich auf mein Rad. Er hebt den Kopf und ruft mir hinterher. »Hey Maddy, bringst du heute wieder so ‘ne geile Hackfleischsoße mit?«

»Lass dich überraschen.« Über die Schulter werfe ich ihm ein Lächeln zu und trete in die Pedale.

Nick ist in einem Alter, in dem man ständig Hunger hat. Im vergangenen Jahr ist er bestimmt zehn Zentimeter gewachsen. Obwohl es ihm verwehrt war, seinen Berufswunsch zu verwirklichen, landete er mit seinem Ausbildungsbetrieb einen wahren Glücksgriff. Er hat einen Chef, der es gut mit ihm meint und der ihn in allen Belangen unterstützt. Außerdem denke ich, stellt Nick sich nicht gerade ungeschickt an. Von Kindesbeinen an gehörten Zange und Schraubenzieher zu seinen liebsten Spielsachen.

Ich wünsche mir, dass ihm der Absprung gelingt. Auch Jenny und Ben werden etwas aus ihrem Leben machen und es schaffen, von hier wegzukommen. Dafür werde ich sorgen, das habe ich mir geschworen. In ein paar Jahren wird der Hof Chris gehören, daran glaube ich fest. Einem anderen Gedanken gebe ich einfach keine Chance. Dann erst werde ich mich um meine Belange kümmern. Nur noch ein paar Jahre. Was dann mit unseren Eltern sein wird, darüber denke ich nicht nach.

 

Der Samstag ist ein besonderer Tag im Fellini. Oft finden dann irgendwelche Events statt. Im hinteren Teil an der Wand ist eine kleine Bühne integriert. Werden die fünf Tische davor weggeräumt, entsteht eine Tanzfläche.

Heute Abend wird eine Band mit vier Jungs auftreten. Sie spielen ab und zu in der Gegend und sollen recht gut sein.

Ich freue mich für Chris. Es wird ihm gefallen. Er war tatsächlich noch kein einziges Mal hier im Fellini. Schon viel eher hätte ich ihn dazu überreden sollen.

Heute sind Caro und ich ausschließlich hinter der Theke eingeteilt. Der Zeiger rückt Richtung neun und immer mehr Leute strömen durch die Tür.

»Heute wird es spät, glaub mir.« Caro bereitet verschiedene Cocktails zu, während ich ein Bier nach dem anderen zapfe. Mein Blick schweift minütlich zu der überdimensional großen Uhr an der Spiegelwand hinter mir. Natürlich entgeht das Caro mal wieder nicht.

»Erwartest du jemanden?« Mit hochgezogenen Augenbrauen sieht sie mich an.

»Nö, wieso?«, antworte ich mit unschuldigem Gesichtsausdruck.

Keine Ahnung weshalb, aber irgendetwas hindert mich daran, ihr von Chris zu erzählen.