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Als Alex seine Mutter und damit einzige Familie verliert, entsteht eine große Lücke in seinem Leben, die sich nicht so einfach ausfüllen lässt. Aber noch bevor er diesen Verlust verarbeiten kann, wird er plötzlich entführt und findet sich Lichtjahre von der Erde entfernt auf dem Raumschiff Nily wieder. Für ihn eröffnet sich dadurch die riesige neue Welt des galaktischen Handelssystems und er erfährt, dass er als Mensch einer der wenigen ist, der es mit General Mehlis aufnehmen kann, der die Ordnung in der Galaxie zu zerstören droht. Es beginnt ein Wettlauf mit der Zeit zum Mittelpunkt der Galaxie.
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Seitenzahl: 295
Veröffentlichungsjahr: 2021
Für meine Mutter, die dieses Buch in seinem rohesten Zustand gelesen und korrigiert hat.
Und für meinen Vater, der dieses Buch leider nicht mehr lesen kann.
Terror
Entführt
Ein Computer namens Joe
Die Nily
Die Umani-Station
Sternenstaub
General Mehlis
Der blinde Söldner
Der Priester
Die Sakul
Die Nummer eins
Die Schlacht
Verrat
Die Ewigkeit
Das Nesor-Portal
D ie vom Herbst rot gefärbten Blätter knirschten unter seinen Stiefeln und er musste seine Jacke zumachen um dem Wind entgegenzutreten. Obwohl die meisten ein solch kaltes Wetter verabscheuten, genoss Alex es. Der Himmel war wolkenfrei und es war einer dieser Tage, an dem die Sonne trotz Kälte in voller Pracht schien. Die Farben der Blätter und die allgemeine Stimmung, die der Herbst mit sich brachte, gab ihm ein wohliges Gefühl.
„TERRORANSCHLAG IN U-BAHN-STATION“ stand in Großbuchstaben auf dem Newsflash im Fernseher des Schaufensters, an dem Alex gerade vorbeiging. Er stoppte kurz um zu sehen, ob er den Nachrichten so ganz ohne Ton noch mehr Informationen entnehmen konnte. Es schien eine Station außerhalb des Stadtzentrums gewesen zu sein und es handelte sich wohl um einen Bombenanschlag. Obwohl solche Nachrichten schlimm waren, prägten sie leider schon seit einiger Zeit den Alltag und in den letzten Jahren gab es viele solcher Anschläge in Europa. Es war aber der erste in seiner Stadt, also würde es in den nächsten Tagen und Wochen einen großen Wirbel darum geben. Statements zum Thema Sicherheit von mehreren Politikern und Beileidsbekundungen von verschiedenen Staaten würden in den nächsten Tagen folgen. In der Newsflash Einblendung am unteren Rand befand sich noch eine weitere Nachricht, „MEHRERE MENSCHEN SICHTEN UFO ÜBER DER STADT“. Warum ausgerechnet eine so sinnlose Nachricht eingeblendet wurde, war ihm nicht wirklich bewusst. Einen kurzen Moment hielt er inne und überlegte, ob irgendjemand in seinem Umfeld von dem Anschlag betroffen sein könnte. Seine Mutter arbeitete zwar nicht weit von der Station als Sekretärin einer Werbeagentur, aber sie war schon seit dem frühen Morgen in der Arbeit und bekannt dafür das Büro nie vor Feierabend zu verlassen, nicht einmal für die Mittagspause.
Alex war ein Einzelkind und sein Vater verstarb an Krebs, als er gerade mal zwei Jahre alt war, also war seine Mutter die einzige um die er sich Sorgen machen musste - und sie war in Sicherheit. Trotz des Fakts, dass seine Mutter, seitdem er klein war, alleinerziehend war, ging es den beiden finanziell ausgesprochen gut. Sein Vater hatte als Vorstandsmitglied einer großen Firma ein kleines Vermögen angehäuft und war auch schon aus seiner eigenen Familie nicht als armer Mann hervorgegangen. Er hatte vor seinem Tod sichergestellt, dass es seinem Sohn und seiner Frau auch, nachdem er nicht mehr da war, gut gehen würde.
Mit seiner Mutter lebte er also ein angenehmes Leben in einem kleinen Haus mit Garten ein wenig außerhalb der Stadt. Den Job als Sekretärin hatte seine Mutter allerdings erst angenommen nachdem der Krebs seinem Vater das Leben gekostet hatte, obwohl sie es nicht nötig gehabt hätte, aber sie wollte nicht jeden Tag alleine zuhause sein mit all den Dingen, die sie ständig an ihren Mann erinnerten.
Alex war aber der Meinung, dass er trotz der Umstände als ein normales aufgewecktes Kind aufgewachsen war. Mit seinen jetzt 16 Jahren war er überdurchschnittlich groß, hatte kurzes, meist zerzaustes, straßenköterblondes Haar und man würde ihn vermutlich als hübschen jungen Mann bezeichnen, aber nicht als jemanden, wonach sich die Mädchen umdrehen würden. Er galt als clever und sehr intelligent, war aber meistens durchschnittlich, teilweise sogar unterdurchschnittlich in der Schule, da er schon in den unteren Klassen nie die nötige Konzentration aufbringen konnte. Er beschäftigte sich schon früh lieber mit kulturellen Inhalten, die für einen Jungen in seinem Alter unüblich waren, da die meisten sie nicht verstanden hätten. In der vierten Klasse, in der viele seiner Klassenkameraden das erste Mal dickere Bücher lasen und dadurch ihre Freizeit mit dem Kopf tief in Harry Potter-Büchern versenkt verbrachten, las Alex schon Brecht, Dostojewski und ihresgleichen. Besonders beliebt machte er sich dadurch natürlich nicht. Es brachte ihm wenige Freunde, aber er fiel in der Schule auch durch nichts besonders auf, wodurch er hätte gemobbt werden können. So fand man ihn die meiste Zeit seiner Schullaufbahn in der hintersten Reihe am Fenster und er fiel weder Klassenkameraden noch Lehrern groß auf. So auch nicht an diesem Morgen eines kalten Novembertages, der sein doch so fades Leben für immer verändern sollte.
Alex warf seinen Rucksack neben seinen Tisch an die Heizung und glitt in seinen Stuhl. Der Unterricht hatte noch nicht einmal begonnen und schon sank sein Kopf in die ihm bekannte Position auf seine auf dem Tisch verschränkten Arme. Von seiner kleinen Ecke aus konnte er gut das Klassenzimmer und das Geschehen am Morgen überblicken. Und es spielte sich fast jeden Morgen das ähnliche Szenario in verschiedenen Variationen ab. Die üblichen Verdächtigen kamen als erstes in die Klasse - er war meistens unter den ersten drei und einer nach dem anderen tröpfelte in das Zimmer.
In der ersten Stunde hatten sie Englisch, also konnte man sich darauf verlassen, dass sie pünktlich um acht Uhr beginnen würde, denn sein Lehrer, Mr. Laskas legte auf kaum etwas mehr Wert als auf Pünktlichkeit, weshalb sogar die Schüler, die dafür berüchtigt waren, stets zu spät zu kommen, an den Tagen, an denen sie Englisch in der ersten Stunde hatten, meistens schon fünf Minuten vor Beginn auf ihren Plätzen saßen.
Um Punkt acht schwang die angelehnte Tür auf, Mr. Laskas betrat so schwungvoll wie jemand, der gerade seine erste Tasse Kaffee konsumiert hatte, eine Klasse betreten konnte, den Raum und warf ganz nebenbei die Tür hinter sich zu, aber nicht zu stark, als dass sie einen der schon dösenden Schüler hätte wecken können. Während er seine braune Aktentasche auf den Stuhl vor seinem Lehrerpult abstellte und anfing den halben Inhalt auf dem Tisch auszuleeren, entfloh seinem Mund ein halblautes „Good Morning“, das von etwa der halben Klasse mit einem Nuscheln oder Kopfnicken erwidert wurde. Er begann mit dem Überprüfen der Anwesenheitsliste und Alex´ Blick wechselte zwischen dem Fenster und den Kritzeleien auf seinem Collegeblock hin und her und schon fast automatisch hob er seine Hand, als er die sanfte, rauchige Stimme von Mr. Laskas „Mr. Decker, Alex“ rufen hörte.
Die Stunde verstrich schnell und er konnte den Großteil davon in seiner eigenen kleinen Welt verbringen, die sich größtenteils in den Skizzen auf seinem Block abspielte, da er sich über die Jahre hinweg die Fähigkeit erarbeitet hatte, in den Augen der meisten seiner Lehrer unsichtbar zu sein.
Die Pause verbrachte er meist an seinem Platz im Klassenzimmer und trieb sich nur selten im Schulhaus herum. Zusammen mit ihm verbrachten auch ein paar andere die Pause lieber in der Klasse und setzten sich dann meist zu Alex. Denn auch, wenn er von außen das typische Bild eines Außenseiters abgab, galt er als jemand, mit dem man sich gut unterhalten und herumblödeln konnte. Er pflegte zwar keinen richtigen Freundeskreis und vermied es außerhalb der Schule etwas mit irgendjemanden zu unternehmen, aber innerhalb der Schulzeit bemühte er sich doch um den einen oder anderen sozialen Kontakt und galt dadurch nicht als unbeliebt.
Der Mittwoch war einer seiner absoluten Lieblingsschultage, da er nicht nur der kürzeste war, sondern die wenigen Stunden auch noch im selben Raum stattfanden, wodurch er in seiner kleinen Welt so gut wie nicht gestört wurde. Und auch heute wurde er nur sehr selten aufgerufen und wie immer half ihm seine lang antrainierte Fähigkeit mit nur einem Ohr und nur wenig Gehirnkapazität aufzupassen und so auch diese Fragen einigermaßen korrekt zu beantworten.
Auf dem Heimweg hielt er nochmals am Elektronikgeschäft an um eventuell noch mehr über den Anschlag zu erfahren, denn als er in der Pause im Internet mehr darüber herausfinden wollte, fiel ihm auf, dass er am Abend zuvor so müde gewesen war, dass er es nicht mehr hinbekommen hatte, sein Ladekabel richtig anzustecken und so gab sein Handy schon irgendwann während der ersten Stunde den Geist auf. Der Fernseher im Schaufenster zeigte aber mittlerweile eine alte Folge von „Die Simpsons“, also beschloss er die Recherche einfach auf Zuhause zu verschieben.
Ihn umschlich aber schon die ganze Zeit ein ungutes Gefühl und obwohl er sich sicher war, dass seine Mutter niemals das Büro verlassen würde und er wusste, dass sie nicht ans Telefon gehen würde, beschloss er dennoch sie anzurufen. Am Bahnhof ging er zu einer der wenigen Telefonzellen, die es überhaupt noch gab, denn wer brauchte die heutzutage noch. Aber in diesem Moment konnte er für die so alte Technik nicht dankbarer sein. Er kramte ein 50 Cent - Stück aus seiner Hosentasche und warf es ein. Als das Freizeichen ertönte, musste er kurz nachdenken um sich wieder komplett an die Nummer zu erinnern, denn dank Smartphones war es Jahre her gewesen, dass er diese manuell eingeben musste.
Nach zwei Tönen hielt er kurz inne, aber die Wahrscheinlichkeit, dass sie ihr Handy eingeschaltet hatte, war sehr gering und dass sie während der Arbeit rangehen würde, wenn sie die Nummer nicht kannte, grenzte schier ans Unmögliche. Er beschloss, dass seine Sorgen unbegründet waren und machte noch einen Umweg über einen Coffee-Shop, bevor er die S-Bahn nachhause nahm.
Alex hatte das Zeitfenster zwischen seinem Nachhausekommen und dem seiner Mutter immer sehr genossen. Nicht, dass er seine Mutter oder ihre Anwesenheit nicht mochte, nein, ganz im Gegenteil, er liebte sie über alles, immerhin war sie die einzige Person, der er sich sein ganzes Leben lang hatte öffnen können und er schätzte jede Sekunde mit ihr. Es war nur so, dass diese paar Stunden irgendwie ihm gehörten; er war alleine mit sich, seinen Büchern und den Welten, die er kreierte.
Alex ging in sein Zimmer, warf den Rucksack auf das Bett und mit einem Schwung ließ er sich auf den Schreibtischstuhl fallen. Langsam versuchte er, nur halb richtig im Stuhl sitzend, sich mit den Füßen zum Tisch hinzuziehen, was auf dem glatten Parkettboden mit rutschigen Socken nicht einfach war. Als ihm das schließlich gelang, schloss er sein Handy an und das Batteriesymbol erschien. Er fuhr den Laptop hoch und beschloss nachzusehen, was am Morgen in der Stadt genau passiert war.
Die Nachrichten wurden ihm förmlich ins Gesicht gepresst, jede Newsseite hatte gefühlt schon zwanzig Artikel zu dem Thema herausgebracht und das Internet quoll geradezu über von Informationen über den Anschlag. Er klickte sich durch mehrere Artikel und hatte schon bald alle Informationen zusammengesammelt, die er haben wollte.
Bisher gab es 32 bestätigte Todesfälle, die Ursache war eine Explosion unbekannten Ursprungs, denn bisher konnte kein Täter festgestellt und zur Verwunderung der Polizei konnten auch noch keine Bombenteile gefunden werden. Dies war bei einer Explosion solchen Ausmaßes eher ungewöhnlich , aber der Anschlag war ja noch nicht so lange her, dachte sich Alex.Die Bombe ging in einem kleinen Buchladen im Bahnhof hoch, nur zwei U-Bahn-Stationen vom Arbeitsplatz seiner Mutter entfernt. Warum sollte denn jemand einen Buchladen in die Luft jagen wollen, fragte er sich, aber beschloss, nicht weiter seine Gedanken daran zu verschwenden, da er sich eh nur informierte um am nächsten Tag in der Pause ein wenig mitreden zu können. Wie es in den letzten Jahren schon fast üblich geworden war, zeigte Frankreich sein Beileid, indem der Eiffelturm in den Farben Schwarz, Rot und Gold leuchtete.
Alex schloss den Laptop und ging in die Küche um Ausschau nach etwas Essbarem zu halten. Er begnügte sich schließlich mit einem Schokoriegel und einem Glas Wasser bevor er sich hundemüde auf der Couch niederließ.
Es schienen mehrere Stunden vergangen zu sein, als er von der Klingel geweckt wurde. Es war draußen schon dunkel, was für diese Jahreszeit nicht ungewöhnlich war, auch der Fernseher, den er nicht mehr ausgeschaltet hatte, bevor er weggenickt war, zeigte mittlerweile das Abendprogramm.
Alex fragte sich, wer um die Uhrzeit an der Tür sein könnte, denn seine Mutter war nicht der Art Mensch, der, nur weil er zu faul war den Schlüssel in der Tasche zu suchen, jemanden durch das gesamte Haus jagte. Noch leicht taumelnd humpelte er zur Tür, denn auf der Couch war ihm der linke Fuß eingeschlafen.
Er öffnete die Tür und war überrascht, denn vor ihm stand eine Arbeitskollegin seiner Mutter, die er bestimmt mehrere Jahre nicht mehr gesehen hatte. Normalerweise kamen ihre Kolleginnen nie zu Besuch, denn sie war ein Mensch, der sehr viel Wert darauf legte das Berufliche und Private zu trennen. Der einzige Grund, warum Alex überhaupt ein paar ihrer Kollegen kannte war, weil er als kleiner Junge ab und zu in Notfällen mit ins Büro kommen musste, wenn seine Mutter niemanden zum Aufpassen gefunden hatte.
Er erinnerte sich daran, dass die Dame, die jetzt an der Tür stand, damals immer sehr nett zu ihm gewesen war und ihm immer heimlich Bonbons gegeben hatte. Er war von ihrem Erscheinen so überrascht, dass er erst jetzt ihre verquollenen Augen bemerkte. Er war leicht mit der Situation überfordert, mit den Emotionen anderer Menschen war er noch nie besonders gut zurechtgekommen und mit jemandem, der gerade in Tränen ausbrach, hatte er extrem viele Schwierigkeiten. Unbeholfen bat er sie hinein und bot ihr im selben Atemzug ein Glas Wasser an.
Erst jetzt, als sie schweren Schrittes an ihm vorbei durch die Haustür ging, bemerkte er die beiden Polizisten, die wohl schon die ganze Zeit hinter ihr gestanden hatten. Er stand still, starrte wortlos auf die beiden Männer. Es durchfuhr ihn wie ein Blitz. Sein mulmiges Gefühl war nicht umsonst gewesen. Es drehte ihm den Magen um und die Polizisten schienen zu bemerken, dass er bereits realisierte, was passiert war und gingen stumm auf die Tür zu. Sie machten eine fragende Geste, ob sie eintreten dürften ohne auch nur ein Wort zu sagen. Alex nickte.
Die Kollegin seiner Mutter hatte die Realisierung in seinen Augen noch nicht bemerkt und kam, jetzt mit einem Glas Wasser in der Hand, schluchzend mit triefender Nase auf ihn zu und brachte stotternd die Worte hervor, von denen Alex schon längst wusste, dass sie wahr waren, die er aber eigentlich nicht hören wollte: »Sie....sie...sie ist... ist.....tot.«
MITTLERWEILE KANNTE ALEX JEDEN Riss und jede noch so kleine Unebenheit an der Decke seines Zimmers. Die letzten Tage hatte er fast ausschließlich in seinem Bett verbracht. Hätte man ihn gefragt, wie er sich zurzeit fühlt, was die meisten die ihn jetzt überhaupt noch zu Gesicht bekamen glücklicherweise nicht taten, hätte er diese Frage beim besten Willen nicht beantworten können. Weder mit Trauer, Freude oder Einsamkeit hätte man akkurat das Gefühl und seinen derzeitigen Zustand beschreiben können. Er lebte einfach nur so in den Tag hinein. Er hatte das Gefühl nicht mehr existieren zu wollen, aber sterben wollte er auch nicht, einfach nur weg sein. Vielleicht war er unterbewusst auch nur auf Sinnsuche, da jetzt die einzige Konstante in seinem Leben einfach nicht mehr da war.
Bin ich überhaupt richtig traurig?
Diese Frage kreiste ihm durchgehend durch den Kopf. Denn wirklich traurig fühlte er sich nie, aber dieses Erlebnis löste vielleicht auch einfach nur eine andere, viel stärkere und schleichendere Art von Trauer aus. Er fürchtete, würde er diese Gefühle jemanden beschreiben, würde man ihm vorwerfen, er hätte seine Mutter nie richtig geliebt, wenn er nicht traurig ist und auch nicht eine einzige Träne für sie vergossen hatte. Andere beschrieben ihn bereits als herzlos, weil er sich gegen eine Beerdigung entschieden hatte. Doch worin bestand denn bitte der Sinn, einen leeren Sarg zu beerdigen. Nicht einmal die Polizei konnte ihm oder der Öffentlichkeit erklären, warum eine so kleine Bombe, die nicht einmal den Laden, in welchem sie hochging, zerstören konnte, kaum etwas von seinen Opfern übrig ließ.
Aber daran wollte Alex seine Gedanken nicht verschwenden, er wollte seinem Hirn nicht die Möglichkeit geben sich einen Ausweg aus dem Ganzen zu suchen und Wege zu finden, wie seine Mutter noch leben könnte. Es war sein Selbstverteidigungsmechanismus um nicht verrückt zu werden.
Ausgerechnet er hatte auch kaum eine Möglichkeit an ihrem Tod zu zweifeln; sie war nämlich einer der ersten und wenigen zu hundert Prozent bestätigten Todesopfer, denn ihre Kollegin hatte vor dem Buchladen auf sie gewartet und hatte die Explosion mit eigenen Augen gesehen. Doch konnte er seiner Meinung nach froh sein, Gewissheit zu haben, denn er wollte gar nicht wissen, wie es sich anfühlen musste, jeden Tag darüber nachdenken zu müssen wie sie noch am Leben sein könnte. Diese Sicherheit gab ihm eine Art Ruhe.
Es war nun knapp drei Wochen her, drei Wochen ohne Schule, drei Wochen der absoluten Leere und er entschied sich, zum ersten Mal das Haus für längere Zeit zu verlassen. Ungeduscht warf er sich den Mantel über und trottete durch die menschenleeren Straßen. Es war unter der Woche, die meisten waren in der Arbeit oder in der Schule. Frische Herbstluft schlug ihm ins Gesicht und der Tag schien dem, an welchem seine Mutter gestorben war, nicht unähnlich. Die Sonne schien hell über ihm trotz der Tatsache, dass er den Mantel mit beiden Händen fest um sich zog. Die sonst so schönen Herbstfarben - gelb, orange, rot - wirkten ausgewaschen und grau, aber er konnte nicht zuordnen, ob es etwas damit zu tun hatte, wie er sich fühlte. Einzugestehen, dass durch den Tod seiner Mutter die Welt grau geworden war, hieße sich einzugestehen, dass er Trauer empfand und er wollte dem Ganzen einfach keinen Stempel aufdrücken.
Er war sich jedoch sicher so ein Spaziergang würde gut tun, wem schadet schon frische Luft. Was genau die Auswirkungen waren wenn man sich wochenlang nur in der Wohnung befand, wusste er zwar nicht, aber sonderlich positiv konnte es nicht sein. Eigentlich hatte er, es auch schon immer genossen mal nach draußen zu gehen, ohne ein wirkliches Ziel. Es half ihm immer wieder einfach nur ein bisschen nachzudenken und obwohl er ja auch zuhause seine Ruhe hatte, bewirkte ein solcher Spaziergang manchmal Wunder. Kurz blickte er hastig nach oben, da er sich eingebildet hatte etwas entdeckt zu haben. Es war riesig und schien nur knapp über ihn hinweg geflogen zu sein. Vermutlich war es ein Flugzeug, aber der Flughafen befand sich am anderen Ende der Stadt und normalerweise flogen sie in dieser Gegend nie so tief.
Für eine Weile hatte er auch das Gefühl, dass ihm irgendjemand folgte. Hatten ihn die wochenlange Isolation etwa paranoid gemacht? Er ging nicht wirklich davon aus, wurde aber das Gefühl nicht los, dass dieser Spaziergang anders war als alle anderen. Natürlich gab es die Option, dass es damit zu tun hatte wie er sich gerade fühlte, aber das schloss er lieber aus. Er war sich ziemlich sicher, dass der Verlust seiner Mutter nicht dazu führte, dass er paranoid wurde, aber er war auch kein Experte in dem Gebiet, also konnte er nicht sicher sein. Er betrachtete das Ganze also so logisch wie er konnte. Wer würde ihn, wenn überhaupt, verfolgen wollen? Das war schon die erste Frage auf die er sich selbst keine gute Antwort geben konnte.
Urplötzlich durchzog Alex ein komisches Gefühl: die Straßen waren fast menschenleer, doch das Gefühl verfolgt zu werden wurde auf einmal deutlich stärker. Sofort drehte er sich um und tatsächlich, an einer Hausecke schien jemand zu stehen und in seine Richtung zu sehen. Er war sich aber nicht sicher, da der Mann komplett in einen Mantel und Hut eingehüllt war und für einen Bruchteil einer Sekunde erschien er ihm irgendwie seltsam. Natürlich war der Fakt, dass ihn ein fremder Mann von der Ferne aus beobachtete schon seltsam genug, aber da war noch etwas. Es schien so als hätte der Mann zwei Arme. Das war noch sehr normal, aber für den kurzen Augenblick, in welchem Alex ihn gesehen hatte, hätte er schwören können, dass sich beide Arme auf der selben Seite des Körpers befanden. War es vielleicht eine körperliche Fehlstellung, bei der einem beide Arme an nur einer Seite herauswuchsen? Allerdings sah er auch nur die eine Hälfte seines Körpers, die andere war hinter der Hausecke, an der er lehnte, verborgen. Als er bemerkte, dass Alex ihn erblickt hatte, zog er sich vollständig hinter die Hauswand zurück und verschwand. Alex ging vorsichtig, mit sicherem Abstand, hinterher und während er sich der Ecke, an der er den Mann zum letzten Mal gesehen hatte, näherte, wechselte er die Straßenseite um ihm nicht zu nahe zu kommen, für den Fall, dass er noch dahinter auf ihn wartete.
Die Straße, in die er verschwunden schien, war leer. Hatte er ihn sich nur eingebildet?
Vorsichtig arbeitete er sich Schritt für Schritt an der Straße entlang, die immer schmaler zu werden schien und am Ende links in eine kleine schmale Gasse überging. Seine Schritte wurden schneller und unvorsichtiger und seine Behutsamkeit wich der Neugier. Nach wenigen Metern hatte er die Gasse erreicht und als er hineinsah und doch tatsächlich noch den Mann erblickte wie er schnellen Schrittes am Ende der Gasse nach links abbog, traute er seinen Augen nicht. Der lange Mantel, der den gesamten Körper des Mannes bedeckte, flatterte durch dessen Geschwindigkeit nach hinten und Alex konnte eindeutig erkennen, dass der Mann nicht zwei Arme an nur einer Seite des Körpers hatte, sondern insgesamt vier. Das konnte nicht wahr sein, allerdings hatte er es mit eigenen Augen gesehen und diese gehörten zu den wenigen Dingen, denen er noch trauen konnte.
Jetzt ignorierte er einfach alle seine inneren Warnsignale und rannte die Gasse entlang, machte eine harte Linkskurve, stolperte beinahe über seine eigenen Füße und die Pflastersteine und verbrachte so mehrere Meter mit dem erfolgreichen Versuch nicht komplett hinzufallen. Aufgerichtet konnte er ihn nun endlich sehen: er war riesig, leicht über zwei Meter, der Mann schaute ihn von oben herab an und obwohl es in diesem Moment gruselig schien, hatte sein Lächeln doch etwas Fürsorgliches: es war das letzte, was er klar erkennen konnte bevor ihn der Schlag rechts am Kopf traf. Schnell und mit einem dumpfen Geräusch fiel er auf den Boden und er erkannte die Straße, auf die er fiel und die Umgebung nur noch schwammig. Während er versuchte einen klaren Gedanken zu fassen, hörte er eine weiche Frauenstimme sagen: »Komm, heb ihn auf, wir müssen schnell von hier verschwinden!«
Von vier Armen getragen zu werden fühlte sich seltsam und doch irgendwie angenehm an. Er konnte sich nicht daran erinnern, oft getragen worden zu sein, in diese Zeit reichte seine Erinnerung nicht zurück, aber es fühlte sich weich und sicher an und niemals hätte Alex gedacht, dass er sich bei einer Entführung so wohl fühlen würde.
DER SCHMERZ AN SEINEM Kopf war stärker geworden, als er aufwachte, aber er schien nicht von der Stelle zu kommen, an der ihn der Schlag in der Gasse getroffen hatte. Sein ganzer Kopf brannte und er hatte den Eindruck, als hätte jemand Starthilfekabel an sein Hirn angesetzt. Noch mit beiden Händen seinen Kopf massierend um dem Schmerz entgegenzuwirken, stand er auf um sich in dem unbekannten Raum umzusehen. Ihn beschlich das Gefühl, dass der Ort, wo auch immer er sich befand, sich bewegen würde, aber es gab keine Fenster um seine Vermutung zu bestätigen.
Seine Neugier wich purem Schock, als er plötzlich etwas an seinem Kopf fühlte. Bei seinem Versuch den Schmerz zu lindern, fühlte er etwas Metallenes an seiner linken Schläfe. Alex brach in Panik aus: was hatte man mit ihm gemacht? Mit beiden Händen zerrte und fummelte er an dem kleinen Ding an seinem Kopf herum, welches den Effekt einer Mikrowelle auf sein Hirn zu haben schien, ließ aber schnell davon ab, da es den Schmerz nur noch schlimmer machte.
Durch tiefes Ein- und Ausatmen versuchte er langsam wieder Herr der Situation zu werden. Für einen Moment versuchte er zu ignorieren, dass er gerade entführt worden war und irgendjemand ihn anscheinend zu einem Cyborg gemacht hatte, was er aber zugegebenermaßen ziemlich cool fand.
Der Raum, in dem er sich gegen seinen Willen befand, war bis auf ein Bett in einer Ecke komplett leer und wirkte ein wenig futuristisch. Mehrere weiße Streifen an der Decke schienen die Beleuchtung darzustellen, aber einen Schalter fand er nicht. In eine der vier metallenen Wände war eine Art Schale eingelassen, die wie eine Tränke aussah und über ihr befand sich ein kleiner Hahn, aus dem eventuell Wasser kommen könnte, aber auch für diesen fand Alex keine Möglichkeit zum Einschalten.
Seltsamerweise verspürte Alex keine wirkliche Angst und er fragte sich, ob er überhaupt irgendwelche starken Emotionen fühlen konnte, nachdem er scheinbar auch keine richtige Trauer empfinden konnte. Aber anstatt sich in Selbstzweifeln zu ertränken, entschied er sich, einen Ausweg aus der Situation zu finden. Seine erste Priorität war es, einen Weg zu finden das Licht anzuschalten, denn seitdem er aufgewacht war, musste er sich durch den spärlich beleuchteten Raum tasten, da das einzige Licht von dem Spalt unter der Tür zu kommen schien. Auch diese war seltsam, sie hatte keinen Griff und schien zum Öffnen in die Decke zu fahren, so wie man es vielleicht in einem Raumschiff in irgendeinem Film sehen konnte.
Da kein Lichtschalter in der Nähe zu sein schien, sagte Alex aus Spaß laut „Licht an“, was ihm sofort wieder peinlich war, aber es war ja niemand da, der ihn hören konnte. Doch zu seinem puren Erstaunen bildete sich plötzlich am Rande der Decke ein blauer Streifen, der über der Tür seinen Ursprung zu haben schien und sich rasch um den gesamten oberen Rand der Decke zog und den gesamten Raum in ein dumpfes Blau einschloss. Es wirkte wie eine Art indirekte Beleuchtung, die aber unmittelbar aus der Wand zu kommen schien, denn es gab keinen Platz für kleine versteckte Lämpchen.
Der blaue Lichtring fing plötzlich an zu blinken und zu Alex´ purem Erstaunen ertönte aus dem Nichts eine sanfte, doch hörbar computergenerierte Stimme: »Hallo, ich bin Joe, wie kann ich ihnen heute behilflich sein?«
Alex setzte vor Schreck ein paar Schritte zurück, krachte gegen das Bett und schlug sich dabei den Kopf an einer der Kanten an und er ließ einen kurzen, aber lauten Schmerzensschrei ertönen.
»Sie scheinen medizinische Hilfe zu benötigen, kann ich ihnen behilflich sein?«
»Was bist du?« fragte Alex vorsichtig, während er sich seinen Kopf rieb.
»Ich bin Joe, eine künstliche Intelligenz, die ihnen und der Crew dieses Schiffes das Leben erleichtern soll, ich helfe ihnen, wo ich kann und beantworte ihre Fragen.«
»Schiff? Was für ein Schiff? Wo bin ich?«
»Es tut mir leid, diese Informationen stehen ihnen leider nicht zur Verfügung.«
»Na toll, besonders hilfreich bist du also schon einmal nicht, kannst du mir wenigstens sagen, was das Ding in meinem Kopf ist?«
»Dies ist ein Implantat um ihnen ihr Leben zu erleichtern, es ermöglicht ihnen zum Beispiel mich zu hören.«
In diesem Moment fiel Alex auf, dass die Stimme des Computers tatsächlich keinen wirklichen Ursprung zu haben schien, sondern einfach in seinem Kopf war.
»Aha, gegen meinen Willen irgendwelches Zeug in meinen Kopf pflanzen, an einem schönen Ort bin ich hier gelandet, ist das hier eine Art Labor? Werden hier jetzt Experimente an mir durchgeführt? Bin ich ein Gefangener?«
»Es tut mir leid, diese Informationen stehen ihnen leider nicht zur Verfügung.«
»Kannst du auch irgendetwas Anderes sagen?«, blaffte Alex ihn an und fühlte sich seltsam dabei, da er ja irgendwie ins Nichts redete.
»Ja, Sir, das kann ich.«
»Das war rhetorisch gemeint, ich habe nicht wirklich eine Antwort erwartet.«
»Es tut mir leid, aber Rhetorik ist leider nicht meine Stärke, Sir.«
»Das hätte ich mir bei einem Computer fast denken können und warum nennst du mich Sir? Wir sind hier nicht in England.«
»Sie haben zum Ausdruck gebracht, dass sie nicht wissen wo sie sich befinden, wir könnten also genauso gut auch in England sein.«
»Sehr witzig, schlechten Humor hast du also schon mal drauf.«
»Ich wurde auf Humor programmiert um der Crew Unterhaltung bieten zu können.«
»Was für eine Crew?«
»Es tut mir leid, diese.......«
».......Information steht ihnen leider nicht zur Verfügung«, äffte Alex Joe nach und gab sich dabei besondere Mühe so elektronisch wie möglich zu klingen.
»Kannst du mir eigentlich auch irgendwie behilflich sein?«, fragte Alex jetzt, in der Hoffnung aus dem komischen Roboter oder was auch immer Joe war, irgendeinen Vorteil zu ziehen.
»Ich kann das Licht anstellen.«
»Na also, immerhin etwas, bitte, mach das Licht an.«
»Auf einer Skala von eins bis zehn, auf welcher Stufe möchten Sie das Licht haben?«
»Mach zehn, hier ist es stockfinster, kaum auszuha...«
Er hatte seinen Satz noch nicht einmal beenden können und schon bereute Alex seine Entscheidung. Der Raum wurde sofort in ein gleißendes weißes Licht gehüllt. Nicht einmal das Zusammenpressen seiner Augen half dabei den Effekt zu dämpfen. Die ihm durch das Implantat unfreiwillig zugefügten Kopfschmerzen wurden durch die starke Reizüberflutung nur noch schlimmer.
»STOP, AUS, MACH SOFORT DAS SCHEISSLICHT WIEDER AUS«, schrie Alex ihn an.
Sofort war es wieder dunkel, wenigstens hörte das komische Teil auf ihn.
»Was zum Teufel war das denn bitte?«, fragte Alex, nachdem er sich wieder ein wenig beruhigt hatte.
»Dies war Stufe zehn.«
»Ja, ach ne, das habe ich mir schon fast gedacht. Wozu gibt es denn bitte eine Stufe zehn? Das ist doch viel zu hell!«
»Stufe zehn ist nicht für Räume dieser Größe ausgelegt.«
»Hättest du mir das nicht gleich sagen können? Bevor du beinahe meine Augen ruiniert hättest?«
»Es hat sich gezeigt, dass Menschen am besten aus ihren Fehlern lernen und keine Sorge, ich habe darauf geachtet, dass Sie keinen permanenten Schaden erleiden.«
»Aha, keinen permanenten, wie beruhigend. Würde mir der Herr denn verraten, was eine zu empfehlende Stufe ist?«
»Der Herr hat auch einen Namen«, entgegnete Joe und Alex hätte schwören können, dass er unter der blechernen Stimme einen vorwurfsvollen Unterton heraushören konnte.
»In Ordnung, also Joe, was für eine Stufe empfiehlst du denn?«
Doch plötzlich fuhr Alex zusammen, als hinter ihm ein Zischen ertönte. Die Tür öffnete sich und fuhr weitaus schneller in die Decke als er es erwartet hatte.
Herein trat eine junge Frau, die etwas älter als er zu sein schien, vermutlich so Anfang zwanzig. Obwohl sie sich Mühe gab ganz ruhig zu wirken, merkte Alex, dass sie gerannt war und mit aller Kraft versuchte zu verstecken, dass sie eigentlich um Atem rang. Ihr Kleidungsstil war auffallend und schlicht zugleich. Sie trug ein Hemd, das ihr zwei Nummern zu groß war, welches vermutlich mal weiß gewesen war, aber durch langes Tragen ausgeblichen schien und nun mehr eierschalfarben war. Darüber hatte sie eine dunkle weinrote Lederjacke, die ihr bis kurz über die Hüften hing, aber Alex konnte trotzdem den leeren Holster sehen, den die Jacke zu verdecken versuchte. Ihre Kleidung wirkte sehr funktional und trotzdem sah sie irgendwie gut an ihr aus. Ihr Gürtel, der eine sowieso schon enge, schwarze, sehr robust wirkende Hose zusammenhielt, trug neben dem Holster auch noch mehrere gut gefüllte kleine Taschen. So wie der Rest ihrer Kleidung hatten auch die braunen Stiefel bessere Tage gesehen und waren mit Schlamm bedeckt. Die braunen Haare hatte sie zu einem Dutt zusammengebunden: sie gefiel Alex.
Vorsichtig betrat sie den Raum und bemerkte, dass das blaue Licht, das von Joe ausging, noch schien.
»Ah, wie ich sehe hast du Joe bereits kennengelernt«, sagte sie in einer sehr angenehmen weichen Stimme.
»Das ist gut, dann muss ich dir den Teil wenigstens nicht mehr erklären. Joe, schalte das Licht auf Stufe drei, das lässt sich ja hier kaum ertragen.«
Sofort wurde der Raum in ein sanftes warmes Licht getaucht und Alex konnte den Raum jetzt besser betrachten, aber vielmehr als vorher konnte er den grauen Wänden jetzt auch nicht entnehmen.
»Hey Joe, Alex hat jetzt Berechtigungsstufe zwei, du kannst ihm in Zukunft ein paar mehr Fragen beantworten.«
»In Ordnung, Madam, ist notiert.«
»Ich vermute mal, du hast ein paar Fragen«, stellte sie korrekt fest und ließ sich auf das Bett nieder. Sie wirkte nett und Alex hatte das Gefühl ihr vertrauen zu können. Ihre Worte waren warm und zutraulich und trotzdem strahlte sie Stärke und Unabhängigkeit aus.
»Ja, so ein oder zwei Fragen hätte ich dann doch«, entgegnete er und fühlte, dass er dabei schnippischer klang als er eigentlich wollte.
»Na dann, schieß los, dafür bin ich schließlich hier, um dir Fragen zu beantworten und dir eine kleine Einführung zu geben.« Dabei stand sie vom Bett auf und breitete ihre beiden Arme aus, als wolle sie ihm den Raum präsentieren, was etwas an Wirkung verlor, da der Raum fast komplett leer war und nicht wirklich etwas bot, dass es zu präsentieren galt.
»Ok, dann fange ich mal mit der vermutlich wichtigsten Frage an: Wo zum Geier bin ich hier?«
»Du bist auf der Nily, dem vermutlich schönsten und schnellsten Schiff dieser Galaxie, aber ich vermute mal, das behauptet jeder von seinem Schiff.«
»Du meinst Schiff, wir sind gerade auf dem Meer?«
»Nein, nein, ich meine Schiff so wie Raumschiff, willkommen im Weltraum.«
»Ja, ja, sehr witzig, ist das Teil eines elaborierten Scherzes auf meine Kosten?« Allerdings dachte sich Alex im selben Moment, wer ausgerechnet ihm einen solchen Scherz spielen würde und bereit war, dafür jemanden k.o. zu schlagen, das wäre dann doch zu viel für einen Scherz. Dazu kam das komische Ding an seinem Kopf, welches definitiv fester verwurzelt schien und dann war da noch Joe, er wirkte weitaus intelligenter als alles, was er an künstlicher Intelligenz je gesehen hatte. Er war über sich selbst verwundert, weshalb er diese Situation so schnell akzeptierte. Immerhin wurde er eindeutig entführt und gegen seinen Willen an einen unbekannten Ort gebracht, trotzdem war ihm das egal, denn diese neue unbekannte Situation schien das Loch zu füllen, das sich über die letzten Tage in ihm gebildet hatte. Er entschloss sich also erst einmal die Situation auf sich zukommen zu lassen, in der Hoffnung, dass, was auch immer ihn erwarten würde, irgendwie das vergessen lassen würde, was er gerade fühlte. Er spürte, dass die seltsame Frau kurz davor war ihm zu beweisen, dass das Ganze kein Scherz war, sondern tatsächlich Realität, also entschied er sich seine zuvor gestellte Frage mit einem ebenso fragenden Blick nochmals zu unterstützen.
Auf ihrem Gesicht zeichnete sich plötzlich ein verschmitztes Grinsen ab.
»Joe, bist du so lieb und öffnest ein Fenster?«
Sobald sie ihren Satz beendet hatte, begann sich an der Wand gegenüber der Tür eine Art Fenster aufzubauen. Tatsächlich bemerkte Alex aber schnell, dass es sich nicht um ein Fenster im klassischen Sinne handelte, sondern vielmehr um eine Art Hologramm, das den Weltraum hinter dem Fenster zeigte.
Das »Fenster« schien sich aus kleinen sechseckigen Bienenwaben ähnlichen Teilen von der Mitte aus aufbauend zusammenzusetzen. Der Anblick, der sich ihm in diesem Moment bot, war mit Worten kaum zu beschreiben. Er hatte schon oft schöne, klare Sternenhimmel gesehen, aber nichts kam dem auch nur ansatzweise nahe. Die schiere Masse der Sterne und wie nah er sich an dieser befand, war einfach nur beeindruckend. Noch nicht einmal auf Fotos hatte er so viele Sonnen so nah und in so vielen verschiedenen Farbvariationen gesehen. Der Unterschied, die Sterne am Himmel von der Erde aus zu betrachten und sie direkt als Sonne hundertmal so groß zu sehen, war enorm.