Aliya und der Silberexpress 2 - Laila Rifaat - E-Book

Aliya und der Silberexpress 2 E-Book

Laila Rifaat

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Beschreibung

Aliya kann es kaum erwarten, an die Schule der Zeitreisenden zurückzukehren. Doch der finstere Magier Dorian Darke ist noch immer auf der Suche nach ihr. Um sie in Sicherheit zu bringen, werden Aliya und ihre Freunde auf eine Zugreise durch die Jahrtausende im legendären Silberexpress geschickt. Sie sind begeistert und überzeugt, dass sie hier in Sicherheit sind. Doch als ein Passagier getötet wird, ahnt Aliya, dass Dorian dahintersteckt. Sie muss ihn aufhalten, doch ausgerechnet jetzt spielen ihre geheimnisvollen Fähigkeiten als Schlosserin verrückt. Aliya braucht Hilfe – doch wem an Bord kann sie noch trauen?

Eine rasante Zugfahrt durch die Zeit, atemlose Spannung und atmosphärische Settings in einer Welt voller fliegender Teppiche und magischer Geheimnisse – der zweite Band der Reihe um Aliya und die Schule der Zeitreisenden ist ein großes Fantasy-Vergnügen.

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Seitenzahl: 337

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Cover

Titel

Laila Rifaat

Aliya

und der Silberexpress

Die Schule der Zeitreisenden

Band 2

Aus dem Englischen von Claudia Feldmann

Mit Illustrationen von Bente Schlick

Insel Verlag

Impressum

Zur optimalen Darstellung dieses eBook wird empfohlen, in den Einstellungen Verlagsschrift auszuwählen.

Die Wiedergabe von Gestaltungselementen, Farbigkeit sowie von Trennungen und Seitenumbrüchen ist abhängig vom jeweiligen Lesegerät und kann vom Verlag nicht beeinflusst werden.

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Die englische Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel Aliya – Aboard the Time Train bei Chicken House, Frome.

eBook Insel Verlag Berlin 2025

Der vorliegende Text folgt der deutschen Erstausgabe, 2025.

© der deutschsprachigen Ausgabe Insel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. KG, Berlin, 2025© der Originalausgabe: Laila Rifaat 2025Published by arrangement with Chicken House Publishing Ltd., Frome, Somerset BA11 1DS, England.

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: formlabor, Hamburg

Umschlagillustration: Bente Schlick, Hamburg

eISBN 978-3-458-78315-2

www.insel-verlag.de

Widmung

Für Ahmed

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

Widmung

1. Rätselbingo mit Sphinxen

2. Der Angriff auf die Schmiede

3. Eine Entscheidung um Mitternacht

4. Der Silberexpress

5. Der Spiegel

6. In der Reiselounge

7. An Bord des Silberexpress

8. Ein altägyptisches Abendessen

9. Gestalten in der Nacht

10. Der Angriff

11. Tod im Lebenshaus

12. In der Falle

13. Der Plan

14. Der Hammam

15. Der Albtraum

16. Der Sirenenspiegel

17. Mr Twinkle

18. Das Angebot

19. Die Lumina

20. Fliegende Rettung

21. Die letzte Ernte

22. Ein Amateurdämon

23. Heimwärts

24. Vergnügungsflug

Danksagung

Informationen zum Buch

Aliya

1

Rätselbingo mit Sphinxen

Aliya Sultan verstand nicht, wie ihr Großvater auf die Idee kam, Nachmittagstee mit den Sphinxen wäre »ein ungefährlicher, harmloser Spaß«. Ihr fielen ungefähr eine Million andere Sachen ein, die sie an diesem heißen Sommertag lieber tun würde, als mit ein paar Mythischen Rätselbingo zu spielen. Aber da sie erst zwölf war und vor Kurzem einen Kampf mit dem gefährlichsten Verbrecher der Zeitreisewelt überlebt hatte, musste sie sich Geddos Sicherheitsvorkehrungen unterordnen.

Seufzend sank Aliya tiefer in den Samtsessel. Er passte farblich zu den Wandteppichen, auf denen majestätische Sphinxe abgebildet waren, die vor Pyramiden lagen und panisch flüchtende Menschen verschlangen. Sie befand sich im Haramachis, einem Teesalon für Sphinxe, der speziell für die mächtigen Wesen mit dem Löwenkörper und dem Menschenkopf entworfen war. Die Mythischen lagerten an niedrigen Tischen mit Leckereien und Wasserpfeifen, die man auch ohne Daumen genießen konnte. Doch die Sphinxe waren geschickt mit ihren Tatzen und konnten die großen Porzellantassen, die die Kellner ihnen brachten, mühelos halten.

Im ganzen Teesalon roch es nach den Brötchen mit Räucherwurst und dem widerlich süßen Sirup, nach dem die großen Katzenmenschen so verrückt waren. Verstohlen stopfte Aliya das Wurstbrötchen, das man ihr serviert hatte, in den Topf einer Palme, dann sah sie auf die Uhr an der Wand. Wie alle Zeitmesser hier in der Welt der Zeitreisenden war sie furchtbar kompliziert zu lesen, mit allen möglichen Zeigern, die in verschiedene Richtungen wiesen. Sie wurde nicht schlau daraus, und so wusste sie nicht, wie lange sie noch hier sitzen und Rätselbingo spielen musste, das Lieblingsspiel der Sphinxe.

Draußen vor dem großen Erkerfenster konnte Aliya den Qahira-Platz sehen. Er war nicht nur das Zentrum der Zitadelle, der berühmtesten Zeitreisestadt im ganzen bekannten Universum, sondern bildete zugleich den Mittelpunkt des Infinitums, der Zeitreisewelt. Reisende sausten auf fliegenden Teppichen vorbei oder benutzten Flitzkabinen, Aufzüge, die durch die Luft schossen. Aliya entdeckte sogar eine Hieracosphinx, die mit ihren mächtigen Flügeln durch die Luft glitt und für einen Moment die Sonne verschattete. Und wieder dachte sie, was sie an diesem Tag schon so oft gedacht hatte: Warum muss ich hier rumsitzen und alberne Rätsel lösen, für die ich bloß ein blutiges Steak als Belohnung bekomme? Ich würde viel lieber da draußen sein und die Stadt erkunden!

Aliya brauchte dringend etwas Aufmunterung. Sie hatte gerade einen grässlichen Monat in einer Alterungsklinik hinter sich. Das eine Jahr als Schülerin in der Zeitreisewelt hatte ihren normalen Alterungsprozess verlangsamt, weil die Zeit hier anders funktionierte. Und so hatte sie einen Teil der Sommerferien an einem geheimen Ort in der ägyptischen Wüste zubringen müssen, in einer Klinik, die darauf spezialisiert war, die unangenehmen Beschwerden zu lindern, die einen überfielen, wenn man in die irdische Welt zurückkehrte und der Körper sein tatsächliches Alter einzuholen versuchte. Das Schlimmste – neben dem dumpfen Schmerz und dem ständigen Knacken ihrer Knochen, die zu schnell wuchsen – war, dass sie dort ständig in Begleitung ihrer Großtante Gigi und deren Assistentin Esmat gewesen war. Die beiden hatten ihr in alles reingeredet und sie gezwungen, eimerweise glibberige Kuhfußsuppe zu trinken, um ihr wachsendes Skelett zu schmieren. Aber im Infinitum zu bleiben, war nicht in Frage gekommen. Da wurde man irgendwann komisch im Kopf. Alle Zeitreisenden brauchten Auszeiten von der besonderen Art der Schwerkraft, die im Infinitum herrschte. Vor allem wenn sie, wie Aliya, noch nicht daran gewöhnt waren.

Wie sehr hatte Aliya sich danach gesehnt, in diese wundersame Welt zurückzukehren und ihre Freunde wiederzusehen! Sie hatte angenommen, der Rest der Sommerferien würde voll wilder Teppichflüge und Abstecher zu Pastroudis Süßwarenladen sein, wo es viktorianisches Weingummi und futuristische Tuben mit inhalierbarer Schokolade gab, ganz zu schweigen von den zweihundert verschiedenen Sorten Lokum. Das mit Granatapfelgeschmack war einfach himmlisch! Sie hatte sich darauf gefreut, sich in Cletus’ Internetcafé an den virtuellen Olympischen Spielen zu versuchen und im Antiken Viertel einen leckeren Smoothie zu trinken.

Stattdessen hatte Geddo, kaum dass sie durch das Portal in die Hauptreisezentrale getreten war, mit seiner Aliya-Schutz-Kampagne losgelegt. Zwei Sphinxe hatten sie zu Hausmutter Olfats Schülerherberge geleitet und waren seither nicht von ihrer Seite gewichen. Aliya und ihr Großvater wohnten »aus Sicherheitsgründen« in der Herberge, und obendrein hatten er und die Hausmutter sich »ungefährliche Zerstreuungen« ausgedacht, um sie zu »unterhalten«. In der Woche seit ihrer Rückkehr hatte sie bereits an Hausmutter Olfats Gruppentreffen für zivilisierte Ghule teilgenommen (ihr dröhnten immer noch die Ohren von den therapeutischen Brüllübungen) und zusammen mit ein paar Damen aus dem Viktorianischen Viertel den dortigen Marktplatz mit Begonien bepflanzt. Der Höhepunkt des Tages war ein ausgebüxtes Kamel, das die Gärtnerinnen aufgescheucht und sich über die Pflanzen und einen blumengeschmückten Hut hergemacht hatte. Es war lustig gewesen zuzusehen, wie die Damen das Kamel mit wild schwingenden Handtaschen und drohend erhobenen Harken und Schaufeln verjagt hatten.

Davon abgesehen war die Woche öde gewesen, zumal ihre Freunde alle noch in ihren Ursprungszeiten Urlaub machten. Da es ziemlich schwierig war, aus der irdischen Welt Nachrichten ins Infinitum zu schicken, hatte sie das nicht gewusst und war enttäuscht gewesen, als sie bei ihrer Ankunft in der Herberge niemanden von ihnen vorgefunden hatte.

Allerdings hatte ihr Großvater tatsächlich einen Grund, sich um sie zu sorgen, denn letztes Jahr war Aliya fast von einer mit einem Fluch beladenen Kette getötet worden, die der Zauberer Dorian Darke ihr geschickt hatte. Für die Zeitreisewelt gab es keine größere Gefahr als Magie – und Dorian. Doch seit diesen Vorfällen waren die Sicherheitsvorkehrungen im Infinitum verstärkt worden, und jetzt war es vollkommen magiesicher. Geddo übertrieb mal wieder alles, wie immer.

Aliya nahm die Tageszeitung vom Beistelltisch. Auf der Titelseite prangte ein großes Foto von einem prächtigen Chronozug, dem Silberexpress. Seit ihrer Rückkehr verfolgte Aliya ebenso fasziniert wie alle anderen in der Herberge die täglichen Berichte über die Vorbereitungen für die Abfahrt des Wunderwerks. Der Zug, der eher einem eleganten Doppeldeckerdampfer glich, bot jeden erdenklichen Luxus. Im Innern der Zeitung fand Aliya einen Artikel, in dem das Türkische Dampfbad im Silberexpress beschrieben wurde; es hatte sogar einen Pool. Außerdem war ein Foto von den Schokoladenbrunnen in der ersten Klasse zu sehen, in denen alle erdenklichen Sorten flossen, von nachtschwarz bis karamellbeige. Es handelte sich um die exklusivste Form der Zeitreise. Dementsprechend war der Zug der crème de la crème vorbehalten, der wohlhabenden und einflussreichen Elite der Zeitreisewelt. Selbst Professor Nigm, Aliyas Mentor, war noch nie mit diesem Zug gefahren. Und Geddo und Großtante Gigi natürlich erst recht nicht. Aliya betrachtete das prachtvolle Gefährt auf dem Foto. Ein Zug, der durch die Zeit reiste … was für ein Abenteuer!

Jemand stupste sie an.

»He, Menschenkind. Du bist dran.«

Ein Sphinx mit goldfarbenem Fell und weinrotem Tarbusch sah mit gerunzelter Stirn auf sie herab, die bernsteinfarbenen Augen zu Schlitzen zusammengekniffen.

»Oh.« Aliya stieg die Hitze in die Wangen, als sie merkte, dass sämtliche Sphinxe im Saal sie anschauten. »’tschuldigung. Ich hab nicht aufgepasst.«

Sie rückte den Turban auf ihrem Kopf zurecht. Den hatte die Hausmutter ihr geliehen, damit sie beim Rätselbingo wenigstens eine kleine Chance hatte. Als sie den weichen Stoff berührte, hörte sie dicht an ihrem Ohr ein leises Knurren. Wissensturbane halfen Zeitreisenden dabei, sich auf unbekannten Gebieten zurechtzufinden, indem sie ihrem Träger unauffällig Informationen zuflüsterten. Aliya war sich nicht sicher, ob es beim Rätselbingo erlaubt war, einen Wissensturban zu tragen, und sie war sich auch nicht sicher, ob sie bei der Lösung der Rätselfrage, die sie gerade aus der Schachtel gezogen hatte, überhaupt Hilfe wollte, denn der Preis war schon wieder ein rohes, bluttriefendes Steak auf einem vergoldeten Teller.

»Was ist jetzt?«, rief der Sphinx mit der goldenen Mähne. »Los, Menschenkind. Was steht auf der Karte?«

»Wohin bringen Bananen morgens ihre Kinder?«, las Aliya vor.

»In die Chikita«, flüsterte eine heisere Stimme ihr ins Ohr. Der Wissensturban schlang sich enger um ihren Kopf. Wieder sah Aliya zu dem blutigen Steak in der Mitte des Tisches.

»Ich weiß nicht«, log sie.

Das aufgebrachte Geflüster des Turbans mischte sich mit dem herablassenden Schnalzen der Sphinxe.

»In die Chikita«, zischte der Turban ihr ins Ohr. »Los, sag die Antwort, du dummes Gör.«

Als Aliya weiter schwieg, zwickte der Turban sie grob ins Ohr. Aliya riss ihn sich vom Kopf und stopfte ihn in ihre Tasche, wo er keinen Schaden mehr anrichten konnte. Diese Turbane wussten zwar vieles, aber sie waren furchtbar übellaunig.

»In meiner Zeit fressen wir immer noch Menschen, die unsere Fragen nicht richtig beantworten«, sagte eine Sphinx in einem altägyptischen Outfit.

»Und zerstören ihre Dörfer oder Städte«, ergänzte eine andere.

Einige lachten leise. Aliya wurde nervös. War das Sphinxhumor? Bei ihren Studien hatte sie gelernt, dass Sphinxe den Menschen tatsächlich Schlimmes angetan hatten, ganz besonders, wenn sie ihre Rätsel nicht lösen konnten. Aber diese hier hatten das Zivilisierungsprogramm der Zeitreisewelt durchlaufen und sollten eigentlich zahm sein. Nitzi und Hosneyya, die Herbergssphinxe, die Geddo zu ihrer Bewachung geschickt hatte, unterhielten sich meist über das Stricken und die Gefahren von Keimen, also musste das hier wohl ein Scherz sein. Aliya sah die beiden am anderen Ende des Saals, wo sie sich ein Steak teilten, ohne etwas von ihrer misslichen Lage mitzubekommen. Und so was nennt sich Leibwächter …

»Es geht doch nichts über einen frischen Menschen«, sagte die Sphinx aus dem alten Ägypten und rückte näher an sie heran, so nah, dass Aliya ihr muffiges Fell riechen konnte. »Zarter als jedes andere Fleisch, und die Knochen zerknacken einem auf der Zunge … habe ich zumindest gehört.«

Auch die anderen Mythischen kamen jetzt näher. Aliya rann ein Schweißtropfen den Rücken hinunter. Wie war Geddo nur auf die Idee gekommen, das hier wäre eine »ungefährliche« Unternehmung?

»Was für eine interessante Bemerkung«, ertönte eine tiefe Stimme am anderen Ende des Saals. »Es gibt also offenbar immer noch Sphinxe unter uns, die nach Menschenfleisch gieren.«

Wie von Zauberhand löste sich das Gedränge vor Aliya auf, und alle Köpfe wandten sich einem alten Sphinx mit einem abgetragenen roten Tarbusch zu. Er hatte einen prächtigen grauen Schnurrbart, dessen Enden elegant gezwirbelt waren.

»Professor F-Fayruz«, stammelte der Sphinx mit der goldenen Mähne. »Das war doch nur ein kleiner Scherz.«

»Vollkommen harmlos«, beteuerte die Sphinx aus dem alten Ägypten. »Wir haben das Menschenkind nur ein bisschen aufgezogen. Sie sind so köstlich, wenn sie Angst haben … Oh, so hab ich das nicht gemeint … also nicht wörtlich.«

»Ich habe vierzig Jahre damit zugebracht, wild gewordene Mythische aufzuspüren und auszuschalten«, sagte der Professor grimmig und stellte seine Mokkatasse ab. »Und das war weder harmlos noch ein Scherz. Dass ich jetzt im Ruhestand bin, bedeutet nicht, dass ich nichts mehr mitbekomme. Im Gegenteil, sollte ich irgendwo im Infinitum auch nur einen Hauch von Verwilderung wittern, werde ich nicht zögern, meine Pflicht zu tun.«

Er beendete seine Ansprache mit einem leisen, drohenden Knurren. Einen Moment lang war es vollkommen still im Saal. Selbst Hosneyya und Nitzi blickten mit bluttriefendem Kinn von ihrem Steak auf.

»Würden Sie uns allen Ernstes wegen eines Scherzes melden?«, fragte schließlich ein Sphinx in einem grünen Umhang. »So was passt doch nicht zur Brigade, oder?«

Während alle in angespanntem Schweigen auf Professor Fayruz’ Antwort warteten, ging Aliya ein Licht auf. Die Brigade – das war der Name der Spezialeinheit, die ihr Großvater früher angeführt hatte. Und das hier war der Professor Fayruz, über den sie schon so viel gehört hatte. Chef der K9-Einheit und Geddos engster Freund – der seit seiner Pensionierung vor zehn Jahren keinen Fuß mehr in die Zeitreisewelt gesetzt hatte.

»Keine Sorge«, erwiderte Fayruz. »Ihr seid ja nichts weiter als ein Haufen überfütterter Kätzchen.«

Erleichtertes Lachen war zu hören. Dann richtete der Professor seinen Blick plötzlich auf Aliya.

»Dieses Mädchen ist die Enkelin meines besten Freundes, Captain Farouk Sultan«, sagte er. »Das solltet ihr euch merken.«

Fayruz nickte Aliya kurz zu, dann wandte er sich um und ging.

»Was hat den denn hierhergetrieben?«, fragte Aliya den Sphinx mit der goldenen Mähne. »Ich habe gehört, er hätte sein Haus in der Altstadt von Kairo seit zehn Jahren nicht mehr verlassen. Ist er nicht so eine Art Eremit?«

So hatte ihr Freund Mustafa den alten Kämpfer genannt. Ein Eremit war jemand, der nichts mit der Gesellschaft zu tun haben wollte, allein lebte und den anderen so weit wie möglich aus dem Weg ging. Mustafa, der ein begeisterter Brigade-Fan war, hatte sämtliche Bücher über ihre Abenteuer gelesen. Es hieß, der Professor hätte sich nach einem Zwischenfall mit einem wild gewordenen Mythischen am Ufer des Nils von den Menschen zurückgezogen. Niemand wusste, was bei dieser schicksalhaften Begegnung passiert war, aber er war danach nicht mehr derselbe gewesen.

Der Goldmähnen-Sphinx, der Aliya jetzt mit neuem Respekt betrachtete, deutete auf die Zeitung und sagte:

»Vielleicht hat er eine Fahrkarte.«

Aliya sah hinunter auf das Foto von dem prachtvollen Doppeldeckerzug. War der alte Sphinx deshalb hier? Gut möglich, denn wenn es etwas gab, wofür es sich lohnte, das Haus zu verlassen – selbst für einen Eremiten –, dann war es eine Reise mit dem Silberexpress.

2

Der Angriff auf die Schmiede

Kurz nachdem Professor Fayruz den Teesalon verlassen hatte, stand Aliya auf und schlich sich hinaus. Ihre beiden Aufpasser-Sphinxe, die sich um das rohe Steak balgten, bekamen nichts davon mit.

Draußen auf dem Platz war es warm, und es duftete nach Jasmin und dem Wasserpfeifenrauch aus den Cafés und Bistros, in denen die Mitarbeiter der umliegenden Infinitum-Abteilungen ihre Mahlzeiten einnahmen. Dort drüben war zum Beispiel die Inkognito-Abteilung, wo ihr Klassenkamerad Fuad ausgebildet wurde. Ihre schwarzen Ziegelsteinmauern waren im Schatten mehrerer großer Flammenbäume kaum zu erkennen.

Aliya sah zur Mitte des Platzes, wo eine goldene Tür scheinbar völlig unverbunden in der Sonne stand. Das war der Eingang zur Schmiede, der Werkstatt der Schlosser des Infinitums und dem Hort der Sublimen, jener geheimnisvollen Substanz, die das Infinitum mit Energie versorgte und das Reisen durch die Zeit überhaupt erst möglich machte. Wenn es nach Aliya ginge, wäre sie jetzt dort in der Werkstatt, zusammen mit ihrem Mentor, Professor Nigm, der ihr das Handwerk der Schlosserin beibringen sollte. Im Frühjahr hatten ihre Mitschüler alle begonnen, im Wechsel mit dem normalen Schulunterricht die Techniken der Berufe zu erlernen, für die sie auserwählt worden waren. Doch ihre Ausbildung hatte man aus irgendwelchen Gründen auf Eis gelegt. Und während die anderen zu ihren Mentoren gingen, war Aliya nichts anderes übriggeblieben, als ihre Wissenslücken in ägyptischer Geschichte zu füllen. Der Geschichtsprofessor – ein uralter Ghul, der nach Mottenkugeln roch – war berüchtigt für seinen Jähzorn und dafür, dass er furzte, wenn er in Fahrt kam.

Aliya verzog das Gesicht, als sie daran dachte, wie der Professor gestikulierend irgendeine historische Schlacht beschrieben hatte, untermalt von Fürzen, die donnerten wie Kanonenschüsse. Das Ganze war absurd gewesen! Sie war doch eine angehende Schlosserin, oder? Warum durfte sie dann nicht mit ihrer Ausbildung beginnen? Wenn ihr Mentor mal den Mund aufmachen würde, wüsste sie vielleicht den Grund. Aber er war ungefähr so gesprächig wie eine Steinmauer.

Sie schaute sich um – und erblickte ihren Professor gar nicht weit entfernt auf einem Teppich, der in der Luft schwebte.

Aliya lief schnurstracks zu ihm hinüber, vorbei an ein paar Ständen mit gerösteten Kernen und kaltem Hibiskussaft, und blieb unter dem Teppich stehen. Ihr Mentor kniete darauf und flickte einen Riss, der sich wie eine Krallenspur durch die Luft vor der Abteilung für Zeitreiseerfindungen zog. Sie sah, dass der Riss irgendwo über dem Dach des Gebäudes begann und bis zum Boden reichte. An manchen Stellen war er bereits von Nigm und einigen anderen Schlossern, die auf Leitern standen oder ebenfalls auf schwebenden Teppichen saßen, repariert worden. Sie verwendeten dafür die Baraka aus ihren Handflächen, jene geheimnisvolle Kraft, die nur sie beherrschten. Baraka, was auf Arabisch so viel wie »Segen« bedeutete, nannten die Zeitreisenden die Energie, die die Sublimen ihnen zur Verfügung stellten. Es war ein Geschenk, aber auch eine Verantwortung. Jeder Reisende musste alles in seiner Macht Stehende tun, um das Infinitum zu schützen und zu bewahren – und sie hatte genau das Gegenteil getan …

Voller Schuldgefühle sah sie auf die Risse, die der Welt der Zeitreisenden sehr gefährlich werden konnten. Dahinter war alles pechschwarz, und es konnte gut sein, dass niemand anderes als Aliya für ihre Existenz verantwortlich war. Die Risse waren in jener Nacht überall in der Stadt erschienen, als sie in einem Moment der Schwäche versucht hatte, den Darkling zu benutzen, den gefährlichsten aller Zeitschlüssel, um zurückzureisen und ihre Vergangenheit zu verändern. Sie hatte ihre Eltern vor dem Feuer retten wollen, bei dem sie ums Leben gekommen waren, aber ihre Mauscheleien hatten nur dazu geführt, dass die Zeitreisewelt an verschiedenen Stellen aufgebrochen war wie eine Piñata voller Finsternis. Zu spät hatte sie erkannt, dass es nicht möglich war, geliebte Menschen aus dem Tod zurückzuholen – obwohl Dorian Darke genau das behauptet hatte. Vermutlich glaubte er noch immer daran, dass er einen Weg finden würde, die Zeit zu beherrschen, wo auch immer er jetzt war. Bei der Erinnerung an ihn, mit seinen irren blauen Augen und dem seltsam alterslosen Gesicht, überlief sie ein Schauer.

Der Nadim in ihrer Tasche wurde warm und begann leise zu summen. Es war der funkelnde Fortuna-Kern aus Sublimen-Energie, den sie aus Dorians Zeitschlüssel entfernt hatte. Er hatte das Auge des Darklings gebildet. Nun war Dorian irgendwo mit seinem unvollständigen Schlüssel, und sie besaß immer noch den Kern, der offenbar aus irgendeinem Grund beschlossen hatte, bei ihr zu bleiben. Vielleicht war er dankbar, weil sie ihn vor der Magie gerettet hatte, die ihm von Dorian aufgezwungen worden war? Der Kern hatte ihr mindestens zweimal das Leben gerettet, als Dorian sie angegriffen hatte. Seither war er ihr schweigender, sanft leuchtender Begleiter – der seltsamste Gefährte, den man sich vorstellen konnte. Doch in letzter Zeit benahm er sich eigenartig. Deshalb musste sie unbedingt mit Professor Nigm sprechen. Schon den ganzen Sommer über wurde er ständig heiß und brummte wie eine überdrehte Hummel. Davon wurde Aliya schwindelig, und sie träumte wirres Zeug. Manchmal war ihr fast, als hätte sie Halluzinationen. Und nicht nur das – gestern hatte er die Gestalt eines Salamanders angenommen.

Sie nahm das seltsam leuchtende Wesen aus ihrer Tasche, wo es, in einem Taschentuch zusammengerollt, in einer von Hausmutter Olfats leeren Bonbondosen hauste. Der Nadim schien sich vor allem in kleinen Handtüchern oder Servietten wohlzufühlen, hatte jedoch die beunruhigende Angewohnheit, diese mit seinem Körper, der oft ganz plötzlich heiß wurde und sogar Flammen ausstieß, in Brand zu setzen. Er hatte ihr schon Löcher in mehrere Kleidungsstücke gebrannt, deshalb hatte Aliya sich die Dose besorgt. Und gewachsen war er auch. Ursprünglich war er nur so groß wie eine Erbse gewesen, aber jetzt hatte er ungefähr die Größe einer mittleren Möhre.

Alle Reisenden besaßen Kerne aus Sublimen-Energie, denn ohne sie funktionierten ihre Zeitschlüssel nicht. Aber wie Aliya erfahren hatte, war der Schlüssel eines Schlossers etwas Besonderes. Er konnte natürlich einfach aussehen wie ein Schlüssel, aber wenn der Schlosser seine Reife erreichte, nahm der Kern die Gestalt einer Sache oder eines Tiers an – etwas, das typisch für den Charakter des Schlossers war. Als eine Art Mischung aus gutem Geist und Werkzeug half er, die Energie zu kanalisieren, mit der die Schlosser Dinge belebten und Portale öffneten. Er war ihr Zeitschlüssel und zugleich ein treuer Freund – nadim war Arabisch und bedeutete »Gefährte«. Aliya betrachtete den hässlichen Salamander, der schnarchend in seinem flauschigen Nest lag. Wie konnte der typisch für sie sein?

Über ihr blies Professor Nigm eine silbrige Rauchwolke auf den Riss, an dem er arbeitete. Die Pfeife, die sein Markenzeichen war, hatte Aliya anfangs verwirrt, weil der Rauch, den sie hervorbrachte, unterschiedliche Farben, Formen und Gerüche annehmen konnte, je nachdem, was er dachte oder sagen wollte. Jetzt wusste sie: Die Pfeife war sein Nadim. Nur dass die Pfeife, im Gegensatz zu ihrem blöden Salamander, ihm tatsächlich bei wichtigen Aufgaben half.

Nigm stieß eine weitere schimmernde Wolke aus, diesmal in Grün. Aliya beobachtete, wie sie sich über einen Teil des Risses breitete, ihn zusammenzog und die Ränder miteinander verschmolz. Bei dem Anblick vergaß sie – zumindest für einen Moment – ihr schlechtes Gewissen.

»Cool!«, rief sie dem Professor zu. »Darf ich auch mal?«

Sie sprang auf eine freie Leiter, die daneben stand, und wollte zu ihm hinaufklettern, aber Professor Nigm bedeutete ihr, unten zu bleiben. Er hatte zu tun. Seit Aliya aus der Alterungsklinik zurückgekommen war, hatte er immer zu tun oder war gerade auf dem Weg irgendwohin.

Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Nitzi und Hosneyya, die beiden Herbergssphinxe, quer über den Platz auf sie zugelaufen kamen, die blutbefleckten Servietten noch um den Hals.

Aliya seufzte. Na toll. Gleich würde sie wieder in der Herberge hocken, hinter Schloss und Riegel. Die Hausmutter gab an diesem Nachmittag einen Kurs in Ausdruckstanz, an dem sie natürlich teilnehmen sollte. Als ob das eine sichere Beschäftigung wäre! Wenn die Ghuldienstmädchen tanzten, endete es immer damit, dass sie so taten, als wären sie Werwölfe, die sich über Aliya hermachten – meist in Zeitlupe, aber einmal hatte eine von ihnen sie tatsächlich in die Wade gebissen.

»Kann ich heute mit Ihnen in die Schmiede kommen?«, rief sie Nigm zu. »Ich bin auch ganz brav. Versprochen.«

Zu ihrer Überraschung hielt Nigm in seiner Arbeit inne und sah zu ihr hinunter, das Mundstück seiner langen, silbernen Pfeife fest zwischen den Zähnen. Er war ein dünner Mann mittleren Alters mit Adlernase. Er trug einen makellos weißen Turban auf dem Kopf, der ebenso gepflegt wirkte wie sein mit Grau durchsetzter Bart. Während er Aliya musterte, vertiefte sich die Falte zwischen seinen Augenbrauen. Sie versuchte es mit einem Lächeln. Vielleicht half das ja? Seit er sie als Lehrling angenommen hatte, war sie ein wenig mutiger geworden. Sie sprach jetzt sogar mit ihm – eine deutliche Verbesserung gegenüber dem ersten Halbjahr, als sie sich in Gegenwart des strengen Osmanen kaum getraut hatte, den Mund aufzumachen. Doch es gab immer noch eine Frage, die sie nicht zu stellen wagte. Sie verstand zwar, dass er vollauf damit beschäftigt war, die Zeitreisewelt vor dem Auseinanderbrechen zu bewahren, aber sie hätte schon gerne gewusst, wann er denn nun mit ihrer Ausbildung beginnen würde. Nach der Aufnahmezeremonie letztes Jahr hatte er sehr motiviert gewirkt. Er hatte ihr sogar erklärt, dass eine angehende Schlosserin, die nicht lernte, wie man die Energie vernünftig lenkte, gefährlich sein konnte. Doch seit ihr Nadim immer wieder für Unruhe sorgte, hatte er das Thema nicht mehr angesprochen.

»Schon gut«, rief Nigm, als die Sphinxe in Hörweite waren. »Sie kann mich heute Nachmittag begleiten. Ich bringe sie dann später zurück.«

»Juhu!« Aliya hüpfte vor Freude. Am liebsten hätte sie ihren pelzigen Wächterinnen die Zunge herausgestreckt, aber dann würde ihr Geddo später eine Strafpredigt halten.

»Muss ich wirklich so einen Nadim haben?«, fragte Aliya, als Professor Nigm eine Pause machte und sie an einem Imbisstisch standen und aus kleinen Tässchen Mokka tranken. Sie zeigte ihm das Wesen, das zusammengerollt und ein wenig grummelig in der Dose lag.

»Natürlich«, antwortete er. »Dein Nadim ist eine Sie, und sie wird deine beste Freundin und Gefährtin sein, sobald sie zur Ruhe gekommen ist.«

»Wenn sie zur Ruhe kommt«, sagte Aliya mit gerunzelter Stirn. »Aber wann wird das sein? Gestern beim Mittagessen hat sie mich total lächerlich gemacht, und sie brennt mir Löcher in die Taschen, und dann schnarcht und rülpst sie auch noch.« Sie seufzte. »Früher hat sie sich wie ein Ring um meinen Finger gerollt oder wie eine Perle an mein Ohrläppchen gehängt.«

»Das war die Flitterwochen-Zeit. Jetzt beginnt der schwierige Teil, die Verwandlungsphase.«

»Und inwiefern symbolisiert das da mich?«

Sie hob den kleinen Salamander hoch, und prompt begann er, Grimassen zu ziehen und mit dem Schwanz zu schlagen.

»Autsch!«, rief Aliya, als die heißen Schuppen ihre Haut berührten.

»Nur Geduld«, sagte Professor Nigm, dessen Gedanken bereits wieder zu seiner Arbeit zu wandern schienen. »Sie spiegelt deine innere Verfassung … deine Ungeduld und Frustration, deine Unreife.«

Aliya starrte angewidert auf den Salamander. Sie brauchte wirklich keine übellaunige Amphibie, die ihr zeigte, was mit ihr nicht stimmte. Das schaffte das Leben schon ganz allein.

»Mein Nadim«, fuhr der Professor fort, stellte seine Tasse ab und rückte seinen Turban zurecht, »hat während seiner Verwandlungsphase die Gestalt eines Bumerangs angenommen und mich während eines Essens am Hof des Sultans k.o. geschlagen. Das war äußerst peinlich.«

Damit wandte er sich um und ging zurück zu seinem Teppich.

Sie lief hinter ihm her. »Aber wann wird sie zur Ruhe kommen und zu etwas Nützlichem werden? Woher weiß ich überhaupt, wann sie ihre endgültige Gestalt angenommen hat?«

Aus Professor Nigms Pfeife trat eine neue Rauchwolke. Die Form, die sie annahm, spiegelte seine Energie wider, das wusste Aliya.

»Keine Sorge, das merkst du dann schon«, sagte er. »Und wann das sein wird, hängt von dir ab. Wie macht sich übrigens dein Team? Alles in Ordnung?«

Aliyas »Team« waren die anderen fünf Schüler, die während der Schulzeit zusammen mit ihr in Hausmutter Olfats Ghulherberge wohnten. Sie waren in ihrem ersten Jahr zusammengelegt worden, weil ihre besonderen Fähigkeiten sich ergänzten; jeder von ihnen hatte ein Talent, das notwendig war, wenn ein Zeitreiseteam zu einem echten Einsatz geschickt wurde.

Mittlerweile betrachtete Aliya die anderen als Freunde, mit Ausnahme von Victoria, ihrer viktorianischen Mitschülerin, die eine total eingebildete Schnepfe war. Mit ihr konnte sie auf keinen Fall zusammenarbeiten.

»Ich nehme an, es geht ihnen gut«, erwiderte sie. »Obwohl es keiner von ihnen für nötig gehalten hat, mir mal zu schreiben«, fügte sie halblaut hinzu. »Moment mal – was meinen Sie damit, dass es von mir abhängt?«, rief sie, aber der Professor war in einer silbrigen Wolke verschwunden.

»Wir sollten ihr einen Namen geben«, ertönte seine Stimme aus der Wolke. »Das wird euch helfen, eine Verbindung aufzubauen.«

»Ich kann doch mit einem Salamander keine Verbindung aufbauen!«, schimpfte Aliya. »Was haben wir denn überhaupt gemeinsam?«

»Mehr als du denkst«, sagte Nigm. »Ich schlage Sama al Ula vor. Das bedeutet ›der erhabene Himmel‹. Alle Nadims müssen große Namen haben, als Zeichen, dass sie von den Sublimen abstammen. Für den Alltag könntest du ihr einen Spitznamen geben. Wie wär’s mit Simi?«

»Simi?« Aliya verstaute den Salamander, der jetzt Rotzblasen aus seinen winzigen Nasenlöchern aufsteigen ließ, wieder in der Dose.

Ein niedlicher Name, dachte sie. Na super. Als ob das helfen würde.

Später gingen Aliya und Professor Nigm durch die Schmiede, das Zentrum der Schlosser. Um sie herum breitete sich ein prächtiges Labyrinth aus marmorgefliesten Korridoren aus; einige führten zu Werkstätten, in denen schimmernde Werkzeuge aus Gold und Silber an den Wänden hingen. Andere hatten große Fenster, durch die man auf den Ort hinaussehen konnte, an dem das geheimnisvolle Zentrum sich am jeweiligen Tag niedergelassen hatte. Die Schmiede bewegte sich ständig durch Zeit und Raum, um sich vor Eindringlingen zu schützen. Dennoch konnte jeder echte Schlosser sie durch die goldene Tür, die auf dem Qahira-Platz verblieb, betreten. Außerdem war es möglich, an jedem beliebigen Ort innerhalb des Infinitums eine zweite Tür heraufzubeschwören.

Aliya blickte hinaus auf eine grüne Flusslandschaft. In der Ferne glitten zwei Feluken mit ihrem typischen, schräg stehenden Segel vorüber. Es war natürlich der Nil. Vielleicht befanden sie sich sogar wieder in ihrer eigenen Zeit, überlegte Aliya, als sie die Zahnpastawerbung auf einem der Segel entdeckte. Sie drückte sich eng an die Fensterscheibe, um zwei riesigen Hieracosphinx-Wächtern auszuweichen, die durch den Gang polterten. Die Schmiede setzte nur Mythische als Wachen ein. Im vergangenen Jahr hatte Aliya eine Begegnung mit einem der riesigen Viecher gehabt, die beinahe tödlich ausgegangen wäre, und sie war nicht erpicht auf eine Wiederholung. Mit ihrem Löwenkörper und dem Falkenkopf hatten sie nicht nur mächtige Krallen, sondern auch einen rasiermesserscharfen Schnabel.

Aliya eilte zu Nigm, der im Eingang einer der Werkstätten stand. Sie spähte hinein und sah, wie ein älterer Schlosserlehrling sich über einen Teppich beugte, der auf einem Tisch lag. Sie machte große Augen vor Überraschung, als aus den Händen des Lehrlings ein gleißender Lichtstrahl schoss, der den Teppich in die Luft hob. Er buckelte und flitzte funkensprühend durch den Raum, aufgeladen mit Baraka-Energie. Der Lehrling hatte ihn belebt!

»Deine Kanalisierungsfähigkeiten sind momentan blockiert«, erklärte der Professor Aliya und nahm damit den Gesprächsfaden wieder auf. »Das liegt an deinem Nadim. Solange er noch in der Verwandlungsphase ist, besteht keine Gefahr, dass du dich selbst oder irgendjemanden mit unkontrollierter Energie verletzt. Dein Nadim wird seine endgültige Gestalt annehmen, sobald du bereit für die eigentliche Ausbildung bist.«

Das hätten Sie mir auch schon vor ein paar Monaten sagen können!, dachte Aliya. Die Zeitreisewelt war auch so schon verwirrend und mysteriös genug, ohne dass man ihr etwas verschwieg. Aber ihr Mentor rückte Informationen immer nur häppchenweise heraus.

In der Werkstatt jagte der Teppich, der geradezu übermütig wurde, den Lehrling durch den Raum und versetzte ihm mit seinen Fransen Klapse auf den Hinterkopf.

Aliya betrachtete Nigms strenges Profil. Er war beeindruckend und weise, aber manchmal wünschte sie sich einen etwas umgänglicheren Mentor. Jemanden, der so munter und gesprächig war wie Mrs Dickens, die Herbergsköchin, die ihr immer Geschichten erzählte und Leckereien zusteckte. Seit Aliya aus der Alterungsklinik zurück war, hatte sie mit Professor Nigm nur ein paar belanglose Sätze gewechselt. Nicht dass es in letzter Zeit viel zu besprechen gegeben hätte. Es war lange her, dass sie Baraka zum Einsatz gebracht hatte.

Aliya hatte keine Spur der Sublimen-Energie mehr in sich gespürt seit jener verhängnisvollen Nacht, als sie vor Dorian Darke geflüchtet war und – wieder wurde ihr ganz elend bei der Erinnerung – versucht hatte, mit Hilfe des Darklings ihre Vergangenheit zu verändern. Niemand wusste davon, weder Professor Nigm noch Geddo, nicht einmal ihre beste Freundin Karima. Denn wie könnte sie ihnen sagen, dass ihretwegen große Teile ihrer Familiengeschichte verschwunden waren? Dass der Darkling, ein Zeitschlüssel in Form einer monströsen schwarzen Schlange, sie verschlungen hatte? Denn davon ernährte sich ein Magiemonster wie der Darkling: vom Leben anderer. Das hatte Dorian ihr erklärt, als sie in seinem Laden der Zweiten Chance gewesen war: dass Magie Leben braucht, um ihre Kraft zu behalten. Es war eine Raubmacht, und Aliya hatte dieser Macht geholfen.

Hatte sie das irgendwie verdorben? Vielleicht stimmte seither mit ihr irgendwas nicht. Vielleicht war das der Grund dafür, dass ihr Nadim nicht zur Ruhe kam und dass die Baraka aus ihren Händen verschwunden war.

Aliya und Professor Nigm gingen schweigend weiter zur nächsten Werkstatt, wo ebenfalls eine angehende Schlosserin arbeitete. Ihr Chamäleon-Nadim folgte geschmeidig jeder ihrer Bewegungen, als sie ein Zeitportal öffnete. Es begann als flirrender Punkt in der Luft, der langsam größer wurde, bis man auf der anderen Seite eine Straße erkennen konnte. Die Mentorin, eine Sphinx in purpurroter Robe, klatschte Beifall, und der Lehrling, ein hübsches Mädchen mit honigfarbenem Haar, machte einen koketten Knicks.

Uah, Arsinoe, dachte Aliya. Sie war eine ältere Schülerin aus der ptolemäischen Ära und geradezu abstoßend perfekt und beliebt. Sie wohnte zusammen mit den anderen Schülern aus den wohlhabenden und einflussreichen Familien Infinitums in Hippolytas Herberge, und wahrscheinlich hatte sie auch eine Fahrkarte für den Silberexpress. Die exklusive Reise, die jeden Sommer stattfand, war für die meisten Schüler unerschwinglich – außer für die, die bei Hippolyta wohnten.

»Lehrlinge wie Arsinoe werden uns bald bei unseren Aufgaben helfen können«, sagte Nigm. »Zum Beispiel beim Heilen der Risse, die sich überall durch das Infinitum ziehen.« Er seufzte und stieß dabei eine blaue Rauchwolke aus. »Und wir brauchen wirklich jede Hilfe.«

»Das kann ich auch bald, Professor«, bemerkte Aliya etwas gereizter als beabsichtigt.

»Schlosser müssen dem Allgemeinwohl dienen«, sagte Nigm und warf seiner Schülerin einen Blick zu, als wüsste er genau, was in ihr vorging. Oder vielleicht hatte er auch gesehen, dass Simi den Kopf aus der Tasche gestreckt hatte und Furzgeräusche in Arsinoes Richtung machte. Hastig bedeckte Aliya sie mit der Hand.

»Ich habe heute nur einen schlechten Tag«, sagte sie, während sie zum Ausgang zurückgingen. »Ich bin wirklich bereit für die Ausbildung. Vielleicht könnte ich ja einfach mal versuchen, ein Portal zu öffnen, und dann schauen wir, wie es läuft?«

Professor Nigm starrte sie ungläubig an und wollte gerade etwas erwidern, als ein Teppich um die Ecke geschossen kam und direkt auf sie zusteuerte. Mit einem übermütigen Satz sprang er auf Professor Nigm zu und schlang sich um seine Beine, sodass nur noch die Füße in den Sandalen zu sehen waren.

»Jetzt ist es aber genug.« Der Professor strich schmunzelnd über den Rand des Teppichs. »Du hast doch eine wichtige Aufgabe zu erledigen. Denk dran, was wir vereinbart haben.«

Der Teppich, der offenbar wusste, was Nigm meinte, löste sich von ihm. Er beschnupperte Aliya, dann flog er davon.

In diesem Moment passierte es: Aliya wurde von einer Schockwelle gegen die Wand geschleudert, und einen Sekundenbruchteil später jagte ein Lichtblitz durch den Korridor. Einen Moment lang fühlte es sich so an, als würde der Boden unter ihnen nachgeben, als würde die Schmiede umkippen.

»Was war das?«, flüsterte Aliya, als sie wieder sprechen konnte. Es hatte ihr buchstäblich die Luft aus der Lunge geschlagen.

»Ist alles in Ordnung?« Professor Nigm half ihr hoch, und ein besorgter Rauchfaden umkreiste sie.

»Ein Angriff!«, rief jemand vom anderen Ende des Korridors. »Jemand hat die Schmiede angegriffen!«

Danach ging alles drunter und drüber. Aliya versuchte, Nigm zu folgen, verlor ihn aber in dem darauf folgenden Chaos aus den Augen. Ein tiefes Summen ertönte vom Boden, von den Wänden, von der Decke. Es umgab sie wie ein Nebel, durchdrang sie, als wollte es mit ihr verschmelzen, so kraftvoll, dass sie sich kaum rühren konnte. Sie kannte dieses Geräusch. Aus irgendeinem Grund war es ihr vertrauter als alles andere, woran sie sich erinnerte. Es war der Klang der Sublimen, jener Substanz, die die Zeitreisewelt antrieb und aus der jeder Nadim stammte, der Quelle der Baraka-Energie. Dies war ihre Stimme, die einen Warnruf ausstieß.

Plötzlich tauchte ein Bild in Aliyas Kopf auf, ganz golden und freudvoll: Sie war in der Werkstatt ihrer Mutter und sah alles von oben. Ihre Mutter, eine Schlosserin, stand über eine Werkbank gebeugt, und in ihren schlanken Händen hielt sie glänzende silberne Werkzeuge. Dann flog Aliya durch den Raum, die Beine um etwas Großes, Goldenes geschlungen – ein Drache mit einer Mähne aus Feuer.

Eine Hand berührte sie an der Schulter und holte sie aus ihrer Erinnerung. Es war Nigm.

»Jemand hat versucht, in die Schmiede einzubrechen«, sagte er. »Ich muss dich nach Hause bringen.«

»Was?« Aliya starrte ihn an. »Wie kann das sein? Das ist doch unmöglich.«

Um sie herum war immer noch das Summen der Sublimen zu hören, tief und drängend.

»Jetzt ist keine Zeit für Fragen.« Nigm fuhr mit der Hand durch die Luft. Ein Licht blitzte auf, dann öffnete sich ein Portal. Dahinter konnte Aliya den Platz vor Hausmutter Olfats Schülerherberge sehen.

»Aber ich möchte helfen. Ich könnte –«

Mit einer raschen Bewegung schob Nigm sie durch das Portal, das sich lautlos hinter ihr schloss.

3

Eine Entscheidung um Mitternacht

Wer wäre denn verrückt genug, die Schmiede anzugreifen?«

Aliya legte ihre Gabel hin und sah Geddo erwartungsvoll an, aber der alte Mann war zu sehr in seine eigenen Gedanken versunken, um ihre Frage mitzubekommen. Es war Abendessenszeit, und sie saßen zusammen mit den übrigen Sommergästen im höhlenartigen Speisesaal von Hausmutter Olfats Schülerherberge. Über ihnen hingen schwere, mit schwarzen Kerzen bestückte Leuchter, und gelegentlich tropfte etwas Wachs auf den Tisch. In den Kaminen an beiden Enden des Saals brannte ein Feuer, obwohl Hochsommer war. Ghule hassten Sonnenschein und zogen es vor, so zu tun, als herrschte tiefster Winter. Der Fernseher in der Ecke lief, und man sah Bilder vom Qahira-Platz nach dem Angriff auf die Schmiede. Die goldene Tür war an einigen Stellen schwarz, als hätte jemand einen Flammenwerfer darauf gerichtet. Noch viel alarmierender jedoch war der Riss, der sich quer hindurchzog. Jeder Zeitreisende wusste, dass die Schmiede uneinnehmbar war – oder zumindest sollte sie das sein. Sie war das Herz des Infinitums, sein Allerheiligstes.

Aliya stocherte in ihrer Leberpastete herum, dann schob sie den Teller weg und nahm sich noch ein kleines Fladenbrot. Da Mrs Dickens, die Herbergsköchin, im Urlaub war, mussten die Gäste sich mit Hausmutter Olfats Kochkünsten abfinden. Aliya hatte das Kochbuch gesehen, das die Hausmutter als Inspiration für Menschenmahlzeiten verwendete: Eingeweide – köstliche Gerichte für jeden Tag.

Sie sah, wie zwei Ghuldienstmädchen die Insekten aus den Spinnennetzen pickten, mit denen die Fenster dekoriert waren. Die Dienstmädchen waren ihr nicht mehr ganz so unheimlich wie letztes Jahr, als sie hier angekommen war, aber trotzdem … Sie verzog das Gesicht, als eine von ihnen sich eine Fliege in den Mund steckte.

Es war kein Wunder, dass bei Hausmutter Olfat die Außenseiter und Loser landeten. Auch Aliya war bei ihrer Ankunft hier untergebracht worden, vermutlich weil die Leute aus der Verwaltung nicht gewusst hatten, was sie sonst mit ihr machen sollten, schließlich war sie zu spät gekommen und hatte keine Ahnung vom Zeitreisen gehabt. Niemand, der bei Verstand war, würde freiwillig in diesem düsteren Bau mit seinen dunklen Gängen und von Spinnennetzen überzogenen Nischen wohnen wollen. Trotzdem war sie immer noch hier, und Geddo auch. Als er ihr erzählt hatte, sie würden in der Zitadelle ein neues Zuhause bekommen, hatte Aliya sich ein geräumiges osmanisches Haus vorgestellt, mit eigenem Garten. Und vielleicht einem Kumquat-Baum. Stattdessen hatte ihr Großvater diese Herberge vorgezogen. Und Hausmutter Olfats halb rohe Eingeweide-Mahlzeiten, die mürrischen Dienstmädchen und Treppen, deren Geländer von fleischfressenden Pflanzen umrankt waren.

Als sie die Decke aufhob, die Geddo vom Schoß gerutscht war, sah sie, dass er seine runzelige Hand seitlich an den Bauch presste, dort, wo Dorian Darke ihn mit dem Messer verletzt hatte. Das war schon Monate her. Nur ein Kratzer, hatte ihr Großvater gesagt. Aber ihm war anzusehen, dass er immer noch Schmerzen hatte. Und das, vermutete Aliya, war der wahre Grund, warum sie in der Herberge wohnten. Er brauchte die Hilfe der Hausmutter, ihre Ghulizin, um wieder gesund zu werden. Anders als menschliche Medizin konnte die Ghulizin auch Magieleiden heilen, und Hausmutter Olfat war eine Meisterin in dieser Kunst.

»Wie ist er überhaupt in die Zitadelle reingekommen?« Die Hausmutter, die neben Geddo saß, wandte ihm den Kopf zu. Die Stricknadeln in ihren klauenähnlichen Händen glitzerten im Schein des Kerzenleuchters bedrohlich. Sie strickte etwas Großes, Geflecktes, das ein bisschen an Garn gewordene Kotze erinnerte.

»Er war früher ein Schlosser«, brummte Geddo. »Vergessen Sie das nicht.«

»Wer denn?«, fragte Aliya den alten Mann.

Geddo tätschelte ihre Hand, antwortete jedoch nicht.

Aber eigentlich kannte sie die Antwort schon. Ihr fiel nur einer ein, der verrückt genug war, zu versuchen, in die Schmiede einzubrechen.

Dorian Darke.