Aliya und die Unendliche Stadt - Laila Rifaat - E-Book

Aliya und die Unendliche Stadt E-Book

Laila Rifaat

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Beschreibung

Eine mutige Heldin, eine aufregende Zeitreise durch die Jahrhunderte und eine einzigartige Fantasywelt voller Abenteuer und Magie – Laila Rifaat lässt ein fantastisches Universum in einer atemberaubenden Parallelwelt Ägyptens entstehen.

An ihrem elften Geburtstag kommt Aliya einem Geheimnis auf die Spur: Sie stammt aus einer Familie berühmter Zeitreisender. Wieso nur hat ihr Großvater ihr das bislang verschwiegen? Nun muss sie bereits in wenigen Wochen die Aufnahmeprüfung an der Schule der Zeitreisenden bestehen und ihr bleibt kaum Zeit für die Vorbereitung. Mit dem fliegenden Teppich reist Aliya in die Unendliche Stadt, um dort die Navigation durch die Jahrhunderte zu lernen. Doch es gehen Gerüchte um, dass der dunkle Magier Dorian Darke zurückgekehrt ist. Er will die oberste Regel der Zeitreisenden brechen und die Vergangenheit verändern. Dafür fehlt ihm nur Aliya, die ein ganz besonderes Talent hat, das die Geschichte für immer verändern könnte. Aliya muss sich ihrem Schicksal stellen, denn nur sie kann die Welt der Zeitreisenden retten.

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MOBI

Seitenzahl: 379

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Cover

Titel

Laila Rifaat

Aliya

und die Unendliche Stadt

Die Schule der Zeitreisenden

Band 1

Aus dem Englischen von Claudia Feldmann

Mit Illustrationen von Bente Schlick

Insel Verlag

Impressum

Zur optimalen Darstellung dieses eBook wird empfohlen, in den Einstellungen Verlagsschrift auszuwählen.

Die Wiedergabe von Gestaltungselementen, Farbigkeit sowie von Trennungen und Seitenumbrüchen ist abhängig vom jeweiligen Lesegerät und kann vom Verlag nicht beeinflusst werden.

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Die englische Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel Aliya to the Infinite City bei Chicken House, Frome.

eBook Insel Verlag Berlin 2025

Der vorliegende Text folgt der 2. Auflage der deutschen Erstausgabe, 2025.

© der deutschsprachigen Ausgabe Insel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. KG, Berlin, 2024© der Originalausgabe: Laila Rifaat 2024

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Umschlaggestaltung: formlabor, Hamburg

Umschlagillustration: Bente Schlick, Hamburg

eISBN 978-3-458-78314-5

www.insel-verlag.de

Widmung

Für meine Familie

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

Widmung

1. Das Geheimzimmer

2. Die Halskette

3. Das Arbeitszimmer

4. Verrat

5. Eine überraschende Wendung

6. Das Infinitum

7. Die Ghul-Hausmutter

8. Nächtlicher Ärger

9. Frühstück

10. Die Orientierungsrunde

11. Noch ein brennender Brief

12. Der Fortuna-Kern

13. Das Vermächtnis der Sultans

14. Brisante Bücher

15. Fliegende Messer

16. Der Hirnlähmer

17. Zil

18. Nicht ganz eine Siegesfeier

19. Die Schmiede

20. Vorbereitungen

21. Der Schocker

22. Ein Riss in der Zeit

23. Goldene Gedanken

24. Mrs Dickens

25. Die Aufnahmezeremonie

26. Tiefpunkt

27. Fliegende Rettung

28. Der Darkling

29. Der Laden der Zweiten Chance

30. Die Kraft des Leichenkrauts

31. Geddo

32. Ein richtiges Fest

Danksagung

Textnachweis

Informationen zum Buch

Aliya

1

Das Geheimzimmer

Aliyas Großvater war wieder einmal verschwunden. Das wusste sie, da kein Geräusch aus dem Arbeitszimmer drang. Sie lauschte auf ein Rascheln der Zeitung, ein Teeschlürfen, ein Klicken der Backgammon-Steine oder ein Schnarchen, doch da war nichts.

Ausgerechnet heute hätte sie erwartet, dass er dablieb, aber die Stille ließ keinen anderen Schluss zu. Wütend schlug Aliya gegen die Tür. Schließlich wurde man nur einmal im Leben elf. Und jetzt stand sie wie eine Idiotin vor seinem verschlossenen Zimmer, ohne Kuchen und Geschenke.

Sie versuchte, durch das Schlüsselloch zu schauen. Es war wirklich merkwürdig still da drinnen, als hätte der Raum ihren Großvater irgendwie weggezaubert. Meistens sah sie nur sein dunkles Zimmer, so wie jetzt. Aber sie hätte schwören können, dass sie dort auch schon ferne Orte erblickt hatte – eine wogende Wüste oder eine Straße voller Menschen. Manchmal konnte sie auch Gewürze riechen oder Benzin oder Kameldung. Es war, als könnte der Raum sich nicht entscheiden, wohin er führte – oder lag es nur daran, dass sie sich vor lauter Einsamkeit etwas zusammenspann?

Aliya hatte versucht, glaubwürdige Erklärungen für diese eigentümlichen Erscheinungen zu finden. Hatte das Arbeitszimmer einen geheimen Ausgang, durch den Geddo sich verdrückte? Vielleicht, um in einem Café ungestört seine Zeitung zu lesen? Oder um bei einem Glas Minztee mit einem würdigen Gegner Backgammon zu spielen? Aliya hielt die Nase an das Schlüsselloch und schnupperte, roch jedoch nichts Ungewöhnliches. Aber irgendetwas war da im Gange, ganz bestimmt.

Bevor das mit seinem Verschwinden begann, war Geddo ein ganz normaler Großvater gewesen, der ständig seine Brille suchte, im Sessel einschlief und sich in dem uralten Fernseher langweilige Dokus ansah. Sie hatten ganz normale Sachen gemacht, waren im Schneckentempo zum Laden an der Ecke gegangen und hatten Geddos Opa-Gerichte gegessen, die meist aus scharfen Würstchen und Eiern bestanden. Aliya hatte ihm geholfen, die Wäsche aufzuhängen (ihre Socken waren zu klein für seine steifen Finger) und das Geschirr abzuwaschen. Sie hatten zusammen die Straßenkatzen gefüttert, und jedes Mal, wenn eine neue dazustieß, um das Gemisch aus Thunfisch und eingeweichten Brotresten zu futtern, hatten sie sich einen Namen für sie ausgedacht. Aliya mochte coole, amerikanische Namen wie die aus den Fernsehserien, die sie sich anschaute, aber Geddo bestand auf arabischen Namen, die hinten in der Kehle begannen und über die Zunge sausten, als kämen sie zu spät zu einem Termin: Kharboush, Ghadanfar oder Khirash. Ägyptische Katzen konnten nicht Phoebe heißen oder Chandler.

Doch dann war Geddo vor etwa einem Monat in sein Arbeitszimmer gegangen, und als er wieder herauskam, war er irgendwie … verändert gewesen. Er hatte besorgt gewirkt und nicht mehr mit ihr geredet. Ganz merkwürdig wurde es, als er sie aus der Schule nahm und zu ihr sagte, sie müssten sofort umziehen, und sie solle keine Fragen stellen. Aber Aliya hatte Dutzende von Fragen gestellt. Wohin sie denn gehen würden? Ob es ihm gut ging? Ob sie einen Arzt holen sollte? Was mit den Straßenkatzen sei? Wer die füttern würde, wenn sie nicht mehr da wären?

Bevor sie wusste, wie ihr geschah, hatten sie alles zurückgelassen.

Zuerst hatten sie bei einer alten Dame in einem Haus am Rand der Wüste gewohnt, dann eine Woche lang – unter falschem Namen – in einem heruntergekommenen Hotel, und jetzt hockten sie in einer Wohnung in einem baufälligen Haus am Stadtrand von Kairo.

Aliya blickte sich in der schäbigen Bleibe um. Wasserflecken breiteten sich wie ein Ausschlag über Wände und Decke, und alles, was sie besaßen, türmte sich überall wie auf einem Trödelbasar.

Noch seltsamer war, dass ihr Großvater jetzt, ganz gleich wo sie wohnten, stets ein Zimmer für sich behielt. Ein Geheimzimmer, das nur Geddo und Mr Kamal, der neue Butler – jawohl, ein Butler! – betreten durften. Aliya fuhr mit der Hand über die Tür, und sie wusste mit absoluter Gewissheit, dass der Grund für Geddos seltsames Verhalten da drinnen eingeschlossen war.

Aliya wandte sich von der Tür ab und ließ den Blick durch das unordentliche Wohnzimmer gleiten. Wenn Geddo ihr kein Geschenk gab, würde sie sich eben etwas Geld nehmen und sich selbst eins kaufen. Sie schniefte, und ihre Augen brannten vom Staub und den aufsteigenden Tränen. Sie war es vielleicht nicht wert, gefeiert zu werden, aber an ihrem Geburtstag würde sie keine abgestandenen Reste zum Mittag essen.

Sie musterte die Sachen ihres Großvaters, die seit ihrem letzten Umzug kreuz und quer herumstanden. Da waren seine vergoldeten Lehnstühle mit den durchgesessenen Sitzen, bedeckt mit der üblichen Kairoer Mischung aus Sand und Staub, die sich wie ein Schleier auf alles legte.

Ihr Blick blieb an einem alten Koffer voller Bücher hängen. Eines davon hatte den Titel Sphinx Tutmos: Ein Gespräch. Sie nahm es heraus und betrachtete das Foto auf dem Umschlag, das eine skeptisch dreinblickende Sphinx in einem Strickkleid zeigte. Seltsam. Diese alten Bücher hatte sie noch nie gesehen. Wahrscheinlich gehörten sie in Geddos Arbeitszimmer, zusammen mit seinen anderen Geheimnissen. Mit jedem Umzug waren einige Dinge aus dem verschlossenen Zimmer herausgedrungen, wie bei einer Schatztruhe, die ein Loch hatte.

Sie griff nach einem weiteren muffig riechenden Buch mit dem Titel Krude Gesundheit – Eine Anleitung zu ghulischer Heilung (ohne Kochen). Dann gab es noch Teppichpflege für den erfahrenen Flieger. Auf dem Umschlag war ein Teppich in der Luft abgebildet, dessen Pilot sich daran festklammerte, als hätte er Angst um sein Leben.

Geddo erzählte Aliya oft Gutenachtgeschichten über fantastische Dinge und Wesen – das gehörte zu ihrem abendlichen Ritual –, aber diese Bücher sahen so aus, als hätten sie tatsächlich praktischen Nutzen.

In den Geschichten, die ihr Großvater mit solcher Überzeugung erzählte, als entspräche alles der Wahrheit, kamen alle möglichen Wesen vor, von Sphinxen mit Allergien bis zu ägyptischen Ghulen, die sehr empfindsam waren, wenn man sie erst einmal näher kennenlernte – wofür man allerdings lange genug am Leben bleiben musste. Eine von Aliyas Lieblingsgeschichten handelte von einem ungezogenen Mädchen, das von einem fliegenden Teppich entführt wurde. Er flog mit ihr fast um die ganze Welt, bis sie auf das Zauberwort kam, das ihn zum Landen brachte.

»Und wie lautet das Zauberwort?«, fragte Aliya jedes Mal, wenn der Teppich über die Anden hinweggefegt war, ohne auch nur abzubremsen.

»›Bitte‹«, antwortete Geddo dann. »›Bitte‹ ist ein magisches Wort.«

Höflichkeit war die einzige Form von Magie, die Geddo guthieß. Viele von seinen Geschichten warnten vor einer anderen Art, die dunkel und gefährlich war und sich von der Seele der Menschen nährte.

Das brachte Geddo zu der Geschichte vom schönen Prinzen mit dem goldenen Haar und den leuchtend blauen Augen, dessen Ehrgeiz keine Grenzen kannte. Er wollte über die Zeit herrschen wie ein Gott und suchte die Wesen der Dunkelheit auf, um einen Teil seiner Menschlichkeit einzutauschen gegen eine Macht, wie kein Sterblicher sie haben sollte. Da diese Geschichte stets damit endete, dass der Prinz sein Reich ins Unglück stürzte, dachte sich Aliya eines Abends ein neues Ende aus, mit einer jungen Heldin, die ihr ähnelte und die furchtlos alle rettete.

Als Aliya nun erneut zu der verschlossenen Tür des Arbeitszimmers blickte, verspürte sie einen Stich bei der Erinnerung daran, wie Geddo sie in dem Moment angesehen hatte. Er glaubte offensichtlich nicht, dass sie zu solcher Tapferkeit fähig war, oder auch nur zu irgendeiner Art von Abenteuer, ob im wahren Leben oder in einer Geschichte.

Sie wandte sich wieder dem Durcheinander zu, um ein wenig Geld für ein Geschenk und eine Mahlzeit zu suchen. Da sprang plötzlich mit einem dumpfen Knall die Tür des Geheimzimmers auf.

Ein großer Mann in einem Tweedanzug trat heraus und schloss die Tür sofort wieder – zu schnell, als dass sie hätte sehen können, was sich dahinter befand. Er sah ein bisschen so aus wie ein säuberlich gebügelter Sherlock Holmes, nur mit Brille. Es war Mr Kamal, der neue Butler. Er war vor etwa einem Monat aus dem Arbeitszimmer aufgetaucht, als hätte Geddo ihn aus dem Hut gezaubert.

Aliya sah zu, wie er sich in einen der vergoldeten Lehnstühle setzte und seine Pfeife zu putzen begann. Waren Butler nicht so etwas wie Diener? Und liefen die wirklich in Tweedanzügen herum? Sie hatte welche in Filmen gesehen, und da standen sie immer ernst und pflichtbewusst bereit. Sie kündigten Besucher an oder brachten Tabletts mit Essen. Aber Mr Kamal entsprach diesem Bild überhaupt nicht. Er tat nie etwas Nützliches, und wenn er etwas putzte, dann nur seine eigenen Sachen. Vor allem ärgerte es sie, dass er nie antwortete, wenn sie ihn fragte, was mit Geddo los war, obwohl er – ein völlig Fremder! – im Gegensatz zu ihr das Arbeitszimmer betreten durfte. Jetzt zündete er seine Pfeife an, zog daran und blies eine kleine Rauchwolke zur Decke. Sie sah aus wie ein böser Geist aus Geddos Geschichten.

»Was tun Sie da eigentlich rein?«, fragte sie und rümpfte die Nase. »Das stinkt wie ein Haufen Fürze.«

Mr Kamal hielt inne.

»Gemahlene Mädchenknochen.«

Er musterte sie mit einem Stirnrunzeln, das sich noch verstärkte, als er sah, wie Aliya herausfordernd mit ihren schmutzigen Zehen wackelte.

»Heute ist mein Geburtstag«, sagte sie. Sie wartete einen Moment, aber Mr Kamal stieß nur eine weitere Rauchwolke aus. »Wissen Sie, wie es ist, wenn man seinen Geburtstag ganz allein feiern muss?«, sagte sie. »Seinen Geburtstag. Und es gibt nur ein paar Brote von gestern zu essen!« Sie deutete auf das Durcheinander auf dem Beistelltisch. »Und den Gedenktag für meine Eltern hat er auch vergessen. Das ist noch nie vorgekommen. Wir sprechen sonst immer ein paar Gebete.«

Seit ihre Eltern gestorben waren, hatten sie den Tag immer begangen, indem sie ihre Gräber besucht und einige Suren aus dem Koran gelesen hatten. Danach waren sie zu der Eisdiele in der Nähe des Friedhofs gegangen. Das war Tradition.

»Todestage und Geburtstage«, erwiderte Mr Kamal mit verächtlichem Schnauben. »Dein Großvater hat Wichtigeres zu tun. Und dabei kann er kein dummes Kind gebrauchen, das ihm zur Last fällt.«

Aliya zuckte zusammen. Ihr Geburtstag war nicht wichtig? Der Gedanke tat so weh, als hätte Mr Kamal sie gezwickt.

»Was hat er denn so Wichtiges zu tun?«, fragte sie.

»Wenn er wollte, dass du es weißt, hätte er es dir sicher gesagt.«

Noch ein schmerzhafter Gedanke. Aliya presste die Lippen zusammen. Mr Kamal sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. Genauso hatte Geddo sie angesehen, als sie ein neues Ende für die katastrophale Prinzengeschichte vorgeschlagen hatte. Vermutlich dachte er an den Nachhilfelehrer, den Geddo angeheuert hatte, damit er ihr bei den Schulaufgaben half. Der hatte schließlich das Handtuch geworfen und Geddo einen Brief hinterlassen, in dem lauter Sachen standen wie »ungeeignet für akademisches Lernen« und »schläft immer wieder ein«. Aliya hatte den Brief vor Geddo versteckt und dann daraus lauter Origami-Kraniche gebastelt, die jetzt in ihrer alten Wohnung verstaubten. Vielleicht hätte sie mehr lernen sollen. Sich mehr Mühe geben. Ihrem Großvater zeigen, dass sie zuverlässig war. Vielleicht hätte er sich ihr dann anvertraut. War es dafür jetzt zu spät?

Mr Kamal wandte sich wieder seiner Pfeife zu, und mit einem Mal schlängelte sich ein kaltes Gefühl durch Aliyas Herz und zischte hässliche Sachen. Was, wenn Geddo in Gefahr war? Er hatte in den letzten Wochen so besorgt ausgesehen, war dauernd auf und ab gelaufen und hatte kaum ein Wort gesagt.

Angst stieg in ihr hoch und kribbelte ihr in der Brust.

»Er ist mein Großvater«, sagte sie. »Wenn er in Gefahr ist, muss ich ihm helfen!«

»Du willst ihm helfen?« Mr Kamal deutete mit seiner Pfeife auf die Tür zu ihrem Zimmer. »Dann geh aus dem Weg. Verzieh dich.«

Ohne nachzudenken, bückte sich Aliya, holte eine Handvoll sandigen Dreck unter dem Teppich hervor und warf damit nach Mr Kamal. Beide starrten einen Moment auf sein beschmutztes Hemd, dann stürzte er sich mit ausgestreckten Händen auf sie. Sie wich zurück wie ein panischer Krebs, floh in ihr Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Mit zitternden Fingern versuchte sie, den Riegel vorzulegen, doch er rutschte ihr weg. Ihr schlug das Herz bis zum Hals. Die Tür bebte, als Mr Kamal von der anderen Seite dagegen schlug.

Bum. Bum. Bum.

Klack. Der Riegel glitt in die Halterung.

Sie war in Sicherheit.

Sie atmete tief durch, um sich zu beruhigen, dann beugte sie sich hinunter und spähte durch das Schlüsselloch. Erschrocken fuhr sie zurück. Ein gelbes Auge starrte sie an, ohne zu blinzeln.

Auf der anderen Seite drehte sich der Schlüssel im Schloss. Kurz darauf hörte sie, wie Mr Kamals Schritte sich entfernten, dann wurde die Wohnungstür geöffnet und fiel wieder zu.

Er hatte sie eingesperrt.

Großartig. Jetzt lagen zwei Türen zwischen ihr und dem Geheimnis im Arbeitszimmer. Niedergeschlagenheit breitete sich in ihr aus. Und noch ein anderes Gefühl. Bislang hatte es ihr nie Angst gemacht, allein zu sein. Aber jetzt … Geddo war in Gefahr, und sie wusste nicht, wie sie ihm helfen konnte. Als Erstes musste sie herausfinden, was los war, und dazu musste sie irgendwie in das Arbeitszimmer kommen.

2

Die Halskette

Es war fast Mitternacht. Aliya war stundenlang in ihrem Zimmer auf und ab gelaufen, bis die Müdigkeit sie schließlich überwältigt hatte. Doch nun hatte ein seltsamer Geruch sie geweckt. Sie schnupperte, und plötzlich war sie hellwach. Irgendetwas brannte!

Sie sprang aus dem Bett und lief zur Tür, die zu ihrer Überraschung offen stand. Auf dem Boden lag ein schwarzer Umschlag, der an einer Ecke glühte. Schnipsel brennenden Papiers leuchteten schwach. Aliya starrte reglos auf den dünnen Rauchfaden, der in die Höhe stieg. Das Wohnzimmer dahinter lag dunkel und verlassen da.

Vorsichtig stieß sie mit dem Fuß gegen den Umschlag. Konnte es eine Nachricht von Geddo sein? Aber warum sollte er ihr einen brennenden Brief schicken?

Sie stampfte auf den Umschlag, aber die Glut erlosch nicht. Sie lief damit in die Küche und bespritzte ihn mit Wasser, doch sobald sie damit aufhörte, wallte erneut Rauch auf. Und was noch viel seltsamer war: Das schwarze Papier fühlte sich kühl an. Als sie ihn aufriss, verschwand die Schwärze wie Tinte, die von einem Teller rann. Übrig blieb eine milchweiße Karte, auf der nur wenige, aber aufregende Worte standen:

Nur für dich … Aliya Sultan.

Dann fiel ihr etwas Glitzerndes in die Hand.

Sie stand da und betrachtete das funkelnde Ding. Es war eine goldene Halskette mit einem tropfenförmigen Diamanten. In die Fassung war in geschwungener Schrift ein Name graviert:

Nabila

Aliya berührte ihn mit der Fingerspitze. Es war der Name ihrer Mutter.

Als sie den Umschlag nach einem Hinweis auf den Absender durchsuchte, fand sie eine Nachricht.

Mein liebes Mädchen …

Aliya holte zitternd Luft. Solange sie zurückdenken konnte, hatte sie niemand mehr »lieb« genannt. Geddo strich ihr manchmal über den Kopf, aber Worte waren nicht seine Stärke, vor allem nicht liebevolle.

Vor vielen Jahren hat deine Mutter mir etwas ganz Besonderes in Verwahrung gegeben – und jetzt ist es an der Zeit, es dir zukommen zu lassen. Es wird dir helfen, deine Berufung zu finden. Und es wird dich vor jenen schützen, die dich daran hindern wollen. Aber du darfst es niemandem verraten!

Reibe den Diamanten und bitte um Hilfe …

Unterschrieben war die Nachricht mit einem einzelnen eleganten Schnörkel, der sich seltsamerweise zu bewegen schien. Mal sah er aus wie ein D, mal wie ein Z. Rasch ging sie Geddos und ihre Bekannten durch: ein paar Nachbarn, der Nachhilfelehrer, der alte Lebensmittelverkäufer an der Ecke … Aber niemand passte zu den Buchstaben. Das hier musste von jemand anderem kommen, den sie nicht kannte, jemandem aus dem Leben ihrer Mutter.

Sie wollte sich die Kette um den Hals legen, doch dann ließ sie sie vor Schreck fallen. Einen Moment lang hatte sie sich wie ein lebendiges Wesen angefühlt!

Vorsichtig hob sie sie wieder auf, und nun war das seltsame Gefühl weg.

Reibe den Diamanten …

Zögernd rieb sie über den Stein.

Er begann zu glühen.

Ein roter Nebel stieg daraus auf und bildete eine Wolke. Aliya wich stolpernd zurück und fiel auf ihren Hintern. Die Wolke löste sich von dem Diamanten und schwebte in der Luft wie ein Traum, der langsam Gestalt annahm.

Magie. Das musste Magie sein!

Aliya wusste nicht, ob sie schreien oder lachen sollte. Es war zu viel – es war unwirklich. Aber, protestierte der vernünftige Teil ihres Gehirns, was, wenn es nur ein Trick war?

»Zeig mir, wem diese Kette gehört hat«, befahl Aliya und rieb erneut über den Edelstein. Die Wolke nahm Gestalt an, wie eine Holografie. Es war eine Frau mit mandelförmigen Augen und rundem, von einem kirschroten Schleier umrahmtem Gesicht. Über ihrer rechten Augenbraue hatte sie ein Muttermal, und sie lächelte, als hätte sie gerade eine wunderbare Nachricht bekommen.

Aliya konnte sich nur noch verschwommen an ihre Mutter erinnern – es war einfach zu lange her. Doch nun war sie plötzlich hier, lebensecht und zum Greifen nah.

Das Gesicht ihrer Mutter löste sich auf und verschwand. Aliya griff in die Luft, dorthin, wo sie eben noch gewesen war. Dann stand sie ganz still da und starrte in die Dunkelheit.

Magie. Ihr Herz pochte wie wild, als sie auf den Diamanten in ihrer Hand sah.

Aus einem bestimmten Winkel meinte sie, in seinem funkelnden Innern eine Bewegung wahrzunehmen, als wäre darin ein Schatten gefangen.

Als sie ihn genauer betrachtete, bemerkte sie, dass die Buchstaben auf der Fassung sich bewegten – sie zerflossen zu einer schmalen Linie und bildeten dann einen neuen Namen:

Aliya

Sie drückte die Kette an die Brust. Sie hatte ihrer Mutter gehört, und nun war es ihre geworden – ihr seltsames Erbe.

»Bitte bring meine Eltern zu mir zurück. Mach, dass sie wieder lebendig sind, dass das Feuer nie passiert ist.«

Sie wartete mit angehaltenem Atem, doch nichts geschah.

»Bitte«, sagte sie erneut und rieb fester über den Diamanten. Sie besaß Magie. Damit konnte sie alles verändern, ihre Familie zurückbekommen, einen neuen Anfang machen!

Aber der Stein lag wie tot in ihrer Hand. Er gehorchte ihr nicht, jedenfalls nicht bei diesem Wunsch.

In dem dunklen Zimmer schwebte noch immer ein rosiger Hauch, der sanften Glanz über das Durcheinander aus staubigen Büchern und übriggebliebenen Broten warf – ein Hauch von Magie in ihrer tristen Welt. Sie folgte ihm mit dem Blick, als er hinüber ins Wohnzimmer glitt und unter der Türritze hindurch ins Arbeitszimmer. Und dann war er fort.

Aliya rannte hinüber und rüttelte an der Klinke. Abgeschlossen. Natürlich. Wütend schlug sie mit der flachen Hand gegen das Holz.

Sie schaffte es vielleicht nicht, ihre Eltern zurückzuzaubern, aber sie würde herausfinden, was Geddo vor ihr verbarg. Sie hatte genug von Geheimnissen.

Einen Moment lang zögerte sie. Geddo hatte gesagt, Magie sei böse, haram. Aber wenn ihre Mutter eine solche Halskette besessen hatte, stimmte das vielleicht gar nicht. Vielleicht war Magie gar nicht böse, sondern die Menschen verstanden sie nur nicht?

Sie holte tief Luft und rieb erneut über den Diamanten. Wie auch immer die Wahrheit aussah, sie konnte nicht länger herumsitzen und darauf warten, dass sie sich zeigte. Sie musste sie finden – um jeden Preis.

»Öffne das Arbeitszimmer«, befahl sie.

Der Edelstein glühte rot auf. Einen Augenblick später hörte sie ein Klicken, und die schwere Tür schwang auf.

3

Das Arbeitszimmer

Der Raum lag im Halbdunkel, nur erhellt vom flackernden Schein des Kaminfeuers. Aliya suchte nach einem Lichtschalter, fand jedoch keinen. Nach kurzem Zögern ging sie hinein.

Der Parkettboden war mit üppigen Perserteppichen in Rot- und Blautönen belegt, und vor dem Kamin stand ein großer, mit grünem Samt bezogener Sessel. Die Wände waren mit Regalen voll alt aussehender Bücher bedeckt, außerdem gab es einen großen Globus auf einem Holzständer und mehrere Vitrinen mit eigenartigen glänzenden Dingen darin. In der Ecke stand ein antiker Schreibtisch, auf dem lauter Zeitungen und Zeitschriften ausgebreitet lagen.

Sie trat darauf zu und nahm eine davon in die Hand. Mit großen Augen las sie eine Anzeige für Habashis fliegende Teppiche: aus persischer Seide, Kamel- und Ziegenhaar. Handgeknüpft von der Gesellschaft für kunstvolle Zeitreise-Tapisserien. In einer anderen wurden Mrs Dashings Kurzwaren angepriesen: Alles für den eleganten Zeitreisenden.

Zeitreisende?

Verwirrt blätterte sie weiter, bis zu dem Foto eines Mannes in viktorianischer Kleidung, der in einem Krankenhausbett saß. Mit seinem Backenbart und den buschigen Augenbrauen war er eindeutig ein Erwachsener, aber er war nur so groß wie ein Baby – was ziemlich seltsam aussah, zumal er eine Pfeife im Mund hatte. Die Überschrift lautete:

WEITERES RATSMITGLIED GESCHRUMPFT – ERNEUTE GIFTATTACKE ERSCHÜTTERT DIE WELT DER ZEITREISENDEN

Darunter folgte ein weiteres Foto von einem dünnen Mann mit einem Hemd voller Kreise und der Text:

Ratsmitglied Neon Ticker weist alle Gerüchte, dass Magie in das Infinitum eingedrungen sei, von sich: »Nichts als alte Geschichten und Aberglaube.«

Aliya hatte erwartet, im Arbeitszimmer so etwas wie einen Geheimgang zu finden, der in die Stadt führte und den Geddo benutzt hatte, um sich fortzustehlen, aber Zeitreisende?

Sie legte die Zeitung wieder hin und trat an den Kamin. Ihr war ein wenig schwummrig.

Der samtbezogene Sessel sah gemütlich und einladend aus. Sie setzte sich hinein und blickte auf die tanzenden Flammen. Auf der Armlehne lag eine von Geddos Strickjacken. Sie drückte sie an sich und sog den vertrauten Geruch nach dem Rasierwasser ihres Großvaters ein: Sandelholz und Zitrone. Sie verspürte eine merkwürdige Mischung aus Trost und Unbehagen. Alles hatte sich verändert. Früher war alles so einfach gewesen – langweilig und ein bisschen frustrierend, aber einfach. Es hatte nur Geddo und sie gegeben, und sie hatten alles miteinander geteilt, aber jetzt …

Auf dem Kaminsims stand ein Foto von ihren Eltern. Ihre Mutter mit den sanften, haselnussbraunen Augen, das runde Gesicht umrahmt von einem weißen Schleier, und dem Muttermal über der rechten Augenbraue. Und ihr Vater – tiefliegende Augen, Grübchen, dichtes, krauses Haar und die ein wenig krumme Nase der Sultans, genau wie ihre eigene und die von Geddo. Aliya beugte sich vor und entzifferte den Text auf dem Diplom, das ihr Vater hochhielt:

Hiermit wird bestätigt, dass Farid Farouk Sultan sein Studium erfolgreich abgeschlossen hat und von der Zeitreisegesellschaft Infinitums offiziell zum Zeitreisenden ernannt wird.

Aliya starrte fassungslos auf das Foto.

»Zeitreisende«, flüsterte sie, als bekäme das Wort mehr Sinn, wenn sie es aussprach.

Vielleicht war es nicht wörtlich gemeint – vielleicht waren sie so etwas wie Historiker, die viel reisten? Akademiker, wie die Studenten, die sie manchmal im Schreibwarenladen an der Ecke an den Kopierern sah?

Sie hatte das Foto gerade wieder hingestellt, als jemand sie hinten an ihrem T-Shirt packte und in die Luft hob.

»Verfluchte Nervensäge!«, fauchte Mr Kamal ihr ins Ohr. »Wie bist du hier reingekommen?«

Aliya zappelte sich frei und landete mit dem Hintern auf dem Fußboden.

»Fassen Sie mich nie wieder an«, fauchte sie zurück. »Sonst wird es Ihnen noch leidtun.«

Während sie sprach, wechselten Mr Kamals gelbe Augen die Farbe und begannen rot zu glühen wie die eines Dämons. Aliya wich auf allen vieren zurück, bis sie nicht mehr weiterkam.

»Das reicht«, sagte eine vertraute Stimme.

Geddo kam herein, die Stirn gerunzelt, die Haare windzerzaust.

»Er ist gar kein Mensch!«, schrie Aliya, als er sie hochzog und an sich drückte. Sie versuchte sich umzudrehen, aber Geddo hielt sie fest.

»Als du in das Arbeitszimmer eingedrungen bist, wurde ein Alarm ausgelöst. Was hast du hier zu suchen? Und wie bist du hereingekommen?«

Aliya versuchte, sich aus seinem Griff zu winden. »Seine Augen … Er ist ein Dämon oder so was! Hat er dich verzaubert? Hält er uns gefangen?«

»Er untersteht meinem Befehl«, erwiderte Geddo. »Pass auf.« Er ließ sie los und wandte sich zu dem Butler. »Kamal! Schrumpfe.«

Mit indignierter Miene begann der Butler zu schrumpfen, bis er nur noch so groß wie ein Apfel war. Dann wuchs er langsam wieder, wie die Dschinns in Geddos Gutenachtgeschichten.

»W-was?«, stammelte Aliya. »Ist er wirklich ein …«

»Dschinn, ja.« Geddo seufzte. »Es gibt da ein paar Dinge, die ich dir nicht erzählt habe.«

Aliyas Angst ließ nach, und ein anderes Gefühl loderte in ihr auf.

»Meine Eltern waren Zeitreisende? Gibt es so was überhaupt?« Sie schüttelte den Kopf und wies wütend auf Mr Kamal. »Er weiß das. Ihm hast du es gesagt, aber mir nicht, dabei bin ich deine …« Ihr versagte die Stimme.

»Hättest du bloß getan, was ich dir gesagt habe«, brummte Geddo, »und wärst in deinem Zimmer geblieben.«

»In meinem Zimmer? Soll das ein Witz sein?!«

Geddo sah auf seine Taschenuhr und rückte seinen Tarbusch aus rotem Filz gerade.

»Ich kann es dir jetzt nicht erklären«, sagte er mit ernster Miene. »Wir müssen dich in Sicherheit bringen.«

Geddo wandte sich zu Mr Kamal. »Mein Informant hat mir eben mitgeteilt, dass der Rat auf dem Weg hierher ist. Sie dürfen sie nicht finden.« Er deutete auf Aliya. »Wir wechseln zum nächsten Versteck.«

»Was ist denn los?«, rief Aliya. »Wer sind diese Leute? Und warum müssen wir uns verstecken?«

Doch Geddo antwortete nicht.

»Geh und hol das Auto«, befahl er dem Butler. »Wir treffen uns unten. Los, schnell!«

Mr Kamal war gerade zur Tür hinaus, als mit einem Knall das Fenster des Arbeitszimmers aufflog und ein Fuß in einem blutroten hochhackigen Schuh darin auftauchte.

4

Verrat

Versteck dich«, rief Geddo. Er zog Aliya zum Schreibtisch und versuchte, sie darunterzuschieben, doch sie sträubte sich.

»Erst wenn du mir sagst –«

»Runter mit dir!«

Sie wollte erneut protestieren, aber Geddo wirkte so alarmiert, dass sie gehorchte und unter den Tisch kroch. Als sie vorsichtig darunter hervorspähte, sah sie, wie eine ältere Dame in einem Kostüm zum Fenster hereinkletterte.

Nach einer kurzen uneleganten Verrenkung, weil ihr Absatz im Rahmen hängengeblieben war, landete die Dame im Zimmer. Ihr Haar war zu einem perfekten Bob geschnitten, und obendrauf saß ein roter Hut, der zu ihren langen, spitzen Fingernägeln passte. Sie erinnerte Aliya an die glamourösen Stars in den alten Schwarz-Weiß-Filmen – nur dass diese Dame eindeutig in Farbe war.

»Überrascht, mich zu sehen?«, fragte sie Geddo.

»Gigi Hanem«, sagte er, plötzlich ganz ruhig. »Ich wusste, dass der Rat jemanden schicken würde, aber mit dir hatte ich nicht gerechnet. Ich dachte, du kämst nie in das einundzwanzigste Jahrhundert?«

»Es ist so ein ordinärer Ort.« Die Dame blickte sich um. »Aber dies ist ein Notfall, wie du ganz genau weißt. Gestern haben wir einen anonymen Brief bekommen, in dem stand, wo du dich versteckst. Inspektor Prickly hätte dich gerne selbst verhaftet, aber da ich deine Schwester bin, hat er mir gestattet, dich unauffällig zu ihm zu bringen. Wusstest du, dass seine Polizeiroboter mittlerweile Elektroschocker in den Fingerspitzen haben?«

Aliya erstarrte. Seine Schwester? Geddo hatte immer gesagt, sie hätten keine weiteren Verwandten. Sie spürte, wie sein Fuß sie weiter nach hinten schob. Ihr Nacken kribbelte. Warum sollte sie sich vor der Schwester ihres Großvaters verstecken?

»Wenn es um das Familienportal geht«, sagte Geddo, »dafür gibt es eine vollkommen vernünftige Erklä–«

»Ach ja?«, unterbrach Gigi ihn. »Was könnte vernünftig daran sein, unser Familienportal in die Luft zu jagen?« Sie schüttelte den Kopf, dass ihre Filmstarfrisur ins Wackeln geriet. »Wegen deiner Eskapaden steht unsere Familie unter Beobachtung! Ich musste ein öffentliches Portal benutzen, um hierherzukommen. Und ich brauchte eine Sondererlaubnis, um meinen eigenen Portalschlüssel zu verwenden. Hast du eine Vorstellung, wie erniedrigend das war?«

Die Art, wie sie »öffentlich« gesagt hatte, dachte Aliya, klang, als hätte man ihr gegrillte Ratten zum Mittagessen vorgesetzt. Was war ein Portal? Und warum hatte Geddo es zerstört? Das Ganze kam ihr vor wie ein kurioser Traum, dabei war sie hellwach.

»Es ist höchste Zeit, dass unsere Familie der Welt der Zeitreisenden den Rücken kehrt«, erwiderte Geddo. »Wie ich dir schon mehrfach geschrieben habe. Ich hatte gehofft, dass man mich wegen der Zerstörung des Portals verbannen würde.«

»Den Rücken kehren?! Verbannen?« Gigi schloss die Augen und massierte ihre Nasenwurzel, als hätte sie plötzlich starkes Kopfweh. »Du bist also tatsächlich verrückt geworden. Ich hatte schon entsprechende Gerüchte gehört, aber ich wollte es nicht glauben. Mein Bruder, der hochgeschätzte Captain Sultan, Befehlshaber des Infinitum-Korps, schleicht durch schmuddelige Gassen in der Kairoer Altstadt, auf der Suche nach einem sagenumwobenen magischen Laden und einem Zauberer, der es angeblich auf unsere Familie abgesehen hat?«

Während sie sprach, wanderten Gigis makellos geschwungene Augenbrauen immer weiter nach oben, bis sie unter ihrer Hutkrempe verschwanden.

»Es ist nicht nur eine Sage«, widersprach Geddo mit bebenden Nasenflügeln. »Der Laden – Das Alte Übel – existiert, und er ist das Zentrum alles Bösen. Mein Dschinn kann das aus erster Hand bezeugen. Er hat einhundertzweiundfünfzig Jahre dort zugebracht, eingesperrt in eine Keksdose.«

»Ein Dschinn in einer Keksdose?« Gigi schnaubte. »Ich sehe schon, du brauchst wirklich Hilfe. Die Trauer bringt deinen armen, müden Verstand dazu, sich Dinge einzubilden. Auch wir trauern um Farid und Nabila, aber das ist jetzt sechs Jahre her. Du solltest wirklich die Hilfe in Anspruch nehmen, die wir dir angeboten haben …«

»So weit kommt’s noch, dass mir irgendein Idiot im Kopf herumpfuscht!«, entgegnete Geddo scharf. »Mein Sohn ist tot, meine Schwiegertochter auch … und die kleine Aliya. Daran wird irgendeine verdammte Behandlung auch nichts ändern.«

Aliya hob ruckartig den Kopf und stieß von unten gegen die Schreibtischplatte.

Hatte Geddo seiner Schwester gerade gesagt, dass sie, Aliya, zusammen mit ihren Eltern gestorben war?

»Mach es bitte nicht komplizierter als nötig«, sagte Gigi. »Wir müssen deinen … Geisteszustand überprüfen, begreifst du das nicht?« Sie zog ein Stück Papier aus ihrer Handtasche und fuchtelte ihm damit vor der Nase herum. »Ich habe einen anonymen Brief bekommen, und darin steht, dass dieses Mädchen, deine Enkelin, von der du behauptest, dass sie damals bei dem Brand gestorben ist, in Wirklichkeit noch lebt und dass du sie großgezogen hast. Es war sogar ein Foto dabei.« Sie kramte erneut in ihrer Handtasche. »Bitte. Da seid ihr beide beim Backgammon.«

Einen Moment lang herrschte Stille. Aliya rauschte das Blut in den Ohren.

»Ach ja«, sagte Geddo schließlich. »Das hatte ich wohl vergessen zu erwähnen.«

»Vergessen zu erwähnen?« Gigi starrte ihn an. »Du hast vergessen zu erwähnen, dass unsere einzige Nachfahrin überlebt hat?«

»Nun ja, die Sache ist die.« Geddo räusperte sich. »Sie ist für die Aufgabe nicht geeignet. Ich habe versucht, sie zu unterrichten, aber als ich gemerkt habe, dass sie … Schwierigkeiten hatte, sah ich keine Notwendigkeit, dir von ihr zu erzählen. Damit du dir keine falschen Hoffnungen machst, verstehst du?«

»Willst du damit sagen, dass unsere einzige Hoffnung für die Zukunft eine … Versagerin ist?« Gigi schnaubte. »Du bluffst.«

»Ich könnte dir den Brief von ihrem letzten Nachhilfelehrer zeigen«, erwiderte Geddo. »Aber dafür brauchen wir Geduld und Klebstoff. Sie hat daraus nämlich Origami-Kraniche gebastelt. Sehr hübsch. Immerhin wissen wir jetzt, dass es etwas gibt, wofür sie Talent –«

»Schluss jetzt!«

Aliya kroch unter dem Schreibtisch hervor und baute sich vor ihrem Großvater auf. Ihre Knie waren staubig, und von dem Rumser tat ihr der Kopf weh, aber das kümmerte sie nicht.

»Du hast behauptet, ich wäre tot?«

Geddo sah sie mit undurchdringlicher Miene an. Nie im Leben wäre sie auf die Idee gekommen, dass er sich für sie schämte. Und zwar so sehr, dass er ihrer einzigen anderen Verwandten nicht gesagt hatte, dass sie noch lebte! Sie suchte nach der Verbindung, die es immer zwischen ihnen gegeben hatte, aber er wandte den Kopf ab und zuckte nur die Achseln. Es war, als hätte jemand einen Eimer Eiswasser über sie geschüttet.

»Das ist dann ja wohl der Beweis«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Dass du und ich … dass ich nie ein … Zuhause gehabt habe.« Sie biss sich auf die Lippen. »Weißt du was? Ich will gar nicht mehr, dass du mein Großvater bist!«

Einen Moment lang meinte Aliya Schmerz in Geddos Gesicht zu sehen – die Maske bekam einen Riss, und der alte, sanfte Mann, den sie gekannt hatte, schaute hervor, doch dann verschwand er wieder.

Gigi kam mit klackernden Absätzen auf sie zu, fasste Aliya am Kinn und musterte sie eingehend. Aliya sah Erkennen in ihrem Blick, und ihre strenge Miene wurde ein wenig weicher.

»Du hast die Sultan-Nase«, sagte sie leise. »Und dein Haar … genauso störrisch wie das von deinem Vater. Die Familie Sultan hat eine Erbin.« Mit feuchten Augen wandte Gigi sich zu Geddo, und ihre Miene wurde wieder streng.

»Du wusstest, in was für einer schwierigen Lage wir waren, ohne jemanden, der das Vermächtnis fortführen kann, und trotzdem hast du gelogen und sie versteckt.« Gigi schüttelte den Kopf. »Anstatt sie anzuleiten und auszubilden, bist du wie ein Besessener kreuz und quer durchs Land gezogen, um einen Feind zu suchen, der nur in deinem Hirn existiert! Wenn du auch nur ein bisschen Verstand besäßest, hättest du sie darauf vorbereitet, ihre Pflicht zu tun! Ihre Eltern hätten es so gewollt, das weißt du genau!«

Aliya sah, wie Geddo bei der Erwähnung ihrer Eltern zusammenzuckte, als hätte er eine Ohrfeige bekommen.

»Ich weiß nicht, was du damit bezweckst, sie zu verstecken«, fuhr Gigi fort. »Aber damit ist jetzt auf jeden Fall Schluss. Das Mädchen kommt mit mir ins Infinitum, und dann sehen wir, ob sie geeignet ist oder nicht.«

»Gigi, hör mir zu!« Geddo trat auf seine Schwester zu und sah sie eindringlich an. »Ich wusste von Anfang an, dass mit dem Tod von Farid und Nabila etwas nicht stimmte. Nach dem Brand gab es Spuren in ihrer Wohnung – Spuren von Magie. Der Rat wollte natürlich nichts davon hören. Sie haben getan, was sie immer tun: den Kopf in den Sand gesteckt. Also habe ich selbst nachgeforscht. Und vor einem Monat hat mich meine Suche endlich zum magischen Laden geführt – und zu ihm. Er ist quicklebendig und führt den Laden jetzt.«

Während Geddo sprach, verzerrte sich sein Gesicht, in seinen Mundwinkeln bildete sich Schaum, und seine Nasenflügel blähten sich. Aliya erschrak. Was war mit ihm los? Er sah aus, als wäre er wahnsinnig geworden.

»Wen meinst du?«, fragten Gigi und Aliya wie aus einem Mund.

»Dorian Darke.« Geddo spuckte den Namen aus wie etwas Giftiges. »Er hat mich verhext.« Er deutete auf sein verzerrtes Gesicht. »Damit ich seine finsteren Pläne nicht verraten kann.«

»Was redest du denn da für einen Unsinn!«, sagte Gigi. »Wir waren damals doch alle bei Dorians Beerdigung.« Ihre Stimme bekam etwas Flehendes. »Du hast ihn zusammen mit den anderen zu Grabe getragen! Soll das heißen, du hast seinen Geist gesehen?«

Nun verstand Aliya endlich, warum ihr Großvater in den letzten Wochen ständig fort gewesen war. Er hatte jemanden namens Dorian Darke gesucht.

Jemanden, der tot war.

»Er lebt, Gigi!« Geddo packte seine Schwester grob an den Armen. »Er war die ganze Zeit über am Leben und hat finstere Pläne gegen uns geschmiedet. Er hat ein Heer aus verfluchten Teekannen und Porzellanfiguren und Schränken aufgestellt. Deshalb müssen wir uns von der Welt der Zeitreisenden fernhalten – zumindest fürs Erste. Noch habe ich nicht genug Beweise, um ihn zu überführen, aber sobald ich ein Team habe, kann ich ihn mit seinen eigenen Waffen schlagen. Ich kann –«

»Schluss jetzt.« Gigi entwand sich seinem Griff und wich zurück. Sie nahm ein kleines weißes Kästchen aus ihrer Handtasche, zielte damit auf Geddo und drückte auf einen Knopf. Plötzlich war die ganze Atmosphäre elektrisch aufgeladen. Draußen vor dem offenen Fenster erklang ein Summen, das immer lauter wurde. Kurz darauf kam ein Schwarm schlanker weißer Drohnen ins Zimmer geflogen. Unter vielstimmigem Sirren und Klicken entfalteten sie sich zu schlaksigen Robotern, die sich Gigi zuwandten.

»Die hat Prickly mir mitgeschickt«, sagte sie. »Für den Fall, dass es … Schwierigkeiten gibt.«

Doch bevor Gigi den Robotern einen Befehl geben konnte, zog Geddo einen eiförmigen Gegenstand aus seiner Tasche und schleuderte ihn auf den Boden. Das Ding zerbrach und verströmte eine sich rasch ausbreitende Wolke, die nach schmutzigen Windeln stank und alles in einen dichten pinkfarbenen Nebel hüllte.

Aliya spürte, wie ihr Großvater sie mit seinen starken Armen ergriff und zur Tür des Arbeitszimmers zog.

»Schnappt ihn euch!«, befahl Gigi den Polizeirobotern durch den Nebel.

Aliya wehrte sich und schlug mit Fäusten auf ihren Großvater ein. Vor ihr öffnete sich die Tür, die zum Rest der Wohnung führte, und er versuchte, sie hindurchzuzerren. Sie sträubte sich und klammerte sich an den Türrahmen, obwohl sie vor lauter Tränen und Nebel kaum etwas sehen konnte. Dann spürte sie, wie andere Arme, schlank und aus Metall, Geddos kräftigen Körper packten. Er kämpfte wie ein verletzter Bär, aber die Roboter hatten ihn bald überwältigt. Innerhalb von Sekunden war er in einem Netz aus Lassos gefangen.

Als der Nebel sich auflöste, fand Aliya ihren Großvater hilflos auf dem Boden vor, unfähig, sich zu rühren. Ihr erster Impuls war, ihn zu befreien, doch stattdessen sah sie reglos zu, wie er von den Robotern aus dem Fenster gehievt wurde und seine Beine in der Dunkelheit verschwanden.

»Kind!«, rief Geddo über seine Schulter.

In seinen Augen funkelte etwas Eigentümliches, das Aliyas Blut zu Eis erstarren ließ. Er war nicht der alte Mann, den sie zu kennen geglaubt hatte. Er war ein Unbekannter mit einer Vergangenheit, über die sie nichts wusste.

»Er wird zu dir kommen. Du bist diejenige, die er haben will, aber hör nicht auf das, was er sagt!« Verzweifelt versuchte er, sich den Armen zu entwinden, die ihn festhielten. »Du darfst ihm nichts glauben –«

»Geddo!« Aliya stürzte zum Fenster, doch es war zu spät.

Es fiel mit einem Klicken zu, und dann war alles still.

5

Eine überraschende Wendung

Mir blieb nichts anderes übrig.« Gigi rückte ihren Hut zurecht, dann tätschelte sie kurz Aliyas Wange. »Deinem Großvater geht es nicht gut, verstehst du? Er braucht Hilfe.«

Aliya stand verloren mitten im Raum und sah immer noch den zappelnden Geddo vor sich. In ihrem Kopf pochte es. Das ergab alles keinen Sinn. Erst hatte er ihre Existenz geheim gehalten, weil er sich für sie schämte, und dann hatte er verzweifelt versucht, sie zu beschützen. Aber vor jemandem, der tot war? Der ein Heer aus verfluchten Teekannen und Schränken aufgestellt hatte?

»Reiner Irrsinn.« Gigi seufzte. »Oder ein schwerer Fall von Zeitsprungfieber, was aber meist auf dasselbe herauskommt, wenn es nicht behandelt wird.«

»Wohin haben sie ihn gebracht?«, fragte Aliya. »Was machen sie mit ihm?« Sie versuchte, den dicken Kloß in ihrem Hals hinunterzuschlucken, und starrte auf eine Stelle des Teppichs. Wenn sie nicht aufpasste, würde sie fürchterlich anfangen zu heulen.

»Im Infinitum gibt es eine hervorragende psychologische Beratung und erstklassige Behandlungsmöglichkeiten. Man wird sich gut um ihn kümmern.«

Gigi blickte sich im Arbeitszimmer um, als ob sie etwas suchte. »Es ist höchste Zeit aufzubrechen. Wo ist denn diese verflixte Assistentin mit meinem Schlüssel? Esmat!«

Aliya schnappte nach Luft, als wie aus dem Nichts eine Brille mit schwarzem Gestell erschien, gefolgt von zwei schmalen Händen, die eine Aktentasche hielten. Schließlich zeichnete sich eine zierliche junge Frau mit braunem, leicht gelocktem Haar vor ihr ab. Ihre ganze Gestalt schien ein wenig zu leuchten, als hätte sie eine LED-Lampe verschluckt.

»T-Tut mir leid«, stotterte sie und deutete auf ihre Beine, die noch fehlten. »Zeugin Ihres Familiendramas zu sein, hat mich unsichtbar gemacht. Das passiert mir immer, wenn ich nervös werde.«

Gigi wies auf die leuchtende Frau. »Aliya, das ist Esmat, meine Dschinnassistentin – wenn ich sie denn finde …«

Aliya schaffte es, Esmats Lächeln zu erwidern, schlang jedoch die Arme um sich, um ihr Zittern zu unterdrücken.

»Nun, dann wollen wir mal schauen.« Gigi musterte Aliya von oben bis unten. »Ich nehme an, wenn sie ein bisschen größer ist, sieht sie nicht mehr so …Wie sagt man noch gleich?«

»Verdattert?«, schlug Esmat vor. »Sie sieht ein wenig verdattert aus.«

»Ich meine wild. Sie sieht aus, als käme sie direkt aus der Wildnis. Sieh dir nur ihr Haar an, und diese Nägel – puh …« Gigi fächelte sich Luft zu, als würde sie schon bei dem Gedanken an Aliyas Ungepflegtheit in Ohnmacht fallen. »Und was hat sie bloß an? Jetzt weiß ich wieder, warum ich diese Zeit so selten aufsuche.«

Aliya blickte an sich hinunter. Sie trug enge Jeans, ein T-Shirt, auf dem ein Falafelsandwich mit Sonnenbrille abgebildet war, und SpongeBob-Flipflops, alles ziemlich zugestaubt.

»Ich finde sie hübsch«, sagte Esmat. »Sehen Sie sich doch nur diese dunkelbraunen Augen und diese Locken an. Sie ist ihrem Großvater sehr ähnlich. Es heißt, er wäre als junger Mann sehr attraktiv gewesen und hätte sogar mit Kleopatra geflirtet –«

»Unsinn.« Mit angewiderter Miene inspizierte Gigi eine Strähne von Aliyas zerzaustem Haar.

»So kann sie auf keinen Fall das Infinitum betreten. Sie ist eine Sultan, und so sollte sie auch aussehen.« Sie wandte sich zu Esmat. »Mach so schnell wie möglich einen Termin im Badehaus und sag der Schneiderin, dass sie auch dorthin kommen soll.«

»Wohin denn?« Aliya blickte von Gigi zu Esmat. »Und was ist das Infinitum?«

»Die größte Zeitreisezentrale der Welt«, sagte Esmat stolz. »Nicht die einzige, aber die älteste und größte.«

»Es stimmt also?«, fragte Aliya mit großen Augen. »Ihr seid wirklich Zeitreisende?«

»Natürlich.« Gigi nahm ihren Lippenstift aus der Tasche. »Esmat, erkläre es ihr!«

»Nun«, sagte Esmat, »um es kurz zu machen: Du bist furchtbar spät dran und sehr schlecht vorbereitet. Die anderen Schüler haben bereits mit dem Unterricht begonnen. Uns bleibt kaum Zeit, dich einzuweisen, aber wir müssen uns an die Vorschriften für Novizen halten. So steht es in den Regeln.«

Den letzten Satz flüsterte sie, als hätten die Regeln sich versteckt und könnten jederzeit hervorspringen und sie beißen.

Aliya betrachtete das Arbeitszimmer und den Rest der tristen Wohnung. Wenn sie hierblieb, würde sie ganz allein sein – diesmal tatsächlich. Und selbst wenn Geddo zurückkam, würde nichts mehr so sein wie zuvor. Er war nicht der, für den sie ihn gehalten hatte. Und wie konnte sie bei jemandem bleiben, der sie für nutzlos hielt? Der behauptet hatte, sie wäre tot? Plötzlich fühlte sie sich ganz hohl, als könnte der leiseste Windstoß sie wegpusten. Es war alles zu viel. Sie starrte auf das Durcheinander aus umgekippten Stühlen und zerbrochenem Porzellan, das Geddos Kampf mit den Robotern hinterlassen hatte, und in ihrem Kopf wirbelte alles durcheinander. Was war aus ihrem Zuhause geworden?

Ihr Blick fiel auf das Foto ihrer Eltern auf dem Kaminsims. Hätten sie sie auch für nutzlos gehalten? Oder gehörte sie vielleicht gar nicht hierher, zu Geddo, sondern zu ihrer Welt?

Als hätte sie ihre Gedanken gelesen, legte Esmat ihr die sanft leuchtende Hand auf die Schulter.

»Komm, Liebes. Du gehörst jetzt zu uns.«

Zugehören. Das Wort schimmerte einen Moment vor Aliyas innerem Auge, und als sie diese eigentümliche neue Verwandte ansah, ihre Großtante, erschien sie ihr mit einem Mal wie ein Leuchtfeuer der Hoffnung. Ein sehr großes, streng dreinblickendes Leuchtfeuer, aber im Vergleich zu der gähnenden Leere der dunklen Wohnung gar nicht mal so schlecht.

»Also gut«, sagte sie. »Ich mach’s. Ich komme mit.«

»Natürlich.« Gigi griff nach ihrer Handtasche. »Geeignet oder nicht, du musst deine Pflicht erfüllen. Das ist entschieden worden.«

»Meine Sachen«, sagte Aliya. »Muss ich denn nichts mitnehmen?«

Gigi warf einen Blick auf Aliyas T-Shirt mit dem Falafelsandwich und ihre SpongeBob-Flipflops. Sie schüttelte den Kopf. »Alles, was du brauchst, gibt es in der Zitadelle, und als deine Großtante werde ich alle anfallenden Ausgaben übernehmen. Und jetzt komm.«

6

Das Infinitum

Großtante Gigi nahm den silbernen Schlüssel, den Esmat ihr gegeben hatte, und steckte ihn in das kleine Schloss an dem Fenster, durch das sie hereingekommen war. Aliya sah, dass im Griff des Schlüssels ein kleiner, makellos weißer Stein steckte, gehalten von einer silbernen Fassung in Form eines Adlers.