All die Farben, die ich dir versprach - Zoulfa Katouh - E-Book

All die Farben, die ich dir versprach E-Book

Zoulfa Katouh

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Beschreibung

Die junge Salama lebt inmitten der syrischen Revolution in Homs. Sie hilft im Krankenhaus aus, muss dort aber oft hilflos zusehen, wie Menschen sterben. Während ihr Land zerbricht, sucht sie fieberhaft nach Möglichkeiten, Syrien zu verlassen. Auch um ihre schwangere Schwägerin Layla, die einzige Überlebende ihrer Familie, in Sicherheit zu bringen. Im Krankenhaus lernt Salama den jungen furchtlosen Kenan kennen. Die beiden verlieben sich, doch Kenan will bleiben und mit Internetvideos auf das Leid in seinem Land aufmerksam machen. Salama muss sich entscheiden: zwischen Sicherheit und ihrer großen Liebe.

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Über dieses Buch

Berührend, schonungslos und voller Hoffnung

 

Salama lebt inmitten der syrischen Revolution in Homs. Ihr Pharmaziestudium hat sie nicht darauf vorbereitet, im Krankenhaus Leben zu retten – und so viele Menschen sterben zu sehen. Von ihrer Familie ist ihr nur noch ihre hochschwangere Schwägerin und beste Freundin Layla geblieben. Um sie in Sicherheit zu bringen, sucht Salama fieberhaft nach Möglichkeiten, Syrien zu verlassen. Dann lernt sie im Krankenhaus den furchtlosen Kenan kennen. Die beiden verlieben sich, doch Kenan will bleiben, da er mit Videos vom Bürgerkrieg auf das Leid in seinem Land aufmerksam macht. Hin- und hergerissen zwischen der Sehnsucht nach Sicherheit und ihrer großen Liebe, muss Salama sich entscheiden: Wird sie bleiben oder fliehen?

 

Eine erschütternde Geschichte über Krieg, Verlust, Familie und Liebe … Ein absolutes Must Read.

Sabaa Tahir, Autorin der »Elias & Laia«-Reihe

Liebe Leserin, lieber Leser,

 

dieses Buch enthält einige Passagen, die für manche Menschen möglicherweise triggernd wirken können.

 

Schau gern auf die letzte Seite, dort findest du eine Auflistung der potenziell triggernden Themen in diesem Buch. Um Spoiler zu vermeiden, steht der Hinweis hinten im Buch.

 

Für Hayao Miyazaki, der meine Fantasie beflügelte.

 

Für Ali Al-Tantawi, der meine Fantasie revolutionierte.

 

Für alle Menschen aus Syrien, die ihr Land geliebt, dafür gelebt und es verloren haben. Eines Tages kommen wir zurück nach Hause.

 

Jeder Zitronenbaum bekommt ein Kind,

und die Zitronen werden niemals sterben.

 

Nizar Qabbani

1

Drei verschrumpelte Zitronen und eine Tüte Fladenbrot, eher trocken als schimmlig, liegen nebeneinander. Mehr hat der Supermarkt nicht im Angebot.

Meine müden Augen starren einen Moment vor sich hin, ehe ich beides vom Regal nehme. Mit jeder Bewegung schmerzen meine Glieder. Noch einmal gehe ich an den verstaubten, leeren Regalen entlang, in der Hoffnung, etwas übersehen zu haben. Doch alles, was ich spüre, ist ein starkes Gefühl von Nostalgie. Die Erinnerung an damals, als mein Bruder und ich nach der Schule zu diesem Supermarkt geeilt sind und bergeweise Chips und Gummibärchen gekauft haben. Dann denke ich an Mama, wie sie ihren Kopf geschüttelt hat und ihr Lächeln unterdrücken musste beim Anblick der geröteten Gesichter und strahlenden Augen ihrer Kinder, die versuchten, ihre Beute in ihren Rucksäcken zu verstecken. Sie streichelte uns übers Haar und …

Ich schüttle meinen Kopf.

Genug.

Nachdem ich mich versichert habe, dass die Regale nun tatsächlich völlig leer sind, schlurfe ich zur Kasse und bezahle die Zitronen und das Brot mit ein paar Dinaren aus Babas Ersparnissen, die er vor jenem schicksalshaften Tag noch abheben konnte. Der Besitzer des Ladens, ein Mann um die sechzig, lächelt mich mitfühlend an und gibt mir mein Wechselgeld.

Vor dem Supermarkt erwartet mich ein Bild der Verwüstung. Es erschreckt mich nicht mehr. Längst habe ich mich an dieses Grauen gewöhnt, aber es verstärkt dennoch die Angst in meiner Seele.

Zerstörte Straßen, zu Schotter zerbombter Asphalt. Graue Gebäude, ausgehöhlt und verfallen, als versuche die Natur zu beenden, was die Bomben des Militärs begonnen haben. Chaos und absolute Zerstörung.

Die Sonne hat allmählich die letzten Reste des Winters weggeschmolzen, trotzdem ist es noch kalt. Der Frühling als Symbol für allen Neuanfang hat es nicht ins erschöpfte Syrien geschafft. Am wenigsten in meine Heimatstadt, Homs. Zwischen Tod und Trümmern ist das Elend allgegenwärtig. Nur die Hoffnung in den Herzen der Menschen bietet noch Widerstand.

Am Himmel senkt sich die Sonne langsam und sagt Gute Nacht, wobei die Himmelsfarben von Orange in ein tiefes Blau gleiten.

Gänseblümchen, Gänseblümchen, süße, süße Gänseblümchen, murmle ich vor mich hin.

Vor dem Supermarkt stehen ein paar Männer beieinander, ihre Gesichter sind eingefallen und ausgemergelt, doch ihre Augen glänzen. Als ich an ihnen vorbeigehe, schnappe ich ein paar Fetzen ihres Gespräches auf, bleibe jedoch nicht stehen. Ich weiß genau, worüber sie reden. Worüber alle reden seit über neun Monaten.

Schnell gehe ich weiter, will nicht zuhören. Ich weiß, dass der Militärangriff auf uns ein Todesurteil bedeutet. Dass unsere Nahrungsvorräte versiegen und wir verhungern werden. Ich weiß, dass uns die Medikamente im Krankenhaus jeden Moment ausgehen werden. Ich weiß das, weil ich heute Operationen ohne Betäubung durchgeführt habe. Menschen sterben an ihren Verletzungen und Infektionen, und ich habe keine Möglichkeit, ihnen zu helfen. Und ich weiß auch, dass uns ein Schicksal weit schlimmer als der Tod erwartet, wenn es der Freien Syrischen Armee nicht gelingen sollte, die Angriffe des staatlichen Militärs auf Homs zu stoppen.

Während ich meinen Heimweg fortsetze, kommt ein kalter Wind auf, und ich ziehe meinen Hijab enger um meinen Kopf. Ich kann die Tropfen getrockneten Bluts auf den Ärmeln meines Arztkittels sehen. Jedes Leben, dass ich während meiner Schichten nicht zu retten vermag, fügt meinem eigenen Blut einen weiteren Tropfen hinzu. Egal wie oft ich versuche, mir die Hände zu waschen – das Blut unserer Kämpfer dringt durch meine Kleidung in meine Haut, in meine Zellen, in meine eigene DNA.

Heute hallt außerdem noch der schrille Lärm der Knochensäge von der Amputation in mir nach, bei der Dr. Ziad mich assistieren ließ.

Siebzehn Jahre lang hat Homs mich großgezogen und meine Träume genährt: Ich wollte die Universität mit Auszeichnung abschließen und eine gute Stelle als Pharmazeutin im Zaytouna Krankenhaus antreten, ehe ich dann endlich reisen und die Welt sehen könnte.

Doch nur einer dieser Träume hat sich erfüllt und auch nicht in der Art, wie ich es mir gewünscht habe.

Vor einem Jahr hat sich die Revolution in unsere Nachbarländer ausgebreitet und auch wir in Syrien streckten die Hände nach der Hoffnung aus und forderten Freiheit. Der Staat antwortete, indem er die Hölle über uns hereineinbrechen ließ. Das Militär griff gezielt Krankenhäuser an, und Ärztinnen und Ärzte waren inzwischen so rar wie lautes Gelächter. Trotzdem fielen die Bomben weiter, und im Zaytouna Krankenhaus wurde jede helfende Hand benötigt. Selbst Verwaltungsmitarbeiterinnen wurden zu Krankenschwestern befördert. Als Pharmaziestudentin im ersten Jahr war ich quasi gleichgestellt mit einer erfahrenen Ärztin, und nachdem der frühere Pharmazeut unter den Trümmern seines Hauses begraben wurde, hatte niemand mehr eine Wahl, und ich musste seine Nachfolge antreten.

Es spielte keine Rolle, dass ich erst achtzehn Jahre alt war. Dass mein medizinisches Wissen beschränkt war auf das, was ich aus meinen Lehrbüchern kannte. Als der erste Schwerverletzte vor mir lag, den ich zu versorgen hatte, war alles andere egal. Der Tod ist der beste Lehrmeister.

In den letzten sechs Monaten habe ich bei mehr Operationen assistiert, als ich zählen kann, und habe mehr Menschen sterben sehen, als ich es mir je hätte vorstellen können.

Das kann einfach nicht mein Leben sein.

Der Anblick meines Heimwegs erinnert mich an die Schwarz-Weiß-Bilder in meinen alten Schulbüchern, die Deutschland oder London nach dem Zweiten Weltkrieg zeigen. Zerbombte Häuser, deren Innenleben aus Holz und Beton nach außen quillt wie Organe. Dazu der Geruch von verbrannten Bäumen.

Der kalte Wind zieht durch den dünnen Stoff meines abgetragenen Arztkittels und lässt mich zittern. Ich murmle: Mutterkraut. Sieht aus wie Gänseblümchen. Für die Behandlung von Fieber und Arthritis. Mutterkraut. Mutterkraut. Mutterkraut.

Endlich sehe ich mein Haus und atme erleichtert auf. Es ist nicht das Haus, in dem ich früher mit meiner Familie gelebt habe, sondern das Zuhause, das Layla mir gegeben hat, als Bomben das unsere zerstört hatten. Ohne sie würde ich auf der Straße leben.

Laylas Haus – unser Haus – ist ein kleines, einstöckiges Gebäude in einer Reihe identischer Häuser. Überall sind Einschusslöcher in den Wänden, die aussehen wie ein Kunstwerk des Todes. Die Häuser stehen still, traurig und allein da. Unser Viertel ist eines der wenigen, das noch halbwegs verschont geblieben ist von den Bomben. In anderen Teilen der Stadt schlafen die Menschen unter Geröll oder auf der Straße.

Das Schloss ist rostig und knarzt, als ich den Schlüssel umdrehe. »Ich bin wieder da!«, rufe ich.

»Hier hinten!«, antwortet Layla.

Layla und ich haben gemeinsam das Licht der Welt erblickt, da unsere Mütter sich ein Krankenzimmer teilten. Sie ist meine beste Freundin, mein Fels in der Brandung, und weil sie sich in meinen Bruder Hamza verliebte, ist sie nun auch meine Schwägerin.

Und heute, nach allem, was passiert ist, habe ich auch die Verantwortung für sie, denn sie ist die einzige Familie, die ich noch habe.

Als Layla dieses Haus zum ersten Mal sah, war es Liebe auf den ersten Blick, und Hamza hat es sofort für sie gekauft. Mit seinen zwei großen Zimmern war es perfekt für ein frisch verheiratetes Paar. Sie malte grüne Weinreben an eine Wand, lila Lavendelblüten an eine andere und legte die Wohnung mit dicken Teppichen aus, die wir gemeinsam im Bazar gekauft hatten. Die weißen Küchenwände hoben sich von den Regalen aus Walnussholz ab, auf die sie ihre selbst designten Kaffeetassen platzierte. In jeder Ecke des Wohnzimmers lagen damals Laylas Mal- und Bastelsachen. Papier mit ihren farbigen Fingerabdrücken, Pinsel und Malkästen überall. Wenn ich zu Besuch kam, lag sie oft auf dem Boden neben ihrer Staffelei, starrte an die Decke und sang eines der alten arabischen Lieder, die sie so liebte. Das Haus war zu dieser Zeit der Inbegriff von Laylas Seele.

Heute hat es seinen Glanz verloren. Die Farben sind verblasst, und es ist nur noch die graue Hülle eines Heims.

Als ich die Küche betrete und Layla auf der blumenbedruckten Couch liegen sehe, verfliegt meine Erschöpfung augenblicklich. Ich lege die Tüte mit dem Brot ab. »Ich mache mal die Suppe warm, möchtest du etwas?«

»Nein, danke«, antwortet sie. Im Gegensatz zu meiner eigenen klingt ihre Stimme stark und voller Leben – wie eine warme Decke aus Erinnerungen, die sich um mich legt. »Wie lief es mit dem Boot?«

Verdammt, denke ich und gebe vor, ganz und gar damit beschäftigt zu sein, die verwässerte Linsensuppe in einen Topf zu gießen und die Gasflamme des Herdes anzuzünden. »Sicher, dass du nichts möchtest?«

Layla setzt sich auf, wobei sich ihr blaues Kleid über ihren im siebten Monat schwangeren Bauch spannt. »Erzähl mir, wie es lief, Salama!«

Ich wende meinen Blick nicht von der Suppe ab und lausche der zischenden Gasflamme. Seit ich eingezogen bin, liegt mir Layla in den Ohren, im Krankenhaus mit Am zu sprechen. Sie hat gehört, dass viele Syrer in Deutschland Asyl bekämen. Auch ich kenne diese Geschichten. Einige meiner Patientinnen und Patienten haben es dank Am geschafft, über das Mittelmeer zu fliehen. Ich habe keine Ahnung, wie er die Boote findet, aber mit Geld geht ja bekanntlich alles.

»Salama!«

Ich seufze und teste mit dem Finger die Temperatur der Suppe. Sie ist gerade mal lauwarm, aber mein Magen grummelt so sehr, dass ich den Topf vom Herd nehme und mich mit meiner Schüssel neben Layla auf die Couch setze.

Sie schaut mich geduldig an, die Augenbrauen noch immer hochgezogen. Ihre ozeanblauen Augen sind so groß, dass sie beinahe ihr gesamtes Gesicht einnehmen. Mit ihrem goldbraunen Haar, ihrer hellen Haut und ihren Sommersprossen hat sie schon immer ausgesehen wie eine Herbstgöttin. Nicht einmal all die Zerstörung und das Leid um uns herum können ihre Schönheit mindern. Aber ich kann sehen, wie ihre Knochen inzwischen hervortreten und wie eingefallen ihre einst vollen Wangen sind.

»Ich habe ihn nicht gefragt«, sage ich schließlich, nehme einen Löffel Suppe und warte auf ihr Stöhnen.

Und es kommt auch sofort: »Warum? Wir haben das Geld von unserer Familie …«

»Ja, das Geld, mit dem wir überleben müssen, sobald wir dort sind. Wir wissen nicht, wie viel er verlangt. Und außerdem kennst du doch all die Geschichten!«

Sie schüttelt den Kopf und einzelne Haarsträhnen fallen ihr ins Gesicht. »Okay. Ja. Einige Leute kommen … nie an. Aber viele schaffen es doch! Salama, wir müssen eine Entscheidung treffen. Wir müssen hier weg. Bevor das Baby kommt.«

Ihr Wutanfall ist noch nicht vorbei. Sie schnauft. »Und wage es ja nicht, vorzuschlagen, ich soll ohne dich gehen! Entweder wir gehen zusammen, oder keine von uns geht. Ich werde nicht mutterseelenallein irgendwo im Nirgendwo sitzen und mich fragen, ob du überhaupt noch lebst. Niemals! Und wir können nicht zu Fuß in die Türkei laufen. Du hast es selbst gesagt.« Sie zeigt auf ihren schwangeren Bauch. »Ganz abgesehen davon, dass die Grenzpatrouillen und Scharfschützen überall rumlaufen wie die Ameisen. Sie werden auf uns schießen, sobald wir das Gebiet der Freien Syrischen Armee verlassen haben. Wir haben nur diese eine Möglichkeit. Wie oft muss ich dir das noch sagen?«

Ich räuspere mich. Die Suppe rinnt schwer meine Kehle herunter. Sie hat recht. Sie ist hochschwanger und keine von uns kann Hunderte Kilometer zu Fuß gehen, ohne dabei in den sicheren Tod zu rennen.

Ich stelle den Topf auf dem Couchtisch vor uns ab und starre auf meine Hände. Diese sind überzogen von einem kreuzförmigen Narbenmuster, das der Tod hinterlassen hat, als er mir das Leben nehmen wollte. Einige Narben sind silbrig und blass, andere noch frisch und gerötet, auch wenn das Fleisch bereits verheilt ist. Sie erinnern mich daran, schneller zu arbeiten, die Erschöpfung zu überwinden und noch mehr Leben zu retten.

Ich versuche, meinen Ärmel darüberzuziehen, doch Layla nimmt zärtlich meine Hand, und ich sehe zu ihr auf. »Ich weiß, warum du ihn nicht fragst. Und es ist nicht wegen des Geldes.«

Meine Hand zuckt unter ihrer zusammen.

Im Geiste höre ich Hamzas besorgte Stimme. Versprich es mir, Salama, versprich es mir!

Ich schüttele den Kopf und atme tief durch, um die Erinnerung loszuwerden. »Layla, ich bin die letzte Pharmazeutin in der gesamten Umgebung. Wenn ich gehe, wer hilft ihnen dann noch? All den weinenden Kindern, den Opfern der Scharfschützen, den verwundeten Männern?«

Sie krallt sich an ihrem Rock fest. »Ich weiß. Aber ich will dich nicht opfern.«

Ich öffne meinen Mund, um zu antworten, aber Layla stöhnt auf und schließt die Augen.

»Tritt dich das Baby?«, frage ich und rücke näher an sie heran. Ich versuche, meine Sorgen zu unterdrücken, schaffe es aber nicht. Seit der Besatzung sind Vitamine für Schwangere und Vorsorgeuntersuchungen eine Seltenheit geworden.

»Ein bisschen«, antwortet sie.

»Tut es weh?«

»Nein, es ist nur unangenehm.«

»Kann ich irgendwas tun?«

Sie schüttelt den Kopf. »Nein, alles okay.«

»Ich weiß genau, wenn du mich anlügst. Dreh dich um«, sage ich, und sie muss lachen, ehe sie meiner Anweisung folgt.

Ich massiere ihr die Schultern und spüre, wie die Anspannung langsam nachlässt. Unter ihrer Haut ist kaum mehr eine Fettschicht zu fühlen, und ich erschaudere jedes Mal, wenn ich ihre Schulterblätter und ihr Schulterdach berühre. Das ist … nicht richtig. Sie sollte nicht hier sein.

»Du kannst aufhören«, sagt Layla nach ein paar Minuten und lächelt. »Danke.«

Ich versuche, ihr Lächeln zu erwidern. »Berufskrankheit. Ich kann einfach nicht anders, als dich zu pflegen.«

»Ich weiß.«

Ich lege meine Hände auf ihren Bauch und kann fühlen, wie das Baby sich bewegt.

»Baby, ich hab dich echt lieb, aber du musst aufhören, deiner Mama wehzutun. Sie braucht Schlaf«, flüstere ich.

Layla lächelt noch breiter und tätschelt mir die Wange. »Du bist einfach zu süß, Salama. Eines Tages wird dich jemand vom Fleck weg heiraten und dich mir wegnehmen.«

»Heiraten? In dieser Situation?« Ich schnaufe und erinnere mich an das letzte Mal, als Mama sagte, eine Tante und ihr Sohn würden auf einen Kaffee vorbeikommen. Natürlich ist es nie zu dem Besuch gekommen. Die Aufstände begannen genau an diesem Tag. Doch ich weiß noch, wie aufgeregt ich wegen des angekündigten Besuchs war, wegen der Idee, mich vielleicht zu verlieben. Wenn ich heute zurückschaue, sehe ich ein vollkommen anderes Mädchen vor mir, ein Mädchen, das lediglich aussieht wie ich und mit meiner Stimme spricht.

Layla runzelt die Stirn. »Sei nicht so pessimistisch, es könnte doch noch passieren.«

Ihr empörter Gesichtsausdruck bringt mich zum Lachen. »Wenn du meinst.«

In manchen Dingen hat Layla sich nicht verändert. Als ich ihr damals am Telefon von dem geplanten Besuch erzählte, war sie innerhalb von einer Viertelstunde bei mir, eine riesige Tasche mit Kleidern und Make-up in der Hand und vor Freude quietschend.

»Zieh das hier an!«, hatte sie gerufen, nachdem sie mich in mein Zimmer geschubst und einen nachtblauen Kaftan aus ihrer Tasche gezogen hatte. Der dicke Stoff glitt sanft über ihren Arm. Der Saum war mit einem Goldfaden bestickt, ebenso wie der Gürtel um die Taille. Der Rock fiel hinab wie ein Wasserfall und erinnerte mich an den See aus Regen in Chihiros Reise ins Zauberland. Einfach zauberhaft.

»Dann trägst du noch den blauen Eyeliner auf, und er wird seine Mutter anbetteln, dich wiedersehen zu dürfen.« Sie zwinkerte mir lachend zu. »Blauer Eyeliner steht dir einfach fantastisch.«

»Oh, das weiß ich.« Ich zog meine Augenbrauen hoch. »Das ist das Gute daran, wenn man dunklere Haut hat.«

»Während ich aussehe wie ein Gespenst!« Sie tat so, als wischte sie sich Tränen von der Wange. Ihr Ehering glitzerte bei jeder Bewegung.

»Sei nicht immer so dramatisch, Layla«, lachte ich.

Sie lächelte verwegen und ihre blauen Augen begannen zu leuchten. »Stimmt. Hamza gefällt es. Sehr sogar.«

Ich hielt mir sofort die Ohren zu. »Igitt, nein! Das muss ich alles gar nicht wissen.«

Sie brach in lautes Gelächter aus, versuchte, meine Hände herunterzuziehen und mir noch mehr peinliche Details zu erzählen, aber vor lauter Gekicher brachte sie kaum einen Satz heraus.

Laylas Seufzen reißt mich aus meinen Erinnerungen.

»Es gibt noch mehr auf der Welt als das pure Überleben, Salama«, sagt sie.

»Ich weiß.« Unsere heitere Stimmung ist dahin.

Sie schaut mich eindringlich an. »Tatsächlich? Soweit ich das beurteilen kann, konzentrierst du dich ausschließlich auf das Krankenhaus, auf die Arbeit und auf mich. Aber du lebst nicht wirklich. Du denkst nicht darüber nach, warum diese Revolution tatsächlich stattfindet. Als wolltest du gar nicht daran denken.« Sie hält inne und fixiert mich mit ihrem Blick. Mein Mund wird ganz trocken. »Du wirkst so, als ginge dich all das gar nicht an. Aber ich kenne dich, Salama. Du weißt, dass es bei dieser Revolution darum geht, dass wir unser Leben zurückbekommen. Es geht um mehr als das bloße Überleben. Es geht darum, zu kämpfen. Wenn wir nicht hier kämpfen, werden wir es auch nirgendwo sonst tun. Selbst dann nicht, wenn du deine Meinung änderst und wir es nach Deutschland schaffen sollten.«

Ich stehe auf und zeige auf die traurige, abgeblätterte Farbe an den Wänden. Zeige ins Nichts. »Wofür kämpfen? Mit etwas Glück erwartet uns hier nur der Tod. Und das weißt du ganz genau. Entweder werden wir vom Militär verhaftet oder von einer Bombe getötet. Es gibt nichts, wofür es sich zu kämpfen lohnt, weil wir nicht kämpfen können. Niemand kommt uns zu Hilfe! Ich helfe im Krankenhaus aus, weil ich es nicht ertrage, Menschen sterben zu sehen. Aber mehr kann ich nicht tun.«

In ihrem Blick liegt kein Vorwurf, nur Mitgefühl. »Wir kämpfen, solange wir am Leben sind, Salama. Weil dies unser Land ist. Es ist das Land unserer Väter und Vorväter. Deine Geschichte ist eingeschrieben in diese Erde. Kein Land wird dich jemals so lieben wie dein Heimatland. Wir kämpfen für ein Leben, nicht fürs bloße Überleben.«

Ich spüre, wie Tränen in mir aufsteigen. Ihre Worte klingen wie die Texte in unseren Geschichtsbüchern, die wir in der Schule gelesen haben. Die Liebe zu unserem Heimatland liegt uns im Blut. Sie strömt durch unsere Nationalhymne, die wir jeden Morgen vor dem Unterricht gesungen haben. Damals waren es nur Worte, inzwischen sind sie zur Realität geworden.

Unsere Seelen sind rebellisch, unsere Geschichte leuchtet hell. Die Geister unserer Freiheitskämpfer schützen uns wie Engel.

Ich weiche ihrem Blick aus. Auf Schuldgefühle kann ich gerade wirklich verzichten. Davon habe ich selbst schon genug.

»Haben wir nicht schon genug verloren in diesem Krieg?«, frage ich traurig.

»Es ist kein Krieg, Salama. Es ist eine Revolution«, antwortet sie mit fester Stimme.

»Was auch immer.«

Ich drehe mich um, gehe in mein Zimmer und ziehe die Tür hinter mir zu. Endlich kann ich atmen. Alles, was mir wichtig ist – alles, was ich noch habe auf der Welt –, sind das Krankenhaus und Layla. Ich bin kein Unmensch. Andere leiden, und ich kann helfen. Es ist der Grund, warum ich Pharmazie studieren wollte. Ich will nur nicht darüber nachdenken, warum diese Menschen ins Krankenhaus kommen. Warum all das passiert. Das Warum ist schuld daran, dass Mama fort ist. Ich erinnere mich an ihre kalten Finger in meinen Händen. Das Warum hat Baba und Hamza Gott weiß wohin gebracht. Ich will nicht in der Vergangenheit leben. Ich will nicht klagen und weinen, dass meine Jugend von Hoffnungslosigkeit und Albträumen geprägt ist. Ich will überleben.

Ich will zu meiner Familie. Ich will einfach nur meine Familie zurück.

Selbst wenn Layla recht hat.

Ich ziehe mir den letzten Schlafanzug über, den ich noch besitze. Ein schwarzer Sweater und eine Baumwollhose. Darin könnte ich auch mitten in der Nacht noch fliehen, sollte es einmal nötig sein. Im Badezimmer ignoriere ich das müde Gesicht und die fahlen braunen Haare, die mir der Spiegel zurückwirft, und drehe aus purer Gewohnheit den Wasserhahn auf. Nichts. Seit Wochen gibt es in der Gegend keinen Strom und kein Wasser mehr. Zum Glück hat es letzte Woche geregnet, sodass Layla und ich Wasser in einem Eimer auffangen konnten. Sparsam schöpfe ich eine Handvoll ab, um mich für das Gebet zu waschen.

Der dunkle Mantel der Nacht hat sich inzwischen über Homs gelegt und in meinem Zimmer ausgebreitet. Meine Zähne klappern leicht, ehe ich die Lippen aufeinanderpresse und schlucke. Egal wie stark ich tagsüber sein kann – sobald die Sonne untergeht, ist es vorbei.

Ich sitze auf meinem Bett, schließe die Augen und atme tief ein. Ich muss mich sammeln. Muss mich auf etwas anderes konzentrieren als auf die Angst und den Schmerz in meiner Seele.

Süßes Steinkraut. Süß wie sein Name, murmle ich in der Hoffnung, dass meine Nerven sich beruhigen. Weiße Blütenblätter. Hilft gegen Schmerzen. Auch gegen Erkältung, Bauchschmerzen und Husten. Süß. Süß.

Es funktioniert. Meine Lunge gibt langsam und gleichmäßig Sauerstoff in mein Blut ab, ich öffne die Augen und schaue den dicken grauen Wolken vor meinem Fenster hinterher. Seitdem das Haus nebenan eine Bombe abbekommen hat, ist das Glas zersprungen und der Fensterrahmen abgesplittert. Als ich einzog, musste ich Blut von den Scheiben wischen.

Obwohl das Fenster geschlossen ist, zieht eine kalte Brise durch mein Zimmer, und ich zittere, weil ich weiß, was bald passieren wird. Das Grauen beschränkt sich nicht auf das Krankenhaus. Genährt von meiner Angst ist es zu einer echten Figur mit einem eigenen Körper und einer eigenen Stimme geworden, die jede Nacht aufs Neue auftaucht.

»Wie lange willst du noch dasitzen, ohne mit mir zu sprechen?« Die tiefe Stimme kommt aus der Richtung der Fensterbank und treibt mir Schauer über den Rücken.

Seine Stimme erinnert mich an das eiskalte Wasser, das ich mir jeden Abend ins Gesicht spritze, um mir das Blut der Verletzten abzuwaschen. Das Gewicht der Stimme drückt mich immer tiefer in den Boden hinein. Schwer wie ein schwüler Tag und kreischend wie die Bomben des Militärs. Kalt wie unsere wortlosen Schreie.

Khawf sieht mich an. Sein Anzug ist sauber und neu. Nur die roten Spritzer an seiner Schulter irritieren mich. Sie sind schon da, seit wir uns kennen. Trotzdem habe ich mich noch nicht an sie gewöhnt. Ich vermeide auch den Blick in seine Augen – diese eisblauen Augen. Mit seinem tiefschwarzen Haar sieht er nicht aus wie ein Mensch. Er sieht so menschlich aus, wie es ihm eben möglich ist.

»Du weißt genau, was ich will.« Seine Stimme lässt mich zittern.

2

Letzten Juli habe ich alles verloren. Innerhalb einer einzigen Woche.

Damals habe ich selbst in einem Krankenhausbett gelegen und bin unter den Tränen zusammengezuckt, die auf den Wunden in meinem Gesicht gebrannt haben. Mein Bein schmerzte von meinem Sturz, und meine geprellten Rippen protestierten jedes Mal, wenn ich atmete. Meine dick verbundenen Hände sahen aus wie Pfoten. Granatensplitter hatten sich durch meine Handflächen gebohrt, das Blut war herausgespritzt wie eine Fontäne. Aber all das war noch zu ertragen gewesen.

Die einzige ernsthafte Wunde befand sich an meinem Hinterkopf, die Dr. Ziad nähte. Dabei traf ich ihn zum ersten Mal. Durch den Druck der Explosion war ich mit dem Kopf hart auf den Asphalt gefallen. Dr. Ziad meinte, ich hätte großes Glück gehabt, mit einer Platzwunde davongekommen zu sein. Ich glaube, er wollte mich von dem Gedanken ablenken, dass Mama kein solches Glück gehabt hatte. Die Bombe hat sie mir entrissen und ich werde sie nie wieder umarmen können.

Als Khawf später an jenem Tag auftauchte und sich mir vorstellte, dauerte es eine Weile, bis ich begriff, dass nur ich ihn sehen konnte. Ich glaubte, wegen meiner Trauer und der Schmerzmittel zu halluzinieren, und hoffte, er würde mit dem Morphium verschwinden.

Aber er wich nicht von meiner Seite und flüsterte mir schreckliche Dinge zu, während ich um Mama weinte. Selbst als der Schmerz langsam nachließ und meine Rippen heilten, blieb er bei mir. Als ich das verstand, ergriff mich Panik.

Er war eine Halluzination, die bleiben würde. Eine Vision, die seit sieben Monaten jede Nacht auftaucht, an meinen Ängsten rupft und ihnen Leben einhaucht. Es gibt keine andere Erklärung. Ich muss ihn auf wissenschaftliche Fakten reduzieren, um ihm begegnen zu können.

»Wenn es dir hilft.« Sein Lächeln wirkt böse.

Ich fahre mit der Hand über die Narbe an meinem Hinterkopf und kann die Wunde mit meinen Fingern fühlen. Gänseblümchen, flüstere ich. Gänseblümchen, Gänseblümchen.

Khawf streicht sein Haar aus dem Gesicht und nimmt ein Päckchen Zigaretten aus seiner Brusttasche. Das Päckchen ist rot und hat genau dieselbe Farbe wie die Flecken auf seiner Schulter. Er greift nach einer Zigarette, klemmt sie sich zwischen die Lippen und zündet sie an. Der Tabak glüht auf, und er nimmt einen tiefen Zug.

»Ich will wissen, warum du nicht mit Am gesprochen hast«, sagt er. »Hast du nicht gestern versprochen, dass du es tun würdest? Hast du es mir nicht jeden Abend versprochen?« Seine Stimme klingt zwar leise, doch er lässt keinen Zweifel daran, dass er mir drohen will.

So hat es angefangen mit uns. Immer wieder diese unterschwelligen Bemerkungen, die mich dazu bringen sollen, Syrien zu verlassen. Bis er eines Tages entschied, dass ich Am nach einem Boot fragen solle. Und seither hört er nicht auf, mich zu bedrängen. Manchmal frage ich mich, wie mein eigenes Hirn jemanden wie ihn erschaffen konnte.

Kalter Schweiß rinnt mir den Nacken herunter. »Ja«, murmle ich.

Er ascht auf den Boden, doch die Asche löst sich sofort in Luft auf. »Und? Was ist passiert?«

Ein fünfjähriges Mädchen ist an den Schusswunden eines Scharfschützen gestorben, während ich ihren älteren Bruder von einer Sepsis gerettet habe. Ich werde gebraucht. »Ich … Ich konnte nicht.«

Er zieht die Augenbrauen zusammen. »Du konntest nicht?«, wiederholt er trocken. »Du willst also unter den Trümmern dieses Hauses begraben werden? Lebendig begraben, mit gebrochenen Gliedern und in deinem eigenen Blut? Niemand wird dir helfen. Wie auch? Hungernde Menschen können kaum ihren eigenen Körper tragen, geschweige denn Trümmer wegräumen. Oder vielleicht willst du verhaftet werden? Und dorthin verschleppt werden, wo sie auch deinen Baba und Hamza hingebracht haben. Vergewaltigt werden und verhört, nach Antworten gefragt, die du nicht hast. Soll das Militär dir den Tod als Erlösung anbieten statt als Strafe? Willst du das wirklich, Salama?«

Ich zittere. »Nein.«

Er bläst ein letztes Mal Rauch aus, ehe er die Zigarette mit dem Absatz seines eleganten Schuhs ausdrückt. Dann tritt er genau vor mich hin. Ich hebe den Kopf und sehe ihn an. Seine Augen sind so kalt wie der Fluss Nahr al-Asi im Dezember.

»Dann gibt es kein konnte nicht«, sagt er. »Du hast versprochen, Am nach dem Boot zu fragen. Drei Mal ist er heute an dir vorbeigegangen, und du hast ihn nicht angesprochen.« Er presst seine Lippen zu einer dünnen Linie zusammen und mahlt mit dem Kiefer. »Oder willst du, dass ich unseren Deal zurücknehme?«

»Nein!«, schreie ich. »Nein.«

Mit einer einzigen Handbewegung kann er mein gesamtes Leben ruinieren, eine Halluzination nach der anderen hervorrufen und allen zeigen, dass meine Fassade nichts anderes ist als eine Wand aus dünnen Zweigen in einem Sturm. Dr. Ziad würde mich nicht mehr im Krankenhaus arbeiten lassen, weil ich eine Gefahr für die Patientinnen und Patienten darstelle. Ich brauche das Krankenhaus. Ich brauche es, um meinen eigenen Schmerz zu vergessen. Um beschäftigt zu sein und nicht den ganzen Tag vor Trauer zu schreien. Ich muss Leben retten.

Außerdem würde ich noch mehr Sorgen auf Layla abladen und sie und ihr Baby in Gefahr bringen. Nein. Ich muss all das für sie aushalten. Ich würde in Tränen ertrinken und ihm meine Seele anbieten, wenn ich damit Layla retten kann.

Also hat er mir versprochen, tagsüber für sich zu bleiben und mir all das Grauen nur nachts und weit weg von allen anderen zu zeigen.

Wieder lächelt er sein böses Lächeln. »Dies ist deine letzte Chance, Salama. Und ich verspreche dir, wenn du morgen nicht mit Am sprichst, werde ich deine gesamte Welt entzweireißen.«

Zorn steigt in mir auf. Mein Unterbewusstsein mag mich ja voll im Griff haben, aber es ist immer noch mein Unterbewusstsein.

»Das ist nicht so einfach, Khawf«, flüstere ich und versuche, das Bild des kleinen Jungen zu verdrängen, der seine sterbende Schwester im Arm gehalten hat. So klein. »Vielleicht hat Am gar kein Boot. Und vielleicht will er zu viel Geld, das wir nicht haben. Und dann führt der einzige Weg hier raus über die Türkei. Dann sind wir die idealen Zielscheiben fürs Militär. Falls Layla den Fußmarsch überhaupt überlebt!«

Er schaut mich amüsiert an. »Warum ignorierst du das Versprechen, das du Hamza gegeben hast? Dass du Layla hier rausbringen wirst? Du bist ganz durcheinander, weil du so am Krankenhaus hängst. Tatsache ist doch, dass du ein Versprechen gegeben hast und nun einen Rückzieher machst. Du findest tausend Ausreden, um deine Schuldgefühle zu verdrängen. Was ist dir Laylas Sicherheit wert?«

Ich schaue auf den Boden, vergrabe meine Hände in meinen Taschen und versinke in meiner Matratze.

»Diese Erinnerung«, er streckt sich und grinst, »sollte deine Entscheidung erleichtern.«

Noch ehe ich schreien kann, schnippt er mit den Fingern.

Der schwere Geruch von Minze und Zimt in einer Brühe aus Joghurt und Rindfleisch steigt mir in die Nase und ich werde überwältigt von den Bildern der Vergangenheit. Ich zögere einen Moment, doch dann öffne ich die Augen und befinde mich nicht länger in meinem kargen Zimmer, sondern zu Hause. In meinem Zuhause.

Die Küche sieht genauso aus, wie ich sie erinnere. An den Wänden aus beigem und braunem Marmor hängen gerahmte Bilder mit Kalligrafien und goldenen Zitronen. In den Schränken und Regalen befinden sich unsere Pfannen und Töpfe, allesamt ordentlich gestapelt. Eine weiße Decke mit bestickten Lilien liegt auf dem Tisch, darauf eine gläserne Vase mit Orchideen. Blaue Orchideen, die ich für den Besuch gekauft hatte, der an dem Tag hätte stattfinden sollen. Für besondere Anlässe besorge ich immer blaue Orchideen.

Schließlich drehe ich mich nach links, wo Mama neben mir steht und mit einem Holzlöffel in dem Topf rührt und dabei ein Gebet murmelt.

»Beschütze sie«, flüstert sie. »Beschütze meine Männer. Bring sie gesund zu mir zurück.«

Ich bleibe wie angewurzelt stehen und mein Herz scheint in zwei Teile zu zerreißen.

Da steht sie neben mir.

Ein paar stille Tränen laufen meine Wangen herunter. Ich will mich nur noch in ihre Arme werfen. Ich will zu meiner Mama. Ich will, dass sie meine Traurigkeit wegstreichelt, mich küsst und ya omri und te’eburenee flüstert – mein Leben und begrabe mich.

Stattdessen stoße ich sie sanft am Arm. Sie schaut auf und blickt mich abwesend mit blutunterlaufenen Augen an, ehe ein müdes Lächeln auf ihren Lippen aufblitzt. Der Krieg hat sie verändert. Ihr Gesicht, das nie zu altern schien, ist nun ausgemergelt und zuckt nervös. Der Ansatz ihres braunen Haares schimmert grau. Früher hatte sie ihn niemals rauswachsen lassen, war immer darauf bedacht, gepflegt auszusehen. Nun stechen ihre Wangenknochen spitz hervor und unter ihren Augen sind dunkle Ringe zu sehen.

»Te’eburenee, alles wird gut, insh’Allah«, flüstert sie, legt mir den Arm um die Schulter und drückt mich an sich. Begrabe mich, bevor ich dich begrabe.

So ist es gekommen.

»Ja, Mama«, bringe ich gerade noch heraus und schmiege mich an sie.

»Ach, Saloomeh!«, ruft Hamza, als er mit Baba hereinkommt, und beinahe hätte ich vor Freude geschrien. Da sind sie. Hamzas honigfarbene Augen funkeln lebendig, ebenso wie die von Baba. Sie tragen ihre Mäntel und haben die Flagge der syrischen Revolution über die Schulter geworfen. Mit nur einer Drehung würde die Flagge zum Fallstrick werden. »Willst du jetzt ernsthaft anfangen, zu weinen?«

Ich frage Hamza nicht nach Layla, weil ich weiß, dass sie in ihrem Zuhause auf ihn wartet. Nur wird er heute nicht zu ihr zurückkehren.

»Hamza, hör auf, deine Schwester zu ärgern«, sagt Baba und stellt sich neben Mama. Sie umarmt ihn sogleich und flüstert ihm etwas ins Ohr.

Ich halte den Anblick kaum aus und drehe mich weg.

»Geht ihr jetzt?«, frage ich Hamza mit brüchiger Stimme. Ich muss den Kopf heben, um ihn anzusehen. Das habe ich seit sieben Monaten nicht gemacht.

Er lächelt mich sanft an. »Die Demonstration findet nach dem Gebet statt, wir müssen also zeitig dort sein.«

Ich unterdrücke den Drang, zu weinen. Er ist gerade zweiundzwanzig geworden und hat sich im Zaytouna Krankenhaus beworben. Er weiß noch nicht, dass er bald Vater werden wird. Hätte ihn das aufgehalten?

»Geht nicht«, stammle ich. Vielleicht kann dieser Albtraum doch noch gut enden. Vielleicht kann ich etwas ändern. »Bitte, Hamza und Baba. Geht heute nicht!«

Er grinst mich an. »Das sagst du jeden Tag.«

Ich umklammere seinen Arm und versuche, mir sein Gesicht vollständig einzuprägen: seine Bartstoppeln, die Grübchen in seinen Wangen, die sich abzeichnen, wenn er lächelt. Das ist die letzte Erinnerung an meinen Bruder. Mit der Zeit verblassen diese Bilder, und ich weiß, dass ich die Details vergessen werde. Ich werde Babas braunes Haar vergessen, das schon grau durchzogen ist, und das freundliche Glitzern in seinen Augen nicht mehr vor mir sehen. Ich werde vergessen, dass Hamza mindestens zwei Köpfe größer ist als ich und dass wir dieselbe Haarfarbe haben. Ich werde die Grübchen in Mamas Wangen vergessen und ihr Lächeln, das die ganze Welt zum Leuchten bringen kann. Unsere Familienfotos sind unter den Trümmern unseres Hauses begraben und ich werde sie nie zurückbekommen.

»Himmel, Salama, warum stellst du dich so an?«, sagt er und schüttelt den Kopf, als er meine Tränen sieht. Sanft fügt er hinzu: »Ich komme zurück, versprochen!«

Ich halte die Luft an. Ich weiß genau, was er als Nächstes sagen wird. Ich habe dieses Gespräch unzählige Male im Geiste abgespielt, bis es nur noch Wortsalat war.

»Aber falls nicht …« Er atmet tief durch und wird ganz ernst. »Salama. Falls ich nicht zurückkomme, kümmere dich um Layla. Kümmere dich um Mama und sorge dafür, dass ihr drei am Leben und in Sicherheit bleibt.«

Ich schlucke. »Das habe ich dir schon versprochen.«

Als die ersten Demonstrationen durch die Straßen gezogen sind, hat Hamza mich zur Seite genommen und mir genau das Versprechen abgenommen. Er hat schon immer eine gute Intuition gehabt, war viel klüger als andere in seinem Alter. Er hat immer bemerkt, wenn es mir nicht gut ging, selbst wenn ich nichts sagte. Sein Herz war sanft wie eine Wolke und berührte jeden in seinem Umfeld. Er wusste, dass man Mama, selbst wenn sie sich zu Tode fürchtete, nur unter lautem Protest aus Syrien herausbekommen würde, und dass Layla ihn auslachen würde, wenn er von ihr verlangte, zu fliehen und ihn zurückzulassen. Aber ich würde dafür sorgen, dass wir alle am Leben bleiben. Ich würde die Sicherheit meiner Familie über alles andere stellen, wer auch immer noch übrig war.

»Versprich es mir noch mal«, sagt er ernsthaft. »Ich kann nicht guten Gewissens gehen, wenn ich es nicht noch einmal gehört habe.« Seine Augen glühen wie Flammen.

»Ich verspreche es«, flüstere ich. Die schwersten Worte meines Lebens.

Jetzt wird er mir durch die Haare streifen, ehe er mit Baba das Haus verlässt.

Tut er aber nicht.

Er packt mich an der Schulter. »Und? Hast du?«

Ich erschrecke. »Was meinst du?«

Diese Flammen in seinen Augen. »Nachdem das Militär Baba und mich gefangen genommen hat. Hast du Mama hier rausgebracht? Hast du Layla gerettet? Oder hast du ihre Leben einfach weggeworfen?«

Ich zittere am ganzen Körper.

»Salama, hast du mich angelogen?« Die Enttäuschung und der Schmerz sind meinem Bruder ins Gesicht geschrieben.

Ich weiche zurück und presse meine Faust an die Brust.

»Hast du Mama sterben lassen?«, fragt er nun lauter.

Mama und Baba stehen neben ihm, Blut rinnt Mamas Gesicht herunter. Es tropft auf den Marmorboden, den sie jeden Tag poliert. Jeder Tropfen ein Stich in mein Herz.

»Es tut mir leid! Verzeih mir«, flehe ich. »Bitte, verzeih mir!«

»Verzeihen?«, fragt Baba nun mit hochgezogenen Augenbrauen. »Du hast deine Mutter sterben lassen. Du lässt Layla sterben. Und wofür?«

»Mama wird dir vielleicht verzeihen«, sagt Hamza. »Aber ich bestimmt nicht. Wenn Layla deinetwegen leidet, Salama, werde ich dir niemals verzeihen.«

Ich breche weinend zusammen und sinke zu Boden. »Es tut mir leid! Es tut mir leid!«

»Das reicht nicht«, antworten Hamza und Baba im Chor.

Der Boden unter mir beginnt zu beben, Äste und Ranken schlingen sich um meine Beine und ziehen mich nach unten. Die Küche und das Haus brechen auseinander und ich stürze schreiend in ein schwarzes Loch. Rücklings pralle ich auf einen harten Stein und bekomme kaum Luft. Als ich meine Augen öffne, verschleiert der Rauch von einem brennenden Gebäude den blassblauen Himmel.

Ich muss husten und versuche zitternd, mich aufzurichten. Vor mir steht ein siebenstöckiges Gebäude, das mal mein Zuhause war. Auf dem Balkon im sechsten Stock trocknet Wäsche, eine Etage tiefer ist die Flagge der Syrischen Revolution drapiert und flattert im Wind. Hamza hat sie an beiden Seiten festgebunden, damit sie nicht wegfliegt. Nachdem er und Baba verhaftet worden sind, hat Mama es nicht über sich gebracht, die Flagge abzunehmen.

Um mich herum ist es gespenstisch still. Ich muss nicht fragen, wo ich mich befinde, da ich es weiß. Khawf hat mich eine Woche weiter gezerrt, an einen der schlimmsten Tage meines Lebens.

Mama.

»Nein«, stöhne ich. »Nein!«

»Du kannst sie nicht retten.« Khawf steht einige Schritte von mir entfernt. »Sie ist ja schon tot.«

Das Gebäude ist nur wenige Meter entfernt. Ich kann es schaffen. Ich kann sie retten.

»MAMA!«, rufe ich und renne los, als der Schmerz in meinem linken Bein wieder aufflammt. »KOMMRAUS! KOMMRAUS! DIEFLUGZEUGEKOMMEN!«

Aber es ist zu spät. Die Flieger sind schneller als meine Schreie, und den Bomben ist es egal, dass sich in dem Haus unschuldige Menschen befinden. Ein schrilles Geräusch dringt in meine Ohren, als das Gebäude in tausend blutige Trümmer zerfällt. Das Nachbeben wirft mich nicht um. Das Haus bricht komplett ein, und ich stehe gebeugt über der Leiche meiner Mutter. Sie trägt keinen Hijab, ihr braunes Haar ist ganz grau von dem Staub und ihr Kopf liegt in einem unnatürlichen Winkel am Boden. So viel Blut. All das Blut an meinen nackten Füßen, mein Magen überschlägt sich.

Ich weine, falle zu Boden, umklammere ihren Körper, ziehe sie ganz nah an mich heran. Meine Hände zittern völlig unkontrolliert, als ich versuche, ihr die Haare aus dem Gesicht zu wischen, doch ich verschmiere sie nur mit ihrem Blut. »Mama! Oh Gott, nicht schon wieder! Nicht schon wieder!«

Ihre Augen sind glasig, als sie meinen Blick erwidert.

»Warum hast du mich nicht gerettet?«, flüstert sie. Ihre Augen sind geweitet vor Angst. »Warum?«

»Es tut mir leid«, schluchze ich. »Bitte, bitte verzeih mir!«

Meine Tränen tropfen auf ihr Gesicht, meine Lippen flehen immer weiter, damit sie zu mir zurückkommt, ich umklammere sie immer fester. Obwohl wir beide mit Blut überströmt sind, riecht sie so wie immer.

»Sie ist nicht mehr da, Salama«, sagt Khawf hinter mir. »Schau, dort bist du. Dahinten.«

Ich blicke in die Richtung, in die er zeigt. Zwischen den Trümmern und dem Rauch steht mein vergangenes Ich. Eine junge Frau von gerade mal siebzehn Jahren, die Wangen noch voll, doch sie lernt bereits, den Terror zu akzeptieren, der ihr Leben von nun an bestimmen wird. Auch wenn sie bisher kaum etwas von dem unvorstellbaren Horror gesehen hat. Sie hustet, ihre Kleider und ihr Hijab sind zerrissen und sie versucht, zu der Leiche ihrer Mutter zu gelangen, ehe ihr müder Körper nachgibt und sie in Ohnmacht fällt.

Wut und Trauer steigen in mir auf.

»Das reicht!«, rufe ich und drücke Mama an mich. »Es reicht, bring mich zurück!«

Khawf kniet neben mir, wischt mir einen Tropfen Blut von der Wange und lächelt. Sein Anzug ist sauber, nicht eine Spur von Staub ist darauf zu sehen. Und dennoch sind die roten Flecken auf seinen Schultern gewachsen und scheinen sich auf sein Revers auszuweiten.

Er schnippt mit den Fingern, und ich bin zurück in meinem Bett. Von all den Trümmern und dem Blut keine Spur mehr. Ich blinzle und starre auf meine rauen Hände. Mamas plötzliches Verschwinden irritiert mich. Die feuchten Tränen auf meinem Gesicht sind der einzige Beweis für das, was ich gerade durchgemacht habe.

Khawf atmet tief durch. Die Genugtuung ist ihm in sein blasses Gesicht geschrieben und er setzt sich zurück ans Fenster.

»Das wird bald Layla sein, wenn du dich weiter widersetzt.« Er nimmt eine weitere Zigarette aus der Schachtel. »Du hast schon die Hälfte deines Versprechens gebrochen. Soll Laylas Tod dein Ruin werden?«

Mein Körper gibt nach, zittert, und ich ziehe hilflos meine löchrige Decke an mich, um mein Schauern zu verbergen.

Er bläst eine Wolke dunkelgrauen Rauchs aus, die sich sogleich in Luft auflöst. »Jeden Tag sterben mehr und mehr deiner Patienten. Jeder Einzelne vermehrt die Reue in deinem Herzen. Hierzubleiben wird dich zerstören, selbst wenn Layla überlebt.«

»Geh endlich weg«, wimmere ich und hasse mein Gehirn dafür, dass es mir so etwas antut.

»Ich mag es nicht, wenn man mich für dumm verkauft, Salama«, murmelt er. »Gib mir, was ich verlange, dann lasse ich dich vielleicht in Ruhe.«

Mein Mund ist trocken, und die halbmondförmigen Narben auf meiner Hand – Wunden, die ich mir mit meinen Nägeln selbst zugefügt habe – beginnen, zu schmerzen. Anstatt ihm zu antworten, drehe ich mich weg. Es fühlt sich an, als würde mein Hirn von innen gegen meinen Schädel pochen. Mein Blick fällt auf die Schublade meines Nachttisches, in der ich meine Paracetamoltabletten verstecke. Im Juli habe ich angefangen, sie zu sammeln, um auf Laylas Wehen vorbereitet zu sein. Einen Moment lang denke ich darüber nach, eine zu nehmen, verzichte dann aber doch. Wer weiß, wie lange wir noch Zugang zu Medikamenten haben werden.

Jasmin. Jasmin. Jasmin …, murmle ich immer und immer wieder und könnte schwören, ich kann ihn riechen. Genauso wie damals, als Mama mich immer in den Arm nahm.

3

Wie jeden Morgen gebe ich Layla einen Kuss, bevor ich mich auf den Weg zur Arbeit mache. Wir wissen nie, ob wir uns wiedersehen werden. Jeder Abschied kann der letzte sein.

»Sprich mit Am.« Sie lächelt voller Wärme, und ich muss an Hamza denken.

Ich nicke, ohne etwas zu erwidern, verlasse das Haus und ziehe die Tür hinter mir zu.

Das Krankenhaus ist nur fünfzehn Minuten zu Fuß von Laylas Haus entfernt. Ein Vorteil, über den sich schon Hamza gefreut hatte, der als junger Arzt seine Ausbildung in der Klinik seines Viertels absolvieren konnte. Hamza hat schon mit drei Jahren angefangen, zu lesen, und meine Eltern wussten sofort, dass er ein Genie ist. Er wurde frühzeitig eingeschult, segelte problemlos durch die Schulzeit und konnte sich am Ende aussuchen, an welcher Universität er studieren wollte. Er schrieb sich in Homs ein, um in der Nähe unserer Familie zu sein. Aber ich wusste damals schon, dass er eigentlich bei Layla sein wollte, um mit ihr ein gemeinsames Leben zu beginnen.

Nun habe ich den Job übernommen, der für ihn vorgesehen war. Ein Job, für den ich überhaupt nicht qualifiziert bin. Pharmazeutinnen verschreiben Medikamente, sie operieren nicht. Nach meinem Uniabschluss wollte ich genau das machen. Oder in die Forschung gehen. Operieren wollte ich nie. Ich bin nicht dafür gemacht, Körper aufzuschneiden, Wunden zu nähen und Gliedmaßen zu amputieren. Doch ich zwang mich dazu, diese Person zu werden.

Meine Umgebung in Homs erinnert mich an Bilder aus den Geschichtsbüchern. All die Zerstörung gibt es seit Ewigkeiten in zahlreichen Städten. Immer die gleiche Geschichte, nur an anderen Orten. Ich bin mir sicher, dass die Seelen unserer Freiheitskämpfer durch die Straßen und Ruinen geistern und mit ihren Fingern über die Wände fahren, auf die unsere Revolutionsflaggen gemalt sind. Diejenigen, die überlebt haben, sitzen draußen auf Plastikstühlen, eingewickelt in Schals und Decken. Heute spielen die Kinder draußen mit allem, was sie in dem Geröll finden. Eine alte Frau brüllt ihnen hinterher, dass sie auf Glasscherben aufpassen sollen. Als sie mich in meinem Laborkittel sieht, schenkt sie mir ein zahnloses Lächeln.

»Allah ma’aki!« Gott beschütze dich.

Ich lächle verlegen und nicke ihr zu.

Das Krankenhaus ist nicht immun gegen die Krankheit der Diktatur, wie die ausgeblichenen, rotgelben Außenwände zeigen. Der Dreck unter den Sohlen meiner Sneaker mischt sich mit dem Blut der Verwundeten, die Tag für Tag hierhergebracht werden.

Die Türen sind fast immer geöffnet, so auch heute. Wie immer ist es laut und unruhig, die Schreie und das Stöhnen der Verwundeten hallen über die Flure.

Wir haben kaum mehr Instrumente oder Arzneimittel. Das Ergebnis ist klar an den eingefallenen Gesichtern meiner Patientinnen und Patienten abzulesen. Seit Kurzem behaupte ich, dass es sich bei der Kochsalzlösung um Betäubungsmittel handelt und hoffe auf einen Placeboeffekt. Ich erinnere mich an all die Artikel, die ich im Studium über die Wirksamkeit des Placeboeffekts gelesen habe. Damals, als ich nach den Vorlesungen mit meiner Thermoskanne voll Tee auf der Treppe des Unigebäudes saß und mich stundenlang in meine Notizen vertiefte, bis Layla auftauchte, mich an der Nase stupste und aus meiner Konzentration riss.

Auch wenn uns im Krankenhaus vieles fehlt, geht es uns unter der Freien Syrischen Armee besser als den Menschen anderer Regionen, die unter der Herrschaft des Militärs stehen.

Über die Gefangenen des Militärs haben wir viele Geschichten gehört. Die Patientinnen und Patienten in den dortigen Krankenhäusern sterben nicht an ihren Verletzungen aus den Kämpfen und Demonstrationen, sondern an jenen, die man ihnen im Krankenhaus zufügt. Während wir unter der Belagerung leiden, werden dort die Demonstrierenden an ihre Betten gefesselt und gefoltert. Selbst Ärzte und Krankenschwestern beteiligen sich angeblich daran.

Hier in unserem Krankenhaus sind die Betten dicht an dicht gestellt, und überall haben sich die Familienmitglieder der Verwundeten versammelt, sodass ich mich durch die Menge drängeln muss, um nach meinen Patienten zu sehen. Dr. Ziad kommt mir entgegengeeilt. Vorsichtig bahnt er sich seinen Weg durch die Körper auf dem Boden. Sein grauschwarzes Haar steht wild von seinem Kopf ab und die Fältchen um seine Augen scheinen jeden Tag tiefer zu werden. Er hat den Job als Chefarzt übernommen, nachdem sein Vorgänger bei einem Luftangriff getötet worden ist. Zuvor war er Hausarzt, hat sich seine Arbeit selbst eingeteilt und bewegte sich langsam auf seine Rente zu. Als die Unruhen begannen, hat er seine Familie sofort in den Libanon geschickt, und das Krankenhaus ist sein Zuhause geworden. Ebenso wie ich war auch er gezwungen, plötzlich als Chirurg zu arbeiten.

»Eine Bombe hat Al-Ghouta getroffen, zwanzig Tote. Die siebzehn Verletzten werden jetzt zu uns gebracht«, sagt er. Als Chefarzt bekommt er direkte Informationen von der Freien Syrischen Armee, damit wir so viele Leben wie möglich retten können.

Ein Stein fällt mir vom Herzen. Al-Ghouta liegt eine halbe Autostunde von meinem Viertel entfernt, auf der anderen Seite der Stadt. Layla ist sicher. Doch dann krampft sich mein Brustkorb sogleich wieder zusammen. Ein Bombenangriff kann alles bedeuten. Wer weiß, was gleich durch diese Türen kommen wird – Gedärme, die aus Körpern quellen, abgerissene Arme und Beine …

Dr. Ziad und ich gehen vor der Tür in Stellung. Er murmelt dabei Koranverse über Gottes Gnade, was mich einen Augenblick beruhigt. Jeden Moment wird sich die Tür öffnen. Jeden Moment.

Am Fenster vor mir taucht Khawf auf. Trotz der defekten Krankenhausbeleuchtung glänzt sein Anzug hell, und sein Haar ist streng nach hinten gekämmt. Nicht eine Strähne tanzt aus der Reihe. Er grinst mich an. Khawf liebt die Klinik. Er weiß genau, dass die Angst davor, Layla als Nächste zu beerdigen, meine Entschlossenheit schmälert, in Syrien zu bleiben. Dass ich dieses Land vielleicht verlassen werde.

Noch bevor sich die Türen öffnen, hören wir die Schreie. Wir haben nur Sekundenbruchteile Zeit, uns zu wappnen. Es spielt keine Rolle, wie oft ich schon Zeugin dieses schrecklichen Schauspiels geworden bin, ich werde mich nie daran gewöhnen. Es wird nie normal sein, zu sehen, wie Menschen kaum mehr Luft bekommen.

»Salama, kümmern Sie sich als Erstes um die Kinder«, zischt Dr. Ziad streng und wendet sich bereits dem ersten Patienten zu. »Nour, stellen Sie sicher, dass niemand verblutet. Mahmoud, sorgen Sie dafür, dass es genug Verbandsmaterial gibt. Wenn es sein muss, benutzen Sie Bettlaken. Los!«

Fünf Verletzte kommen auf Bahren herein, die anderen werden von Freiwilligen getragen. Eine riesige Gruppe hat sich um sie gebildet, alle rufen und schreien durcheinander. Dr. Ziad gibt weiter Anordnungen an die anderen Kolleginnen, und ich bin einmal mehr dankbar, dass er trotz all dieses Grauens die Ruhe bewahrt. Mit seiner Art gibt er uns die Kraft, weiter Leben zu retten.

Khawf reckt sich empor und beobachtet mit Genugtuung das Chaos. Er beginnt, ein Lied zu summen, dessen Melodie den Lärm um mich herum übertönt. Oh wie süß ist die Freiheit – die Hymne der Demonstrierenden. Doch ich habe keine Zeit, mich mit ihm zu befassen. Der Tod wartet auf niemanden.

Manchmal ist es für mich schwieriger, meine Patientinnen und Patienten zu verbinden oder ihre Wunden zu nähen, als sie einfach nur am Leben zu halten. Einige verlangen nach jemandem, der älter und erfahrener ist als ich. Anfangs war mir das unangenehm, und ich erwiderte, dass die anderen Ärzte alle beschäftigt sind und ich genauso fähig bin wie sie. Aber inzwischen sage ich einfach: »Entweder Sie akzeptieren mich oder Sie sterben.« Das kommt eigentlich immer bei ihnen an. Meine Arbeit hat mich härter und weicher zugleich gemacht.

Während ich meine fünfte Patientin versorge, kann ich aus dem Augenwinkel jemanden sehen, der ein kleines Mädchen auf dem Arm hält und sich verängstigt umschaut. Der Junge kann nicht viel älter sein als ich, achtzehn, vielleicht neunzehn. Der Kopf des Mädchens hängt seitlich herab und ihr Blut läuft über ihr Shirt auf den Boden. Ich sehe dem Jungen hinterher. Das flackernde Flurlicht glänzt in seinen wilden Locken. Er kommt mir bekannt vor. Ehe ich weiter darüber nachdenken kann, ruft Dr. Ziad mich, um einem weiteren Verletzten zu helfen. Sein Unterarm ist gebrochen, und der Knochen ragt durch das blutige Fleisch. Bei dem Anblick wird mir speiübel. Ich atme tief ein und schlucke die Übelkeit herunter, dann beginne ich damit, seinen Arm zu richten.

Während einer kurzen Pause zwischen drei direkt aufeinanderfolgenden Operationen sehe ich Am vorbeilaufen. Ich muss mit ihm sprechen. Heute. Ich kann Khawfs Blick spüren, der sich in meinen Hinterkopf bohrt, während seine Worte durch mein Gehirn geistern.

Ich werde deine Welt in Stücke reißen.

Er ist fest entschlossen, mich dazu zu bringen, Syrien zu verlassen. Ich habe seine Verzweiflung nie verstanden, doch heute macht sich eine neue Stimme in meinen Gedanken bemerkbar. Ein Resultat aus meinem Gespräch mit Layla.

Es schadet ja nicht, zu fragen. Ich will ja nur wissen, wie viel es kosten würde. Komm, tu es für Layla.

»Am«, sprudelt es aus mir heraus. Er bleibt stehen und dreht sich zu mir um.

»Ja?«, antwortet er überrascht. Er ist jünger, als er aussieht. Aber bei allem, was uns gerade passiert, ist es wohl kein Wunder, dass ein Mann Ende dreißig schon graue Haare bekommt.

»Ich … äh … Ich habe mich gefragt …«, stottere ich und verfluche mich innerlich. Ich hätte mir vorher genau überlegen sollen, was ich sage.

»Willst du auf ein Boot, Salama?«, kommt er mir zuvor, und ich werde rot.

Ich kralle mich an meinem verschlissenen Arztkittel fest und zerknittere den festen Stoff. Er hält mich für einen Feigling. Ausgerechnet ich frage ihn nach einer Fluchtmöglichkeit. Die letzte Pharmazeutin in den drei umliegenden Vierteln.

»Na?«, fragt er noch mal und zieht die Augenbrauen hoch.

Das ängstliche Gesicht meines Bruders Hamza taucht vor meinem inneren Auge auf. »Ja.«

Er schaut sich kurz um, um sicherzugehen, dass uns niemand zuhört. »Okay. Wir treffen uns auf dem Hauptflur in zehn Minuten.«

Dr. Ziad besteht immer darauf, dass ich mir kurze Pausen gönne, sodass ich kurz verschwinden kann, ehe er oder Nour nach mir suchen würden. Meine Hände beginnen, zu schwitzen. Zehn Minuten können sehr lang sein. Was alles passieren könnte in dieser kurzen Zeit. Atemstillstand, ein Herzinfarkt, ein Patient könnte Blut oder Galle spucken. Alles kann passieren. Aber ich habe es Hamza versprochen. Layla ist meine Schwester, die einzige Familie, die ich habe. Und sie wird bald das Kind meines Bruders auf die Welt bringen. Ein Kind, von dem er nie erfahren hat und das er niemals kennenlernen wird. Ich muss wenigstens in Erfahrung bringen, was eine Flucht kostet und ob wir sie uns leisten können. Außerdem will ich Khawfs Geduld nicht auf die Probe stellen. Wenn er Ernst macht, könnten dies meine letzten Tage hier im Krankenhaus sein.

Taglilien, flüstere ich, während ich schnellen Schrittes den Flur entlanglaufe. Wirken entspannend und krampflösend. Können Arsenvergiftung heilen. Taglilien. Taglilien …

Auf dem Flur sind unzählige Verletzte versammelt. Ich weiß genau, warum Am diesen Treffpunkt gewählt hat. Gratiswerbung. Jeder in Hörweite bekommt mit, wer Am ist, was er tut und was er ihnen versprechen kann: eine Chance, zu überleben.

Am kommt jeden Tag ins Krankenhaus auf der Suche nach Kundinnen und Kunden. Gezahlt wird mit den Ersparnissen ganzer Familien, um auf einem kleinen Boot übers Meer in Länder zu fliehen, die die meisten von uns nur aus Büchern oder Filmen kennen. Jeder im Krankenhaus kennt Am. Auch Dr. Ziad, der fest daran glaubt, dass mehr Menschen im Land bleiben sollten. Er würde dennoch nie versuchen, jemanden aufzuhalten, zumal er auch seine eigene Familie weggeschickt hat. Solange Am ihm nicht im Weg steht bei seiner Arbeit, erlaubt er ihm, im Krankenhaus sein Angebot zu verbreiten. Und genau das tut Am. Von den Ärztinnen und Ärzten hält er sich fern und spricht ausschließlich Verletzte an. Diese versucht er von seinen Erfolgen zu überzeugen, indem er Fotos von Menschen zeigt, die sicher in Europa angekommen sind. Ohne derartige Beweise würde niemand das Risiko eingehen, zu ertrinken. Andererseits ist vielleicht auch ohne Beweise selbst die kleinste Überlebenschance besser, als in ständiger Angst vor Mord und Folter im Land zu bleiben.

Niemand besteigt ein klappriges Boot, wenn er einen anderen Ausweg sieht.

Khawf sticht aus der Menge der müden Gesichter auf dem Flur heraus. Seine Augen glänzen, und seine Lippen sind zu einem höhnischen Lächeln verzogen.

Vielleicht ist seine Kraft nichts anderes als ein Abwehrmechanismus meines Gehirns, flüstert die Wissenschaftlerin in mir. Vielleicht will mein Gehirn meinen Willen brechen, damit ich überlebe. Ganz egal, wie. Trotzdem dreht sich mir bei seinem Anblick der Magen um.

Nach zehn Minuten kommt Am mir auf dem Flur entgegen. Wir stehen neben einem zerbrochenen Fenster, das mit einem dünnen Laken abgedichtet ist.

Meine Nerven sind überspannt, ich zittere am ganzen Körper und kann mich nicht beruhigen. Hoffentlich sieht Dr. Ziad mich nicht. Nervös vergrabe ich meine Hände in den Taschen meines Kittels, damit Am meine Angst nicht bemerkt. Mir ist übel. Ich fühle mich wie eine Verräterin an meinem Volk.

»Wie viele seid ihr?«, fragt Am und reißt mich aus meinen Gedanken.

»Zwei«, antworte ich. Meine Stimme klingt weit entfernt in meinen Ohren.

Er schaut mich einen Moment lang an. »Das ist deine gesamte Familie?«

Mein Herz bricht in tausend Scherben. »Ja.«

Er nickt, doch sein Blick bleibt leer. Eine so kleine Familie ist inzwischen keine Seltenheit mehr.

»Ich fahre euch nach Tartus«, fährt er fort, als würde er über das Wetter sprechen. »Üblicherweise legen die Boote von dort ab. Es dauert ungefähr eineinhalb Tage, bis ihr in Italien ankommt. Dort wird ein Bus auf euch warten, der euch nach Deutschland bringt. Am wichtigsten ist es, dass ihr Italien erreicht.«

Mein Herz klopft mit jedem seiner Worte schneller. Ich kann die Reise vor mir sehen, trotz seiner nüchternen Erklärung. Wie das Boot sanft über die blauen Wellen des Mittelmeers schaukelt, wie das Meer uns an die sichere Küste trägt. Ich kann sehen, wie Layla sich zu mir umdreht und mir zuflüstert: Wir sind in Sicherheit. Die Sehnsucht zerfleischt mich fast.

Die Schreie eines Babys holen mich aus meinem Tagtraum. Das Stöhnen der Verletzten kommt mir plötzlich noch lauter vor. Nein. Nein. Wie kann ich nur an meine eigene Sicherheit denken, wenn ich geschworen habe, den Kranken zu helfen?

Aber Layla ist schwanger, und ich habe es Hamza versprochen. Ohne mich wird Layla niemals fliehen, und ich kann den Gedanken nicht ertragen, wie sie allein in Europa ankommt. Sie spricht kaum Englisch, geschweige denn Deutsch oder Italienisch. Als Schwangere wäre sie ohne Begleitung ein leichtes Opfer. Nicht nur in Syrien gibt es Ungeheuer.

Meine Unsicherheit vergiftet meine Gedanken. Ich räuspere mich.

»Was würde das Boot denn kosten?«

Er denkt kurz nach. »Viertausend Dollar. Und es gibt eine Warteliste.«

»Wie bitte?«

»Ich nehme nur Dollar, die Lira ist zu schwach. Viertausend. Zweitausend pro Person.«

Mir weicht das Blut aus dem Gesicht, und mein Mund wird ganz trocken. So viel haben wir nicht. Baba konnte noch sechstausend Dollar abheben, doch angesichts der gestiegenen Lebensmittelpreise haben wir einen Großteil schon ausgegeben. Wir haben noch knapp dreitausend übrig.

Er sieht den Schock auf meinem Gesicht und schnauft. »Dachtest du, es ist billig, nach Europa zu kommen? Dachtest du, es ist leicht? Wir versuchen, zwei Menschen auf einen anderen Kontinent zu schmuggeln. Weißt du, wie viele Soldaten wir unterwegs bestechen müssen?«

Meine Beine werden wackelig. »Du … Du verstehst nicht … Die andere Person ist meine Schwägerin. Sie ist im siebten Monat schwanger. Was, wenn sie … Wir brauchen das Geld, damit sie versorgt werden kann. Ich habe nicht genug. Bitte!«

Er denkt einen Moment lang nach. »Viertausend Dollar und ihr rückt auf der Warteliste ganz nach vorne. Mehr kann ich nicht für dich tun. Und überleg nicht zu lange, das Boot wartet auf niemanden.«

Und schon dreht er sich um und geht. Ich bleibe wie angewachsen stehen und Khawf starrt mich aus seinen winzigen Augen an. Wie wird mein Gehirn wohl dieses Hindernis überwinden?