All die Worte, die uns fehlen - Marike Wittchen - E-Book

All die Worte, die uns fehlen E-Book

Marike Wittchen

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Beschreibung

Es war bloß ein Satz, aber er hat sich so schwer angefühlt, wie ein ganzes Buch. So schwerwiegend, wie eine ganze Geschichte. Vielleicht ist es eine ganze Geschichte. Der Tod ihrer Zwillingsschwester lässt Caleas Leben in tiefe Dunkelheit stürzen. In einem Alltag ohne Farben ist ihr bester Freund Eliott ihr einziger Funke Hoffnung. Ihr Ausweg aus der Trauer ist ein gemeinsamer Roadtrip, doch dieser verändert nicht nur den Rhythmus ihres Herzens, sondern lässt in Caleas Finsternis die ersten Sterne wieder leuchten…

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Seitenzahl: 296

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Copyright 2022 by

Dunkelstern Verlag GbR

Lindenhof 1

76698 Ubstadt-Weiher

http://www.dunkelstern-verlag.de

E-Mail: [email protected]

ISBN: 978-3-910615-52-6

Alle Rechte vorbehalten

Für Paulina, die von Anfang an an mich geglaubt hat

und mir mit ihren Worten so viel gegeben hat.

Du hast alles Gute dieser Welt verdient.

Inhalt

Playlist

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Epilog

Danksagung

»Je te laisserai des mots«

Ich werde dir Worte hinterlassen.

-Patrick Watson

Playlist

Wide Awake & Dreaming – Stu Larsen

King Street – Stu Larsen

What’s a boy to do – Stu Larsen

Distant Universe – OSKA

Come Home – OSKA

I want to leave – SYML

Indigo Home – Roo Panes

Beige – Yoke Lore

Battling life – The Dunwells

Wings – Birdy

Hold on – Angus & Julia Stone

Hey there Delilah – Plain White T’s

The Way that I love you (single version) – Passenger

Summertime low – Old Sea Brigade

DIM – SYML

Woes – Tom Rosenthal

Staring at the stars – Passenger

Je te laisserai des mots – Patrick Watson

Please Notice – Christian Akridge

13. Mai 2018

Ophelia,

ich falle. Es ist wohl kaum etwas Schlimmes. Ich falle zu oft und zu lange in letzter Zeit, als dass noch irgendetwas meinen Sturz verlangsamen könnte.

Manchmal denke ich, Eliott würde es tun. Ich glaube, er versucht, mich zu fangen. Er kommt mir erwachsener vor, seit … du weg bist. Als wüsste er genau, dass ich ihn brauche. Und das tue ich. Oh Gott, ich brauche ihn so sehr. Denn wer soll mir sonst 1 Liter Gläser Apfelmus besorgen und wer soll mich sonst halten, wenn nicht er? Weder du noch Mum, noch Dad können das mehr tun. Wobei ich bei Mum und Dad die Schuld wohl ganz allein trage. Aber er kann keinen von euch ersetzen, schon gar nicht alle auf einmal.

Ich weiß, du würdest wollen, dass ich vergesse. Doch das kann ich nicht. Ich weiß, du würdest wollen, dass ich mir nicht die Schuld gebe. Doch das tue ich. Ich weiß, du würdest wollen, dass ich mich auffangen lasse. Aber mein Sturz erscheint mir unendlich. Manchmal denke ich, dass ich es nicht anders verdient habe.

Eliott ist der beste Freund, den ich gerade brauche. Wir werden in ein paar Tagen auf den Hof seiner Tante in eine Wohnung ziehen. Er versucht nicht, dich zu ersetzen. Er weiß, dass er das nichtkann. Vielleicht geht der Schmerz irgendwann vorbei. Doch ich falle noch.

Ich vergesse dich nicht.

Calea

Kapitel 1

Calea

Cal?«

Ich sah von meinem Laptop auf. Eine weiße Fläche, ein unbeschriebenes Dokument und all die Worte, die ich sagen wollte, waren auf dem Weg von meinem Herzen zu meinen Fingern, zu den Tasten verstummt. Stattdessen landete mein Blick nun auf Eliott.

Dunkle, nasse Haare fielen ihm in die Stirn. Seine Augen zeigten einen graugrünblauen Mischmasch an Farben. Die Sonne strahlte durch das Fenster direkt in sein Gesicht. Die Lippen hatte er leicht geöffnet. Seine linke Hand lag auf dem hölzernen Tisch, an dem ich saß. Mit der Rechten strich er sich über das graue T-Shirt. Dunkle Flecken hatten sich darauf gebildet. So wie immer hatte er sich scheinbar nach dem Duschen nicht richtig abgetrocknet und nun klebte der Stoff an seiner Haut.

»Hmm?«, machte ich und legte den Kopf ein wenig schräg. Er lächelte leicht. Ich tat es nicht, denn irgendwie hatte ich es verlernt. Da war bloß mein trauriger Gesichtsausdruck, der bei seinem warmen Lächeln so farblos schien.

Das einfallende Licht und die Schatten der Blätter des Baums, der vor dem Haus stand, tanzten über sein Gesicht. Meine Finger verkrampften sich um die Maus und ich sah von ihm weg nach draußen. Es war alles gut.

»Hey.« Seine Finger legten sich sanft auf meine Hand. »Es ist alles gut. Charles ist bloß wieder geflüchtet. Ich schätze, wir müssen ihn einfangen.«

Meine Augen fanden wieder zu seinen. Mein Herz schlug mir ein wenig schneller gegen den Brustkorb, als es das eigentlich tun sollte. Als es das normalerweise tat. Ein Teil von mir hatte gehofft, dieses Gefühl wäre mittlerweile ganz verschwunden.

Doch ich versank in seinen Augen. In seinem grün und grau und blau und in dem sanften Ausdruck, der in ihnen lag. Warum war er so … warum war er bloß so schön?

Er strich mir noch kurz über die Knöchel meiner Hand und löste seine dann schließlich wieder von meiner.

Ophelia, dachte ich mir. Seit wann ist das so? Seit wann schlägt mein Herz so schnell, wenn er da ist? Seit wann sieht er mich so an? Hat er das immer getan?

»Du denkst nach«, sagte Eliott und warf einen flüchtigen Blick auf meinen Laptop. Ich widerstand dem Drang ihn zu verdecken. Schließlich war da nichts, was er lesen konnte, nichts, was ich zu sagen gehabt hatte.

»Kann sein«, murmelte ich und lächelte eines meiner traurigen Lächeln. Ich denke bloß an dich. Und daran, wie mein Herz in diesem Augenblick nervös flattert. Und ich denke an Ophelia. Dass ihr Herz niemals mehr nervös flattern wird.

Ich schluckte. Warum tat es noch immer so weh? Es war doch bereits drei Monate her. Es kam mir vor, als wäre es erst gestern gewesen. Es schmerzte noch so sehr.

»Hast du geschrieben?«

Ich schüttelte leicht den Kopf. »Nein«, sagte ich leise und sah wieder zu ihm hoch. Mittlerweile hatte er beide Hände auf den Tisch gestützt und sich ein wenig zu mir hinuntergebeugt, damit wir auch nur ansatzweise auf Augenhöhe waren.

»Ich … ich habe es versucht«, fügte ich noch hinzu und schluckte schwer. Obwohl nahezu alles an mir den Blick von ihm abwenden wollte, von seinen Augen, die mir so ruhig und wissend entgegenblickten, sah ich ihn weiterhin an.

»Du hast es versucht«, sagte er und lächelte ein wenig breiter. Stolz schlich sich in seinen Blick. Ich wusste, wieso. Weil ich es die letzten Wochen nicht einmal probiert hatte.

»Aber ich habe es doch nicht hinbekommen, Eliott. Kein einziges Wort habe ich geschrieben.«

»Und weißt du was, Callie? Es ist nicht schlimm. Wenn der Zeitpunkt gekommen ist, wirst du wieder schreiben. Du wirst lachen und tanzen. Du wirst so unglaublich schräg singen und du wirst lieben.« Er lächelte noch immer, doch seine Augen begannen zu glänzen. Ob vor Enthusiasmus oder Trauer, eben weil es gerade nicht so war, konnte ich in diesem Augenblick nicht sagen. Vielleicht wegen beidem. Meine Augen hingegen brannten.

Kurz überlegte ich, was ich früher auf solche Worte geantwortet hätte, bevor meine Schwester auf einmal fort war. Vermutlich hätte ich gegrinst und die Augen verdreht und so getan, als würden seine Worte nicht mein Herz erreichen. Weil ich da noch ziemlich gut darin gewesen war, zu verbergen, was ich fühlte. Oder zumindest glaubte ich das.

»Was ist, wenn nicht?«, flüsterte ich und blinzelte. Ich würde nicht weinen. Nicht schon wieder. Woher kamen all die Tränen? Mir war, als hätte ich bereits einen ganzen Ozean geweint. Doch meine Welt schien bereits überflutet. Was machten da noch ein paar einsame Regentropfen?

»Ich verspreche es dir, Callie.«

Er löste die Hände vom Tisch, strich mir kurz über die Finger und breitete dann seine Arme aus. Ohne jedes Wort stand ich auf, trat einen Schritt vor und ließ mich gegen seine Brust sinken. Er schlang die Arme um meinen Oberkörper, hielt mich fest und ließ nicht zu, dass ich mich verlor. Vielleicht hatte ich das schon längst.

Früher, als ich noch viel mehr gelesen hatte, bevor das alles passiert war, stand in den Büchern, dass es den Fall stoppte, oder zumindest verlangsamte, wenn einen jemand umarmte. Er umarmte mich und mit einem Mal hörte ich auf zu fallen.

Ich hatte gedacht, es wäre wirklich so. Doch nun war es, als würde ich erst in Eliotts Armen wirklich beginnen zu fallen. Als würde ich in diesem Augenblick aufhören mich festzuklammern. Zuzulassen, dass ich fiel und es vielleicht auch immer tun würde. Er gab mir nicht die Sicherheit, dass ich niemals fallen würde. Er gab mir die Sicherheit, würde ich in die Nähe des Grundes kommen, würde er versuchen, mich zu fangen. Und, dass er mit mir fiel. Und verdammt, vielleicht war es das, was mich in diesem Augenblick noch viel mehr schmerzte. Dass er so viel, so viel von sich gab, nur um all die tausend Stücke meines Herzens irgendwie zusammenzuhalten. Vielleicht schmerzte es mich so sehr zu wissen, dass er es nicht schaffen würde. Nicht jetzt. Vielleicht niemals. Doch er versuchte es und schien nicht einmal daran zu denken, in näherer Zukunft damit aufzuhören.

»Es tut weh, Eliott«, flüsterte ich erstickt und schlang meine Arme nun auch um ihn.

»Ich weiß«, murmelte er und legte sein Kinn auf meine Haare. »Es ist okay, Callie.«

Eine Träne rann mir über die Wange, dicht gefolgt von weiteren und sie verfingen sich in dem ohnehin schon nassen Stoff seines grauen T-Shirts. Dort hatten sie sich schon viel zu oft verfangen.

»Es ist okay«, flüsterte er ein weiteres Mal.

Ich fragte mich, womit ich ihn verdient hatte. Warum er blieb und mir alles gab … von sich. Während es absolut nichts gab, was ich ihm zurückgeben konnte.

Ich klammerte mich fest an ihn, atmete seinen Geruch ein und spürte mein Herz kräftig gegen meine Brust schlagen. Wie konnte ein Herz, das so sehr schmerzte, noch so kräftig schlagen?

Kapitel 2

Calea

Der Wind strich mir die Haare aus dem Gesicht, streichelte über meine Haut und meine geröteten Wangen. Warum hatte ich schon wieder geweint? Warum bloß war ich nicht stark genug, um dem Sturm meiner Gefühle standzuhalten? Ophelia würde sagen, ich war stark. Denn ich ließ meine Gefühle zu, versuchte nicht, sie zu verstecken. Doch für mich fühlte es sich viel mehr an, als habe ich keine andere Wahl, nicht die Kraft, sie zu verbergen.

Es war erst kurz nach zehn und eigentlich schon längst an der Zeit, dass wir auf dem Hof von Eliotts Tante helfen mussten. Und stattdessen? Ich war wieder zu schwach gewesen, hatte die Zeit aus den Augen verloren, als ich gedankenverloren auf unbeschriebene Seiten eines weißen Dokuments gestarrt und an Ophelia gedacht hatte. Wie so oft. Wie in all den Momenten, in denen ich nicht so weit abgelenkt war, dass ich nicht an sie dachte. Ich hasste es, wenn ich abgelenkt war. Ophelia verdiente es, dass man jede einzelne Sekunde, jeden einzelnen Atemzug an sie dachte. Ich wollte sie nicht verlieren.

Die Farben tanzten vor meinen Augen. Aufdringlich im Grün der Blätter der Bäume und im Blau des Himmels. Im Orangegelb der Sonne, die bereits hoch am Himmel stand und im hellen Braun des Weizens auf dem Feld neben dem Hof.

Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Meine Finger verkrampften sich erneut. Würde es aufhören? Jemals? Dieses Gefühl von Schuld? Diese Bedrückung, weil ich lebte, all die Farben sah und die Wärme der Sonne spürte, während Ophelia es nicht tat? Irgendwo wünschte ich mir, es würde das nicht tun. Denn das würde heißen, dass ich sie vergessen würde. Vielleicht musste ich so traurig sein. Vielleicht musste ich so leise nach außen und so unglaublich still im Innern sein. Alles andere würde sich wie Verrat anfühlen, dessen war ich mir sicher. Das war es schließlich. Verrat an ihr. Verrat an meiner Schwester.

»Komm«, sagte Eliott, der neben mich getreten war und seine Finger streiften meine. Bloß für einen Augenblick, für eine Sekunde, und dennoch hielt ich die Luft an.

»Sonst ist Charles gleich über alle Berge.«

Ich liebte es, wie er den Namen des Ponys aussprach. So französisch, wie ich es niemals können würde. Scharl. Wobei das, wenn ich so darüber nachdachte, bei mir weitaus komischer klang. Vielleicht würde ich ihn fragen, wie man es aussprach. Vielleicht würde ich ihn fragen, wie er so schön und ruhig klingen konnte, doch ziemlich sicher würde ich das nicht tun. Doch bei ihm klang es wie … Kunst, wenn er redete. Er malte die Buchstaben in die Luft, gab seinem Erzählten Farben und Emotionen. Ich liebte es, wenn er redete. Manchmal, bevor Ophelia gestorben war, hatte er mir abends etwas vorgelesen. Von Jules Verne oder Magret Atwood. Je nachdem, wonach mir gerade war. Meistens mehr nach Magret Atwood. Manchmal hatte er auch gesungen. Mit warmer Stimme und rauen Worten. Französische Lieder, die ich nach den Jahren, die ich französisch gelernt hatte, wirklich gut verstand und die dennoch so fremd und schön geklungen haben. So farbenfroh und immer war Liebe in seiner Stimme mitgeschwungen. Warum waren seine Worte so viel lebendiger als ich?

»Hier gibt es keine Berge, Eliott«, sagte ich und lächelte traurig. »Bloß Felder und Lavendel und noch mehr Bauernhöfe.«

»Es ist halt ein richtiges Kaff.« Er grinste. »Und du hast recht. Charles wird eh nie weiterkommen als bis zum See. Er ist viel zu gerne dort.«

Auch ich kam nicht weiter. Ich war nicht gerne hier. Stehen geblieben, wie eingefroren, zwischen Vergangenheit und ein wenig Leben. Und dennoch wollte ich nicht fort. Vielleicht war es auch das, was Charles nicht weiter als diese paar Meter laufen ließ. Er wusste, er könnte vielleicht nicht die ganze Welt haben, aber würde er ein wenig schneller laufen, ein wenig weiter wegwollen, so würde er es mit Sicherheit von Artigues nach Rian schaffen. Die beiden Orte lagen lediglich vier Kilometer auseinander und dennoch waren es dreieinhalb mehr als bis zu dem kleinen See.

Allerdings konnte es auch gut sein, dass Charles zu dumm war, um zu realisieren, dass es hinter dem See noch weiterging. Oder es war, wie Eliott es gesagt hatte. Dieser See reichte ihm, er wollte nirgendwo anders sein.

Ich wollte gerade weitergehen, als Garfield, der Kater des Hofes, hinter der Ecke des Hauses hervortrat und auf mich zu wackelte. Er war erstaunlich fett. Allerdings aß er auch wirklich alles, was er fand. Und noch vor Kurzem war er irgendwie im Stall in die Kammer mit dem Futter gekommen, war auf ein Brett gesprungen und hatte sich sein Futter auf den Boden geworfen. Dort lag es erst mal, bis in die kleinsten Ecken verstreut, und Garfield hatte sich daran bedient.

Als wir das Chaos in der Futterkammer dann schließlich gesehen hatten, war Garfield über alle Berge gewesen. Er hatte sich in die Sonne gelegt und offensichtlich vor an diesem Tag nichts mehr zu tun. Wie nahezu immer also. Das Futter herunterzuwerfen, war anscheinend anstrengend genug für ihn gewesen.

»Na du«, murmelte ich und beugte mich zu ihm hinunter, um ihn zu streicheln. Er begann zu schnurren, blickte mich aus dunkelgrünen, nach den zwei Monaten bereits vertrauten Katzenaugen an und schlich mir um die Beine. Eliott neben mir hatte die Arme verschränkt und sah den Kater weniger begeistert an.

»Was ist los? «, fragte ich und hörte auf, Garfield zu streicheln, bis er protestierend zu miauen begann. Sein graues Fell war weich und warm von der Sonne.

»Hmm«, machte er. »Dieses Tier hat mir jetzt drei Tage hintereinander jedes Mal, wenn ich die Kaninchen füttern wollte, eine tote Maus in den Futtereimer geworfen. Ich habe mich dazu entschlossen, ihn nun zu ignorieren.«

Ich lächelte leicht. »Böser Garfield«, sagte ich.

»Miau«, kam von ihm zurück. Dann drehte er mir seine breite Rückseite zu und wankte über den Hof in Richtung der Ställe.

Ich wandte mich wieder Eliott zu und mein Atem stockte einen Augenblick, als ich merkte, dass er mich ansah. So, wie er guckte, bereits eine ganze Weile. Er lächelte. Warm und breit und mein Herz pochte energisch gegen meine Brust.

»Charles«, brachte ich hervor und wandte mich von ihm ab. Warum sah er mich so an? Seit wann sah er mich so an? Oder vielmehr: Was war kaputt an meinem Herzen, dass es auf einmal so schmerzhaft schnell schlug, wenn Eliott mich ansah?

»Er läuft uns schon nicht weg.«

»Ist er schon längst«, murmelte ich. Dann lief ich los in Richtung des Sees.

Eliott lachte kurz auf und als er neben mich trat, streiften seine Hände für einen Augenblick meine. Ich zuckte zurück und als er das merkte, trat er einen Schritt beiseite, um mir den Freiraum zu geben, den ich brauchte. Sofort spürte ich, wie mir wieder kälter wurde. Ich schluckte, dann wandte ich meinen Blick gen Boden und hörte dem Knirschen der Kieselsteine zu, wenn ich auf sie trat. Ich war bloß mit meinen abgewetzten, dunkelblauen Turnschuhen nach draußen gegangen. Matsch klebte noch an den Sohlen und den Seiten des Schuhs. Gestern hatte es geregnet, als wir die Pferde von der Weide geholt hatten. Der Boden war durchweicht gewesen und bei jedem schnellen Schritt war Schlamm bis zu den Oberschenkeln gespritzt. Es war bereits dunkel gewesen. Ob es an den grauen Wolken gelegen hatte, oder daran, dass es bereits spät gewesen war, konnte ich nicht sagen. Das Wetter hatte meiner Stimmung entsprochen, düster und voll Regen, der in Strömen vom dunklen Himmel fiel. Kein einziger Stern war zu sehen gewesen. In der letzten Nacht hatte ich wach gelegen. Ich hatte durch das Fenster neben meinem Bett gestarrt. Dem donnernden Regen gelauscht und wie die Tropfen unten auf dem Boden zerplatzt waren. Ich hatte an Ophelia gedacht. Sie hatte Gewitter und Regen geliebt.

Wir liefen eine Weile stumm nebeneinanderher. Dann war bereits der See zu sehen.

»Callie?«, fragte Eliott und ich wusste, was nun kommen würde. Er fragte es jedes Mal. Weil wir es früher so oft getan hatten. »Wettrennen?«

Ich gab jedes Mal dieselbe Antwort. Auch nun schluckte ich und schüttelte dann den Kopf. »Wann anders, Eliott.«

Er nickte, hob eine Hand und strich mir kurz über die Haare. »Okay.«

Ophelia, dachte ich, wo sind all die Sterne meines Nachthimmels hin? Konnten sie der Dunkelheit um sich herum nicht länger standhalten, seit du fort bist?

Die Gräser strichen über meine nackten Beine, sie wehten leicht im Wind. Vorsichtig machte ich meine Schritte über das Feld. Eliott liefen entspannt neben mir her. Er hatte den Kopf leicht in den Nacken gelegt, die Augen waren bloß noch einen Spalt breit offen. Die Sonne schien direkt auf sein Gesicht und er atmete ruhig ein und aus, während mein Atem bei seinem Anblick etwas schneller ging.

Seine dunklen Haare waren ein wenig zerzaust, wie so oft, wenn sie langsam nach dem Duschen trockneten. Auf einmal blieb er stehen und pflückte einen der Halme. Er schob ihn sich zwischen die Lippen und unweigerlich blieb mein Blick an ihnen hängen. Er drehte sich zu mir um und sah mich an. Dann hob er eine Hand. Mein Herz klopfte schneller und als er mir eine dunkelbraune Haarsträhne zurück hinters Ohr schob, lächelte er.

Ich lächelte nicht. Ich war wie erstarrt. Als er das merkte, ließ er die Hand wieder sinken, sein Lächeln wurde ein wenig trauriger und er richtete seine Augen wieder nach vorne. »Entschuldigung«, murmelte er.

»Du brauchst dich nicht entschuldigen«, gab ich sofort zurück. Es war bloß … es war bloß mein Herz, dachte ich. Was tat es dort, in meiner Brust? Vielleicht war es ebenso verwirrt wie ich.

Um mich nicht erklären zu müssen, tat ich etwas, was ich zuvor bloß vor Ophelias Tod getan hatte. Ich griff nach seiner Hand, verflocht meine Finger mit seinen. Das Kribbeln schoss nicht wie Blitze meine Arme hoch, viel mehr kam es schleichend. Erst meine Fingerspitzen, dann mein Handballen, der sich an seinen schmiegte. Dann mein Unterarm und schließlich kam es bei meinem Herzen an. Nicht das Kribbeln. Sondern der Gedanke, dass ich mehr für ihn empfinden musste. Ich hatte es nicht wahrnehmen wollen. Nicht nach dem, was mit Ophelia geschehen war. Hatte nicht lieben wollen, ohne sie. Und nun stand ich hier, hielt die Hand von Eliott und mir war klar, es war ohnehin schon zu spät. Alles an mir schrie, dass ich seine Hand loslassen sollte. Ich sollte sie loslassen und mit ihr meine Gefühle. Ich sollte sie zurückhalten, denn wie konnte ich auch bloß daran denken, glücklich zu sein, während meine Schwester tot war? Es fühlte sich an wie Betrug. Ich umklammerte seine Hand ein wenig fester, suchte Halt bei ihm, aber vielleicht riss ich ihn in diesem Augenblick auch bloß mit in die Tiefe. Er ließ sich mitreißen. Er ließ sich mitreißen, denn er wusste, zusammen fallen war nicht ganz so schlimm, wie wenn man es alleine tat.

Und so liefen wir übers Feld. Sein Daumen strich über meinen Handrücken, ruhig und warm, so wie er es war. Mein Herz klopfte mir bis zum Hals. Ich schluckte hörbar und fragte mich, wie sich etwas so falsch und richtig zugleich anfühlen konnte. Das hier musste aufhören. Dringend. Doch wie konnte etwas aufhören, das nicht einmal wirklich angefangen hatte?

Wir kannten uns nun bereits seit vier Jahren. Er war dabei gewesen, als ich das erste Mal richtig verliebt war. Er war dabei gewesen, als ich voller Verzweiflung von einer Party abgeholt werden wollte, als ich gemerkt habe, dass es absolut nichts für mich war, von Jugendlichen hormongesteuerten Arschlöchern umgeben zu sein. Er hatte mich abgeholt. Und in der Nacht war er bei mir geblieben. Ich hatte ihm von Ryan erzählt, der der festen Überzeugung gewesen war, mir den ersten Kuss schenken zu müssen. Das Einzige, was dieser Kuss eventuell gewesen war, war ein Geschenk der Hölle. Noch immer konnte ich mich genau an seine schlabbrige Zunge erinnern, wie er mir diese in den Mund geschoben und mit seiner Hand meinen Hintern umfasst hatte.

Eliott war in der Nacht bei mir geblieben. Er hatte sich zu mir gelegt. Mich gehalten, als ich so sehr geschluchzt hatte, dass mein ganzer Körper gebebt hatte. Am nächsten Tag hatte Ophelia Ryan vor der gesamten Klasse eine Ohrfeige gegeben. Er hatte mich nie wieder auch nur angesehen.

Und anscheinend war ich von dem Punkt nicht weggekommen, hatte mich seitdem keinen Schritt vorwärtsbewegt. Seit der Nacht der Party. Vielleicht jedoch war ich aber auch einfach wieder dort gelandet. In Eliotts Armen, wie er mich hielt und für mich da war. Doch was war, wenn unsere verschränkten Hände das zwischen uns zerstörten? Diese Freundschaft? Das durfte ich nicht zulassen. Bloß dieser Augenblick. Bloß jetzt, für diese paar Sekunden, die zu klein sein würden, als dass sich irgendwer in der Zukunft daran erinnern würde. Bloß jetzt würde ich seine Hand noch nicht loslassen. Ich konnte nicht.

»Schau. Da hinten liegt Charles.«

Als ich zu Eliott aufsah, blickte er das Pony an, das es sich vor dem See gemütlich gemacht hatte. Er lag auf seinem Lieblingsplatz direkt unter dem Baum. Ich sah Eliott noch ein wenig länger an. Betrachte seine gehobenen Mundwinkel. Seine leicht funkelnden Augen.

Bumm. Bumm. Bumm. Machte mein Herz. Kleine Explosionen, mitten in meiner Brust.

02. Juni 2018

Ophelia,

Erinnerst du dich noch an das Theaterstück aus der zehnten Klasse? Das, wo ich unbedingt mitmachen wollte, ich mich aber erst getraut habe, als du mir gesagt hast, dass ich es machen soll? Du hast mir Mut gegeben. Also habe ich bei dem Stück mitgemacht. Und dann habe ich sogar diese eine Rolle bekommen. Ich hatte nicht einmal im Traum daran gedacht, sie zu bekommen und dennoch stand ich später da. Ich als Julia und Eliott als Romeo. So haben wir uns kennengelernt.

Erinnerst du dich noch daran, dass es eine umgeschriebene Version von Romeo und Julia gewesen ist? Eine Version, die mehr in der jetzigen Zeit spielte und Julia war unglaublich traurig. Romeo hatte sie immer gefragt, wie ihre Nacht aussehe. Tiefschwarz, oder mit ersten Sternen? Ob sie Hoffnung an dem sonst so dunklen Himmel entdecken konnte.

Nun stellt mir Eliott öfter diese Frage, seit du weg bist. Ich würde ihm so gerne sagen, ich sehe Sterne und nicht nur eine alles verschluckende Dunkelheit. Doch wie kann ich jemals wieder Sterne sehen, wenn du nicht da bist, um sie mir an den Himmel zu bringen? Wer soll mir sonst Hoffnung und Mut geben, wenn nicht du?

Ich vergesse dich nicht.

Calea

Kapitel 3

Calea

Am Abend lag ich auf meinem Bett und hörte leise Musik. Wir waren gerade erst mit der Arbeit auf dem Hof fertig geworden und ich hatte mich hingesetzt und einen Brief an Ophelia geschrieben. Weil ich das Gefühl hatte, bloß sie würde mich verstehen, bloß bei ihr ergaben meine Worte noch irgendeinen Sinn.

Nun lag ich hier. Den Brief hatte ich zu den anderen in die kleine Stofftasche getan, die bereits so viele Worte in sich trug, so viele Gedanken enthielt und lauschte der Musik. Ich hörte nichts, wo man mitsingen konnte. Es war ruhige Musik, Klavierstücke von Ludovico Einaudi. Ich selbst hatte mal Klavier gespielt, als ich dreizehn gewesen war. Mit siebzehn hatte ich wieder aufgehört, weil es mit meinem Schulabschluss zu stressig geworden wäre. Nun lauschte ich lieber der Musik, als selbst zu spielen. Die Stimmung, die Ludovico mit seinen Liedern vermittelte, schien meine Gefühle oft so viel besser beschreiben zu können, als ich es selbst jemals können würde.

Als Eliott in mein Zimmer kam, hob ich meinen Kopf ein wenig von dem Kissen, um ihn ansehen zu können. »Mmh?«, machte ich.

Er stand im Türrahmen, hatte mittlerweile ein anderes, schwarzes T-Shirt an, das ihm, sehr zu meinem Nachteil, unwahrscheinlich gut stand und grinste mich an. »Essen«, sagte er.

Meine Mundwinkel hoben sich nun ebenfalls. Eliott konnte vieles, aber besonders gut konnte er kochen. Ich im Gegensatz war eine Kochkatastrophe. Oder zumindest redete ich mir das ein. In Wirklichkeit war ich einfach nur ziemlich faul, was das anging.

»Was gibt es?«, fragte ich, drehte mich erst auf den Rücken, dann setzte ich mich auf. Meine Finger fanden zu dem Handy, das auf dem Nachttisch lag und ich schaltete die Musik aus. Sofort fühlte ich mich ein wenig stiller. »Kartoffelgratin und jetzt ist Apfelmusstreuselkuchen im Ofen.« Er grinste noch ein Stückchen breiter.

Ich sprang auf und lief mit schnellen Schritten auf ihn zu. »Wirklich?« Ich war mir sicher, dass meine Augen ein wenig leuchteten. Wenn er kochte, geschah das beinahe immer. Ich war in letzter Zeit selten aus mir herausgekommen, hatte selten gegrinst oder gelächelt. Nun, wo ich wusste, er kochte für mich mein Lieblingsessen, fiel es mir leichter. Nicht, weil er sich besonders viel Mühe gab. Nicht, weil er für mich in der Küche gestanden, sondern, weil er sich Gedanken gemacht hatte. Und weil er mir eine Freude bereiten wollte.

Ich schloss ihn in meine Arme, vergrub meine Nase in seinem T-Shirt und atmete tief ein. Er roch nach frisch gewaschener Wäsche und ein wenig nach Pferdestall.

»Riechst du da gerade an mir?«, fragte er und ich hörte das Grinsen in seiner Stimme ganz genau. Ich klammerte mich noch ein wenig fester an ihn und er ließ seine Hände über meinen Rücken wandern. Ich liebte es, ihn zu umarmen. Vielleicht sollte ich es öfter tun.

»Eventuell«, murmelte ich, machte mich schließlich von ihm los und lächelte leicht. »Danke«, sagte ich dann. Fürs Kochen und für die Umarmung, dachte ich im Stillen.

»Immer«, gab er zurück und ich wusste genau, er meinte es auch so.

Ich schob mich an ihm vorbei und ging in die Küche, wo das Kartoffelgratin auf dem Herd stand. Im Ofen war mein geliebter Apfelmusstreuselkuchen und es roch einfach nur gut. Ich seufzte und strich mir eine verirrte, dunkelbraune Haarsträhne hinters Ohr, dann nahm ich Teller und Besteck aus dem Schrank und ging ins Esszimmer, das direkt an das Wohnzimmer angrenzte. Eliott lief mit dem Kartoffelgratin hinter mir her.

Wir setzten uns und begannen zu essen. »Ich bringe später noch ein paar Stücke von dem Kuchen zu Val und Lou. Magst du mitkommen?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Mal schauen.« Florence war Eliotts Cousine und Louanne seine Tante. Sie wohnten beide mit uns auf diesem Hof. Florence war zwei Jahre jünger als ich und eine unglaubliche Plappertasche. Gleichzeitig sah sie trotz ihrer Blindheit manchmal so viel mehr, als es ein Sehender vermutlich jemals können würde. Sie wusste, wenn man sich unwohl fühlte, fand so oft die richtigen Worte und wenn sie nicht gerade redete, dann hörte sie zu. Sie konnte toll zuhören.

Ich sah aus dem Fenster, betrachtete die Sonne, die langsam hinter dem Feld verschwand und einen rot orangen Horizont hinterließ. Es war bereits zehn Uhr und morgen würden wir um fünf aufstehen müssen. Ich fand das nicht schlimm. Ich war wenig Schlaf gewöhnt. Eliott musste es mittlerweile auch sein, so oft, wie er nachts mit mir wach gelegen hatte, wenn ich nicht schlafen konnte. So oft, wie wir um zwei Uhr noch irgendwelche Serien geschaut hatten.

Es tat mir weh, daran zu denken, wie oft er für mich wach geblieben war. Wie oft er für mich zurücksteckte und dennoch war ich nicht bereit, dies aufzugeben. Weil ich es brauchte. Weil ich selbstsüchtig war.

»Magst du heute Abend noch einen Film gucken?«

Ich zuckte mit den Schultern. Hin- und hergerissen zwischen dem Gedanken, ob ich die Wahrheit sagen sollte, oder um ihm wenigstens ein bisschen Schlaf zu gönnen, abzulehnen.

»Du musst nicht, das weißt du, oder?«, sagte er, als ich auch nach einer Weile nicht antwortete und stattdessen schweigend aß.

»Ja, ich weiß.« Ich seufzte, strich mir verirrte Haarsträhnen hinters Ohr und sah ihn schließlich wieder an.

»Aber?«

»Ich ... Ich will nicht, dass du noch mehr Zeit für mich aufwendest, als du sowieso schon tust. Ich möchte nicht, dass du die Nächte so lange wach bleibst, weil ich nicht schlafen kann. Ich möchte nicht, dass du...«

»Cal?« Er lächelte, wenn auch ein wenig traurig.

»Mmh?«

»Ich habe dich das gerade gefragt, weil ich einen Film mit dir gucken möchte. Nicht, weil ich glaube, dass du es nicht ohne mich schaffst. Du bist stark. Und ich bin gerne mit dir die Nächte wach.«

»Aber es ist nicht mehr so wie früher, Eliott«, murmelte ich.

Er nickte leicht. »Nein, es ist so wie heute.«

Kapitel 4

Eliott

Calea seufzt leise, als sie sich neben mich aufs Sofa fallen lässt. Gerade waren wir noch bei meiner Tante und haben ihr den Kuchen gebracht, nun wollten wir einen Film gucken. Ich wusste, Calea konnte nicht schlafen, seit ihre Schwester gestorben war. Ich sagte es ihr nicht, doch manchmal hörte ich sie mitten in der Nacht noch ins Bad gehen. Oder etwas zu trinken in der Küche suchen. Manchmal überlegte ich, ob ich aufstehen und zu ihr gehen sollte. Doch ich wusste, sie wollte nicht, dass ich wegen ihr noch so spät wach war. Schließlich hatte sie mir das gerade auch noch mal gesagt. Doch solange ich sie nachts noch durch unsere Wohnung schleichen hörte, konnte auch ich nicht schlafen. Weil sie noch wach war und weil ich so gerne für sie da sein wollte. Aber auch, weil ich selbst nicht aufhören konnte zu denken.

»Welchen Film magst du sehen?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Kung Fu Panda?«, fragte sie dann und zupfte an dem Saum ihres Oberteils.

»Okay«, sagte ich, lehnte mich vor, um an die Fernbedienung zu kommen, die auf dem hölzernen Sofatisch lag und streckte meinen anderen Arm aus, um sie zu mir heranzuziehen.

Kurz spürte ich ihr Zögern, dann jedoch gab sie nach und legte ihren Kopf auf meine Schulter. Ihre Haare fielen auf mein schwarzes T-Shirt. Das Deckenlicht hatte ich längst ausgestellt und nun flackerte der Raum im Licht des kleinen Fernsehers. Ich zog Calea ein wenig weiter zu mir heran und schließlich legte ich meinen Kopf auf ihren. Ich spürte ihre Wärme, spürte ihre Finger auf meinem linken Bein. Ich spürte das leichte Kribbeln. Und obwohl ich wusste, dass ich nicht so fühlen sollte, ließ ich sie nicht los, oder vergrößerte den Abstand zwischen uns. Ich wollte so hier sitzen, wollte sie festhalten und umarmen. Doch ich wusste, ich sollte nicht so empfinden, wie ich es tat.

Nach dem Tod ihrer Schwester hatte ich meine Gefühle weitaus besser im Griff gehabt, doch nun spürte ich, wie sie langsam wieder zurückkamen. Und das scheinbar stärker und unaufhaltsamer als zuvor. Ich hasste mich dafür. Denn sie würde vermutlich niemals ähnlich empfinden. Ich wollte nicht, dass ich unsere Freundschaft dadurch zerstörte.

Wir saßen stumm auf dem Sofa und sahen uns den Film an. Als ihre Finger ein wenig verrutschten, spürte ich, wie ich mich anspannte. Sie musste im Halbschlaf sein, sonst würden ihre Hand nicht weiter nach oben wandern. Ich presste die Lippen fest aufeinander, überlegte, ob ich vielleicht sagen sollte, dass ich auf Toilette musste, doch sie schien auf einmal so … friedlich. So friedlich wie lange nicht mehr und ich wollte sicherlich nicht derjenige sein, der ihr diesen Frieden nahm.

Als der Abspann des Films lief, war Calea eingeschlafen. Zumindest schloss ich wegen ihrer ruhigen Atemzüge und ihrem immer weiter nach unten rutschenden Kopf darauf. Wann war sie das letzte Mal einfach so auf dem Sofa eingeschlafen? Es musste Monate her sein.

Nun saß ich hier fest. Wenn ich ehrlich war, wollte ich mich auch nicht wegbewegen. Ich wollte hier genauso sitzen bleiben. Mein Arm über ihre Schultern gelegt, ihr Kopf, der nun langsam meine Brust hinunterrutschte. Sie war so unglaublich süß, wenn sie schlief. Ausnahmsweise merkte man ihr dann nicht den Schmerz an, den sie mit sich herumtrug. Nicht die Trauer und nicht die Schwere ihrer Stille.

Ich tastete neben mir nach der Fernbedienung und drückte auf den roten Ausschaltknopf. Auf einmal war es ruhig und dunkel. Ich schloss die Augen, hielt sie ein wenig fester in meinen Armen und atmete ruhig ein und wieder aus. Dann ließ ich meinen Kopf gegen die Sofalehne fallen und spürte, wie mich die Müdigkeit langsam überkam. Meine Gedanken schweiften ab, zu dem, was in den letzten Tagen passiert war. An einem Tag hatten wir auf ihrem Bett gesessen, sie hatte geweint und ich hatte versucht, sie zu halten. Stattdessen war ich mit ihr gefallen.

Ich spürte sie am ganzen Körper zittern, doch die Tränen liefen lautlos über ihre Wange.

»Ich will weg von hier, Eliott.«, hatte sie irgendwann geflüstert. »Nicht, weil es hier so grausam ist. Es ist besser als sonst wo. Doch ich fühle mich hier so verloren. Ich will irgendwo hin, wo ich noch nicht war, wo meine Erinnerungen nicht voll sind mit Ophelia.«

Langsam öffnete ich meine Augen wieder, starrte in die Dunkelheit und beugte mich schließlich vorsichtig vor, um an mein Handy zu kommen. Das Display leuchtete auf, als ich es anschaltete. Ich hielt es ein wenig von Calea weg, damit sie nicht aufwachte. Dann suchte ich nach der Nummer meiner Tante.

Ich: Meinst du, ich könnte das Wohnmobil ausleihen?

Ich starrte meine Nachricht einen Augenblick an, dann drückte ich ein weiteres Mal auf den Knopf und das Display wurde dunkel. Ich schluckte, schloss die Augen wieder und überlegte, wie es sein würde, wenn das, was ich gerade im Kopf hatte, funktionierte. Ich würde Calea fragen müssen.

Auf einmal wurde ich nervös. Würde sie die Idee mögen? Meinte sie es ernst, dass sie irgendwo hinwollte, wo sie noch keine Erinnerungen an den Ort hatte? Wir würden durch ganz Frankreich reisen können, wenn sie wollte. Ein Roadtrip. Doch was war, wenn sie nicht wollte? Klar, dann würden wir es einfach nicht machen. Doch … Ich wollte mit ihr unterwegs sein. Und vielleicht war es eigennützig, doch ich würde liebend gerne mit ihr auf Reisen gehen. Vielleicht würden wir auf dem Weg ein paar Sterne für ihren Himmel finden.

Kapitel 5

Calea

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, fühlten sich meine Glieder schwer an. Ich schien Tonnen zu wiegen und konnte mich keinen Zentimeter bewegen. Manchmal war das so. Manchmal fühlte ich mich schwer, weil ich genau wusste, dass es doch eigentlich leichter für mich sein sollte. Ich fühlte mich schwer, weil ich nicht aufstehen wollte, und ich fühlte mich schwer wegen all der Worte, die keinen Weg mehr aus mir herausfinden wollten.