All die Farben die wir malen - Marike Wittchen - E-Book

All die Farben die wir malen E-Book

Marike Wittchen

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Beschreibung

**In diesem Young Adult Roman treffen Trauer, Verlustängste und die erste Liebe mitten ins Herz. Eine gehörlose Protagonistin und eine ganz besondere Beziehung zu Farben.** Ich möchte, dass man mich nicht so schnell vergisst. Vielleicht liegt es daran, dass ich nichts von dieser Welt höre und dadurch das Gefühl habe, umso lauter sein zu müssen. Oceanes Leben ist chaotisch. Ihre Gefühle für Jean, den älteren Bruder ihres besten Freundes, sind chaotisch. Und je mehr Zeit sie miteinander verbringen, desto mehr gerät alles durcheinander. Ihr Leben zu meistern, herauszufinden was sie wirklich will und zu verhindern, dass sich bei ihrer kleine Schwester die eigene traumatische Kindheit wiederholt, verlangt Oceane alles ab. Doch manchmal ist Hoffnung alles was es braucht, für einen Funken Glück…

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EPUB
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Seitenzahl: 344

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Copyright 2023 by

Dunkelstern Verlag GbR

Lindenhof 1

76698 Ubstadt-Weiher

http://www.dunkelstern-verlag.de

E-Mail: [email protected]

ISBN: 978-3-910615-84-7

Alle Rechte vorbehalten

Inhalt

Vorwort

Triggerwarnung

Playlist

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Epilog

Danksagung

Vorwort

Im Folgenden werden die Passagen, die in Gebärdensprache gesprochen werden, der leichterten Lesbarkeit wegen an die Lautsprache angepasst, da die Grammatik von Gebärdensprachen sich von der Grammatik von Lautsprachen unterscheidet. Zum Beispiel wäre ein »Ich verstehe dich nicht« in der Deutschen Gebärdensprache (DGS) »ICH-DICH-NICHT-VERSTEHEN«, wobei das »NICHT« nur durch ein Kopfschütteln ausgedrückt wird und sich nur durch dieses von der Gebärde für »ICH-DICH-VERSTEHEN« unterscheidet. Daher wird hier die Grammatik von lautbegleitendem Gebärden genutzt, sodass der Satzbau, dem der Schriftsprache entspricht.

Triggerwarnung

Lieber Leser:innen,

in diesem Buch werden ernste Themen behandelt, welche ich euch im Folgenden auflisten werde. Bitte lest nur das, womit ihr euch wohlfühlt.

Negative Einstellung zu Gehörlosigkeit

Häusliche Gewalt

Physische und psychische Gewalt von der Mutter an der Tochter

Schlechte Eltern-Kind-Beziehung

Alkoholmissbrauch und Sucht

[Da jeder Mensch individuell ist und jeder Mensch eigene Trigger hat, kann ich diese Liste nicht für vollständig erklären, allerdings habe ich sie nach bestem Gewissen und Wissen ausgefüllt]

Alles Liebe

Marike

Playlist

Battling life (The Dunwells)

Falling in love (Cigarettes after Sex)

Summertime low (Old Sea Brigade, Luke Sital-Singh)

Indigo Home (Roo Panes)

Sky’s still blue (Andrew Belle)

The Wisp sings (Winter Aid)

Beige (Yoke Lore)

Flume – Bon Iver Cover (Hundreds)

The painter (Pottekes)

Those eyes (New West)

Don’t forget about me (Chris James)

Memories (Conan Gray)

Lost with you (Patrick Watson)

Ultraviolence (Lana Del Rey)

Freaks (Surf Curse)

Sweetie little Jean (Cage the Elephant)

Run (Daughter)

Prolog

sieben Jahre zuvor

Dunkellila

Ich male

in Farben meines

Schmerzes,

damit ich vergesse,

dass ich verletzlich bin

und dass es so viel

wehgetan hat,

denn wenn ich in

Dunkellila male,

fühlt es sich ein wenig

leichter an

bloß nach Kloß im Hals

und Erinnerungen

bitter auf den Lippen

Aber in Schmerzaugenblicken

kann ich immer noch

Weiß drüber malen

und Gedanken und Farben

fortwischen

wie Staub.

OCEANE

Ich spürte ihre Schritte ganz, ganz laut, wie sie über die hölzernen Dielen polterten, und ich konnte kaum an etwas Anderes denken.

Bumm, bumm, bumm. Vielleicht war es auch mein Herz, dachte ich mir und zog die Knie noch ein wenig enger an meine Brust. Es tat ein bisschen weh, so zu sitzen, der blaue Fleck an meinem Unterarm machte sich bemerkbar, wenn ich ihn so fest an mein Bein presste. Doch ich wollte mich nicht rühren, mich nicht größer machen. Ich hatte Angst, dass man mich sonst schneller bemerkte. Ich wollte ganz, ganz klein sein. Vielleicht sah sie mich dann nicht, dachte ich mir und ignorierte die Schmerzen an meinem Arm. Es hat schonmal mehr wehgetan.

Ihre Schritte kamen näher. Ich schluckte. Sie klangen nicht wütend, gar nicht. Wenn sie wütend wäre, wären ihre Schritte stampfender und schneller. Doch so fühlten sie sich gar nicht so laut an, eigentlich ganz ruhig. Vielleicht sollte ich gerade nicht so viel Angst haben. Sie hatte ihre guten Momente, wirklich. Vielleicht war das hier gerade einer. Ich bewegte mich, meine nackten Füße glitten über den Fußboden.

Vermutlich fragte sie sich jetzt, ob ich überhaupt zu Hause war, eigentlich saß ich am Esstisch, wenn sie heimkam und machte meine Hausaufgaben oder zeichnete. Vielleicht sah sie gerade auf die Uhr und fragte sich, wo ich mich herumtrieb, ob ich schon wieder bei Gabriel war. Schließlich hatte ich schon seit drei Stunden Schulschluss. Doch ich war hier, ganz leise, ganz klein. Ich wünschte, ich wäre, ebenso wie meine Schwester, bei meinen Freunden. Sie durfte sie einfach besuchen gehen. Dabei war sie noch so viel jünger als ich. Und so viel hörender.

Ich wollte was tun, »ich bin hier«, wollte ich mit sicheren Handbewegungen von mir geben, aber meine Hände fühlten sich an wie Backsteine, und ich fürchtete, ich konnte sie nicht heben, nicht einmal ganz leicht.

Ihre Schritte fühlten sich noch näher an, sie war nicht mehr weit, direkt auf dem Flur. Sie stampfte auf die Dielen, und ich zuckte zusammen. Dreimal schnelles Stampfen. Sie wollte, dass ich darauf reagierte. Ich spürte ihre Bewegungen in der Wand, in dem Boden unter meinen nackten Füßen.

Ich presste mich ein bisschen fester auf den Boden, direkt hinter meinem Bett. Die Zimmertür ging auf, und meine Mutter trat hindurch.

»Da bist du! Was machst du denn hier?«, gebärdete sie, als sie mich ansah.

Ich starrte nach oben in ihre Augen, die ich manchmal sah, wenn ich in den Spiegel blickte. Die blonden Haare hatte sie zu einem strengen Zopf zusammengebunden. So sah sie aus, wenn sie von der Arbeit kam. Die weiße Bluse saß wie immer gut, kaum Falten, auch nach dem langen Tag nicht, und die schwarze, enge Hose, die sie dazu trug, hatte keinen einzigen Fleck.

»Ich sitze hier«, meinte ich, ein bisschen unsicher, obwohl ich lauter sein wollte und zuckte mit den Schultern, als wäre nichts dabei.

»Wie lange sitzt du schon hier?«

»Nicht lange.«

»Wieso sitzt du hier?«

Das fragte ich mich auch. Manchmal, wenn ich in der Schule feststellte, dass andere Mütter nicht so zu ihren Kindern waren wie meine zu mir, dass andere Kinder keine blauen Flecken auf der Haut hatten und wenn doch, dann vom Spielen.

»Oceane?«

Ich hatte nicht geantwortet. Sie hasste es, wenn ich nichts zurückgab, doch sie schien noch immer ruhig, und ich glaubte, das machte mir noch mehr Angst.

»Einfach so.« Meine Augen wurden größer, als sie einen Schritt vortrat, und für eine Sekunde konnte ich bereits den Schmerz fühlen, wie er durch meine Knochen schoss, über meine Haut zischte und mein Herz ein wenig beben ließ. Doch sie hielt mir bloß die Hand hin, als wolle sie mir hochhelfen, und mit zitternden Fingern ergriff ich sie.

Als ich vor ihr stand, sah ich zu ihr hoch und dachte mir, dass das vielleicht einer ihrer guten Tage war. Sie sah nicht wütend aus, nicht unruhig, ihre Augen waren nicht so dunkel wie sonst.

»Hast du deine Hausaufgaben schon gemacht?«, fragte sie, als sie zur Tür lief, mir noch immer zugewandt. Ich schüttelte den Kopf. Eigentlich machte ich meine Hausaufgaben immer direkt, aber heute war kein schöner Schultag gewesen. Man hatte sich über mich lustig gemacht, auf mich gezeigt und gelacht, und ich war mir sicher, sie hatten über mich geredet, denn ich konnte sie schließlich nicht hören.

Und sie hatten recht. Ich konnte sie nicht hören, doch ich sah ihre Blicke, ihr Lachen, fühlte ihre Worte ganz tief in meinem Herzen, und es schmerzte.

»Du weißt, du musst deine Hausaufgaben machen. Ich arbeite den ganzen Tag und komme heim, und du hast noch nicht einmal deine Aufgaben erledigt.«

Ihr Blick wurde nun doch düsterer. Ich kannte diesen Ausdruck. Fang nicht an zu zittern, Oceane, sagte ich mir. Vater hat gesagt, ich brauche keine Angst haben, ich soll stark sein.

»Ich war in der Schule«, bedeutete ich meiner Mutter, und obwohl ich so sehr Angst hatte, dass mein Herz mehr bebte als meine Hände, reckte ich den Kopf ein wenig in die Höhe. Bloß nicht fürchten, sagte ich mir. Ich brauche keine Angst haben. Sie ist deine Mutter. Sie tut dir nicht weh, nicht absichtlich, sie hat sich nicht unter Kontrolle, es ist mein Fehler. Schließlich behandelt sie meine Schwester Caroline nicht so wie mich.

»Und das heißt für dich, dass du danach keine Hausaufgaben machen brauchst?« Sie legte fragend den Kopf schief und zog die Augenbrauen hoch, forderte mich dazu auf, mich zu verteidigen.

»Ich habe gemalt.«

Sie stieß die Luft aus, das sah ich daran, wie die Luft ihrem Oberkörper entwich, wie sie danach den Kopf schüttelte und freudlos auflachte. »Zeig es mir.«

Ich schluckte, nickte, lief zur Küchentür. Ich wollte ihr das, was ich gemalt hatte, nicht zeigen. Es gehörte mir, nur mir. Mir. Mir, nicht ihr. Doch ich zog das Blatt unter der Zeitschrift hervor und zeigte es ihr. Weiß mit Lila und Blau und ein wenig Orange. Es gehört mir, dachte ich und presste die Lippen fest aufeinander. Ich wollte nicht weinen, nicht jetzt, am liebsten nie wieder.

»Was soll das darstellen?«, fragte sie, als ich sie ansah.

»Wolken«, gab ich zurück und fühlte mich leise, verletzlich, kaputt. Irgendwie müde. Ich hatte Angst unter ihrem Blick, aber als sie mich fassungslos ansah, ihre Hand hob und mich fest am Oberarm packte, so fest, dass es schmerzte, kullerten keine warmen Tränen über meine Wangen. Ich hob das Kinn ein wenig, schon wieder. Du brauchst keine Angst haben, hatte mein Vater gesagt.

»Wegen alberner Wolken hast du es nicht geschafft, deine Hausaufgaben hinzubekommen?« Sie sprach langsam, damit ich von ihren Lippen lesen konnte, ganz deutlich, und ich wünschte, ich hätte nie lernen müssen, sie so zu verstehen, doch das tat ich. Ich nickte.

»Ich kann sie auch jetzt noch machen.«

»Ich arbeite den ganzen Tag. Sorge dafür, dass du hier ein gutes Leben führen kannst. Dass dein Vater seinem bequemen Job im Altenheim nachgehen kann. Dass du deine Leinwände und Stifte bekommst, die du wirklich nicht brauchst. Und du machst nichts, wirklich nichts. Und dann starrst du mich auch noch so rotzfrech an.«

Sie hatte recht, dachte ich mir. Ich tat nichts, wirklich kaum etwas, aber ich war erst zwölf. Ich glaubte, bei den anderen aus meiner Schule war das nicht so. Manche von ihnen waren nachmittags auf dem Spielplatz, andere spielten Spiele auf dem Fernseher, manche malten mit Kreide auf die Straßen. Das tat ich manchmal mit Gabriel, wenn Mutter mich aus dem Haus ließ. Ich wünschte mir so sehr in diesem Augenblick, ich wäre nun dort. Vielleicht wäre auch Jean da. Vielleicht würde er mich ärgern. Ich schloss die Augen, wartete bloß noch, weinte nicht.

Meine Mutter packte fester zu, und mein Herz zog sich zusammen, als sie mich schüttelte.

Vater sagte immer, ich soll lange Sachen anziehen, die meine blauen Flecken verdeckten. In den letzten zwei Jahren hatte ich keine T-shirts, keine Kleider, keine kurzen Hosen mehr getragen, und Gabriel ärgerte mich manchmal damit. Ich glaubte, er tat das, weil er es komisch fand, aber das war in Ordnung. Ich wusste, er meinte es nicht böse. Er meinte es gut mit mir.

Vater sagte immer, es tat ihm leid, dass er so viel trank, dass er nicht da war für mich. Er sagte, eines Tages würde er auf mich aufpassen und mich beschützen, vor wem auch immer. Vor meiner Mutter vielleicht. Manchmal, wenn er nachts zu mir kam und mir einen Gute-Nacht-Kuss gab, spürte ich etwas Kaltes, Nasses an seinen Lippen. Ich wusste, es waren Tränen, ich hatte selbst schon Stunden mit ihnen verbracht, und in manchen Nächten fragte ich mich dann, wo sie herkamen, warum er weinte.

Vater sagte immer, ich brauchte keine Angst vor Mutter haben. Aber als der Schmerz jetzt, in diesem Augenblick, durch meine Adern schoss und meine Augen unter meinen Lidern zu brennen begannen, glaubte ich, dass er, zumindest was Letzteres anging, log. Vielleicht hoffte er bloß. Aber ich fürchtete mich. So sehr, und ich öffnete die Augen, sah hinter sie, sah verschwommen, aber ich sah dunkellila Wolken auf Papier, und ich dachte mir: Ich hätte gerne ein wenig Weiß, um Violett fortzuwischen wie Staub.

Kapitel 1

Grau

Weil ich

Spätsommerabendlilawolken

Immer am liebsten mochte

Wollte ich dich in

Violett malen

Doch am Ende warst du

Grau.

OCEANE

Heute vor einem Jahr habe ich beschlossen, glücklich zu sein. Dass ich es verdient habe, mit allem Drum und Dran, mit einem breiten Lächeln und Nächten, in denen ich lache und zu den Sternen sehe und mir denke: Das hier ist das Leben, das ich will.

Allerdings fand ich heraus, dass das alles gar nicht so einfach war, wie man es gerne hätte. Ich schaffte es nicht, mir einen Therapie-Platz zu suchen, auch wenn ich wusste, dass es eine schlaue Entscheidung wäre. Ab und an hatte ich das ein oder andere Gespräch gehabt, aber ich wusste, meine Vergangenheit brauchte mehr als ein Gespräch, um aufgearbeitet zu werden. Herzen schmerzen. Sie brechen und splittern, die Gedanken wirbeln im Kopf wild umher, und man vergisst, dass man Flügel hat. Man vergisst zu atmen, Pausen zu machen, vergisst, dass man nicht immer breit lächeln muss. Dabei hatte ich es doch gerade erst so richtig gelernt.

Es war der 15. August(Sonntag), draußen regnete es in Strömen, und meine Finger zitterten. Nur leicht, kaum merklich, aber sie taten es. Ich kannte dieses Zittern zu gut, hatte schon oft dieses kleine Beben gefühlt, doch heute war einer dieser Tage, an denen ich es wieder so verdammt deutlich wahrnahm.

Vielleicht sollte ich mal meinem Vater schreiben, ich vermisste ihn, seine Worte. Ich wünschte, ich könnte vollkommen ehrlich sagen, dass ich die letzten Tage zu sehr in meine Uni Dinge vertieft gewesen war und keine Zeit gefunden hatte, um etwas anderes zu tun. Die Wahrheit war weitaus deprimierender. Ich hatte nichts für die Uni gemacht, hatte dagesessen, aus dem Fenster gestarrt und mir gedacht: Verdammt, warum bist du nicht glücklich gerade? Du solltest es sein.

Der Regen prasselte auf die leer gefegten Straßen von Montpellier. Ich fragte mich, wie das Meer gerade aussah, am Rand der Stadt, überlegte kurz, für einen Augenblick dorthin zu fahren. Mich einfach mal in mein kleines rotes Auto setzen, losfahren und ein wenig meines Tages dort verbringen, wenn das schon mit dem Lernen nichts wurde. Regen machte mir eigentlich nichts aus, ich fand ihn schön, erfrischend, aber vielleicht sollte ich dann nicht zwingend am Meer stehen. Also verwarf ich den Gedanken wieder und schrieb stattdessen meinem besten Freund.

Oceane: Hey. Was tust du?

Gabriel: Existieren, nichts tun, vielleicht gleich eine Runde Mittagsschlaf.

Oceane: Kann ich vorbeikommen?

Gabriel: Klar. Bis gleich!

Ich setzte mich auf, es war Zeit, irgendetwas zu tun, auch wenn es mich ein wenig an Überwindung kostete.

Ich lief durch meine Wohnung und verschwand kurz in dem kleinen Gästezimmer, um ein Fenster dort zu öffnen. Es war verdammt stickig in diesem Raum, dann lief ich zur Küche. Dort nahm noch ein paar der Kekse, die ich vor ein paar Tagen mit Gabriel gebacken hatte, und griff dann schließlich nach meiner Jacke, bloß um sie kurz darauf wieder wegzulegen. Es regnete zwar, aber besonders kalt war es nicht. Und bis zu Gabriel waren es bloß ein paar Straßen. Also trat ich zur Tür und aus dem Haus, bloß mit zwei Keksen in der Hand und einer unbewegten Miene.

Das Wasser fiel auf mich hinab, durchnässte mich innerhalb weniger Sekunden, und die Klamotten klebten mir auf der Haut. Die blonden, durch den Regen dunkleren Haare fielen mir über die Schultern bis über die Brüste. Eigentlich trug ich sie selten offen, aber weil der Regen ohnehin jede Frisur sofort wieder ruinieren würde, war es mir gerade egal gewesen.

Mein Atem ging ein wenig schneller, zusammen mit meinen Schritten, als ich immer näher zu dem Haus kam, in dem Gabriel lebte. Das Gebäude, zu dem ich seit Jahren ging, seit dem Kindergarten. Es war ein zweites Zuhause für mich. Vielleicht war das Haus, diese Familie, sogar mehr ein zu Zuhause für mich als es der Ort, an dem ich aufgewachsen war und meine eigentliche Familie gewesen waren. Ich wusste bloß, dass ich immer lieber hier gewesen war als dort.

Komplett durchnässt drückte ich auf die Klingel mit Fingern, die sich so steif anfühlten, dass ich für ein paar Augenblicke dachte, ich würde sie in näherer Zukunft nicht mehr bewegen können. Sie fühlten sich erstaunlich kalt für diese Temperaturen an. Es musste an dem Regen liegen, der die Kälte in meinem Körper verbreitete.

Nur wenige Sekunden nachdem ich geklingelt hatte, tauchte Gabriel in der Scheibe neben der Tür auf und winkte mir zu. Er sah aus, als wäre ein Mittagsschlaf vielleicht doch nicht die schlechteste Idee, die schwarz gefärbten Haare standen in alle Richtung ab, und sein Make-up war verschmiert.

»Wie siehst du denn aus?«, gebärdete er durch das Glas, bevor er die Tür öffnete.

»Regen halt«, gab ich zurück und grinste breit, und bei Gabriel fühlte es sich in diesem Moment nicht einmal gezwungen an. »Ich tropfe. Sag mal, hast du dich nicht abgeschminkt? Warst du gestern weg? Ohne mich?«

»Natürlich nicht. Hab mich nur geschminkt, und dann war ich zu faul, das wieder wegzumachen. War so eine Nacht—und—Nebel—Aktion. Zieh dich mal aus, gerade ist Jean sowieso nicht zu Hause.«

Er zwinkerte, und ich verdrehte die Augen. Dass er mich immer mit Jean ärgern musste, bloß weil ich ihm einmal erzählt hatte, dass ich ihn mochte. Dass ich ihn attraktiv fand. Seitdem verfluchte ich mich dafür, dass ich der Meinung gewesen war, meinem besten Freund auch erzählen zu können, dass ich ein wenig auf seinen großen Bruder stand. Das war vor beinahe einem Jahr gewesen. Kurz nach meinem achtzehnten Geburtstag, nachdem ich ausgezogen war und beschlossen hatte, ich würde glücklich sein und mich nicht länger von meiner Mutter so negativ beeinflussen lassen. Da war ich noch voller Euphorie gewesen und hatte den Gedanken gehabt, ich würde auf einmal alles schaffen können, bloß weil ich mich in gewisser Weise von meinem alten Leben hatte lösen können. Und nun stellte ich fest, das Neue schien auf einmal unangenehm an mir zu kleben, wenn auch nicht so penetrant und unerträglich.

Ich trat durch die Tür und auf die Fußmatte, wo ich eine Hand hob, um ihm durch die schwarzen Haare zu streichen. Er schloss die Tür hinter mir und lächelte, dann hob er die Hand, um die Klamotten entgegenzunehmen, die ich nacheinander auszog. Zuerst das enganliegende, dunkelgrüne Oberteil, dann die blaue Jeans.

Die Schuhe stellte ich neben die meines besten Freundes in den Flur, dann lief ich halb nackt durch das Haus und zur Treppe. Jeder hier hatte mich schon so gesehen, die ein oder andere Person auch schon mit weniger an, wenn sie aus Versehen ins Bad geplatzt waren, wenn ich geduscht hatte.

Meinungsänderung: Verdammt, was machte Jean hier? Da oben am Treppengeländer? Warum starrte er mich so an? Okay, ich war beinahe nackt, auch wenn schwarze, schlichte Unterwäsche nun wirklich nichts Spektakuläres war. Hatte Gabriel nicht gesagt, er wäre nicht da? Mein Blick schoss zu besagtem besten Freund, aber der grinste bloß, als ich ihn wütend und panisch zugleich ansah.

»Er ist ja doch da.« Das schelmische Lächeln auf seinen Lippen, das von den gespielt erschreckt hochgezogenen Augenbrauen unterstützt wurde, während er mit seinen Händen gebärdete, machten mir klar, dass es eindeutig nichts Neues für ihn war, dass sein großer Bruder zu Hause war.

Ich sparte mir jede Beleidigung und jegliches Fluchen, streckte stattdessen das Kinn in die Höhe und richtete meinen Blick wieder nach oben. Jean stand noch immer da, sah mich eingehend an.

Als er bemerkte, dass ich ihn auch ansah, verfärbten sich seine Wangen ein wenig, das konnte ich sogar von hier unten sehen. Irgendwie wollte das nicht zu dem großen, breiten Kerl passen, der er mit den Jahren geworden war. Meine Augenbrauen zogen sich zusammen, und er wandte den Blick für einige Sekunden ab, blieb jedoch stehen.

Ich lief die Treppe hoch, das Kinn noch immer selbstbewusst in die Luft gereckt. Selbstbewusstsein, Oceane, sagte ich mir immer wieder wie ein Mantra. Lass dich nicht verunsichern. Das hast du viel zu oft getan. Aber die Zeiten sind vorbei.

Ich trat neben ihn und sah zu ihm hoch, denn er war ein ganzes Stück größer als ich. Seine Lippen bewegten sich und ich hielt die Luft an, bloß eine Sekunde, als ich meine Aufmerksamkeit auf diese richtete.

»Bist du nass geworden?«, fragte er, und ich zog eine Augenbraue hoch. Dann verdrehte ich die Augen, deutete an mir auf und ab und zeigte dann auf Gabriel, der unten an der Treppe stand und meine triefnassen Klamotten grinsend in den Händen hielt.

»Bist du.« Nun war es eine Feststellung, die Röte verschwand langsam von seinen Wangen. Ich nickte, dann legte ich eine Hand auf seine Seite, spürte ganz kurz mein Herz flattern, doch ich schob dieses Gefühl, zusammen mit Jean, beiseite. Für eine Sekunde fühlte ich die Wärme, die von ihm ausging, dann zog ich die Finger wieder weg und ging an ihm vorbei.

Ich spürte noch kurz seinen Blick auf mir, dann lief er die Treppe hinunter und an Gabriel vorbei, der mir gefolgt war. Als die Tür ins Schloss fiel und wir uns im Zimmer meines besten Freundes befanden, begann er zu lachen. Ich merkte das, denn sein Körper bebte, und sein Grinsen war so breit, dass es mich nicht wundern würde, wenn es schmerzte. Ich presste die Lippen aufeinander, ging zu seinem Kleiderschrank, in dem sich auch ein paar Klamotten von mir befanden, und nahm eine meiner Jogginghosen und eines von seinen schwarzen Star Wars T-shirts heraus. Dann wandte ich mich zu Gabriel um und zog mir die Klamotten an.

Ich schubste ihn auf das Bett, warf mich auf ihn und begann ihn zu kitzeln. Du wusstest es, du Sack, versuchte ich ihm mit meinem Kitzeln und dem wütenden, belustigten Funkeln in meinen Augen zu sagen. Er lachte bloß noch mehr, wand sich unter mir und warf mich schließlich von sich herunter.

Als er seine Hände wieder frei hatte und ich vor ihm auf der Bettkante saß, hob er sie. »War das in Ordnung für dich?«, fragte er in Gebärdensprache. »Ich wollte dich bloß ein wenig ärgern mit Jean, wenn das zu viel war, tut es mir leid.«

Ich überlegte kurz, dann schüttelte ich den Kopf und zeigte ihm, dass es in Ordnung war. »Aber nicht noch mal, bitte. Ich mag es nicht so gerne … überrascht zu werden.«

Für gewöhnlich, wenn etwas nicht so passte, wie ich es mir vorgestellt hatte, oder wenn mein Plan nicht funktionierte, bekam ich eine Krise mittleren bis großen Ausmaßes. Und wenn ich ganz ehrlich war, hatte ich es auch nicht in Ordnung gefunden, dass Jean nun doch da war und mich so plötzlich halb nackt gesehen hatte. Gabriel war ein guter Freund und würde ich ihm das sagen, würde er sofort damit aufhören, sich entschuldigen und zu allem Überfluss ein schlechtes Gewissen bekommen. Aber ich sagte nichts.

»Tut mir leid«, entschuldigte sich Gabriel dennoch, und er hob eine Hand, um mir vorsichtig über den Arm zu streichen.

»Wie war eigentlich dein Date mit … wie hieß er noch gleich? Tim? Ihr wart im Coffee Dreams, oder?«

„War ganz gut eigentlich. Er war auch superlieb, aber irgendwie … hat da was gefehlt. Vielleicht treffe ich ihn noch mal und schaue mal, was daraus wird, aber ich will ihm auch keine falschen Hoffnungen machen, deswegen lasse ich es vielleicht auch.“

Er zuckte mit den Schultern, dann sah er mich für einige Sekunden an und deutete schließlich auf seinen PC, der gegenüber vom Bett auf seinem Schreibtisch stand.

»Film?«, fragte er, und ich nickte sofort. Ich war froh, dass ich aus meiner Wohnung raus war, und auch wenn ich gerne wieder ein wenig mehr machen würde, war ich doch auch glücklich damit, einfach nicht allein zu sein.

Gabriel rollte auf seinem Schreibtischstuhl durchs Zimmer, bevor er Star Wars heraussuchte und die 3. Episode startete.

Ich zeigte ein weiteres »Okay«, und er kam zu mir auf das Bett, setzte sich direkt neben mich und lehnte seinen Kopf an meine Schulter.

Wir sahen uns eine Weile den Film an, mit Untertiteln und ohne Ton. Gabriel war der festen Überzeugung gewesen, wenn ich ihn ohne Ton schaute, würde er das auch tun, einfach nur, damit wir dasselbe Filmerlebnis hatten. Seine Eltern hatten ihn, sobald sie gemerkt hatten, wie oft er mit mir spielte, zu einem Kurs für die Langue des signes francaise angemeldet und dementsprechend gut konnte er mittlerweile mit mir gebärden. Gabriel wollte nie, dass ich einen sichtlichen Nachteil mit meiner Gehörlosigkeit hatte, auch wenn es natürlich nicht überall möglich war. Aber so, wie er es konnte, sorgte er dafür, dass ich nicht »weniger« bekam als er. Also sahen wir seit mehreren Jahren unsere Filme und Serien ohne Ton.

Als wir bei der Mitte waren, stellte Gabriel den Film auf Stopp. Wir hatten ihn bestimmt schon zwanzig Mal gesehen und kannten ihn beide in- und auswendig. Dementsprechend war es auch nicht allzu schlimm, wenn wir ihn einfach in der Mitte unterbrachen, um etwas anderes zu tun.

»Magst du backen?«, fragte Gabriel, und ich zog eine Augenbraue hoch.

»Sollen wir nicht erst noch den Film zu Ende schauen?«

»Hmm«, machte er, »Also, wenn du noch unbedingt weiterschauen willst, können wir das natürlich auch tun, aber ich möchte gerne jetzt erst backen.«

»Okay.«

Gabriel grinste glücklich und stand vom Bett auf. Er hielt mir eine Hand hin, um mir hoch zu helfen, und ich nahm sie an. Wir liefen zur Treppe, kamen unten in die Küche, wo bereits Gabriels Mère stand. Sie verschwand beinahe im Kühlschrank und wühlte darin herum, so wie ich sie kannte, auf der Suche nach einer Tafel Schokolade, die sie irgendwo da drin vergraben hatte.

Als sie uns hörte, drehte sie sich um und winkte. Ich tat es ihr nach. Ein Lächeln bildete sich auf meinen Lippen.

»Wie gehts dir?«, fragte sie in Gebärdensprache, die sie mit der Zeit zumindest etwas gelernt hatte. Wirklich gut konnte sie sie nicht, aber dass sie es überhaupt versuchte, war mir schon viel wert. Es war nicht einfach, an Kurse für Gebärdensprache ranzukommen.

»Ganz gut.« Es war nicht ganz die Wahrheit. Damit es mir gut ging, mussten meine Sorgen um mein Studium und meine Schwester verschwinden.

»Wie geht es dir?«, gab ich zurück.

»Gut. Bis darauf, dass ich die Schokolade nicht finde.« Hatte ich‘s mir doch gedacht. Es gab kaum etwas, das Valerie Merole lieber zu sich nahm als Schokolade.

»Ist es in Ordnung, wenn wir backen?«

Die Frau nickte und wandte sich wieder dem Kühlschrank zu. Sie wühlte noch ein wenig darin herum, dann wandte sie sich schließlich mit einem breiten, beinahe verliebten, Grinsen um. Eine Tafel Zartbitter-Schokolade in der Hand. Auf dem Sofa drehte sich Gabriels Vater zu uns um.

»So hat sie mich nie angesehen«, formten seine Lippen, und er zwinkerte scherzhaft.

Ich lächelte und stellte mich an den Herd, wo Gabriel bereits die Zutaten für das raussuchte, was auch immer er backen wollte. So, wie ich ihn kannte, würden es Cookies werden.

Wir begannen, und nach einer Weile, als Gabriel gerade die Schokodrops in den Teig dazugab, trat Jean hinter uns. Ich griff nach einem Zettel und dem Stift, der direkt darauf lag, extra für mich. Familie Merole hatte immer Zettel und Stift für mich bereitliegen, schon seit Jahren, denn auch wenn Valerie und ihr Mann bemüht waren, Gebärdensprache zu lernen und Gabriel sie beinahe vollständig beherrschte, verstanden wir uns doch nicht immer richtig. Und vor allem mit Jean konnte ich mich eigentlich nur über diesen Weg unterhalten. Ich hatte mich damit abgefunden, sagte ich mir, es war nicht wichtig.

»Was machst du hier? Solltest du nicht zocken oder so?«, kritzelte ich auf den Zettel und drückte ihn Gabriels großem Bruder in die Hand. Er sah ihn an, zog eine dunkle Augenbraue hoch und sein Mundwinkel zuckte nur ganz kurz. Mein Herz flatterte. Ich verfluchte es. Sei still, dachte ich mir, du hast hier überhaupt nichts zu sagen, gar nichts. Aber Gabriels kurzer Blick zeigte mir, dass er wusste, was mir gerade durch den Kopf ging. Seine zuckenden Mundwinkel bestätigten es. Ich runzelte die Stirn.

»Fängst du jetzt an mit meinem Bruder zu flirten?«, gebärdete er und wackelte mit den Augenbrauen. Ich verpasste ihm einen Schlag auf den Oberarm und wandte mich dann Jean zu, dessen Blick ein paar Sekunden zu lange auf Gabriels Gebärden gelegen hatte. Meine Wangen brannten ein wenig. Auch wenn er nichts von dem verstanden hatte, was Gabriel mir soeben gesagt hatte, hatte ich manchmal doch die seltsame Angst, er wüsste, was ich dachte.

Jean legte den Kopf leicht schräg, dann stellte er sich neben mich, nahm mir den Kuli aus der Hand, und seine Zunge schaute zwischen seinen Lippen hervor, was wirklich süß aussah. »Du bist mir nicht aus dem Kopf gegangen, Oceane«, stand auf dem Zettel, den er mir zurückgab, und ich verdrehte die Augen.

»Bestimmt«, schrieb ich und ignorierte Gabriel hinter mir, der in meine Seiten pikte um meine Aufmerksamkeit zu bekommen. Es wäre besser, mich um meinen besten Freund zu kümmern, als seinen großen Bruder so lange anzusehen. Doch das taten wir oft, wir flirteten aus Spaß, wir ärgerten uns, und ich sagte mir immer wieder, es bedeutete mir überhaupt nichts. Es machte mir nichts aus, dass das alles nur Spaß für ihn war.

Jean lächelte und schob die Brille, die er seit einigen Jahren trug, die Nase hoch. Diese Bewegung hatte etwas Süßes, Sanftes und ich mochte das.

»Kann ich mitmachen?« Diese Worte auf dem Blatt Papier zu lesen, wunderte mich. Jean war eigentlich die Person, die das Gebackene im Nachhinein heimlich aß, aber mit uns gebacken hatte er noch nie. Dafür konnte er wundervoll kochen, das wusste ich, und ich würde lügen, wenn ich sagte, dass ich das nicht wenigstens ein bisschen attraktiv fand.

Ich nahm den Zettel entgegen, wollte gerade etwas darauf schreiben, doch dann wandte Jean seinen Blick seinem kleinen Bruder zu. Gabriel musste ihn angesprochen haben, und als ich zu ihm sah, merkte ich, dass meine Vermutung stimmte. Ich konnte nicht von seinen Lippen lesen, doch Jean nickte und schmunzelte.

Ich tippte meinen besten Freund an, die Augenbrauen dicht zusammengezogen. »Was hast du ihm gesagt?«, fragte ich, und er zuckte gespielt unbeteiligt mit den Schultern. Ich ahnte Böses.

»Hab gemeint, du würdest dich bestimmt freuen, wenn er mitmacht.«

Ich sah ihn wütend an. »Wirklich?«

»Nein.« Ich atmete zischend aus.

»Hab ihm gesagt, er kann mitmachen, wenn er nicht den ganzen Teig isst, bevor er in den Ofen kommt. Ist es in Ordnung für dich, wenn er dabei ist? Oder bedeutet das zu viel Ablenkung?«

Er wackelte mit den Augenbrauen, und ich seufzte. »Nein, alles gut.« Ich würde mit ihm reden müssen. Denn so liebevoll mein bester Freund auch war, so sehr er immer für mich da war und sich um mich kümmerte, so nervig wurden seine Bemerkungen über Jean langsam. Und es wäre besser, er wüsste, dass da nichts war und seine Kommentare zu schmerzen begonnen hatten. Weil es mich immer wieder an etwas erinnerte, das ich nie gehabt hatte.

»Na dann mal los«, gebärdete ich ihm und mein fröhlicher bester Freund nickte begeistert, während Jean‘s Augen ein paar Sekunden länger auf mir ruhten.

»Weißt du, Gabriel, ich habe nachgedacht«, sagte ich, als ich später neben meinem besten Freund auf dem Bett saß. Auf dem Bildschirm seines PCs lief Star Wars Episode 3 weiter, aber ich konnte mich nicht darauf konzentrieren. Dachte mehr daran, wie es war, gemeinsam mit Jean zu backen und wie das Mehl auf seinen Wangen seine Augen funkeln ließ. Vielleicht waren es auch meine Finger auf seiner Haut gewesen, die das Funkeln hineingebracht hatten, als ich sie mehlbedeckt über sein Gesicht gestrichen hatte. Doch so sollte ich nicht denken, das wusste ich.

Gabriel sah mich abwartend an.

»Du machst ja oft Spaß wegen Jean. Wegen der Sache, die ich vor einiger Zeit gesagt habe …«

Er nickte, sah mich die ganze Zeit an, und mein Herz schlug ein wenig unruhig, ein wenig schneller. Für einen Augenblick dachte ich das hier wäre ein Dunkellilamoment. Doch ich sagte mir immer wieder, dass das mein bester Freund war und dass ich hier verletzlich sein durfte. Von diesem Moment würden keine blauen Flecken auf der Haut bleiben als Erinnerung, keine schmerzlichen Gedanken.

»Und diese Bemerkungen nerven mich. Sie tun ein bisschen weh und lassen mich mich unwohl fühlen.«

Sein Blick wurde weicher, dann hob er seine Hände und legte sie auf meine Schultern, bloß einen Moment, dann bewegte er sie durch die Luft. »Das tut mir leid. Das wollte ich nicht. Ich hätte es merken sollen. Ich lasse das. Warum hast du mir früher nichts gesagt?«

Ich zuckte mit den Schultern, starrte auf die Wand, hinter der Jean‘s Zimmer lag. Weil ich da noch ein bisschen gehofft habe, dachte ich. Auch wenn ich wusste, dass ich das nicht tun sollte. Liebe tat am meisten weh, wenn sie unerwidert war. Das hatte ich bei meiner Mère gemerkt. Bei meinem Père. Ich hatte sie geliebt, und während Mère mich kaum beachtete, ließ Père einfach zu, wie sie mich behandelte. Und weil ich sie geliebt hatte, so viel Hoffnung in mir trug, hatte ich so viel verziehen. Das tat ich immer noch.

Das hatte ich mir nicht antun wollen, nicht noch mal, und trotzdem war es dazu gekommen. Ich wollte das nicht. Also löste ich mich nun von Gabriels Worten, seinen Späßen, seinen Hoffnungen und konzentrierte mich auf diesen Augenblick. Ich wusste, letztendlich hoffte er, dass aus mir und seinem Bruder etwas werden würde. Er wollte, dass wir beide unser Glück fanden.

Ich sollte nicht so viel an ihn denken. Und ich fragte mich still und heimlich, was er gerade tat, ob seine Gedanken heute auch bei mir hängen geblieben waren.

Schließlich sah ich an Gabriel vorbei nach draußen. Der Regen hatte aufgehört. Die Sonne warf vorsichtig ihre Strahlen auf die Straßen von Montpellier, aber in mir fühlte es sich noch bewölkt an, wieder ein wenig grauer.

Kapitel 2

OCEANE

»Hey Père«, zeigte ich in die Kamera, kurz nachdem ich seinen Anruf angenommen hatte.

»Hey Kleines«, gab er zurück und lächelte so liebevoll, dass ich nicht anders konnte, als es zu erwidern. Das war er. Mein Père. Er hatte sich durch eine schwierige Ehe gekämpft, hatte für viel Trauer in meiner Kindheit gesorgt, und gleichzeitig war er nie ein schlechter Vater gewesen. Zumindest nicht aus meiner Sicht. Er war hilflos gewesen, wo er dringend etwas hätte tun sollen. Er hatte es geschehen lassen. Und dass er nichts getan hatte, hatte ihm an manchen Tagen so viel mehr Schmerz bereitet, als es bei mir jemals der Fall hätte sein können. Ich hatte ihm verziehen. Auch wenn es alles andere als einfach gewesen war. Aber so war das mit der Liebe. Irgendwann verzieh man selbst die schrecklichsten Dinge, wenn die andere Person sich bemühte. Weil man sie eben doch liebte. »Wie geht es dir?«

»Gut«, meinte ich und sagte mir, dass es keine Lüge war.

Es war ein Montagmorgen, in zwei Stunden fing die Uni an, und bis dahin wollte ich noch zeichnen und vielleicht einen meiner Aufträge fertigbekommen. Für jeden musste ich etwas zeichnen oder designen. Meistens waren es Illustrationen für Bücher oder Twitch-Emotes. Heute hatte ich mit Letzterem zu kämpfen. Wer bitte kam auf die Idee, ein Einhorn mit einer Kaffeetasse in der Hand zu zeichnen? Wie bitte sollte ein Einhorn eine Tasse halten, wenn es Hufe hatte? »Wie ist es bei dir?«

Ich zog die Beine ein wenig näher an meinen Körper und lehnte mich mit dem Rücken gegen das Sofa. Ich saß direkt davor, wie so oft, wenn ich zeichnete oder irgendetwas anderes machte. Gabriel meinte ab und an, ich hätte das Prinzip eines Sofas noch nicht verstanden.

»Ganz gut. Ich weiß noch nicht, was ich heute mache, aber ich denke, ich geh spazieren. Freie Tage sind immer so eine Sache, weißt du? Erst wünscht man sich die Pause, und wenn sie dann auf einmal da ist, weiß man doch nichts mit sich anzufangen.«

»Das kenne ich. Wenn du magst, kann ich später vorbeikommen. Ich muss jetzt erst zur Uni, aber danach bin ich da.«

»Sicher, dass du …« Er zögerte. »Nach Hause willst? Wir können auch in ein Café oder so und uns da unterhalten.«

Ich zog kurz die Augenbrauen zusammen, dann nickte ich. Seit sich meine Eltern getrennt hatten, lebten wir nicht mehr in der Wohnung, in der ich aufgewachsen war. Mit dem neuen Haus verband ich also keine schlechten Erinnerungen. Es war traurig, aber mein Vater rief öfter schlechte Erinnerungen in mir hervor, als irgendwelche Orte. Aber er hatte recht, Cafés waren auch schön, und ich hatte zu lange in keinem mehr gesessen. »Okay, gerne. Wann sehen wir uns?«

»Wann bist du denn mit der Uni fertig?«

»Um 15 Uhr.«

»Okay, dann 16 Uhr? Weißt du welches Café?«

Ich überlegte kurz, dann nickte ich. »Wir können ins Coffee Dreams, da arbeitet eine Freundin von mir, und es ist wirklich schön. Sie kann uns auch vermutlich noch am besten bedienen. Sonst ist das ja immer ein bisschen schwierig.«

Damit meinte ich, dass wir beide gehörlos waren und es schwierig war, etwas zu bestellen, wenn man die jeweils andere Sprache nicht sprach. Und vor allem musste man den Menschen erst einmal klarmachen, dass man gehörlos war. Das konnte ziemlich mühselig sein. Und weil ich Marie bereits kannte, würde im Coffee Dreams vieles einfacher sein.

»Alles klar, dann komme ich da hin. Schick mir bitte die Adresse. Ich freue mich auf dich!«

Ich lächelte leicht. »Ich mich auch«, gab ich zurück.

Ich winkte ihm zu, dann legte er auf, und ich war wieder allein in meiner kleinen Wohnung.

Kurz saß ich da und starrte die mir gegenüberliegende Wand an, betrachtete den stetig voranschreitenden Zeiger meiner Uhr, dann schickte ich ihm besagte Adresse, stand auf und machte mich fertig für die Uni.

***

Ich rutschte neben Marie auf die Bank, den Blick starr nach vorne gerichtet, auf die Professorin, die bereits mit dem Vortrag begonnen hatte. Ich war zu spät. Das war ich viel zu oft. Aber bisher war ich gut mitgekommen. Bei den meisten Sachen brauchte ich mich also nicht unglaublich reinhängen und kam auch gut klar, ohne bei jeder Vorlesung dabei gewesen zu sein. Was meine Bereitschaft, daran teilzunehmen, nicht zwingend förderte.

Vielleicht hätte ich mir auf dem Weg hierher nicht noch einen Kaffee genehmigen sollen, das hatte ein bisschen zu viel Zeit gekostet. Doch irgendwo her musste die Motivation kommen, denn wenn ich ehrlich war, die hatte ich in letzter Zeit nicht. Sie war mir vollkommen abhandengekommen, aber ich war mir sicher, sie würde bald wieder da sein. Das hier war alles, was ich so lange gewollt hatte. Wenn ich früher traurig aus der Schule nach Hause gekommen war, wenn ich in meinem Zimmer saß, einsam und allein und ganz fest daran geglaubt hatte, dass ich jetzt nicht weinen würde, da hatte ich mir gesagt, dass ich später in meinem Leben etwas mit Kunst machen würde. Ein Kunststudium. Ich hatte es mir lange ausgemalt und so sehr gewünscht, dass es beinahe geschmerzt hatte, und nun hatte ich so vieles, was ich immer gewollt hatte und war trotzdem nicht glücklich.

Ich sah Marie an, die ich durch das Studium kennengelernt hatte. Sie kramte in ihrem Rucksack, zog dann ihren iPad-Stift hervor und schrieb auf besagten Bildschirm.

»Hey«, stand da, »Du bist spät :p Wie geht es dir?«

»Mir geht’s super«, schrieb ich eilig zurück. Was nicht stimmte, aber so zu tun, als ob, war oft einfacher, als ehrlich zu sein. »Und dir?«

Ich kramte nun ebenfalls in meinem Rucksack und zog dann mein Tablet hervor. Darauf konnte man wesentlich einfacher zeichnen, und deswegen hatte ich mir vor einiger Zeit von dem ersten Geld, das ich mit meinen Aufträgen bekommen hatte, eines gekauft. Es hatte sich eindeutig gelohnt.

»Alles super«, gab sie zurück, und wahrscheinlich log sie auch. Ich kannte sie nun eine Weile und so traurig es auch war, aber ich glaubte manchmal, unsere Freundschaft beruhte ein wenig auf Lügen. Marie war wundervoll, wir redeten viel und gerne, wenn wir gemeinsam in der Uni saßen, aber darüber, wie es uns ging, logen wir meist. Und weil ich es selbst tat, konnte ich ihr auch nicht böse sein. Keiner von uns beiden hatte je gefragt, wie es dem anderen wirklich ging, ob alles gut war, auch wenn kein Lächeln auf unseren Lippen erscheinen wollte. Das konnten wir beide gut. So zu tun, als ob. Uns selbst vorzugaukeln, alles wäre in Ordnung. Ich hoffte, das war bei Marie nicht so, hoffte, ihr ging es gut und sie hatte keine Probleme, auch wenn ich glaubte, dass es anders war.

Ich richtete meinen Blick nach vorn auf die Folien, von denen die Professorin gerade vortrug und bemühte mich, mich darauf zu konzentrieren, auch wenn meine Aufmerksamkeit von Sekunde zu Sekunde mehr schwand. Die Dolmetscherin stand rechts vor mir und übersetzte das Gesagte für mich. Normalerweise trafen wir uns bereits vor der Vorlesung, aber weil ich heute zu spät gewesen war, war die Frau schon mal in den Raum gegangen. Ich würde ihr später noch eine Nachricht schreiben und mich für meine Verspätung entschuldigen. Bald würde mein zweiter Dolmetscher kommen, damit sie sich abwechseln konnten. Eine komplette Vorlesung zu übersetzen konnte ziemlich anstrengend sein.

Das ist das, was du immer wolltest, sagte ich mir und versuchte mit Mühe meine Augen offen zu halten. Das hier war, nein, ist dein Traum.

Aber nichts war so schmerzhaft, wie zu bemerken, dass der Traum letztendlich doch nicht das war, das man immer gewollte hatte.

»Magst du dich die Tage vielleicht mal wieder treffen?«, schrieb Marie auf das iPad, als die Vorlesung gerade geendet hatte. Ich nickte und lächelte aufrichtig. Wir hatten uns erst wenige Male außerhalb der Uni getroffen, hatten uns in ein Kaffee gesetzt oder waren klettern gewesen, gemeinsam mit Gabriel.

»Du hast meine Nummer, sag mir, wann und wo, und ich werde da sein.«

»Sehr gut.«