Alle sind so ernst geworden - Martin Suter - E-Book

Alle sind so ernst geworden E-Book

Martin Suter

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Beschreibung

Martin Suter und Benjamin von Stuckrad-Barre unterhalten sich über: Badehosen, Glitzer, Äähm, Hochzeiten, LSD, Teufel, Gott, Madonna, Arbeit, Ibiza, Kochen, Rechnungen, Siri, Fotos, Mundharmonika, Geldscheine, Verliebtheit, Wiedersehen.

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Seitenzahl: 259

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Martin Suter | Benjamin von Stuckrad-Barre

Alle sind so ernst geworden

Diogenes

Badehosen

STUCKRAD-BARRE:

Folgende Situation: Es ist August, Hochsommer an der Ostsee, und ich weiß, dass dieser Martin Suter im selben Hotel zu Gast ist. Dieser Martin Suter nervt mich ein bisschen, weil er wahnsinnig viele Bücher verkauft und das alles Bücher sind, die ich nicht verkaufe. Obendrein sind sie auch noch gut. Unverschämtheit! Und plötzlich steht er neben mir und sagt, er wolle sich einmal vorstellen – und ist ganz bezaubernd. Wir kommen rasch ins Gespräch, beide mit leichtem Kennenlernhandicap, weil wir nämlich beide nur Badehosen anhaben, was seltsam ist beim Einander-Kennenlernen. Das nahm mich aber sofort, neben vielem anderen, für dich ein, dass du nicht nur der bist, der diese fabelhaften Bücher schreibt, die sich auch noch so irre gut verkaufen, und Nähe also so oder so gewinnbringend sein könnte – aber Spaß beiseite, wie es im Radio oft heißt, wenn es zuvor überhaupt nicht lustig war. Es war einfach sehr unerwartet und wirklich schön, dass du dich mir so höf‌lich vorstelltest, und das in orangener Badehose. Seitdem mag ich dich auf eine solche Art gern, das glaubst du gar nicht. Wie aber kam es nun bitte zu dieser Badehose? Wenn man dich sonst so anschaut und Fotos von dir kennt, würde man erst mal nicht vermuten, dass du eine signalfarbene Badehose trägst. Überhaupt besitzt!

SUTER:

War die signalfarben?

STUCKRAD-BARRE:

O ja! Weithin sichtbar, neonorange. So was kann doch gar nicht von dir selbst gekauft worden sein. Die muss deine Frau gekauft haben.

SUTER:

Nein, nein, nein. Nein, das würde sie nie tun.

STUCKRAD-BARRE:

Nein?

SUTER:

Ich glaube, diese Badehose habe ich in Biarritz gekauft. Und zwar, weil wir uns in Biarritz mit Freunden trafen, und ich hatte vergessen, Badehosen einzupacken. Und ich wollte natürlich …

STUCKRAD-BARRE:

Schwarz.

SUTER:

… sowohl ins Meer wie auch …

STUCKRAD-BARRE:

Die Würde wahren. Schwierig.

SUTER:

… in den Pool. Und dort in dem Hotel gab es einen kleinen Laden mit Badehosen.

STUCKRAD-BARRE:

Das sind ja immer die unverschämtesten Läden, die in den Hotels. Da steht dann drauf: Bulgari oder so ein Unfug, und plötzlich wird es unübersichtlich teuer.

SUTER:

Und diese Badehose … Es gab schon auch andere.

STUCKRAD-BARRE:

Als Werbespruch wäre das wiederum herrlich: Man sähe dich in dieser orangenen Badehose – und darunter der Slogan »Es gab schon auch andere«.

SUTER:

Nur, bei Badehosen geht es ja nicht nur um die Farbe. Bei der Badehose geht es ja auch um den Sitz.

STUCKRAD-BARRE:

O ja. Bei allem eigentlich.

SUTER:

Bei allem, ja. Das heißt, die schwarzen oder auch die marineblauen oder so …

STUCKRAD-BARRE:

Zweireiher.

SUTER:

… die ein bisschen besser zu dem Eindruck, den du von mir haben willst, passen würden …

STUCKRAD-BARRE:

Das ist schön gesagt. Da kann ich jetzt bis übermorgen drüber nachdenken: zu dem Eindruck, den ich gerne haben will. Das ist sehr, sehr gut formuliert. Genau so war es nämlich.

SUTER:

… die waren entweder viel zu groß oder, was noch blöder ist bei Badehosen, zu eng. Und wenn man diese Waschbrettillusion einigermaßen aufrechterhalten will, darf es nicht einschneiden, oder? Sonst lappt das so.

STUCKRAD-BARRE:

Sonst liegen die Beweise zu deutlich vor.

SUTER:

Genau. Die hängen dann über dem Gummizug der Badehose. Deswegen habe ich mich entscheiden müssen zwischen der Farbe und dem Sitz. Und da habe ich mich für den Sitz entschieden.

STUCKRAD-BARRE:

Aber der Eindruck, den ich von dir haben wollte … Ich hänge noch dieser Formulierung nach. Beim zweiten Nachdenken will ich genau diesen Orangene-Badehose-Eindruck von dir haben, weil der so schön gegen den anderen arbeitet, gegen das andere Bild, das Klischee: Martin Suter, der soignierte Schweizer, ehemalige Werber, Weltbestseller, lebt in Dings und Bums – diese Stereotypen, die dann alle losprasseln. Und natürlich auch alle stimmen, das kommt ja noch hinzu. Da passt dann auch, dass du eine Menge Haargel verwendest. Ein nun doch außerliterarisches Kriterium, das aber in Porträts über dich – und sogar Buchbesprechungen – regelmäßig zur Anwendung kommt. Speziell in so Zeitschriften, Zeitungen, Medien, die ein doch tiefgründigeres Selbstbild haben, gerade dort ist, wenn es um dich geht, auf‌fallend ausgiebig die Rede von Äußerlichkeiten, immerzu. Ich finde das sehr oberflächlich – dass die dich oberflächlich finden.

SUTER:

Ja, das ist wahr, es wundert mich auch immer mehr. Je älter ich werde, desto seltsamer ist es, dass man über die Kleidung schreibt bei mir. Ich habe zwar mein ganzes Leben lang, mit einer kürzeren Hippie-Unterbrechung von ein paar Jahren vielleicht …

STUCKRAD-BARRE:

Bitte was? Wann war die denn?

SUTER:

Ende der sechziger Jahre war die erste, und dann so Mitte der siebziger die zweite.

STUCKRAD-BARRE:

Und abgesehen von diesen beiden Hippie-Unterbrechungen hast du immer Anzüge getragen?

SUTER:

Ja. Es gibt auch Kinderfotos von mir, Jugendfotos mit Krawatte auf dem Fahrrad. Ich habe auch als kleiner Junge Anzug getragen. Da kam eine Störschneiderin zu uns. Die hat in einer Mansarde kleine Anzüglein genäht für mich.

STUCKRAD-BARRE:

Wirklich?

SUTER:

Ja. Da gab es ein schönes Jackett und dann im gleichen Material für den Winter Knickerbockers.

STUCKRAD-BARRE:

Wie hat sich das denn ausgewirkt auf dein Image in der Schule?

SUTER:

Da war ich erst sieben. In der Zeit war es gerade so vorbei, dass man lange Hosen für Knaben als Besonderheit betrachtete. Ich habe auch Sommeranzüglein gehabt aus Baumwolle. Das sah aus wie ein himbeerfarbener Safarianzug mit kurzen Hosen. Die Eltern nannten es das »Epeerigwändli«, Erdbeergewändchen. Und auch Tweed-Anzüglein hatte ich. Ich habe immer gerne Anzüge getragen. Aber es gibt auch die, die im Alter diese Lumber tragen.

STUCKRAD-BARRE:

Die was?

SUTER:

Das sind so beige Sportjacken.

STUCKRAD-BARRE:

Aha. Oh. Modehospiz.

SUTER:

Oder auch diese Schuhe mit Klettverschlüssen. Und dann gibt es die anderen Männer, wie mich, die denken: Es lenkt vielleicht ein bisschen von meinem Aussehen ab, wenn ich einen hübschen Anzug und eine schöne Krawatte trage.

STUCKRAD-BARRE:

Genau, es ist eigentlich doch ein angenehmes Non-Statement. Der Anzug bedeutet: Ich bin so angezogen, dass wir nicht über Kleidung diskutieren müssen. Und dann wird genau das aber doch zu einem Statement erhoben. Ich habe zum Beispiel am Anfang meines Bücherveröffentlichens und Lesungenmachens und so immer Anzüge getragen, weil ich es so angenehm fand, dass dann alle Selbstgesprächsfragen diesbezüglich – was ziehe ich nur an und was könnte das bedeuten – beantwortet waren durch ebendiesen Anzug und ich mich auf andere Sachen konzentrieren konnte. Genau das aber wurde aufgefasst als Überheblichkeit und Oberflächlichkeit oder so was. Immer Anzug! Schnösel! Glaubt wohl, er wäre … und so weiter. Das hat mich dann immer eher amüsiert. Hm. Nein, Quatsch, Automatikkoketterie – es hat mich: verunsichert damals. Ich habe es schlicht nicht begriffen: Dass gerade solche Kritikeinrichtungen, die doch scheinbar – vorgeblich! – Texte verhandeln, dass gerade die also schafsblöd einen der Oberflächlichkeit zeihen – indem sie genau das tun: oberflächlich sein! Einem Anzug auf den Leim gehen. Eine Frisur rezensieren: dein legendäres Haargel, die Maßanzüge. Strafverschärfend darunterliegend sowieso immer: war teuer, und dann auch noch in Schweizer Franken!

SUTER:

Meine Damen und Herren, übrigens, das sehen Sie nicht: Benjamin von Stuckrad-Barre sitzt hier in einem Anzug.

STUCKRAD-BARRE:

Ja, natürlich. Und zwar, weil ich Martin Suter besuche.

SUTER:

Aha.

STUCKRAD-BARRE:

Na, das ist Anpassung an die Umgebung. Ich trage sonst immer weiße Jeans und in irgendeiner Form etwas Blau-Weiß-Gestreif‌tes als Oberteil. Aber da ich ja heute früh wusste, dass wir beide später hier zusammensitzen werden, fand ich es angenehmer, wenn das alles überhaupt gar kein Thema ist und wir beide im weitesten Sinne dunkle Anzüge tragen. Dass das für uns beide dann angenehmer ist, dachte ich. Und sang beim Gehen vor mich hin, damit ich weiß, dass ich noch bin.

SUTER:

Das ist wahr, ja.

STUCKRAD-BARRE:

Man ist nicht nackt – Thema erledigt. Angemessen gekleidet! Bei einer Begegnung durch Kleidung aufzufallen, verhindert geradezu, dass man auch noch gedanklich auf‌fällig werden könnte.

SUTER:

Was trugst du denn damals in Heiligendamm? Ich hatte eine Art …

STUCKRAD-BARRE:

Du hattest eine orangene Badehose an, Martin.

SUTER:

Und du hattest eine mit Palmen, oder?

STUCKRAD-BARRE:

Richtig. Eine türkise Badehose mit Palmen und Flamingos. Jetzt ist es raus. Die meine Frau ausgesucht hatte, was ich immer schön finde bei solch schwierigen Sachen. Badehosen, meine Güte. Kann man eigentlich nur falsch machen. Also befragt man besser direkt die Zielgruppe. Und es fällt viel leichter, dann auch offensive Farb- und Musterentscheidungen zu vertreten, wie eben die pinken Flamingos auf türkisem Grund, wenn es von einer Frau ausgesucht wurde.

SUTER:

Natürlich, natürlich.

STUCKRAD-BARRE:

Es wäre doch sehr seltsam gewesen, wenn ich jetzt hier in einem Anzug mit pinken Flamingos bei dir erschienen wäre. Das wäre etwas mühsam, finde ich.

SUTER:

Ja, aber auch das wird überschätzt. Dass ich immer einen Anzug trage, heißt ja nicht, dass ich etwas gegen Leute habe, die keinen Anzug tragen. Also so tolerant bin ich, dass man anziehen kann, was man will.

STUCKRAD-BARRE:

Ich fühle mich in deiner Gegenwart wohler in einem Anzug. Selbst wenn du gerade vom Golfplatz kommst – noch so eine Äußerlichkeitsschablone, die natürlich vollkommen zutrifft. Und der Anzug des Golfplatzes ist natürlich gerade: kein Anzug. Chino-Hose, Strickjacke. Aber tatsächlich, ich empfinde es zumindest so, dass all das in der Berichterstattung über dich, in Rezensionen deiner Bücher, in Porträts und so immer eine große Rolle spielt. Ich glaube, gerade, dass es dir so schön egal ist, ereifert diese Leute. Die Kleidungsfrage ist für dich schlichtweg beantwortet – es ist ein Anzug. Fertig. Und es ist tagsüber vielleicht eine Strickjacke zur Anzughose, die wird dann gen Abend getauscht gegen das Jackett. Und es ist ein weißes Hemd. Und es ist eine Krawatte. Thema erledigt. Aber nur für dich, offenbar. Denn diese Schaufensterpuppenparameter tauchen immer wieder auf. Sie vereinfachen die Dinge. Als Höhepunkt der Originalität wird dann empfunden, dich zu fragen, ob du auch Jeans besitzt oder eine Jogginghose. Da wird dann routiniert Karl Lagerfeld zitiert, Kontrolle über sein Leben verloren und so weiter, und man schläft sanft ein.

SUTER:

Ja, ja.

STUCKRAD-BARRE:

Kannst du das vielleicht ein für alle Mal beantworten: Finden sich im Kleiderschrank von Martin Suter Jeans?

SUTER:

Nein, das habe ich schon oft beantwortet.

STUCKRAD-BARRE:

Ich weiß. Ich will es aber jetzt und für immer klären und diese Frage somit auch für künftige Befragungen untersagen: Du besitzt also keinerlei Jeans?

SUTER:

Ich besitze keine Jeans, aus verschiedenen Gründen. Erstens habe ich das Jeansalter überschritten.

STUCKRAD-BARRE:

Aha! Wann?

SUTER:

Ich finde, wenn man nicht Cowboy ist von Beruf, dann sollte man so ab fünfzig nicht mehr unbedingt in Jeans herumgehen.

STUCKRAD-BARRE:

Die meisten Cowboys sind ja über fünfzig, auch in der Altersteilzeit schon. Es gibt ja wenige Cowboys unter fünfzig.

SUTER:

Ja. Aber man kann zum Beispiel auch ein alternder Cowboy sein.

STUCKRAD-BARRE:

Wenn man das Leben als Marlboro-Werbespot würdig zu Ende führen will, dann geht das. Ist aber natürlich sowieso eine Contradictio in adiecto. Was jetzt als Formulierungsbeiläufigkeit doch ein gekonnt drapiertes Einstecktuch war, oder nicht?

SUTER:

Ja, ich staune. Es ist aber schon auch ein etwas zu signalfarbenes Einstecktüchlein, mein Lieber. Es ist fast schon eine Badehose, nicht wahr? Aber zurück zu den Jeans.

STUCKRAD-BARRE:

Oh, das wäre ein guter Werbeslogan für unser Buch: Aber zurück zu den Jeans!

SUTER:

Dem Jeansalter also bin ich entwachsen, und der andere Grund ist: Jeans, klassische Jeans, 501 oder Lee, die haben alle zu kleine Taschen. Und ich habe immer so allerlei bei mir.

STUCKRAD-BARRE:

Ach! Du hast deine Brille und so was dabei, in der Hosentasche?

SUTER:

Ich habe eine Brille dabei, einen Schlüsselbund, ein Portemonnaie für Münzen.

STUCKRAD-BARRE:

Münzen? Du hast Münzen? Enttäuschend.

SUTER:

Und ich habe auch ein Taschenmesser dabei.

STUCKRAD-BARRE:

Und das Aufgezählte also passt nicht alles in eine Jeans?

SUTER:

Nein, das passt da nicht rein.

STUCKRAD-BARRE:

Wie wäre es mit einem Jeansanzug? Auch nicht, nehme ich an. Erst recht nicht!

SUTER:

Das ist mir dann ein bisschen zu horstbuchholzig. Oder?

STUCKRAD-BARRE:

Mit dieser Referenz kann nun kaum mehr jemand was anfangen, also ist sie perfekt. Rätsel sein! Ja, ein Jeansanzug – besser lässt es sich nicht sagen – wäre ein bisschen zu horstbuchholzig. Absolut. Und zwar der heutige Horst Buchholz. Six feet under. Also gut, dennoch aber sagen wir: Signalfarbene Badehose, wenn der Sitz stimmt, warum nicht?

SUTER:

Genau. Und man ist ja sowieso meistens sehr schön verborgen in den Strandkörben.

STUCKRAD-BARRE:

Das stimmt. Auf dem werblichen AUTORENFOTO, das man in Heiligendamm in einer Faltbroschüre sieht, wenn Martin Suter wieder einmal liest, bloß um drei Nächte nicht bezahlen zu müssen, was ja eine ehrenvolle Begründung ist, auf diesem Foto trägst du dann allerdings einen Anzug. Und es ist Champagner arrangiert auf diesem kleinen Klappbrettchen an der Seite: Das ist das offizielle Strandkorbfoto von dir. Da hast du mitnichten eine Badehose an. Und schon gar keine orangefarbene.

SUTER:

Nein, da habe ich einen Anzug an und Krawatte. Natürlich.

STUCKRAD-BARRE:

Angenehmerweise. Alles andere hätte mich auch stark irritiert, auf ungute Weise.

SUTER:

Ich lasse mich natürlich nie fotografieren in …

STUCKRAD-BARRE:

In einem Schwächemoment.

SUTER:

… in der leuchtfarbenen Badehose.

STUCKRAD-BARRE:

Vielleicht ein Fehler, wenn wir so darüber sprechen.

SUTER:

Also, früher habe ich mich schon auch mal leicht bekleidet fotografieren lassen, aber da war ich dreißig, vierzig Jahre jünger. Kürzlich bin ich wieder auf so ein Foto gestoßen, und das konnte sich sehen lassen, mein Lieber.

STUCKRAD-BARRE:

Da bin ich mir sicher. Schade, dass ich das verpasst habe.

SUTER:

Ich zeige es dir dann.

STUCKRAD-BARRE:

Bei welcher Gelegenheit bot sich dir die Möglichkeit oder Notwendigkeit, eine halbnackte Fotografie erstellen zu lassen?

SUTER:

Am Strand, auch am Strand.

STUCKRAD-BARRE:

Von wem für was? Private Zwecke?

SUTER:

Meine Frau hat mich fotografiert.

STUCKRAD-BARRE:

Das zählt als privat. Normalerweise trennt man ja zwischen Ehe und Privatleben. Aber hier zählt das als privat.

SUTER:

Ja. Und wahrscheinlich hat sie es präventiv als Erinnerung fotografiert, dass sie es dann mal in zwanzig Jahren anschauen kann.

STUCKRAD-BARRE:

Schau nur, wie schön wir waren, wie glücklich, wie zugewandt – und was nun aus uns geworden ist! Atomarer Erstschlag in einem Gespräch.

SUTER:

Oder dass sie es vielleicht braucht, um sich ab und zu wieder zu erklären: Warum bin ich mit dem zusammen? Das könnte auch sein.

STUCKRAD-BARRE:

Also Bademoden gegen das Vergessen.

SUTER:

Genau. Es gibt eine zweite Regel, wie ich mich nicht mehr fotografieren lasse, das ist …

STUCKRAD-BARRE:

Mit der Hand am Kinn?

SUTER:

… in der Sonne.

STUCKRAD-BARRE:

Ja? Ist Sonnenlicht nicht besonders schmeichelhaft?

SUTER:

Nein. Man sieht jede Pore und jede Runzel. Und natürlich hast du recht: Die Schriftstellerposition mit der Hand im Gesicht oder so aufgestützt …

STUCKRAD-BARRE:

Furchtbar!

SUTER:

… furchtbar! Und meine Frau sagte, noch ein zusätzliches Argument dagegen ist: Die Farbe der Hand und die Farbe des Gesichts, die stimmen nie überein.

STUCKRAD-BARRE:

Aha.

SUTER:

Da hat sie auch recht.

STUCKRAD-BARRE:

Blau und orange.

SUTER:

Und was ich auch nicht mehr mache, ist bei Fernsehaufnahmen den sogenannten Gang.

STUCKRAD-BARRE:

Ja, der Gang!

SUTER:

Den kennst du auch. O ja, der Gang.

STUCKRAD-BARRE:

Das wird hinterher als Schnittbild benutzt. Man hat so ein bisschen melancholisch auf und ab zu latschen, FLANIEREN ist das Ziel, aber man sieht eigentlich immer aus, als ob man gerade aufs Klo müsste.

SUTER:

Oder man läuft im Passgang oder irgendwas.

STUCKRAD-BARRE:

Der Gang ist herrlich. Treppe rauf, Treppe runter. Verschwinden ist auch toll.

SUTER:

Wenn in der Tagesschau ein Bericht kommt oder sonst ein Bericht, dann …

STUCKRAD-BARRE:

In der Tagesschau ein Bericht über dich?

SUTER:

Ja, manchmal.

STUCKRAD-BARRE:

Wirklich?

SUTER:

Ja, ja.

STUCKRAD-BARRE:

Das ist aber toll. Wobei man einschränkend sagen muss: in der Schweizer Tagesschau, oder?

SUTER:

In der Tagesschau der Schweiz. Und die machen am Schluss der Sendung immer noch so was Unseriöses, nämlich etwas Kulturelles.

STUCKRAD-BARRE:

Aber das bringt ja immens viel, oder?

SUTER:

Ich weiß nicht, ob es genau gemessen wird, aber der Verlag ist schon …

STUCKRAD-BARRE:

Aufgeregt.

SUTER:

… nie dagegen, wenn die sagen: »Wir bringen dann was in der Tagesschau.« Aber es kann natürlich auch blöd ausgehen – wenn man in Österreich bei Zeit im Bild vorkommt und das ein verächtlicher Verriss ist. Dann denkt man, ja, man hätte es vielleicht doch lieber abgesagt.

STUCKRAD-BARRE:

Hätte man doch auf diesen Gang besser verzichtet! Wobei, wenn es direkt davor um eine brennende Krisenregion ging, hat es schon auch einen Grad der Komik: der Gang! Kultur als Wetter eigentlich.

SUTER:

Ja, genau.

STUCKRAD-BARRE:

Wenn du jetzt nur noch in orangener Badehose auf‌treten würdest, glaube ich, eins, zwei, drei – und die Tagesschau wäre da. Sofort.

SUTER:

Hm ja.

STUCKRAD-BARRE:

Breaking News. Aufregung, Ticker, Hubschrauber. Nein?

SUTER:

Ich bin nicht ganz sicher.

STUCKRAD-BARRE:

Nein, jetzt, wo ich es gerade gesagt habe, bin ich auch nicht mehr so sicher. Bleib lieber beim Anzug.

SUTER:

Ich bleibe beim Anzug, ja.

STUCKRAD-BARRE:

Okay.

SUTER:

Auch dann sieht er noch doof genug aus, der Gang, oder? Da kommt irgendein Bericht im Fernsehen, der fängt damit an, dass jemand vorbeigeht, dann weißt du: Aha, da kommt gleich ein Interview mit dem oder mit der. Und prompt: Schnitt.

STUCKRAD-BARRE:

Zeigt sich nachdenklich! Verletzlich! Suchend!

SUTER:

Ja. Aber manchmal kann ich mich jetzt durchsetzen. In Berlin zum Beispiel, da sollte ich mal den Gang machen, ich glaube, im Park Hyatt war das, und danach wollten sie mich in der Bar interviewen. Da habe ich gesagt, filmt doch anstatt des Ganges einfach, wie ich an der Bar sitze vor einem Drink. Damit können sie ja auch ein Schnittbild machen, und sie können auch diesen Lieblingssatz sagen: Der hier, den interviewen wir dann gleich.

STUCKRAD-BARRE:

Und er ist komplett blau, bleiben Sie dran.

SUTER:

Ja.

STUCKRAD-BARRE:

Würde ich mir auch direkt angucken wollen.

SUTER:

Genau.

STUCKRAD-BARRE:

Das ist sein fünf‌ter Drink. Den sechsten bis achten nimmt er gleich im Interview.

SUTER:

Ja.

STUCKRAD-BARRE:

Also Prost!

SUTER:

Zum Wohl, ja! Auf die …

STUCKRAD-BARRE:

Auf den Gang.

SUTER:

… leuchtfarbene Badehose.

STUCKRAD-BARRE:

Aber niemals beides gleichzeitig.

Glitzer

STUCKRAD-BARRE:

Martin, ich habe bei dir zu Hause entdeckt: unerwartete Mengen an Glitzergläsern. Glitzergläserröhrchen. Glitzer! Gläser! Röhrchen! In der Küche lagen nicht wenige reagenzgläschenförmige Behältnisse, voll mit – man kann es nicht anders sagen – Glitzer. Also goldener, purpurner Glitzer, wie ihn sehr junge Mädchen als Schminke vielleicht verwenden oder im Barbie-Haushalt oder so. Ich weiß gar nicht, wofür man sonst noch Glitzer braucht. Jedenfalls muss ich sagen, deine Bücher kennend und sehr mögend, da kam der Glitzer jetzt überraschend.

SUTER:

Gut, ich persönlich brauche Glitzer praktisch nie. Aber unsere Tochter Ana, die übermorgen dreizehn wird, die ist natürlich in dieser schwierigen pubertären Phase. Und du weißt ja, wie das ist, da dreht man manchmal praktisch durch. Über die Pubertät hat mir mal jemand gesagt: »Ja, das musst du wissen, das ist eine Geisteskrankheit, die Pubertät.«

STUCKRAD-BARRE:

Wirklich?

SUTER:

Ja. Damit musst du einfach rechnen, dass du da nichts dagegen machen kannst. Dann habe ich aber gelesen von einer Psychologin, einer amerikanischen Psychologin, die hat eine andere Psychologin getroffen in Texas, und die hatte ein Einmachglas mit Wasser drin und Glitzer. Die hat gesagt, wenn ihre pubertären Patientinnen und Patienten in diesem Zustand sind, wo sie halb durchdrehen, dann nimmt sie dieses Glas und schüttelt es. Wie diese Gläser, in denen es schneit. Und dann wirbeln diese farbigen Glitzer-Stückchen durcheinander, und sie sagt: »Schau, so sieht es im Moment in deinem Kopf aus. Und jetzt musst du einfach das anschauen und warten, bis sich das wieder gesetzt hat. Dann ist es wieder ruhig.« Und mit dieser Methode, hat sie gesagt, hätte sie alle diese Krisen ihrer Patienten gemeistert.

STUCKRAD-BARRE:

Das ermöglicht ihnen also, den Vorgang zu erkennen und zu begreifen?

SUTER:

Genau.

STUCKRAD-BARRE:

Also eine Distanz zu sich selbst einnehmen: Ah, das ist gerade nicht für immer, sondern das ist eine vorübergehende Kernschmelze meines Verstandes, aber das setzt sich dann auch irgendwann. Wie der Glitzer.

SUTER:

Das ist in der Theorie so. Wir haben es dann mit Ana probiert, und da war eigentlich das Basteln, auch das Einkaufen dieses Glitzers ein Projekt, du kannst ja nicht einfach jeden Glitzer nehmen.

STUCKRAD-BARRE:

Natürlich nicht, um Himmels willen! Das muss schon sitzen. Das muss Spezialglitzer sein. Aus einer Manufaktur, seit Jahrhunderten in Familienbesitz. Glitzer und Söhne. Für deine Tochter!

SUTER:

Der erste Glitzer, den ich irgendwo gekauft habe, der schwamm einfach obenauf. Da konntest du schütteln, wie du wolltest, das schwamm obenauf. Und dann habe ich in Zürich ein Bastelgeschäft gefunden in einer Querstraße, falls du auch mal Glitzer brauchst, einer Querstraße zwischen Rennweg und Bahnhofstraße. Da gibt’s ein Bastelgeschäft, und dort …

STUCKRAD-BARRE:

Solche Geschäfte sind immer in Querstraßen.

SUTER:

Ja, natürlich.

STUCKRAD-BARRE:

Der Satz dazu ist dann: »Anders können die sich gar nicht halten – wundert mich sowieso, dass die durchhalten, die haben es wahnsinnig schwer durch den Online-Handel.«

SUTER:

Eben. Sie können das auch nicht zahlen, die Bahnhofstraße. Stell dir vor, zwischen all diesen Juwelieren und Zara, da kannst du nicht einen Glitzerladen führen.

STUCKRAD-BARRE:

Die ja auch Glitzerläden sind, genau betrachtet.

SUTER:

In nämlichem Querstraßenglitzerfachgeschäft jedenfalls habe ich dann den richtigen Glitzer gekauft. Da gibt es auch kleine herzförmige. Wenn du dich mal richtig mit dem Glitzermarkt befasst, dann wirst du sehen, wie reich da das Angebot ist.

STUCKRAD-BARRE:

Also das heißt ja, andersherum gesagt, ihr habt den richtigen Glitzer nicht gefunden.

SUTER:

Erst nicht, aber dann schon, und damit haben wir es auch probiert. Aber beim ersten Mal, als Ana dann so eine Situation hatte, hat sie gesagt: »Hau mir ab mit diesem doofen Glitzerzeug!«

STUCKRAD-BARRE:

»Eine Situation hatte« ist sehr amerikanisch ausgedrückt.

SUTER:

Ja.

STUCKRAD-BARRE:

We have a situation here. Auf in den Situation Room!

SUTER:

Ja. We have a situation. Also es hat, ehrlich gesagt, nicht funktioniert.

STUCKRAD-BARRE:

Klar. Man kann auch einen Psychotherapeuten genau dann, wenn man ihn akut braucht, eben nicht auswählen. Es wird dann irgendeiner. In der Krise casten – geht nicht, weil ja eben Krise ist. Wer noch Therapeuten casten kann, braucht aktuell gar keinen. Da reicht es, sich zu besaufen. Man muss ihn ja in der Nichtkrise gecastet haben, um dann darauf zugreifen zu können. Aber man hat natürlich dann keine Lust auf die Ebnung abstrakt erscheinender Vorkehrungen. Und IN der Krise: ist Krise. Und Pubertät ist Krise in Permanenz. Des sogenannten Umfelds natürlich auch. Ziel, Sinn und Wesen der Pubertät ist ja die Entzweiung mit den Eltern, Bruch, Auf‌lehnung, Ablehnung, Sabotage, Widerstand. Die vernunftbegabte Kooperation ist auszuschließen! Stattdessen werden Augen gerollt, Türen geknallt, Verallgemeinerungen gekräht und so weiter. Gut gefallen in einem Film würde mir ein solchermaßen agitiert ausrufendes Mädchen: »Ich will doch jetzt gerade nicht mit Glitzer meine Kernschmelze illustrieren, verdammte Scheiße! Sie IST ja gerade, sie findet ja gerade statt! Ich bin doch gerade verrückt! Ich kann doch jetzt nicht neben mich treten, bewusst, und mir meine Verrücktheit anschauen, modellhaft, um sie zu begreifen und überwinden zu können!«

SUTER:

Ich muss zugeben, es hat eindeutig nicht funktioniert. »Hau ab!« und so, hat sie gesagt.

STUCKRAD-BARRE:

Aber fandest du im Laden denn Gehör mit deiner Beobachtung, dass mancher Glitzer schwimmt und verklumpt und mancher sich setzt? Ist das ein in Glitzerfachkreisen bekanntes Problem?

SUTER:

Also das war dort unter Fachleuten überhaupt keine Frage. Selbstverständlich. »Was? Sie wollen einen schüttelfesten Glitzer haben? Dann müssen Sie hier schauen, die von hier bis hier kommen in Frage. Die dort – bloß nicht! Die lösen sich auf. Jene dort schwimmen obenauf. Diese verklumpen.« Nein, nein, also rohstoffmäßig bin ich glitzertechnisch völlig ausgerüstet.

STUCKRAD-BARRE:

Und nach dieser ersten herben Niederlage IMFELD, wenn wir so sagen wollen, hast du die Sachen trotzdem mit einem gewissen Trotz noch aufbewahrt? Oder ist es eine Invektive gegen mich, und ICH muss jetzt begreifen, dass meine Pubertät noch immer andauert? Das weiß ich sowieso schon, Martin. Aber ich stelle mich wenigstens neben das Glasgefäß und gucke mir deine Vorführung an. Mit Freude! Ich kann, aus Deutlichkeitsgründen, natürlich dabei auch permanent aufs Handy schauen statt auf den Glasbehälter und dazu abwesend Zustimmungsgeräusche summen, um meine scheinbare Anwesenheit vorzutäuschen.

SUTER:

Das steht noch da, weil es ein Tipp von den Glitzerspezialistinnen dort zwischen Rennweg und Bahnhofstraße war, die haben gesagt: »Aber Sie müssen destilliertes Wasser nehmen.«

STUCKRAD-BARRE:

Ah!

SUTER:

»Sonst wird das gelb und fault und so. Es muss hygienisch einwandfrei gearbeitet werden.« Und jetzt steht, seit du zuletzt bei uns zu Besuch warst, das ist ein paar Monate her, immer noch dieses Glas dort, und immer noch hofft das Glas, dass es einmal richtig zu seinem Zweck benützt wird.

STUCKRAD-BARRE:

Eigentlich traurig.

SUTER:

Ja, wie alles, das nicht gebraucht wird. Das siehst du ja auch hier. Hier, dieser Fauteuil: Nie sitzt jemand in diesem Fauteuil. Oder niemand, den ich kenne. Und wenn ich mich mal hier hinsetze, dann fühle ich mich irgendwie verloren.

STUCKRAD-BARRE:

Man weiß dann nicht, wie es weitergeht.

SUTER:

Ja. Ja, ja.

STUCKRAD-BARRE:

Man sitzt dann da so. Ja. Fauteuil ist für mich jetzt eines dieser Wörter, bei denen ich nicht genau weiß, mit wie vielen Ls und EUs und so oder OIs.

SUTER:

Die französischen Kinder haben noch das Privileg, solche Wörter zu lernen, die man ganz anders schreibt, als man sie ausspricht. Auch englische Kinder. Nur die deutschen und Schweizer Kinder und Österreicher, die müssen jetzt praktisch phonetisch schreiben.

STUCKRAD-BARRE:

Nur nicht Fonduetram.

SUTER:

Nein, dürfen sie nicht. Aber stell dir vor, die Kinder würden statt Bordeaux »Bordo« schreiben. Das wäre doch eine Beleidigung. Wir können doch B-O-R-D-E-A-U-X schreiben und Bordo sagen. Wir sind doch nicht so blöd. Da wäre ich gerne mal eine Fliege an der Wand gewesen in diesen Sitzungen. Da haben die sicher zwei Monate über Gämse gestritten, ob man das mit A-Umlaut oder mit E schreiben soll.

STUCKRAD-BARRE:

Ja. Ja.

SUTER:

Oder platzieren. Stell dir vor.

STUCKRAD-BARRE:

Platzieren, ja. Furchtbar.

SUTER:

Platzieren. Dieses elegante Plazieren hat jetzt mit Platzen, geplatzt was zu tun.

STUCKRAD-BARRE:

Wie machst du es in deinen Büchern? Ich mache es bei mir so, ich entscheide da zwischen neuer und eigentlicher Rechtschreibung so, wie es mir passt. Also platzieren würde ich niemals durchgehen lassen bei mir.

SUTER:

Natürlich nicht. Niemand Zurechnungsfähiges täte das.

STUCKRAD-BARRE:

Ich finde es sowieso ein etwas blödes Wort. Ich wüsste gar nicht, wann ich es mal verwende. Aber wenn, doch bitte mit C.

SUTER:

Ja, in der Küche gibt’s ja das Mise en place, die Vorbereitung. Stell dir vor, man würde Mis en Platz schreiben. Das wäre irgendwie furchtbar.

STUCKRAD-BARRE:

Wie kommt es vom Diogenes Verlag zurück zu dir? Nach neuester Rechtschreibung?

SUTER:

Nein, Diogenes hat sich von Anfang an für die gemäßigte neue Rechtschreibung entschieden. Und da gibt es ein paar scharfe S, aber Gämse … Also ich vermeide einfach platzieren. Diogenes würde es, glaube ich, nach wie vor nur mit Z schreiben.

STUCKRAD-BARRE:

Nicht mit C?

SUTER:

Nein, nein, mit einem Z. Und die Gemse ist jetzt eine Tierart, die in meiner Literatur ausgestorben ist. Leider kommt die nicht mehr vor. Der Gemsbart auch nicht, natürlich.

STUCKRAD-BARRE:

Ist das nicht der Gamsbart? Ist es da nicht Singular?

SUTER:

Der Gamsbart? Aber die Gemse ist ja auch Singular. Siehst du, jetzt sind wir praktisch schon im PEN-Club, thematisch.

STUCKRAD-BARRE:

Ja. Ich glaube nicht, dass es so konkret ist im PEN-Club.

SUTER:

Meinst du nicht?

STUCKRAD-BARRE:

Nein. »Mehr so gesellschaftlich.« Würde ich sagen. Nein: RAUNEN würde ich das. Die ganz großen Felder bewirtschaften. Von Oslo aus Amerika zu Ende denken. Was heißt eigentlich PEN noch mal? Habe ich vergessen.

SUTER:

Feder.

STUCKRAD-BARRE:

Ja, ja, aber ist es nicht auch irgendeine Abkürzung?

SUTER:

Ich weiß es nicht. Das wäre vielleicht mal ein Thema: Was heißt eigentlich PEN-Club?

STUCKRAD-BARRE:

Ja. Und warum wundern wir uns, dass wir nicht drin sind, wenn wir noch nicht mal das wissen?

SUTER:

Stimmt. Wie so oft ist es auch eine verdiente Niederlage, nicht aufgeboten zu werden im PEN-Club.

STUCKRAD-BARRE:

Es gilt ja auch diese leider arg strapazierte Groucho-Marx-Regel, dass man nicht Mitglied des Clubs sein will, der einen aufnimmt.

SUTER:

Gut, das ist wahr. Und wo sind dann die Sitzungen? Wahrscheinlich ist es schwierig für Schweizer PEN-Club-Mitglieder, die müssen dann immer nach Berlin.

STUCKRAD-BARRE:

Nein, ich glaube nicht Berlin.

SUTER:

Nicht? Ist das mehr so …

STUCKRAD-BARRE:

Das ist international.

SUTER:

… Krefeld?

STUCKRAD-BARRE:

Nein! Der PEN-Club? In Argentinien oder so treffen die sich. Aber geistig ist es natürlich: Krefeld.

SUTER:

Du meinst, es gibt nur einen internationalen PEN-Club? Gibt es den nicht ländermäßig?

STUCKRAD-BARRE:

Ortsvereine.

SUTER:

Ich glaube, es gibt Ortsvereine.

STUCKRAD-BARRE:

Wir könnten das natürlich bei Max Frisch überprüfen. Ganz bestimmt hat der den PEN-Club mal geleitet oder so. Ihm ins Stammbuch geschrieben, permanent. Widerspruch. Debatten. Pfeife rauchend miteinander brechen und so weiter.

SUTER:

Das ist gut möglich. Da kenne ich seine Biographie zu wenig.

STUCKRAD-BARRE:

Ich kenne sie eigentlich ganz gut, aber ich glaube auch, dass die Aktivitäten im PEN-Club genau der Teil an Max Frisch sind, den ich unausstehlich finde. Also wie diese ja doch sehr didaktischen Theaterstücke und Aufsätze, Aus dem Brotsack, Schweiz ohne Armee. Das ist ja dann doch etwas unpoetisch.

SUTER:

Ja, ja.

STUCKRAD-BARRE:

Wohingegen seine Romane sehr gut haltbar sind, finde ich.

SUTER:

Ja, finde ich auch. Finde ich auch.

STUCKRAD-BARRE:

Welches ist dein Lieblingsbuch von Max Frisch?

SUTER:

Manchmal Montauk, manchmal – wie bei allen – Stiller.

STUCKRAD-BARRE:

Bei mir ist es wohl Montauk, aber danach folgt Gantenbein.

SUTER:

Ah ja.

STUCKRAD-BARRE:

Ich finde Stiller viel zu viel auf Schullektüre hin geschrieben, zu einfach irgendwie. Gantenbein ist ein sehr schönes Buch, das habe ich erst spät begriffen. Nun gut – Glitzer immer zu Hause haben, speziell, wenn der PEN-Club anruft?

SUTER:

Ja. Unbedingt.

STUCKRAD-BARRE:

Du, da bin ich ganz bei dir, du.

SUTER:

Da gehe ich d’accord.

STUCKRAD-BARRE:

Totale Schnittmenge.

SUTER:

Am Ende des Tages – ja.

STUCKRAD-BARRE:

Gut auch: »Der Ball liegt jetzt im Feld des PEN-Clubs.«

SUTER:

Und ich finde, da liegt er gut.

Äähm

STUCKRAD-BARRE:

Äähm, so. Guter Start, nicht? Es ist schrecklich – ich sage viel zu oft »äähm«, ist mir aufgefallen.

SUTER:

Ich, äähm, glaube, äähm, ich sage noch öfter »äähm« als du.

STUCKRAD-BARRE:

Was passiert denn im Äähm eigentlich? Also … Das »Also« übrigens ist ja auch bloß ein schlecht verkleidetes Äähm. Also: äähmm. Atmet da der Text, oder schwankt da der Sinn? Wozu »äähm«? Man sucht?

SUTER:

Man überlegt. Und mein Verdacht ist: Man will diese Denkpause verstopfen, damit niemand reinspringt.

STUCKRAD-BARRE:

Es ist das Libretto für: atmen, atmen, atmen. Äähm. Und jetzt habe ich vergessen, was ich sagen wollte.

SUTER:

Siehst du, jetzt kann ich dir mit leichter Hand das Wort abnehmen – und es nie mehr hergeben. Hättest du mal besser »äähm« gesagt!

STUCKRAD-BARRE:

Äähm ist auch eine Schlagfertigkeit, die sich selber nur behauptet. Man stimmt schon mal so ein Präsprachgeräusch an, obschon der Gedanke noch gar nicht formuliert ist, ja noch nicht mal gedacht. Es ist das Verfertigen des Gedankens beim Lallen. Silbengekotze. Es ist furchtbar.

SUTER:

Genau, es ist eine Ablenkung oder ein Ausdribbeln des Gegenübers, das ja auch was sagen möchte.

STUCKRAD-BARRE:

Zumindest aber was anderes hören will als »äähm«.

SUTER: