Allein in einer fremden Welt - Aliza Korten - E-Book

Allein in einer fremden Welt E-Book

Aliza Korten

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Beschreibung

Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. »Ob der Bus eine Panne hat?«, fragte Nick. Pünktchen hob die Schultern. »Keine Ahnung. Wir müssen eben warten, bis er kommt.« Die Gymnasiasten aus dem Kinderheim Sophienlust, die an diesem Tag vergeblich vor der Schule nach ihrem roten Kleinbus Ausschau hielten, wurden zunächst nicht ungeduldig. Denn die blonde Irmela hatte etwas entdeckt. »Seht mal, der Bub kann phantastisch mit dem Skateboard fahren!«, rief sie bewundernd aus. »Man sollte es nicht für möglich halten.« Nun wurden auch die anderen Kinder aufmerksam. Nur ein paar Häuser vom Grundstück des Maibacher Gymnasiums entfernt, führte ein etwa sechsjähriger Junge die erstaunlichsten Kapriolen auf seinem Skateboard vor. Es war auch ein ausgesprochenes Super-Skateboard. Der Bub war ganz in seine Kunststücke versunken und bemerke zunächst nicht, dass er Zuschauer bekommen hatte. Scheinbar mühelos bewegte er sich mit dem Brett im Kreise, wendete, hielt an, kam wie von selbst wieder in Fahrt und wagte sogar Sprünge. Es war atemberaubend, ihn zu beobachten, und die kleine Gruppe aus Sophienlust dachte kaum mehr an den bisher ausgebliebenen Schulbus des Kinderheims. »Das müsste man selber können«, meinte Angelika Langenbach mit einem abgrundtiefen Seufzer. »Ich würde ständig fallen, wenn ich es auch nur versuchte«, gab Irmela zurück.

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Sophienlust – 329 –

Allein in einer fremden Welt

...doch in Julia findet der kleine Angelo eine wunderbare Freundin!

Aliza Korten

»Ob der Bus eine Panne hat?«, fragte Nick.

Pünktchen hob die Schultern. »Keine Ahnung. Wir müssen eben warten, bis er kommt.«

Die Gymnasiasten aus dem Kinderheim Sophienlust, die an diesem Tag vergeblich vor der Schule nach ihrem roten Kleinbus Ausschau hielten, wurden zunächst nicht ungeduldig. Denn die blonde Irmela hatte etwas entdeckt.

»Seht mal, der Bub kann phantastisch mit dem Skateboard fahren!«, rief sie bewundernd aus. »Man sollte es nicht für möglich halten.«

Nun wurden auch die anderen Kinder aufmerksam. Nur ein paar Häuser vom Grundstück des Maibacher Gymnasiums entfernt, führte ein etwa sechsjähriger Junge die erstaunlichsten Kapriolen auf seinem Skateboard vor. Es war auch ein ausgesprochenes Super-Skateboard.

Der Bub war ganz in seine Kunststücke versunken und bemerke zunächst nicht, dass er Zuschauer bekommen hatte. Scheinbar mühelos bewegte er sich mit dem Brett im Kreise, wendete, hielt an, kam wie von selbst wieder in Fahrt und wagte sogar Sprünge. Es war atemberaubend, ihn zu beobachten, und die kleine Gruppe aus Sophienlust dachte kaum mehr an den bisher ausgebliebenen Schulbus des Kinderheims.

»Das müsste man selber können«, meinte Angelika Langenbach mit einem abgrundtiefen Seufzer.

»Ich würde ständig fallen, wenn ich es auch nur versuchte«, gab Irmela zurück. »Irgendwie bin ich neidisch. Wo er das wohl gelernt hat?«

Nach einem besonders artistischen Kunststück klatschten die jugendlichen Zuschauer spontan Beifall.

Nun wurde der dunkellockige kleine Bursche doch auf sein Publikum aufmerksam und lächelte. Durch den Beifall angefeuert, ließ er sich zu noch aufregenderen Kapriolen hinreißen. »Er könnte tatsächlich glatt im Zirkus oder im Varieté auftreten«, stellte Nick mit krauser Stirn fest.

In diesem Augenblick erklang die wohlvertraute Hupe des Schulbusses von Sophienlust. Der Fahrer nickte den Kindern zu. »Es tut mir leid, ich bin aufgehalten worden.«

»Das macht nichts. Wir hatten inzwischen hier eine Gratisvorstellung.«

Der fremde Junge zögerte nicht, nun auch dem Fahrer seine Kunst zu zeigen, während die Gymnasiasten eilig in den Bus einstiegen. Als der Wagen anfuhr, winkte der Bub den Kindern nach, und sein hübsches Gesicht lächelte. Offenbar wusste er ganz genau, dass er ein kleiner Meister auf dem Skateboard war.

Während der Heimfahrt unterhielten sich die Kinder noch einige Zeit über den Jungen, den sie bisher noch nie gesehen oder in der Umgebung des Gymnasiums bemerkt hatten.

»Wir haben vielleicht nur nicht auf ihn geachtet«, überlegte Pünktchen. »Im Allgemeinen warten wir doch nicht auf unseren Bus.«

»Möglich ist das«, räumte Nick sogleich ein. »Schade, dass wir nicht mit ihm gesprochen haben. Morgen wollen wir darauf achten, ob er wieder seine Schau veranstaltet.«

Der rote Kleinbus erreichte alsbald sein Ziel, das stolze ehemalige Herrenhaus von Sophienlust, in dem sich das Kinderheim befand.

Sogar bei Tisch war noch von dem Skateboardfahrer die Rede, und die Kleinen, die entweder die Grundschule in Wildmoos besuchten oder noch gar nicht schulpflichtig waren, hörten den Großen ein bisschen neidisch zu.

Auch im Gutshaus von Schoeneich drehte sich das Gespräch beim Mittagessen um den Skateboardfahrer. Henrik von Schoenecker, Nicks jüngerer Bruder, beschloss, sich zum nächsten Geburtstag ein Skateboard zu wünschen.

»So gut wie der kleine Junge, den wir gesehen haben, wirst du nie im Leben fahren«, erklärte Nick etwas herablassend.

»Das werden wir ja sehen«, trumpfte der Kleine auf.

»Halt, nicht streiten«, ermahnte Denise ihre Söhne, und Alexander von Schoenecker erkundigte sich nun ebenfalls nach dem kleinen Künstler, den die Kinder in Maibach gesehen hatten.

»Also, das Skateboard für Henrik wollen wir mal auf den Wunschzettel setzen. Ob er später damit ein bühnenreifer Künstler wird, ist wohl nicht so wichtig«, entschied der Vater. Er warf seiner Frau einen liebevollen Blick zu, den sie sogleich mit innigem Lächeln erwiderte.

»Es ist schön, dass wir ausnahmsweise einmal hier zum Essen beisammensitzen«, erklärte Denise. »Ab und zu brauche selbst ich mal Kurzurlaub von Sophienlust.«

Nick lachte. »Eigentlich wollte ich drüben essen, Mutti. Magda hat nämlich ausgerechnet heute Hefeknödel gemacht, und du weißt, wie gern ich die mag.«

Die Buben pendelten ständig zwischen Schoeneich und Sophieneich hin und her, denn ihre Mutter hatte das Kinderheim Sophienlust ins Leben gerufen und war meistens dort anzutreffen, wenngleich eine Heimleiterin, die allseits beliebte Frau Rennert, dort schaltete und waltete.

Magda war die Köchin in Sophienlust, und nach dem einhelligen Urteil der ­Kinder durch niemanden in der Welt zu übertreffen. Obgleich in Schoeneich ihre leibliche Schwester in der Küche re­gierte, bevorzugten Denises Söhne des öftern die einmaligen Künste von Magda.

»Da haben wir ja Glück gehabt«, stellte der Vater lakonisch fest. »Es kommt immer seltener vor, dass ich meine Lieben einmal vollzählig um mich versammelt habe.«

»Das ist der Lauf der Welt«, erwi­derte Nick mit der ganzen Weisheit seiner sechzehn Lenze. »Sascha kann doch nicht hier sein. Schließlich studiert er in Heidelberg. Und Andrea muss bei ihrem Mann und dem kleinen Peterle bleiben.«

»So meine ich das ja auch nicht, mein Junge. Außerdem bin ich dankbar, dass alle meine Kinder und auch Hans-Joachim oft und gern bei uns sind.«

Henrik löffelte schon den zweiten Teller mit Fruchtspeise genüsslich aus. Auch die Küche in Schoeneich war durchaus nicht zu verachten. »Ich bleibe noch lange zu Hause«, sagte er vergnügt. »Nick wird irgendwann auch mal fortgehen und studieren – oder etwa nicht?«

»Klar muss ich auf die Universität. Ich will Sophienlust weiterführen und dann auch wirklich etwas von Erziehung und all den anderen Dingen verstehen.«

Denise und Alexander tauschten einen langen Blick. Sie fanden es beglückend, wie selbstverständlich Nick in die ihm durch das Vermächtnis seiner Urgroßmutter zugefallene Aufgabe hineinwuchs.

Sophie von Wellentin hatte vor Jahren das Gut Sophienlust samt einem beträchtlichen Vermögen ihrem einzigen Urenkel Dominik – also Nick – hinterlassen. Der damals Fünfjährige war mit der allzufrüh verwitweten Denise dort eingezogen, was für Mutter und Sohn eine glückliche Wende nach einer harten Zeit bedeutet hatte. Zuvor hatte Denise ihren Lebensunterhalt selbst verdienen müssen, so dass Nick in einem Heim hatte leben müssen. Unter der Trennung hatten beide bitter gelitten, als unschuldige Opfer eines Familienzerwürfnisses. Doch die alte Dame hatte dann eben noch rechtzeitig vor ihrem Tode erkannt, wie sehr Denise und dem Jungen Unrecht geschehen war. So hatte sie Nick zum Universalerben eingesetzt und in ihrem Testament den Wunsch geäußert, dass im Herrenhaus von Sophienlust eine Zufluchtsstätte für in Not geratene Kinder entstehen möge. Da Nick noch zu jung gewesen war, um dieses schöne Vermächtnis zu erfüllen, hatte seine Mutter diese Aufgabe übernommen und das Kinderheim ins Leben gerufen.

Schon bald war dann zwischen ihr und dem Gutsnachbarn Alexander von Schoenecker eine herzliche Freundschaft entstanden, die sich zur innigen Liebe entwickelt hatte. Beide Partner waren damals verwitwet gewesen, beide hatten Kinder in die zweite Ehe eingebracht. – Denise ihren kleinen Dominik, Alexander die Geschwister Sascha und Andrea. Henrik, der Benjamin der Familie, entstammte der neuen Verbindung. So waren sie eine zahlreiche und glückliche Familie geworden – Andrea nun schon verheiratet und selbst Mutter eines Buben, Sascha Student in Heidelberg.

Denise und Alexander dachten an all diese Dinge, während sie einander anschauten. Zu sprechen brauchten sie nicht, denn sie verstanden sich auch ohne Worte.

Einmal würde der Tag kommen, an dem Denise die Hände in den Schoß legen und ihr Werk Nick übergeben würde. Doch bis dahin blieb noch viel, viel Zeit.

*

Am folgenden Mittag blickten sich die Sophienluster Schüler suchend nach dem kleinen Jungen mit dem Skateboad um, den sie so sehr bewundert hatten. Allein, von dem dunkelhaarigen Künstler war keine Spur zu entdecken. Pünktchen bat den Fahrer, ein paar Minuten zu warten, und ging die Straße bis zur nächsten Ecke hinunter, doch der Bub blieb unauffindbar – wenigstens an diesem Tag.

»Schade, ich hätte mich gern mit ihm unterhalten«, sagte Pünktchen enttäuscht, als sie zu den anderen in den roten Bus kletterte. »Vielleicht ist er morgen wieder da.«

Es sollte jedoch eine volle Woche vergehen, ohne dass der kleine Skatboardkünstler wieder auftauchte. Trotzdem sahen sich die Sophienluster Kinder immer wieder nach ihm um.

Am Beginn der nächsten Woche hatte Pünktchen dann ein bestürzendes Erlebnis. Sie entdeckte den Jungen, der zusammengekauert auf der Treppe eines Hauses hockte. Sein Skateboard hatte er nicht bei sich, und sein hübsches Gesicht wirkte unendlich traurig.

»Grüß Gott«, sagte Pünktchen leise, »willst du uns nicht einmal etwas vorführen auf dem Skateboard? Das war einfach klasse neulich.«

Der Bub schaute sie an, sprang auf und lief ums Haus herum, so schnell ihn seine Beine trugen. Ehe Pünktchen zur Besinnung kam, war er verschwunden. Sie folgte ihm, verlor ihn jedoch aus den Augen und gewann die Überzeugung, dass er durch den rückwärtigen Eingang ins Haus gegangen sein müsse. Bestürzt kehrte sie zu den anderen zurück, die im Bus auf sie warteten und schon etwas ungeduldig geworden waren.

»Er hat irgendeinen schrecklichen Kummer«, erklärte Pünktchen mit Bestimmtheit. »Wir müssen ihn suchen und ihm helfen.«

Die Kinder in Sophienlust hatten allesamt schon Schweres erlebt und erlitten. Deshalb besaßen sie für das Leid anderer ein feines und sicheres Gespür. Auch war es Grundprinzip in dem von Denice von Schoenecker gegründeten Heim, dass die jungen Menschen zur wachen Anteilnahme an ihrer Umwelt und zur Hilfsbereitschaft herangebildet wurden. So erschien es der kleinen Gruppe im Bus selbstverständlich, dass man sich des fremden Jungen annehmen müsse.

Während der Heimfahrt, bei Tisch und bis zum Abend bildete das mutmaßliche Schicksal des unbekannten Jungen fast den einzigen Gesprächsstoff im Haus der glücklichen Kinder, wie das Heim von seinen Bewohnern gern genannt wurde.

Am nächsten Tag war die Aufmerksamkeit der Gymnasiasten in der Schule nicht allzu intensiv. Schon vor Unterrichtsbeginn hatten sie die nähere Umgebung nach ihrem kleinen Freund abgesucht. Mittags unternahmen sie eine regelrechte Suchexpedition, die keinen Erfolg brachte. Schließlich drängte der Fahrer zum Aufbruch. Mutlos und betrübt stiegen die Kinder in den Bus ein.

»Du hättest ihn nicht weglaufen lassen dürfen«, schalt Nick mit Pünktchen.

»Wie konnte ich ahnen, dass er sofort ausreißen würde?«, verteidigte sich das Mädchen. »Beim nächsten Mal werde ich ihn bestimmt festhalten, bis wir erfahren haben, was mit ihm los ist. Er braucht ganz gewiss Hilfe.«

Pünktchen sah ihren Freund Nick an. Sie erinnerte sich, als wäre es gestern gewesen, an jenen Tag, als Nick sie – ein verwahrlostes, von bösen Menschen gequältes kleines Ding – im Wald gefunden und nach Sophienlust gebracht hatte. Seitdem waren viele Jahre vergangen, doch ihre Zuneigung gehörte nach wie vor dem um einige Jahre älteren Nick. Manchmal träumte Pünktchen, die wegen der lustigen Sommersprossen auf ihrem Näschen so genannt wurde, von einer fernen Zukunft. Sie malte sich dann aus, dass sie Nicks Frau sein und gemeinsam mit ihm in Sophienlust vielen in Not geratenen Kindern eine glückliche Heimat geben würde.

Noch waren die beiden selbst Kinder, doch die Zeit würde weitergehen …

Nick lächelte dem Mädchen zu. »Wir finden ihn gewiss, Pünktchen«, entkräftete er rasch seinen Vorwurf. »Und ich bin ganz sicher, dass wir ihm auch werden helfen können.«

Die Geduld der Kinder wurde jedoch noch zwei Tage lang auf die Probe gestellt. Dann aber spürte Nick den fremden Jungen wieder auf. Auch diesmal versuchte der kleine Skateboardfahrer eilig davonzulaufen, doch Nick war schneller und legte seine Hand fest auf die magere Kinderschulter.

»Bleibe, bitte! Wir möchten dich gern kennenlernen. Warum hast du dein schönes Skateboard nicht mitgebracht? Du kannst so großartig damit umgehen, besser als jeder von uns.«

Der Junge brach unvermittelt in Tränen aus. Sein schmutziges Gesichtchen wurde von hellen Streifen durchzogen. Es war ein Bild des Jammers und der Verzweiflung.

Nick hielt den Buben vorsichtshalber weiterhin fest, obgleich dieser nicht versuchte, sich loszureißen.

»Was ist denn los mit dir?«, fragte er freundlich. »Wir helfen dir gern.«

»Meine – meine Mama ist – ist tot«, kam es stoßweise über die zitternden Lippen des Kindes.

Der lang aufgeschossene Gymnasiast nahm den Jungen einfach in den Arm. Da konnte man nicht viel sagen. Es war schrecklich. Pünktchen hatte also ganz recht gehabt mit ihrer Besorgnis. Deshalb war dem Buben natürlich auch die Lust zu Galavorführungen auf seinem Skateboard vergangen.

Erst nach einer Woche wagte es Nick, einige Fragen zu stellen. »Bist du jetzt bei deinem Vater? Hast du Brüder und Schwestern? Aus welchem Land kommst du eigentlich?« Denn ein deutscher Bub war der kleine Junge nicht. Das sah Nick.

»Aus Italien«, beantwortete der Kleine die letzte Frage.

»Und deine Familie?«

»Da ist sonst keiner. Mein Papa ist schon lange gestorben, hier in Deutschland. Mama ist geblieben, weil sie eine gute Stellung hatte. Und jetzt liegt sie auf dem Friedhof.« Schon wieder schluchzte der Junge auf.

Inzwischen waren die übrigen Gymnasiasten aus Sophienlust herangekommen, weil sie sich gewundert hatten, wo Nick blieb. In einiger Entfernung blieben sie stehen, denn sie erkannten, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt war, sich einzumischen. Der Junge war so in seinen Schmerz versunken, dass er die kleine Ansammlung von Kindern nicht bemerkte.

»Sagst du mir deinen Namen?«, bat Nick nach einer Weile mit leiser Stimme.

»Angelo.«

»Wer sorgt jetzt für dich, Angelo?«, setzte Nick behutsam sein Verhör fort.

Der Bub zuckte die Achseln. »Keiner. Ich – ich soll zu meinem alten Onkel Mario nach Sizilien. Aber ich habe Angst vor ihm. Mama hatte auch immer Angst vor ihm – deshalb. Ich selbst kenne ihn gar nicht. Jetzt ist an ihn geschrieben worden.«

»Na ja, wenn er doch dein einziger Verwandter ist … Bist du in Deutschland geboren?«

»Ich glaube, ja. Genau weiß ich es nicht. Wir kamen aus Sizilien – meine Eltern, meine ich. Dort soll ich nun hin. Das ist eine schrecklich weite Reise. Sie haben für das Begräbnis und für die Reise alles verkauft. Nichts ist übriggeblieben. Sogar mein …, mein Skateboard musste ich hergeben, weil es ein so gutes, teures war. Es hat eine Menge Geld eingebracht, sagte Tante Rosa.«

Nick streichelte das ungekämmte schwarze Haar des Jungen. »Meine Güte, das prächtige Skateboard! Du armer Bursche! Ich kann gut verstehen, dass du jetzt traurig bist.«

Angelo winkte müde ab. »Ach, das Skateboard ist nicht wichtig – aber Mama …« Nun barg er das Gesicht in den Händen und weinte still. Gerade dieser fast lautlose Kummer wirkte bedrückend auf Nick und die anderen Kinder.

»Hast du denn Essen bekommen in den letzten Tagen?«, forschte Nick schließlich weiter.

»Ich …, ich schlafe in unserem alten Zimmer. Aber die Möbel sind schon verkauft. Nur das Bett haben sie mir noch gelassen, bis ich abreisen muss. Abends esse ich bei Tante Rosa. Ich habe sowieso keinen Hunger. Es macht nichts.«

Pünktchen hielt es nicht länger aus. Sie löste sich aus dem Kreis der anderen und trat auf Angelo zu. »Komm mit uns nach Sophienlust«, sagte sie spontan und herzlich. »Später findet sich alles.«

»Mit euch?«, fragte Angelo verwundert und vergaß sogar das Weinen.

»Ja, das will ich dir schon die ganze Zeit vorschlagen«, bekräftigte Nick Pünktchens Einladung.

»Wo ist Sophienlust – ist es weit weg von hier? Würde man mich dann gar nicht finden, wenn ich abreisen soll?« Hoffnung glomm in den schwarzen großen Kinderaugen auf. »Es ist nicht sehr weit, Angelo, und verstecken können wir dich nicht. Aber meine Mutti weiß im allgemeinen Rat in einem solchen Fall. Fast alle Kinder in Sophienlust haben keine Eltern mehr.«

»Ach – ein Waisenhaus also!«

»Nein, es ist ganz anders als ein normales Waisenhaus. Du wirst es selbst sehen und kannst dir dann überlegen, ob du bei uns bleiben magst, Angelo. Ich meine, du solltest nicht allein in dem ausgeräumten Zimmer wohnen. Das stelle ich mir schlimm vor. Dazu nur einmal am Tag eine Mahlzeit – das geht nicht.« Nick war entschlossen, Angelo mitzunehmen, und zwar auf der Stelle.

»Musst du jemandem Bescheid sagen?«, fragte Irmela, die in jeder Situation einen klaren Kopf behielt. »Ich meine, wirst du gesucht, wenn du mit uns fährst?«, fügte sie erklärend hinzu.

Angelo schüttelte den Kopf. »Nach mir fragt niemand. Tante Rosa wäre froh, wenn ich einmal nicht zum Essen käme. Ich bin einer zu viel dort am Tisch. Das kannst du mir glauben.«

Pünktchen ergriff die nicht sehr saubere Hand des Buben. »Reden wir nicht länger, fahren wir los«, erklärte sie aufmunternd. »Was sonst noch zu erledigen ist, muss deine Mutti übernehmen, Nick.«

Einträchtig gingen sie zum Schulbus.

»Habt ihr wieder einmal ein Kind aufgelesen?«, fragte der Fahrer gutmütig und freundlich.

Pünktchen legte den Finger warnend über die Lippen. »Angelo fährt mit uns«, antwortete sie nur.

Der Fahrer verstand und schwieg.

Nick setzte sich neben Angelo. Er wurde nicht müde, weitere Einzelheiten aus dem kleinen Italiener herauszufragen. So erfuhr er dann auch, dass das großartige Skateboard ein Geburtstagsgeschenk von Angelos Mutter für ihren geliebten Jungen gewesen war. Schon bald hatte Angelo diese schwierige Fahrkunst besser beherrscht als alle anderen Kinder in der Gegend. Niemand hatte es ihm beigebracht, aber er war einige Male Zuschauer bei einer Skateboardvorführung und so sehr begeistert gewesen, dass er sich selbst ein Skateboard gewünscht und dann beharrlich geübt hatte, bis er ein kleiner Künstler geworden war.

»Sie hätten es nicht weggeben dürfen«, seufzte der Junge. »Aber es ließ sich besonders gut verkaufen, sagt Tante Rosa. Sie meint auch, ich brauche es nicht mehr.« Seine Stimme schwankte.

»Du bist mit Tante Rosa wohl gar nicht verwandt?«, schaltete sich Vicky Langenbach ein.

»Nein, ich nenne sie nur so. Ihr Mann arbeitet seit vielen Jahren in Deutschland auf dem Bau. Tante Rosa verdient außerdem etwas Geld in einem Supermarkt, wo sie beim Auffüllen der Regale hilft. Sie hat eine große Familie mit vielen Kindern. Sie haben es nicht leicht.«

Die Sophienluster Schüler schwiegen bedrückt. Hier begegnete ihnen wirkliche Not. Gewiss, auch sie hatten teilweise schon die Schattenseiten des Lebens kennengelernt, doch seit sie im Haus der glücklichen Kinder sein durften, entbehrten sie nichts und fühlten sich geborgen.

Angelo schaute aus dem Fenster und entdeckte, kurz nachdem sie Bachenau hinter sich gelassen hatten, einen der lustigen bunten Holzwegweiser, die den Weg nach Sophienlust wiesen.

»Dort wohnt ihr?«, fragte er mit einem Blick auf das Schild, an dem sie eben vorüberfuhren.

»Ja«, antwortete Nick, »und ich denke, du solltest bei uns bleiben. Aber versprechen kann ich es noch nicht. Das müssen die Erwachsenen klären.«

Angelo hatte wenig Zutrauen. »Sie haben doch schon an Onkel Mario geschrieben. Die Antwort müsste längst dasein, oder sie kommt morgen. Dann wird Tante Rosa mir die Fahrkarte kaufen und mich in den Zug setzen. Hoffentlich ist Onkel Mario nicht so bös, wie meine Mama erzählt hat. Weißt du, er hat die Mama früher oft geschlagen. Aber ich werde mich von ihm bestimmt nicht schlagen lassen!«