Ria und Ruth - die Zwillinge - Aliza Korten - E-Book

Ria und Ruth - die Zwillinge E-Book

Aliza Korten

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Beschreibung

Der Sophienlust Bestseller darf als ein Höhepunkt dieser Erfolgsserie angesehen werden. Denise von Schoenecker ist eine Heldinnenfigur, die in diesen schönen Romanen so richtig zum Leben erwacht. Das Kinderheim Sophienlust erfreut sich einer großen Beliebtheit und weist in den verschiedenen Ausgaben der Serie auf einen langen Erfolgsweg zurück. Denise von Schoenecker verwaltet das Erbe ihres Sohnes Nick, dem später einmal, mit Erreichen seiner Volljährigkeit, das Kinderheim Sophienlust gehören wird. Denise von Schoenecker überlas den Brief noch einmal, den sie vor etwas mehr als einer Woche erhalten hatte. Heute also sollte Gitta Ahlfeld kommen. Dem Brief war wenig zu entnehmen, aber Denise war gewohnt, auch mit dem Herzen zu lesen. Es war nicht schwierig für sie, zu erkennen, dass Gitta Ahlfeld ein Anliegen mitbringen würde. Längst hatte Denise es aufgegeben, sich irgendwelchen Mutmaßungen hinzugeben. Seit sie auf Sophienlust Einzug gehalten hatte und das Gut nach dem Vermächtnis der Urgroßmutter ihres Sohnes Dominik zur Heimat für elternlose Kinder, aber auch für bedrängte Erwachsene geworden war, wusste sie, dass es für sie zunächst nichts anderes zu tun gab als abzuwarten, ob und wie sie helfen könne. Denise hörte den Lärm der kleineren Kinder, die im Park unter Aufsicht von Schwester Gretli herumtollten. Die größeren Kinder waren noch in der Schule, sodass es in dem alten Herrenhaus im Moment verhältnismäßig still war. Irgendwo hörte man einen Staubsauger summen, dann schlug eine Tür zu. Zu tun gab es zu jeder Tageszeit etwas in diesem großen Kinderheim, denn so viele junge Füße brachten Schmutz ins Haus, so viele junge Münder wollten dreimal am Tage satt werden. Die Wäsche musste gewaschen, Kleider genäht und auch repariert werden. Manchmal fragte sich Denise, wie Frau Rennert das als Heimleiterin mit stets gleichbleibender Heiterkeit meisterte und es dabei noch fertigbrachte, für jeden ein offenes Ohr zu bewahren. Jetzt meldete Carola Rennert, dass die erwartete Besucherin soeben mit dem Auto angekommen sei. Sie habe den Wagen zufällig bemerkt und die Dame hereingebeten. Sie warte im Salon. Sofort erhob sich Denise von Schoen­ecker und strich ihr dunkles Haar zurück. »Ich komme, Carola«, rief sie der jungen Frau zu. Während Carola den Weg zu ihrer Wohnung einschlug, begab sich Denise zu dem Biedermeiersalon, den einstmals Sophie von Wellentin bewohnt hatte und der noch heute so aussah wie zu Lebzeiten von Dominiks Urgroßmutter. Als Denise eintrat, stand Gitta Ahlfeld am Fenster und umklammerte ihre Handtasche, als habe sie Angst, dass man sie ihr wegnehmen könne.

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Sophienlust Bestseller – 72 –

Ria und Ruth - die Zwillinge

Aliza Korten

Denise von Schoenecker überlas den Brief noch einmal, den sie vor etwas mehr als einer Woche erhalten hatte. Heute also sollte Gitta Ahlfeld kommen. Dem Brief war wenig zu entnehmen, aber Denise war gewohnt, auch mit dem Herzen zu lesen. Es war nicht schwierig für sie, zu erkennen, dass Gitta Ahlfeld ein Anliegen mitbringen würde.

Längst hatte Denise es aufgegeben, sich irgendwelchen Mutmaßungen hinzugeben. Seit sie auf Sophienlust Einzug gehalten hatte und das Gut nach dem Vermächtnis der Urgroßmutter ihres Sohnes Dominik zur Heimat für elternlose Kinder, aber auch für bedrängte Erwachsene geworden war, wusste sie, dass es für sie zunächst nichts anderes zu tun gab als abzuwarten, ob und wie sie helfen könne.

Denise hörte den Lärm der kleineren Kinder, die im Park unter Aufsicht von Schwester Gretli herumtollten. Die größeren Kinder waren noch in der Schule, sodass es in dem alten Herrenhaus im Moment verhältnismäßig still war. Irgendwo hörte man einen Staubsauger summen, dann schlug eine Tür zu. Zu tun gab es zu jeder Tageszeit etwas in diesem großen Kinderheim, denn so viele junge Füße brachten Schmutz ins Haus, so viele junge Münder wollten dreimal am Tage satt werden. Die Wäsche musste gewaschen, Kleider genäht und auch repariert werden. Manchmal fragte sich Denise, wie Frau Rennert das als Heimleiterin mit stets gleichbleibender Heiterkeit meisterte und es dabei noch fertigbrachte, für jeden ein offenes Ohr zu bewahren.

Jetzt meldete Carola Rennert, dass die erwartete Besucherin soeben mit dem Auto angekommen sei. Sie habe den Wagen zufällig bemerkt und die Dame hereingebeten. Sie warte im Salon.

Sofort erhob sich Denise von Schoen­ecker und strich ihr dunkles Haar zurück. »Ich komme, Carola«, rief sie der jungen Frau zu.

Während Carola den Weg zu ihrer Wohnung einschlug, begab sich Denise zu dem Biedermeiersalon, den einstmals Sophie von Wellentin bewohnt hatte und der noch heute so aussah wie zu Lebzeiten von Dominiks Urgroßmutter.

Als Denise eintrat, stand Gitta Ahlfeld am Fenster und umklammerte ihre Handtasche, als habe sie Angst, dass man sie ihr wegnehmen könne. Ihre Nervosität war unverkennbar.

Die Besucherin mochte etwa dreißig Jahre alt sein, auf dem offenen Gesicht spiegelte sich deutlich ein innerer Konflikt.

»Willkommen auf Sophienlust, Frau Ahlfeld«, sagte Denise mit besonderer Herzlichkeit. »Ich freue mich, dass Sie schon so früh gekommen sind. Dadurch haben wir Zeit genug, miteinander zu plaudern. Wollen Sie sich nicht setzen?«

Gitta erwiderte die Begrüßung. Ihre Stimme klang gepresst und verkrampft. Um die Besucherin ein wenig abzulenken, bot Denis ihr eine Erfrischung an. Doch Gitta Ahlfeld lehnte ab. Nein, danke, sie habe unterwegs eine Tasse Kaffee getrunken. Sie brauche jetzt nichts.

Denise lehnte sich in dem Sessel zurück und schaute Gitta Ahlfeld ruhig ins Gesicht. »Dann erzählen Sie mir ganz einfach, was Sie zu mir führt, Frau Ahlfeld. Wenn man ein Problem mit einem anderen Menschen besprechen kann, sieht man danach manchmal selbst viel klarer. Ob ich Ihnen helfen kann, weiß ich natürlich nicht. Es wäre vermessen, wenn ich Ihnen das versprechen wollte.«

»Es ist eine schwierige Sache, Frau von Schoenecker«, stammelte Gitta. »Meine Tante Edith hat mir schon vor zwei Jahren geraten, die Kinder zu Ihnen zu geben. Aber ich habe mich dagegen gewehrt, weil ich mein Wort halten wollte.«

»Sind es Ihre Kinder?«, fragte Denise freundlich. Sie fand nichts dabei, dass ein Mädchen unverheiratet und dennoch Mutter war. Außerdem fiel ihr ein, dass ebenso gut die Möglichkeit bestand, dass Gitta Ahlfeld verheiratet, verwitwet oder auch geschieden war.

»Nein«, erwiderte diese, »es sind die Töchter meiner besten Freundin, Zwillinge. Aber ich liebe sie so sehr, als wären sie meine eigenen Kinder.«

»Dann müsste doch Ihre Freundin zu mir kommen, Frau Ahlfeld«, versuchte Denise Licht in diese verworrene Erzählung zu bringen.

Gitta nahm sich zusammen. Sie war früher von Beruf Arzthelferin gewesen und wusste, dass man nur mit Selbstbeherrschung und Disziplin einer schwierigen Situation beikommen konnte.

»Entschuldigen Sie, Frau von Schoen­ecker. Ich will jetzt der Reihe nach erzählen. Sehen Sie, als meine beste Frendin Ursula heiratete, blieb unser Verhältnis auch nach der Hochzeit ein sehr enges. Wir waren beide elternlos aufgewachsen und hatten uns deshalb schon in der Schule sehr eng einander angeschlossen. Auch mit Lothar, dem Mann meiner Freundin, verband mich die herzlichste Freundschaft. Ich war den beiden immer dankbar, dass sie mich ganz und gar in ihr Familienleben einbezogen. Selbstverständlich wurde ich Patin, als die Zwillinge Maria und Ruth zur Welt kamen.«

Denise von Schoenecker nickte ein paarmal. Es gefiel ihr, wie Gitta von diesen Freunden und deren Kindern sprach. Den flüchtigen Gedanken, dass es sich bei Ursula und Lothar möglicherweise um eine zerrüttete Ehe gehandelt habe, verwarf sie sogleich wieder.

Jetzt flog die Tür auf, und ein kleiner Junge kam hereingestürmt, ohne die fremde Dame überhaupt zu beachten. »Tante Isi, Tante Isi, wir haben einen Vogel mit einem gebrochenen Flügel gefunden«, rief er aufgeregt. Der Junge hatte zuvor offensichtlich im feuchten Sand gespielt. Er war schrecklich schmutzig, sah aber dabei so strahlend glücklich aus, dass Denise von Schoenecker einen Hinweis auf die Spur, die er auf dem Teppich hinterließ, unterdrückte.

»Was macht ihr mit dem Vogel? Habt ihr Schwester Gretli Bescheid gesagt? Sie kann dem Vogel eine Schiene anlegen. Dann heilt der Flügel vielleicht wieder.«

»Ja, Schwester Gretli macht ihn gesund. Ich – ich wollte es dir bloß schnell sagen, weil es ein richtiger lebendiger Vogel ist.«

»Fein, vielen Dank! Nun lauf wieder.«

Der kleine Bursche trollte sich, nicht ganz so schnell, wie er gekommen war.

»Ich wollte Ihnen einen Diener mit Händedruck plus einem Pfund Sand ersparen, Frau Ahlfeld«, lächelte Denise. »Unsere Kinder sind sehr unbefangen. Hoffentlich stört Sie das nicht.«

Gitta lächelte. »Im Gegenteil. Die kleine Szene hat mir bewiesen, wie frei und glücklich die Kinder hier aufwachsen. Allerdings sind Ria und Ruth schon fünfzehn. Sind sie nicht zu groß?«

»Durchaus nicht. Wir haben Volksschüler und Gymnasiasten. Meine eigenen Kinder sind zum Teil auch schon älter. Aber erzählen Sie doch bitte zunächst weiter. Ich sehe noch keine Veranlassung, Ria und Ruth hierherzubringen.«

Gitta seufzte. »Sie haben recht. Zuerst muss ich Ihnen alles sagen. Meine Freunde Ursel und Lothar sind vor knapp drei Jahren tödlich verunglückt. Es war schrecklich. Noch heute mag ich nicht darüber sprechen.« Tränen traten in Gittas tiefblaue Augen.

Denise ließ ihr Zeit. Sie quälte die Besucherin in diesem Augenblick der schmerzlichen Erinnerung nicht mit Fragen.

Endlich fuhr Gitta fort: »Es ist vielleicht vier oder fünf Jahre her, dass wir einen besonders fröhlichen Silvesterabend miteinander verbrachten. Wir hatten die Kerzen am Baum angesteckt und tranken heißen Punsch. Ursel versprach uns Bratäpfel, die bereits im Backofen standen und köstlichen Duft verbreiteten. Die Zwillinge schliefen, aber wir hatten ihnen versprochen, sie um zwölf Uhr zu wecken.

Irgendwann kam mir das Bedürfnis, meiner Freundin und ihrem Mann für all die Liebe und Freundschaft, die ich von den beiden empfangen hatte, zu danken. Ich stand im Beruf, verdiente gut, aber ich wäre ohne meine Freunde und die Zwillinge recht einsam gewesen. Es kam mir so vor, als gehörte ich zu den Mädchen, die nicht zum Heiraten geboren sind, obwohl meine Tante Edith mir das immer wieder auszureden versuchte. Sie ist die einzige noch lebende Verwandte, die ich habe.«

»Die Schwester Ihres Vaters?«

»Nein, die meiner Mutter. Sie ist Studienrätin in Bremen. Ich habe große Hochachtung vor ihr. Aber sie ist ganz, ganz anders, als ich mir meine Mutter vorstelle, wenn ich mich auch nicht mehr an sie erinnern kann.«

»Geschwister sind oft verschieden. Jetzt erzählen Sie mir bitte weiter von dem Silvesterabend. Er scheint wichtig gewesen zu sein.«

Gitta nickte eifrig. »Lothar und Ursel wollten keinen Dank hören. Aber sie nahmen mir ein Versprechen ab. Sie sagten, dass auch sie ohne Verwandte seien und wir deshalb fest zusammenhalten müssten. Deshalb wollten sie, dass ich die Erziehung von Ria und Ruth übernehmen sollte, falls ihnen einmal etwas zustoßen sollte.«

»Ach so«, warf Denise von Schoen­ecker ein. »Und dieser traurige Fall ist tatsächlich eingetreten.«

»Ja«, flüsterte Gitta mit schwankender Stimme. »Damals haben es die beiden wohl nur gesagt, um mir das Gefühl zu geben, dass ich auch etwas zu geben hätte. Denn es kam mir vor, als wäre ich stets nur die Empfangende in unserem gegenseitigen Verhältnis. Doch ich gab mein Wort. Ganz fest versprach ich es, ich schaute dabei auf die Kerzen am Tannenbaum, denn es war mir heiliger Ernst.«

»Ja, Frau Ahlfeld, das glaube ich Ihnen.« Denise war von den Worten des Mädchens gerührt. »Was geschah also nach dem Unglück?«

»Ursula war bei dem Unfall nicht sofort tot wie ihr Mann. Man rief mich an ihr Sterbebett. Sie sagte mir, dass sie und Lothar ein gemeinschaftliches Testament gemacht hätten. Es enthalte das, was wir miteinander besprochen hätten. Sie fragte mich noch, ob es mir recht sei und ob ich tatsächlich für Ria und Ruth sorgen wolle. Selbstverständlich besann ich mich nicht eine einzige Sekunde. Dann starb Ursula in meinen Armen, und ich hatte das Gefühl, die Welt müsste nun zusammenbrechen.«

Gitta Ahlfeld machte eine Pause, bevor sie fortfuhr: »Die beiden hatten tatsächlich keine Angehörigen. Laut Testament musste ich alles regeln, wobei mir ein Jurist zur Seite stand, der das Vertrauen meiner Freunde seit eh und je besessen hatte.«

»Waren das nicht ungeheuerliche Schwierigkeiten für Sie?«

»In gewisser Weise schon«, antwortete Gitta leise. »Ich hatte allerdings keinerlei finanzielle Probleme zu lösen, denn Lothar war vermögend gewesen. Doch ich stieß vielfach auf Unverständnis. Mein Chef wollte mich nicht vorzeitig aus meinem Arbeitsvertrag entlassen, obwohl Ria und Ruth doch keinen Tag allein bleiben konnten, nachdem sie plötzlich elternlos geworden waren. Meine Tante Edith kam eigens aus Bremen zu mir, um mir klarzumachen, dass ein junges Mädchen zwar in einer Silvesternacht sein Wort geben könne, in einem solchen Fall aber nicht gezwungen werden könne, dieses Versprechen auch einzulösen. Ich würde mir meine Zukunft verbauen und niemals einen Mann finden. Sie wisse, wie hart es sei, ein Leben lang allein zu bleiben, und sie meine es gut mit mir. Danach erwähnte sie auch Ihren Namen und Sophienlust. Aber ich wollte nicht auf sie hören. Ich setzte mich durch und erfüllte mit Hilfe des Anwalts mein Versprechen.

Seit zwei Jahren lebe ich nun ganz für Ria und Ruth. Wir sind eine glückliche Familie gworden, und die Erinnerung an ihre lieben Eltern ist in uns allen wach geblieben. Noch keinen Tag habe ich meinen Entschluss bereut, denn die Kinder vergelten alles, was ich für sie tue, mit einem reichen Maß an Liebe.«

»Das brauchen Sie mir nicht zu erzählen, liebe Frau Ahlfeld. Kinderliebe, kindliches Vertrauen und Lachen in Kinderaugen sind etwas Wunderbares, kostbarer als Geld oder andere irdische Besitztümer.«

Gitta Ahlfeld ließ den Kopf sinken. »Ich glaubte, dass es immer so weitergehen würde, Frau von Schoenecker«, fuhr sie scheu fort. »Ich dachte kaum je an die Zukunft, sondern lebte ganz und gar in der Gegenwart. Tante Edith warnte mich mehrmals. Ria und Ruth würden älter werden und wenn die Zwillinge einmal in die Welt ausfliegen würden, würde ich endgültig zu alt sein, um noch etwas aus meinem Leben zu machen.«

»Und dann kam ein Mann in Ihr Leben, nicht wahr?« Denise sagte es sanft und ernst.

»Woher wissen Sie das?«, fuhr Gitta errötend auf.

»Weil Sie sonst nicht hierhergekommen wären. Ich sehe jetzt ganz deutlich Ihren Konflikt. Sie lieben diesen Mann, und nun glauben Sie, dass Sie trotzdem Ihr Wort halten müssten.«

»Seit Wochen plage ich mich damit herum, Frau von Schoenecker«, schluchzte Gitta auf. »Valentin von Westfort war mit Lothar befreundet. Er war vor einiger Zeit zufällig in unserer Stadt und wollte die Zwillinge sehen, von deren Existenz er nur durch die Geburtsanzeige etwas erfahren hatte.«

»Allzu eng kann die Freundschaft dann nicht gewesen sein«, warf Denise stirnrunzelnd ein. »Die Kinder waren zwölf, als die Eltern verunglückten, nicht wahr?«

»Valentin von Westfort ist Ausländer. Er lebt in Luxemburg auf einem riesigen Besitz. Ich glaube, er war von Ursula tief beeindruckt, die er kennenlernte, als sie bereits Lothars Braut war. Vielleicht war es von seiner Seite aus sogar eine unglückliche Liebe. Jedenfalls hielt er sich seit der Hochzeit von Lothar und Ursula fern. Nur gelegentlich hat er geschrieben, was ich manchmal gesprächsweise erfuhr. Ich selber hatte ihn zuvor niemals persönlich kennengelernt.« Gitta verschlang die Hände ineinander. »Jetzt liebe ich ihn, Frau von Schoenecker. Aber darf ich die Kinder um seinetwillen verlassen?«

Denise schwieg. Noch war nicht alles gesagt. Das spürte sie.

»Ich habe Valentin gebeten«, fuhr Gitta fort, »Ria und Ruth zu uns zu nehmen, wenn wir heiraten. Aber das lehnt er rundheraus ab. Das erscheint mir umso unbegreiflicher, wenn ich bedenke, dass er Ursel verehrt hat. Es sind ihre Kinder, ihr Vermächtnis und das seines Freundes Lothar. Aber Valentin ist ganz hart in seinen Ansichten. Ich glaube, er steht unter dem Einfluss seiner Mutter. Dass ich nur eine einfache Gitta Ahlfeld ohne Titel bin, gefällt ihr ohnehin nicht.« Gitta schluchzte auf. »Ich fürchte, sie will uns auf diese Weise auseinanderbringen. Mich würde sie allenfalls akzeptieren, aber die fremden Kinder unter keinen Umständen.«

Gitta hielt erschöpft inne. Das zuletzt Gesagte war das Entscheidende. Sie liebte Valentin von Westfort, der sie heiraten und zur Herrin seines Schlosses machen wollte – doch nur um den Preis des Verzichts auf die Kinder.

Denise läutete und ging zur Tür, als sie Schritte vernahm. Mit gesenkter Stimme bestellte sie einen starken Kaffee und einen Imbiss.

»Was soll ich nur tun, Frau von Schoenecker? Gewiss, ich sehe, dass meine Zwillinge es wunderbar bei Ihnen hätten – aber ich würde jeden Tag daran erinnert werden, dass ich mein Wort gebrochen habe.«

»Haben Sie schon mit Ihrer Tante darüber gesprochen?«, fragte Denise behutsam.

Gitta schüttelte den Kopf. »Ich weiß auch so, was sie mir raten würde. Das Haus, in dem wir jetzt wohnen, soll ich gut vermieten und die Kinder nach Sophienlust geben. Ein besseres Heim kenne sie nicht, meint meine Tante. Und ich solle endlich einmal an mich denken.«

Wieder hörte man Schritte. Wieder ging Denise zur Tür, damit sie ganz ungestört blieben. Sie trug das Tablett zu einem kleinen Tisch. Dann drückte sie dem Mädchen die Tasse in die zitternden Hände. Gehorsam nahm Gitta einen kräftigen Schluck. Aber ihre Tränen versiegten dennoch nicht.

»Wollen Sie denn gar nicht an sich denken? Ich meine, dass jeder Mensch ein Recht auf sein eigenes Leben und auf Glück hat, Frau Ahlfeld. Es fragt sich nur, wo Ihr persönliches Glück liegen würde. Das kann ich nicht beurteilen. Sehen Sie, ich kann die Zwillinge gern hier aufnehmen und Ihnen mit gutem Gewissen versichern, dass Ria und Ruth sich hier rasch einleben und glücklich sein würden. Aber ob für Sie selbst damit der richtige Schritt getan wäre – das wage ich nicht zu entscheiden.«

Gitta hob den tränenverschleierten Blick. Auf ihrem Gesicht zeichnete sich Enttäuschung ab.

»Haben Sie mehr erwartet?«, fragte Denise sanft.

»Sie sagten, dass Sie mir helfen wollten«, stieß Gitta unter neuem Schluchzen hervor. »Warum zeigt mir niemand einen Weg? In meinem

Herzen ist genug Platz für die Liebe zu Valentin und zu den Kindern.

Es gäbe kein größeres Glück für mich.«

»Es tut mir leid, wenn ich die Erwartungen, die Sie in mich gesetzt haben, nicht erfüllen kann«, versetzte Denise gütig. »Helfen möchte ich Ihnen. Aber ich habe nicht das Recht, Ihnen eine Entscheidung abzunehmen, Ihnen möglicherweise etwas zu suggerieren, was Sie später bereuen würden. Ihre Tante Edith hat recht, wenn sie sagt, dass es Ihr eigenes Leben und somit Ihre eigene Entscheidung ist. Vielleicht wollen Sie sich Sophienlust zunächst einmal ansehen.«

Gitta schüttelte den Kopf. »Es gibt für mich keinen Zweifel mehr, dass sie nirgends besser aufgehoben sein könnten als hier, Frau von Schoenecker. Darin hat meine Tante gewiss recht.«

»Aber Sie zweifeln an sich selbst, nicht wahr?«

Betroffen schaute Gitta sie an. »Das – das weiß ich nicht. Es liegt ja nicht an mir …«

»Sie müssen es in Ruhe bedenken, liebe Frau Ahlfeld. Lassen Sie von sich hören, wenn Sie sich entschieden haben. Vielleicht wollen Sie sich auch noch einmal gründlich mit Herrn von Westfort aussprechen. Das alles muss Ihnen allein überlassen bleiben.«

Gitta stand auf. Sie kämpfte noch immer mit den Tränen. »Ich sehe es ein, Frau von Schoenecker. Aber ich weiß trotzdem nicht, was ich tun soll. Immer wieder sehe ich Ursel vor mir. Sie hat mir vertraut. Soll ich Ria und Ruth jetzt fortgeben, um an mein eigenes Glück zu denken?«

Denise war erschüttert. Sie tat, was ihr Herz ihr befahl, und zog das Mädchen an sich. »Nicht weinen, Gitta. Es gibt immer einen Weg, und eines Tages werden Sie ihn gefunden haben.«

Gitta weinte dennoch. Es gelang Denise nicht, sie zu beruhigen. Auch konnte sie sie nicht zurückhalten, obwohl sie ihr anbot, sich für ein paar Stunden oder Tage auf Sophienlust auszuruhen und zu entspannen.

»Ich möchte zurückfahren, Frau von Schoenecker«, entgegnete Gitta. »Die Mädchen wissen nicht, wo ich bin. Außerdem wollte Valentin heute anrufen. Da möchte ich erreichbar sein.«

Gitta nahm also ihr ungelöstes Problem wieder mit.

Denise begleitete die Besucherin persönlich durch die Halle. Zu spät erkannte sie, dass der Zeitpunkt für Gittas Aufbruch ungünstig gewählt war. Denn eben fuhr der rote Schulbus mit den Oberschülern vor. Als Erster steckte selbstverständlich Nick, wie ihr vorwitziger Sohn Dominik gerufen wurde, den Kopf heraus. Da er der Eigentümer und Erbe von Sophienlust war, fühlte er sich für alles und jedes, was hier geschah, verantwortlich. Seine Neugier ging dabei leider immer wieder mit ihm durch, und so interessierte er sich in diesem Augenblick brennend für den fremden Wagen vor dem Herrenhaus.

Denise warf Nick rasch einen mahnenden Blick zu, den dieser auch verstand. Er kam nicht auf sie zu, sondern grüßte nur höflich von ferne. Dann war er nicht mehr zu erblicken. Offenbar war er mit den anderen Kindern ins Haus gegangen, um so rasch wie möglich an Magdas Fleischtöpfe zu gelangen. Magda war die Köchin, die schon zu Lebzeiten von Nicks Urgroßmutter, Sophie von Wellentin, in der Küche das Regiment geführt hatte. Ihre Kochkünste waren nach dem einmütigen Urteil aller Kinder auf Sophienlust durch nichts auf der Welt zu übertreffen.