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Für Lilli gibt es keine Grenzen. Nicht beim Reiten, nicht in der Schule. Als am Stall ein neuer Pferdetrainer auftaucht, ist sie wild entschlossen, auch ihn zu bekommen. Doch dann stellt sich heraus, dass Eric der Freund ihrer Schwester ist. Für Lilli noch lange kein Hindernis, sondern eine neue Herausforderung. Als sie die Kontrolle verliert und einen schweren Unfall baut, erkennt Lilli, dass sich etwas ändern muss. Sie baut sich an der Universität ein neues Leben mit Freunden auf, die nichts von ihrer Vergangenheit wissen. Sie ist sogar bereit, eine neue Beziehung anzufangen. Da taucht Eric wieder auf. Lilli muss eine Entscheidung treffen: Zwischen Eric, den ihr Herz blind begehrt, und Alex, der das perfekte Gegenstück zu ihr zu sein scheint.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
»Hallo Lilli.« Es waren zwei harmlose Worte, die ihr den Schock ihres Lebens verpassten. Jede Flüssigkeit in ihrem Körper gefror augenblicklich zu Eis, was sie so bewegungsunfähig wie einen Eisblock machte. Ihr Gehirn weigerte sich, die Erkenntnis dessen, was hier gerade geschah, zu verarbeiten. Das konnte einfach nicht wahr sein! Das durfte nicht wahr sein! Nicht jetzt, nicht hier!
Er machte vorsichtig einen Schritt auf sie zu. Sein Blick war unsicher, geprägt von der Schuld, die er auf sich geladen hatte. »Hätte nicht gedacht, dich ausgerechnet auf so einem Turnier zu treffen. Allerdings habe ich dich schon lange nicht mehr auf einer Startliste stehen sehen.«
Natürlich stand sie nicht auf der Startliste. Sie stand auf überhaupt keiner Startliste mehr, seit … Seit dem Ereignis.
»Lilli, alles in Ordnung? Du bist ganz blass.« Besorgt legte sich Alex‘ Hand auf ihre Schulter. Misstrauisch musterte er den jungen Mann, der sie so aus der Fassung gebracht hatte. »Wer ist das?«, wollte er wissen.
Lilli riss sich aus ihrer Erstarrung. »Niemand«, sagte sie, obwohl das die denkbar unglaubwürdigste Antwort war. »Das ist niemand.« Sie griff nach Alex‘ Arm, zerrte ihn mit sich fort. Nur weg von hier. Weg von den Erinnerungen, die auf sie einstürmten. Seine Stimme zu hören, sein Gesicht zu sehen, ihn zu riechen war mehr, als sie ertragen konnte. Sie hatte immer gehofft, er wäre nach dem Ereignis damals nach Kanada zurückgegangen. So wäre die Gefahr, ihm noch einmal über den Weg zu laufen, nicht sonderlich groß gewesen. Aber ganz offensichtlich war er immer noch in Deutschland.
»Bist du dir sicher, dass alles in Ordnung ist? Denn wenn nicht, werde ich zurückgehen und dem Kerl meine Meinung sagen, was auch immer er dir getan haben mag.«
Sie blieb stehen. »Er hat mir nichts angetan. Pass auf Alex, dein Beschützerinstinkt in allen Ehren, aber ich komme zurecht. Bin ich immer, werde ich auch jetzt.«
»Aber das musst du nicht. Ich bin da, ich bin an deiner Seite und ich möchte dir helfen!«
Das Adrenalin von der unerwarteten Begegnung pumpte noch immer durch ihren Körper und machte sie wütender, als gut war. »Ich sagte, ich komme zurecht!«, fauchte sie. »Du hast keine Ahnung, was zwischen ihm und mir vorgefallen ist, also halt dich da einfach raus!«
»Das war Eric Hastings, oder? Der Pferdetrainer aus Kanada.«
Selbst die Erwähnung seines Namens schmerzte. Sie würdigte Alex‘ Frage keiner Antwort und marschierte Richtung Ausgang. Sie hatte gewusst, dass der Ausflug keine gute Idee gewesen war. Hätte sie doch bloß auf ihr Gefühl gehört! Sie hatte gedacht, dass sie klüger geworden sei, aber offensichtlich war sie es nicht.
Teil I: no limits
Es soll Menschen geben, die zwei Stunden vor dem Start auf dem Turnier sind. Sie haben einen genauen Zeitplan, wann sie zur Meldestelle gehen, wer in der Zeit zum hundertsten Mal über das hochglänzende Pferd putzt, wann sie auf dem Abreiteplatz sind und wann sie vor dem Start noch einmal schnell zur Toilette flitzen. Dabei ist die Zeit, die sie in der obligatorischen Schlange vor der Frauentoilette verbringen, selbstverständlich mit einberechnet.
Lilli gehörte definitiv nicht zu diesen Menschen. Um ehrlich zu sein: Sie machten ihr ziemlich Angst. Woher zum Teufel sollte sie wissen, wann sie zur Toilette musste? Sie ging einfach, wenn es gerade so weit war. Und wenn sie in dem Moment einreiten musste? Sie war kein Kind mehr. Fünf Minuten hielt sie so etwas noch aus.
Gut, vielleicht wäre etwas mehr Zeitmanagement in ihrem Leben nicht schlecht gewesen. Bestes Beispiel: Der heutige Tag. Es war das erste Turnier der Saison und ja, den Zeitplan hatte Lilli schon seit ein paar Tagen. Sie hätte also pünktlich dort sein können. Auch die Pattern, also die Aufgabe, die zu reiten war, hätte man vor der Prüfung auswendig lernen können. Wie an der vorbildlichen Verwendung des Konjunktivs zu merken war: Gleich würde ein dickes Aber folgen.
Um es kurz zu machen: Lilli hatte nichts dergleichen getan. Glendis, ihr Quarter Horse Wallach stand schon auf dem Anhänger, als ihr einfiel, dass ihre Showdecke, die beim Turnier über das normale Pad, aber unter den Sattel kommt, wegen der Winterpause noch irgendwo eingemottet in ihrem Schrank zu Hause liegen musste. Also musste sie erstmal jemanden suchen, der ihr ein schwarzes Blanket leihen konnte. Sie fand jemanden, aber derjenige musste das noch aus seinem Spind hervorkramen. Man merkte, dass sie alle noch nicht wieder im Turniermodus waren. Da Lilli keine Freundin von übertriebener Pünktlichkeit war, war es mittlerweile schon ziemlich knapp. Steffi, ihre Trainerin und Fahrerin, stand jedenfalls neben dem Hänger und bekam allmählich Schnappatmung. Die Parkplätze auf der Anlage, auf der das Turnier stattfand, waren überfüllt, so dass sie schließlich an der Straße parken mussten. »Wenn wir etwas früher hier gewesen …«, murrte Steffi. »Pass bloß beim Ausladen auf!«
»Ja, ja«, sagte Lilli. Zum Glück war Glendis ein Profi und ging ruhig vom Anhänger. Steffi eilte mit dem Equidenpass zur Meldestelle, während Lilli Glendis sattelte und ihre Turnierbluse anzog. Auf dem Weg zum Abreiteplatz kam ihr Steffi entgegen gejoggt. »Du hast nur noch fünf Minuten«, keuchte sie. »Sie sind voll im Zeitplan und du bist die erste Starterin. Ich habe versucht, einen späteren Start herauszuschlagen, aber da wir das letzte Saison schon ständig gemacht haben, hat sich die Meldestelle dieses Mal quergestellt.«
Also trabten sie über den Schotter zur Halle. War quasi genauso wie das Abreiten der anderen Reiter, versuchte sich Lilli einzureden.
»Du musst echt lernen, früher loszukommen«, ermahnte sie Steffi zum gefühlt tausendsten Mal.
»Jaha«, sagte sie. »Passt doch alles wunderbar. Hast du zufälligerweise die Pattern dabei? Ich muss mir noch angucken, was ich reiten soll.«
Obwohl Steffi sie bereits seit drei Jahren trainierte, schien sie sie immer noch aus der Fassung bringen zu können. »Du kennst die Pattern nicht?«, fragte sie. »Warum hast du sie dir nicht auf der Autofahrt angesehen?«
Zu Lillis Erleichterung sah sie ihre Freundin Janine in der Nähe der Halle stehen. Janine gehörte zu den Menschen, die zwei Stunden vorher da waren und garantiert auch die Pattern am Körper trugen, obwohl sie sie längst auswendig konnten. Mit ein bisschen Glück hatte sie auch die Pattern von Lillis Leistungsklasse dabei. »Janine, hi, wie lief's bei dir?«
»Gut. Zweite in der Showmanship, Erste in der Pleasure, Vierte in der Horsemanship.«
»Wow, Glückwunsch! Hast du zufälligerweise meine Pattern dabei?«
Kopfschüttelnd reichte sie sie ihr. »Hast du gesehen, dass du als Erste dran bist?«, fragte sie.
»Deshalb muss ich sie mir ja noch schnell angucken«, murmelte ihre Freundin. Die Starter der Reining Leistungsklasse 1 der Jugendlichen wurden bereits in die Halle gebeten. Der Doorman, der zuständig war, dafür zu sorgen, dass die Starter pünktlich und in der richtigen Reihenfolge an den Start ritten, winkte Lilli ungeduldig zu sich. Sie gab Glendis das Zeichen zum Antreten und brav wie er war, schritt er alleine in die Halle, während seine Reiterin sich die heutige Pattern einprägte. Die Manöver waren in der Reining immer dieselben. Nur die Reihenfolge und die Richtung wechselten. Was ein Verreiten durchaus begünstigte. Janine hatte sie zu Fuß in den Abreite-Bereich begleitet und nahm ihr nun die Aufgabenblätter ab. »Viel Glück!«, sagte sie.
Lilli wusste, dass viele Menschen es für wichtig erachteten, ein Pferd vor dem Turnierstart ordentlich abzureiten, die Muskeln aufzuwärmen und den Gehorsam des Pferdes sicher zu stellen. Dafür hatte sie nun keine Zeit gehabt und konnte nur hoffen, dass Glendis brav genug war, um trotzdem mitzuspielen. Sie konnten großartig zusammen sein. Und dann gab es die Tage, an denen er beschloss, etwas anderes zu tun.
Ihr Name wurde aufgerufen, sie ritt zur Mitte der Halle mit Blick auf die Jury, der Richter nickte ihr zu, dass sie anfangen sollte. Sie begannen mit zwei schnellen großen Galoppzirkeln auf der linken Hand. Schon als sie die Galopphilfe aus dem Stand gab und ihr Gewicht gleichzeitig leicht nach links verlagerte, um Glendis die Richtung vorzugeben, merkte sie, wie er sagte: »Ach, die Pattern ist es.« Das Problem war nur, dass man aufpassen musste, dass er einem nichts vorwegnahm und wirklich in der richtigen Pattern war. Auf die zwei schnellen Galoppzirkel folgte ein kleiner, langsamer, bevor sie genau in der Mitte der Bahn hielten. Vier volle 360 Grad Drehungen nach links, dabei richtig mitzählen, damit sie nicht überdrehten. Verharren. Die Jugendliche spürte, wie Glendis unter ihr pumpte. Vielleicht hätte etwas Aufwärmen doch nicht geschadet. Er nahm ihr das Angaloppieren nach rechts vorweg. Da konnte sie nur hoffen, dass die Richter es nicht gesehen hatten. Zwei große schnelle Zirkel, ein kleiner langsamer. Halt in der Mitte der Bahn. Vier Drehungen nach rechts. Verharren. So weit, so gut. Die Spins nach rechts waren Glendis Schwachstelle, doch dieses Mal war er brav auf dem inneren Bein stehen geblieben und hatte nicht gewechselt, wie er es im Training so häufig tat. Angaloppieren nach links. Galoppwechsel in der Mitte der Bahn, Zirkel nach rechts. Wieder Galoppwechsel nach links. Der Zirkel wurde nicht beendet, sondern auf der langen Seite ging es geradeaus. Die Hütchen an der Bande gaben vor, wann sie in den Rollback gehen musste. Glendis wirbelte brav nach rechts und weiter ging es im Galopp auf die andere lange Seite. Dieses Mal ein Rollback nach links. Wieder Galopp. Glendis wurde schneller. Er wusste, was jetzt kam. Sie musste kaum etwas tun, damit er seine Hinterhand absenkte und in einen perfekten Sliding Stop rutschte. Anschließend richtete er schnurgerade vier Meter rückwärts. Genau in den Spuren, in denen er gerutscht war. Prüfung beendet. Sie lobte ihn ausgiebig und ritt dann zum Bit Judge, um das Gebiss kontrollieren zu lassen.
»Dieses Pferd ist pures Gold wert«, murmelte Steffi, als sie zufrieden grinsend auf sie zukam. Glendis folgte ihr frei ohne Kopfstück.
»Ich weiß gar nicht, warum ihr immer so einen Stress macht«, sagte Lilli und kraulte Glendis die Stirn. »Hat doch alles perfekt gepasst.«
»Ihr gewinnt das Ding«, prophezeite Janine, als der nächste Starter seinem Pferd so heftig im Gebiss herumriss, dass es stieg, anstatt in eine Drehung nach links zu gehen. Prompt wurde er zum Richter gewunken.
»Das will ich auch hoffen. Ist schließlich kein AQ-Turnier.« C-Turniere waren nett, um die erforderlichen Punkte für den Klassenerhalt zu holen, doch die echte Konkurrenz traf man auf den bundesweiten AQ-Turnieren, wo es um die Qualifikation für die Deutschen Meisterschaften ging.
»Er hat dir wieder das Angaloppieren vorweggenommen. Du hattest Glück, dass dir der Richter dafür keine Punkte abgezogen hat«, sagte Steffi. Offenbar fühlte sie sich dazu verpflichtet, den Übermut ihrer Schülerin etwas zu dämpfen. »Du darfst keine ganzen Pattern mit ihm trainieren.«
»Ich wusste nicht einmal, welche Pattern ich heute reiten werde«, protestierte Lilli. »Es sind nun mal immer wieder die gleichen, die wir seit Jahren jedes Wochenende auf dem Turnier reiten. Er ist ein schlaues Pferd, natürlich kann er sie auswendig.«
»Und zwar besser als du«, warf Janine ein.
»Du solltest auch mal andere Disziplinen mit ihm trainieren. Das würde ihm guttun. Trail zum Beispiel wäre eine super Sache für euch beide.«
Lilli nahm an, dass Steffi ihr damit zu verstehen geben wollte, dass es ihnen beiden nicht schaden konnte, wenn sie langsam, konzentriert und kontrolliert vorgehen mussten. Allerdings hatte Lilli nicht vor, im Schneckentempo über irgendwelche Stangen zu schleichen und imaginäre Kühe davon abzuhalten, durch ein Tor zu schlüpfen. Abgesehen davon, dass Glendis Stangen auch nicht wirklich ernst nahm. Langsam, konzentriert und kontrolliert war nicht so ihr Ding. »Wenn wir gemeinsam das Seniorenalter erreicht haben«, versprach sie. »Startet Sven heute gar nicht?« Sven und Lilli waren die einzigen beiden wirklichen Konkurrenten in ihrer Leistungsklasse. Mal gewann er, mal gewann sie. Die letzten Jahre hatte sie bei den Landesmeisterschaften und den Deutschen Meisterschaften die Nase vorn gehabt. Wenn Sven nicht startete, hatte sie die Prüfung sowieso gewonnen. Das war kein Snobismus, das war einfach Erfahrung. Bei den Jugendlichen war die höchste Leistungsklasse nun mal nicht so dicht besiedelt. Man startete jedes Wochenende mit den gleichen Leuten, kannte die Stärken und Schwächen der anderen fast so gut wie seine eigenen. Das eine Pferd hob sich in den Galoppwechseln vorne raus, das andere schlenkerte beim Rundown und das dritte buckelte, wenn man mit den Sporen drankam. Langweilig.
»Sven startet nicht. Ich habe gehört, dass sein Pferd noch verletzt ist«, beantwortete Janine ihre Frage. Lilli kraulte Glendis hinter den Ohren, bevor sie ihm die Trense wieder über den Kopf zog. Die letzte Starterin war bereits in der Halle und sie würden gleich zur Siegerehrung übergehen. Lilli stieg wieder auf, während Janine ihr Sand von den ledernen Überzügen klopfte, die sie über der Jeans trug. Die Chaps waren zu lang, um damit durch den Sand laufen.
Die Zuschauer klatschten, als die jungen Reiter zur Ehrenrunde aufbrachen, aber Lilli fragte sich, ob es ihnen nicht auch langsam zu langweilig wurde. War doch überhaupt keine Überraschung mehr. Oder Spannung.
»Guter Start in die Saison«, sagte Janine, als sie aus der Halle geritten kam.
»Für dich doch auch. Feiern wir heute Abend, oder?«
Sie zögerte einen Moment. Morgen war Schule. Dann nickte sie. Man war nur einmal jung.
»Wo willst du hin?« Ihre Mutter fing sie am Fuß der Treppe ab.
»Weg«, sagte Lilli.
»Du kannst jetzt nicht weg. Deine Schwester ist heute aus Kanada zurückgekommen und wir gehen alle zusammen essen. Ihr neuer Freund kommt auch.«
»Das ist furchtbar schade, aber ich habe heute Abend schon etwas vor. Richte ihr Grüße von mir aus.«
»Lilli, so geht das nicht! Du hast deine Schwester ein Jahr lang nicht gesehen. Freust du dich denn gar nicht, dass sie wieder da ist?«
Die Wahrheit? Lilli hätte nichts dagegen gehabt, wenn Diana für alle Ewigkeiten in Kanada geblieben wäre. Sie verstanden sich besser, wenn sie viele Kilometer Luftlinie zwischen sich hatten und sich auf halbjährlichen Emailkontakt beschränkten.
»Ich muss jetzt los. Viel Spaß mit Diana und ihrem importierten Freund. Ist er schon raus aus der Quarantäne?«
»Darüber sprechen wir noch, Fräulein!«, rief ihre Mutter ihr wütend hinterher.
Lilli verschwand augenverdrehend nach draußen.
Ihre Freunde warteten vor ihrem Lieblingsklub. Heute war Achtziger Jahre Party angesagt und die Schlange endlos. Obwohl sie wirklich früh gekommen waren, standen sie eine Stunde lang an, bis die Türsteher nur wenige Personen vor ihnen den Klub für voll erklärten. Jetzt kam man nur noch hinein, wenn andere dafür nach Hause gingen. Was für die nächsten Stunden nicht der Fall sein würde. Die Clique stöhnte genervt auf.
»Stadtpark?«, schlug Flo vor. Die anderen nickten. Dafür waren sie zwar nicht angezogen und Alkohol hatten sie auch keinen, aber besser als gar nichts.
»Bald können wir nicht mehr feiern gehen. Dann dreht sich alles nur noch ums Abitur«, sagte Janine traurig und hakte sich bei Lilli ein.
»Wir lassen uns doch vom Abi nicht das Feiern verbieten!«, empörte sich diese. »Wie kommst du auf so eine Idee?«
Janine sah sie von der Seite an. »Es ist das Abitur«, sagte sie, als würde das alles erklären.
»Eben. Es sind Klausuren wie alle anderen auch, nur, dass sie nicht von unseren Lehrern konzipiert wurden. Klausuren haben uns doch bislang auch nicht gestört.«
»Das Abitur bestimmt über unsere gesamte weitere Zukunft.«
»Schwachsinn!«, schnaubte Lilli. Und als sie es sich auf einer Mauer im Stadtpark gemütlich gemacht hatten, weil das Gras um diese Jahreszeit noch zu nass war, forderte sie die anderen auf, zu schwören, dass sie das Abitur nicht daran hindern würde, ihre Jugend zu feiern. »So jung kommen wir nicht mehr zusammen.«
Sie kam um zwei Uhr nachts nach Hause. Für Sonntage gab es das Gebot, um Mitternacht zu Hause zu sein, weil am nächsten Tag Schule war, aber wer ging bitte feiern, wenn er um Mitternacht wieder daheim sein musste? Dann konnte man das Ganze auch gleich sein lassen. Da das für Lilli aber keine Option war, war die logische Konsequenz, das Gebot einfach zu missachten.
Ihre Mutter sah das am nächsten Morgen nicht ganz so. »Du weißt, was wir über das Weggehen an Sonntagabenden gesagt haben, oder?«
Lilli nickte und goss sich Orangensaft in ein Glas. »Ich bin nicht dement.«
»Gut, denn ich hatte schon befürchtet, es würde sich um einen besonderen Fall von Teenager-Demenz handeln, bei dem die Anweisung der Eltern einfach so vergessen werden.«
Lilli füllte sich eine Schale randvoll mit Müsli und kippte dann einen Joghurt darüber. »Was möchtest du damit sagen? Denn dein passiv-aggressiver Unterton soll mir bestimmt etwas sagen«, schlussfolgerte sie und setzte sich auf die Küchenanrichte, um ihr Müsli zu essen und dabei ihre Mutter im Auge behalten zu können.
»Dass du sonntags gar nicht mehr weggehen wirst, wenn du dich nicht an diese Abmachung hältst. Es geht um deinen Schlaf. Du brauchst genügend Schlaf, vor allem jetzt, wo das Abitur ansteht.«
»Das Abitur ist erst in zwei Monaten und Schlaf bekomme ich genug.«
»Und dass du dafür einfach deine Schwester versetzt …«, begann ihre Mutter.
Lilli atmete tief durch und rutschte von der Küchenanrichte. »Ich esse oben weiter«, sagte sie.
»Nein, du bleibst hier und hörst dir an, was ich zu sagen habe! Du hast einen sehr schönen Abend mit deiner Familie verpasst. Dianas neuer Freund ist ein ausgesprochen netter, höflicher junger Mann. Er hätte dich gerne kennengelernt.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Diana das auch so sieht«, erwiderte Lilli mit vollem Mund.
»Deine Tischmanieren haben mir gefehlt«, meldete sich eine kühle Stimme von der Wohnzimmertür aus. Verdutzt drehte Lilli sich um. Ihre ältere Schwester stand im Türrahmen. Lilli wandte sich wieder an ihre Mutter. »Was macht die denn hier?«, fragte sie und deutete mit dem Saftglas Richtung Tür.
»Das ist ja eine reizende Begrüßung«, knurrte Diana und stolzierte beleidigt an ihr vorbei. »Und trink nicht immer so viel von dem süßen Zeug. Davon wirst du noch fetter.«
Lilli verdrehte die Augen und nahm einen extra großen Schluck. »Findest du es immer noch schade, dass ich gestern Abend nicht dabei war?«, fragte sie ihre Mutter sarkastisch, bevor sie mit ihrem Frühstück aus der Küche verschwand.
»Ihr müsst dringend etwas gegen Lillis unerträgliches Benehmen tun, Mama! So bekommt sie nie einen anständigen Typen ab«, hörte sie ihre ältere Schwester noch sagen. Lilli drehte auf dem Treppenabsatz um und stiefelte zurück in die Küche. »Ich pfeif auf deine anständigen Typen. Wann fliegst du zurück nach Kanada?«
»Lilli!«, fauchte ihre Mutter vorwurfsvoll. »So redest du nicht mit deiner Schwester!«
Sie hätte jetzt sagen können, dass sie es wohl ganz offensichtlich tat, doch stattdessen beschränkte sie sich auf die nonverbale Kommunikation und pfefferte die Küchentür laut knallend hinter sich zu, als sie ging.
»Ehrlich, ich könnte sie umbringen! Sie ist noch keine vierundzwanzig Stunden wieder in Deutschland und treibt mich schon in den Wahnsinn! Warum konnte sie nicht einfach in Kanada bleiben? Und dann immer diese herablassende Art, nur, weil sie ein paar Jahre älter ist! Und trink nicht immer dieses süße Zeug, davon wirst du noch fetter«, äffte Lilli ihre Schwester wütend nach. »Dabei treibe ich hundertmal mehr Sport als sie.«
Janine legte ihr beruhigend eine Hand auf den Arm. »Jetzt krieg dich mal wieder ein. Ja, deine Schwester kann eine arrogante Kuh sein, aber vielleicht hätte sie anders reagiert, wenn du sie in den Arm genommen und gesagt hättest, dass du sie vermisst hast.«
Lilli sah ihre beste Freundin an, als sei sie irre. »Spinnst du? Ich lüge nicht.«
»So die Damen, wenn wir den Kaffeeklatsch beenden und mit dem Unterricht anfangen könnten?« Herr Baumgartner klatschte auffordernd in die Hände.
»Wenn Sie diese grässlichen Rollkragenpullover ablegen und uns klare Befehle erteilen könnten?«, murmelte Lilli, die noch immer angefressen war.
»Lilli!«, zischte Janine warnend.
Herr Baumgartner, der immer ein bisschen wie ein Teddybär aussah und mit Mitte Dreißig bereits eine beginnende Glatze hatte, war vor ihrem Tisch stehen geblieben und beugte sich interessiert vor. »Wie war das, Lilli? Möchten Sie das wiederholen?«
Lilli lehnte sich seufzend in ihrem Stuhl nach hinten und streckte die Beine aus. »Nein«, sagte sie.
»Kluge Entscheidung«, lobte Herr Baumgartner und richtete sich wieder auf. Lilli kritzelte wütend auf ihrem Block herum.
Nach der Stunde kam Flo zu ihnen hinüber. Der Mitschüler war einen halben Kopf kleiner als Lilli und trat stets für die Kleinen und Schwachen ein, obwohl er zumindest physisch ebenfalls zu ihnen gehörte. »Was war denn los, Lilli?«, fragte er besorgt. »Der Baumgartner ist doch voll nett, den brauchst du nicht so anzugiften.«
»Du hast Glück, dass du Welpenschutz hast, sonst würdest du gleich angegiftet werden«, fauchte Lilli. Hastig ging Janine dazwischen. »Sie meint es nicht so«, versicherte sie Flo beruhigend.
Lilli guckte an Janines Rücken vorbei. »Sie meint es genau so«, versicherte sie ihm aggressiv.
»Was meint sie mit Welpenschutz?«, erkundigte sich Florian verdattert bei Janine.
Wieder schnellte Lillis Kopf an ihrer Freundin vorbei. »Dich anzuschnauzen ist ungefähr so, wie einen kleinen wehrlosen Welpen zu treten, der einem schon den Bauch präsentiert«, erklärte sie. »So etwas tut man einfach nicht.«
»Das war ein Kompliment«, versicherte Janine ihm. Ihr Mitschüler zeigte sich nicht sonderlich überzeugt.
»Hola Guapa! Ich habe gehört, du hast einen Krieg mit dem Baumgartner angefangen?« Daniel, ein weiterer Mitschüler, der mit ihnen Spanisch hatte, ließ sich auf den Platz neben Lilli fallen.
»Der Flurfunk funktioniert ja mal wieder glänzend. Und ich habe keinen Krieg mit ihm angefangen. Ich hatte einfach nur schlechte Laune.«
Daniel stand auf und begann, Lillis Schultern zu massieren. »Und wer hat es gewagt, dir an einem Montagmorgen die Laune zu vermiesen, Prinzessin?«, fragte er amüsiert.
»Ihre Schwester ist aus Kanada zurückgekehrt«, erklärte Janine an Lillis Stelle.
»Oh«, machte Daniel verständnisvoll. »Kleiner Bitch-Fight am Morgen?«
»Ich bin mir sicher, tief in ihrem Inneren hat sie dich vermisst«, sagte Florian. Janine wollte ihm schon erfreut zulächeln, schließlich hatte sie etwas Ähnliches zu ihrer Freundin gesagt, doch dann sah sie Lillis finsteren Blick. Sie stand hastig auf und packte Florian am Arm. »Komm, lass uns zu Englisch gehen«, schlug sie vor und zog ihn aus dem Raum.
Als sie nachmittags zum Stall fuhr, hatte sich Lillis Laune etwas gebessert. Eigentlich besserte sie sich immer, wenn sie zu ihrem Pferd fahren konnte. Glendis, der mit vollem Namen Glendis' Sparkling Star hieß, begleitete ihr Leben seit sieben Jahren und war nicht mehr daraus wegzudenken. Sie marschierte an den ersten beiden Offenställen vorbei, in Gedanken bei ihrem Pferd. Dann stoppte sie plötzlich und machte mehrere Schritte rückwärts. Im Offenstall der Wallache stand ein neues Pferd in der Integrationsbox. Es war pechschwarz, von kleiner, muskulöser Statur und stolzer Erscheinung. Fasziniert trat Lilli näher an die Umrandung. Das war kein Quarter Horse, wie man es hierzulande sah. Irgendetwas an diesem Pferd war anders, sie konnte es nur nicht in Worte fassen. Der kleine quadratische Kopf mit den weit auseinanderliegenden Augen sprach für einen Quarter, der Hals war aber zu hoch angesetzt und gewölbter als bei vielen Westernpferden. »Na, du Hübscher?«, sagte sie zu dem Pferd. Der Rappe, sie konnte erkennen, dass es sich um einen Hengst handelte, drehte das Ohr in ihre Richtung, behielt aber gleichzeitig die anderen Pferde im Auge. Dann wieherte er lauthals, als wolle er allen mitteilen, dass er hier war. Es war ein typisches Hengstwiehern und Lilli verkniff sich ein Grinsen.
»Er ist toll, oder?«, fragte Janine, die neben Lilli getreten war.
»Fantastisch. Wo kommt er her? Ich habe gar nicht mitbekommen, dass ein neues Pferd kommen sollte.«
Janine schmunzelte vor sich hin. »Nicht nur ein neues Pferd«, sagte sie. »Wenn du das Pferd schon toll findest, warte ab, bis du den Besitzer siehst. Laut Laura ist er hot hot hot.«
»Ist es deshalb auf dem Parkplatz so voll?«, fragte Lilli verdutzt.
Janine grinste. »Die gesamte weibliche Belegschaft ist hier aufgelaufen, als es sich rumgesprochen hat.«
Lilli drehte sich noch einmal zu dem Pferd um. »Der Hengst interessiert mich mehr«, sagte sie.
Janine lachte. »So etwas kannst auch nur du sagen.«
Lilli trainierte an diesem Tag nicht. Glendis hatte eine gute Leistung beim Turnier abgeliefert und dafür gönnte sie ihm einen Ausritt. Der Boden war zu weich, um schneller als Schritt zu reiten und der Regen machte die ganze Angelegenheit auch nicht besonders angenehm, aber Lilli mochte diese Ausritte, wenn sie mit ihrem Pferd alleine in der Natur unterwegs war.
Als sie zurückkehrten, hatte sich die Menschenansammlung, die darauf spekulierte, den Besitzer des neuen Pferdes zu treffen, etwas reduziert. Lilli setzte sich zu einigen an die Bande, trank eine Cola und quatschte mit den Stallkollegen über die kommende Turniersaison, neue Bestimmungen der EWU, des Westernreiter Verbandes, der ihre Turniere ausrichtete und beteiligte sich an Spekulationen über das neue Pferd. Der sagenumwobene Besitzer tauchte nicht auf.
Auch in den nächsten Tagen rissen die Gerüchte über den schwarzen Hengst und seinen Besitzer nicht ab. Der Hengst sei ein wilder Mustang aus Kanada, hieß es. Andere Stimmen berichteten, er sei ein Futurity-Gewinner. Worin sich alle einig waren, die ihn bereits zu Gesicht bekommen hatten: Dass der Besitzer der heißeste Kerl im Umkreis von 300 Kilometern war. Vielleicht von ganz Deutschland. Lilli schüttelte über diese Schwärmerei nur den Kopf. Sie war genervt. Ihre Freunde in der Schule drehten völlig am Rad, weil die letzten Vorabi-Klausuren anstanden und das Abitur immer näher rückte. Als ob einer von ihnen es nicht bestehen würde! Aber in der Schule gab es keine anderen Gesprächsthemen mehr als Klausuren, Berechnungen der Punktzahlen für den Abischnitt, Zugangsvoraussetzungen für Studiengänge, Bewerbungen und Diskussionen über die Vor- und Nachteile des Lernens auf Lücke. Die Lehrer waren dabei keine große Hilfe, sondern drohten bei jeder Gelegenheit mit dem bösen A-Wort. Lilli war kurz vor dem Ausrasten. Es schien, als würden alle um sie herum durchdrehen. Sei es, wegen der Prüfungen oder aber am Stall wegen irgendeines Typen. Das Versprechen mit dem Feierngehen trotz Abi-Vorbereitungen war längst gebrochen und alleine konnte Lilli nicht weggehen, weil sie noch nicht volljährig war.
Es war zum Aus-der-Haut-fahren! Gab es denn nirgendwo einen Menschen, der sie verstand? Der dieselbe Ungeduld wie sie verspürte? Dieselbe Gier danach, ZU LEBEN??? Was war aus Carpe Diem geworden?
Sie war richtiggehend erleichtert, als das nächste Turnier stattfand. Wenigstens etwas, worauf sie ihre überschüssige Energie richten konnte. Es fand auf der eigenen Anlage statt, weshalb sie keinen Fahrdienst benötigte. Sie hatte die übliche Reining ihrer Leistungsklasse genannt und noch die Sonderprüfung der hofeigenen Reining, weil sie hier auch gegen Erwachsene antreten konnte. Wenigstens eine kleine Herausforderung.
Sie war für ihre Verhältnisse erstaunlich pünktlich auf dem Abreiteplatz, als Janine ihr aufgeregt vom Rand zuwinkte und dabei auf und ab hüpfte. Dieses Verhalten war für ihre Freundin so untypisch, dass Lilli zu ihr trabte. »Was ist denn?«
»Er ist da!«, schrie Janine und hüpfte weiter.
»Wer?«, fragte Lilli.
»Na, der Besitzer von Highlight!«, rief sie. Highlight hieß der schwarze Hengst, dieses Gerücht war mittlerweile bestätigt. »Eric Hastings macht den Doorman!«
Lilli konnte es nicht ganz verhehlen, ein klein wenig neugierig war sie schon auf den Typen, von dem der ganze Stall seit zwei Wochen ununterbrochen sprach. Sie war zwar fest davon überzeugt, dass die ganze Schwärmerei völlig übertrieben war und sich wie ein Luftballon aufgeblasen hatte, aber sehen wollte sie ihn trotzdem ganz gerne mal. Und wenn es nur dafür war, die eigene Vermutung bestätigt zu bekommen.
»Oh, da kommt er, da kommt er!« Aufgeregt trommelte Janine ihrer Freundin auf den Oberschenkel.
»Startnummer 942, du bist schon zweimal aufgerufen worden«, rief der junge Mann über den Platz.
Die 942 war sie, Lilli. Sie wendete ihr Pferd und trabte zum Ausgang. »Sorry, ich bin aufgehalten worden. Außerdem sind die Lautsprecher bei dem Wind etwas zu leise.«
Zum ersten Mal hatte sie Gelegenheit, Eric in natura zu betrachten. Sie wollte gerne spöttisch bleiben und sich in ihrem Verdacht bestätigt fühlen, dass das Gerede nichts als Übertreibung gewesen war, doch das konnte sie nicht. Stattdessen merkte sie, wie ihre Kehle trocken wurde, ihr Bauch kribbelte und ihre Hände anfingen zu zittern. Eric sah hundertmal besser aus, als erzählt wurde und wie es schien, fuhr sie voll drauf ab.
»Kein Problem. Dafür bin ich ja da. Viel Erfolg. Ich habe gehört, du bist die unangefochtene Favoritin?«, sagte er, als er sie zur Halle begleitete.
Lilli grinste auf ihn hinab. Falsche Bescheidenheit war noch nie ihr Fall gewesen. »Das ist korrekt. Und du bist der Besitzer von Highlight. Hab schon viel von dir gehört.«
Er erwiderte ihr Grinsen. Seine Augen waren von dem tiefsten Blau, das sie je gesehen hatte und standen im interessanten Kontrast zu seinen dunklen Haaren. Auf seiner Haut zeichnete sich ein leichter Bartschatten ab, der seine markanten Gesichtszüge betonte. Hottie Karottie, wie sie den Neuen in den letzten Wochen heimlich getauft hatte, war wirklich heiß. Und viel jünger, als sie gedacht hatte. Er war vielleicht 24, 25 Jahre alt.
»Nur Gutes, nehme ich an«, führte er ihre Andeutung weiter aus.
»Nur«, erwiderte sie mit einem Zwinkern. Sie waren an der Halle angekommen. Er hob sein Klemmbrett, um sich zu verabschieden. »Wie gesagt: Viel Erfolg, Lilli Kessler!«
Ihr Mundwerk war mal wieder schneller als die warnenden Stimmen in ihrem Kopf. »Bleib doch und sieh zu. Vielleicht kannst du noch etwas lernen«, schlug sie vor und ritt in die Arena. Er starrte ihr mit offenem Mund hinterher.
»Klappe zu, sonst zieht's«, ermahnte ihn eine spöttische Stimme zu seiner Linken. Neben ihm hatte sich Steffi in die Toröffnung gestellt, Lillis Trainerin. »Hallo Steffi. Das ist dein Schützling, oder?«, fragte er. Steffi nickte, sah dann aber irritiert in die Halle. »Was macht sie da?«, wunderte sie sich, Böses ahnend.
Lilli hatte ganz normal in der Mitte der Bahn Aufstellung genommen, sich dann aber plötzlich vorgebeugt, ihrem Pferd die Trense ausgezogen und Richtung Bande geschleudert, so dass sie außerhalb der Arena lag. Der Richter winkte sie sofort zu sich, doch Lilli missachtete seine Anweisung und fing ganz normal an, die Pattern zu reiten – nur ohne Zügel, ohne Kopfstück.
»Damit ist die Kleine disqualifiziert. Warum macht sie so einen Quatsch?«, fragte Eric überrascht. Steffi sah ihren jüngeren Kollegen halb missmutig, halb belustigt an. »Zwei Stichpunkte: Aufmerksamkeit und deine Anwesenheit, vermute ich mal.«
»Eric, du bist nicht zum Quatschen hier. Wo sind die nächsten Starter?«, fragte ihn einer der anderen freiwilligen Helfer.
Es war Ewigkeiten her, dass Lilli ohne Gebiss auf Glendis geritten war und da hatte sie wenigstens noch einen Halsring gehabt, über den sie einen gewissen Einfluss auf ihr Pferd ausüben konnte. Ihre Kurzschlussreaktion hatte dafür gesorgt, dass sie jetzt vollkommen ohne Alles auf ihrem Pferd saß. Doch Glendis wäre nicht Glendis gewesen, wenn er sich nicht auf die neue Situation eingestellt und dann das Beste daraus gemacht hätte. Natürlich galoppierte er die Zirkel nicht ganz so exakt wie er es mit Trense getan hätte und bei den Spins nach rechts pfuschte er, doch er absolvierte die gesamte Prüfung ohne Mucken und als sie zum Rundown ansetzten, jubelte und trampelte das gesamte Publikum. Lilli war unglaublich stolz auf ihr Pferd.
»Das wird zwar keine Schleife, aber dafür hast du dich unvergesslich in Szene gesetzt«, fasste ihre Trainerin resigniert ihren Auftritt zusammen. Lillis Blick irrte durch die Halle, suchte nach einer bestimmten Person, von der sie noch vor einer viertel Stunde nicht gedacht hätte, dass sie einen zweiten Blick an ihn verschwenden würde. Doch Eric, der Neue, war nirgendwo zu sehen. Hatte er ihren Auftritt etwa gar nicht mitbekommen?
»Musste das sein?«, fragte Janine angesäuert. »Hätte es nicht einfach gereicht, die Prüfung zu gewinnen und die Punkte zu kassieren?«
»Es war nur ein C-Turnier«, erwiderte Lilli genervt und führte Glendis zum Putzraum, um ihm bis zur zweiten Prüfung den Sattel abzunehmen und ihm ein bisschen Heu vorzulegen.
In der Sonderprüfung wurde sie Dritte, was sie bei einem Starterfeld von 35 Startern, die allesamt Erwachsen waren, für ein gutes Ergebnis hielt. Nur Eric bekam sie nicht mehr zu Gesicht.
Es war Abend, die Turniergäste waren abgereist und Ruhe hatte sich über den Stall gelegt. Die meisten Pferde standen im Dunklen und dösten, einige fraßen an den überdachten Raufen. Lilli war noch bei Glendis gewesen und wollte sich jetzt auf den Heimweg machen, als sie einen dunklen Schatten an Highlights Auslauf erkannte. Sie trat näher. »Ich dachte, es seien alle schon weg«, sagte sie.
Eric drehte sich zu ihr. »Ich glaube, im Innenhof wird noch aufgeräumt«, sagte er, obwohl es offensichtlich war, dass sie nur nach einer Gesprächseröffnung gesucht hatte.
»Erzähl mir etwas zu deinem Pferd«, bat sie.
Er wirkte verwundert, kam ihrer Bitte dann aber nach. »Sein voller Name ist: Highlight of a dark night. Er ist sechs Jahre alt und ich habe ihn aus Kanada importiert.«
»Stimmt es, dass er ein Futurity-Gewinner ist?«, fragte sie neugierig und streichelte dem schwarzen Hengst über die Nase, die er ihr entgegenstreckte.
»Ja, das stimmt. Er hat eine ausgesprochen verheißungsvolle Karriere vor sich, aber ich möchte ihn nicht verheizen.«
»Was startest du mit ihm? Reining?«
»Nein. Ich bin auf Ranch Riding, Superhorse und Trail spezialisiert.«
Sie starrte ihn in der spärlichen Beleuchtung des Offenstalls mit offenem Mund an. »Im Ernst?«, fragte sie verblüfft. Die meisten Männer, die sie kannte, ritten Reining.
»Ja, im Ernst. In Kanada und den Staaten habe ich auch am Rind gearbeitet, aber das gibt es hier ja kaum.«
»Keine Angst, dass es dich unmännlich erscheinen lässt, über Stangen zu schleichen?«, provozierte sie ihn.
»Was hat meine Männlichkeit mit dem Absolvieren eines Trailparcours zu tun?«, fragte er verständnislos zurück. »Die Aufgaben im Trail sollen typische Hindernisse bei der Rancharbeit darstellen. Und auf den Ranches arbeiten überwiegend männliche Cowboys. Sind die dann auch alle unmännlich?«
Sie atmete tief durch. Das Gespräch lief nicht so, wie sie sich das gewünscht hatte. Er hatte ihre Show mit keinem Wort erwähnt.
»Das Merkmal des Quarter Horses war lange Zeit seine Vielseitigkeit. Die möchte ich erhalten und fördern«, fügte er hinzu.
Sie nickte. »Tja, ein bisschen mehr Vielseitigkeit würde Glendis und mir auch guttun. Wie sieht's aus, gibst du auch Unterricht?«
Seine Reaktion war zurückhaltend. »Gebe ich schon, aber du hast doch bestimmt schon einen Trainer, oder? Bist du nicht eine Schülerin von Steffi?«
»Ja. Aber wir haben keinen Exklusiv-Vertrag.«
»Ich möchte mich hier nicht gleich zu Beginn unbeliebt machen, in dem ich den anderen Trainern die Schüler stehle.«
»Du stiehlst mich nicht. Ich wechsel freiwillig. Wir leben in einer freien Marktwirtschaft. Außerdem wird Steffi das bestimmt verstehen. Sie hat mir erst vor ein paar Wochen noch selbst geraten, dass ich mit Glendis Trailreiten trainieren soll.«
»Na schön, aber ich erwarte von meinen Schülern, dass sie konzentriert und ernsthaft arbeiten.«
»Das ist kein Problem«, versicherte sie ihm und konnte sich nur schwer ein zufriedenes Grinsen verkneifen. Im Weggehen ballte sie in einer heimlichen Triumphgeste die rechte Hand zur Faust. Sie kannte Eric noch keine vierundzwanzig Stunden, besaß aber schon seine Handynummer und hatte eine Verabredung mit ihm. Wenn das kein erfolgreicher Tag gewesen war!
Dafür hatte sich sogar die Standpauke des Richters gelohnt, der sie für eine Leistung zur Schnecke gemacht hatte, die andere nicht einmal mit Bit und Hebelwirkung hinbekamen.
»Hast du die alten Abi-Klausuren gelöst?«
»Lilli! Ich rede mit dir.«
»Hörst du mir überhaupt zu?«
»Hast du sie dir mal angesehen? Es ist doch offensichtlich, dass sie mit ihren Gedanken gerade ganz woanders ist.«
»Wenn das bei Lilli nicht völlig abwegig wäre, würde ich fast vermuten, dass sie verknallt ist.«
»Du spinnst! Lilli war noch nie verknallt!«
»Es gibt für alles ein erstes Mal.«
Janine reichte es. Sie rammte ihrer Freundin den Ellenbogen in die Seite, um die nötige Aufmerksamkeit zu bekommen.
»Hey, was soll das?«, empörte sich Lilli.
»Wir sprechen mit dir.«
»Eigentlich haben wir mehr überdich gesprochen«, präzisierte Daniel.
»Wo warst du denn mit deinen Gedanken?«, erkundigte sich Janine neugierig.
»Bei wem wohl?«
»Bei deinem Pferd?«, riet Flo aus dem Hintergrund. Janine und Daniel drehten sich zu ihm um. »Echt jetzt?«, fragte Daniel. »Sie kritzelt irgendwelche Symbole auf ihren Block, von denen ich nur hoffen kann, dass es keine Herzchen sein sollen, kaut auf einer Haarsträhne herum und schaut abwesend in die Luft. Und du glaubst, dass ihr Pferd dafür verantwortlich sei?«
Flo hob entschuldigend die Schulter. »Ich dachte ja nur …«
»Wenn ihr es genau wissen wollt:«, Lilli beugte sich verschwörerisch vor, »Ich war in Gedanken beim süßesten und heißesten Typen dieser Welt. Und bei unserer Verabredung heute Nachmittag.«
Ein weiteres Gesicht erschien in ihrer Runde. »Ich wusste gar nicht, dass wir verabredet sind, Lilli.«