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Eine Konferenz wegen moralischen Fehlverhaltens? Das hätte sich Abiturientin und Dressurreiterin Christine Holland niemals träumen lassen. Zumal das Ganze auf einem Missverständnis beruht. Doch das glaubt ihr an der Schule niemand mehr, seitdem sie sich auf Felix Heiner eingelassen hat. Was als harmlose Sommerromanze begann, wird zu Christines größtem Albtraum. Erst als er ihr alles genommen hat, kommt ihr der Gedanke, dass mehr hinter Felix' Verhalten stecken muss, als verletzte Eitelkeit. Doch da ist es bereits zu spät.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Inhaltsverzeichnis
Auftritt Felix Heiner
Partner
Mitfahrgelegenheit
Stallgeflüster
Ein Schritt vor, zwei zurück
Kein Spiel
Gesprächsthema Nr. 1
Schleudertrauma
Der Bumerang
Feindliche Übernahme
Billige Retourkutsche?
Herz gesucht
O du Fröhliche
Zeit der Rache
Die Sache mit der Wahrheit
Bekehrungsversuche
Harte Bandagen
Besuch am Abend
Ein Abend zum Abschied nehmen
Danksagung
Über die Autorin:
Impressum
Für meine Schwester, die von Anfang an eine klare Vorstellung davon hatte, wer am Ende gewinnen sollte.
Es war nur noch eine dreiviertel Stunde bis zum offiziellen Beginn der Sommerferien und Christine konnte es kaum erwarten. Ihre letzten Sommerferien! Zwar blieb außer ihr augenscheinlich keiner ihrer Freunde in der Stadt, aber das konnte sie nicht ändern. Sechs Wochen keine Schule, sechs Wochen Reitstall ohne Ende, sechs Wochen frei sein. Na gut, und eine Kleinigkeit, die sich Silbernes Reitabzeichen nannte, aber das hatte sie sich schließlich freiwillig ausgesucht.
Sie warf einen ungeduldigen Blick auf ihre Armbanduhr und trommelte mit den Fingern auf den Tisch. Sie hätten längst mit der Besprechung anfangen können, wenn sie denn vollständig gewesen wären. Doch die anderen weigerten sich anzufangen, bevor nicht alle aus ihrem Komitee eingetroffen waren. Dabei warteten sie nur noch auf einen! Draußen auf dem Flur konnte man bereits den Staubsauger der Putzfrau hören. Chris rutschte unruhig auf ihrem Platz herum. Sie konnte förmlich spüren, wie die Schule um sie herum leerer wurde. Wie alle froh und leicht in die Sommerferien entschwanden, während sie noch immer in diesen stickigen Klassenraum gesperrt waren und auf einen arroganten Vollidioten namens Felix Heiner warten mussten. Wahrscheinlich war er schon auf dem Weg in die Ferien und lachte sich halb tot bei dem Gedanken, dass sie hier brav versauerten. Okay, noch wahrscheinlicher war, dass er überhaupt keinen Gedanken an sie verschwendete.
»Ich finde, wir sollten anfangen. Offiziell wollten wir vor einer Viertelstunde beginnen und es ist unklar, ob Felix überhaupt noch kommt. Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich für meinen Teil würde gerne möglichst bald in die Ferien gehen und diesen fantastischen Sommertag nutzen«, sagte sie, als sie es nicht mehr aushielt. Genau diesen Moment nutzte Felix für seinen großen Auftritt. Er musste immer eine Show aus seinem Zuspätkommen machen. Wenn Chris sich aus irgendeinem Grund verspätete, dann huschte sie möglichst leise an ihren Platz, in der Hoffnung, unbeachtet zu bleiben und keinen zu stören. Felix dagegen liebte die Aufmerksamkeit. Als Scheidungskind war er geradezu süchtig danach. Christine hatte die Ehre, seit der fünften Klasse jeden Schultag seine Auftritte live zu erleben. Und in nunmehr fast acht Jahren waren das eine Menge Schultage. Dabei ging er stets gleich vor: Eine aufgerissene Tür, das Erstarren auf der Türschwelle, das breite Grinsen im Gesicht, bei dem die weißen Zähne blitzten, während er sich im Raum umsah und sicherstellte, dass er auch wirklich die Aufmerksamkeit sämtlicher Anwesenden hatte. Dann kamen irgendein cooler Spruch und anschließend die Begrüßung seiner Freunde. Er war nicht sonderlich wählerisch in seiner Freundeswahl und somit dauerte es, bis er sich endlich auf seinen Platz setzen konnte.
Obwohl es in diesem Fall nicht einmal eine Lehrperson zu beeindrucken galt, ging er nach dem altbewährten Prinzip vor. Christine verschränkte seufzend die Arme vor der Brust und schloss demonstrativ die Augen. Das konnte noch dauern, bis sie mit der Sitzung anfangen konnten. Es war nicht so, als ob sie Felix auf den Tod nicht ausstehen konnte, aber er nervte, wenn man zu viel Zeit mit ihm verbrachte. Doch als plötzlich ein atemloses Kichern ertönte, das Kindern entfährt, wenn sie von Erwachsenen gejagt werden, schlug sie ihre Augen vorsichtshalber wieder auf. Und blickte direkt in Felix Gesicht, das nur wenige Zentimeter von ihrem entfernt war, die Lippen schon zum Kuss gespitzt. Sie riss den Kopf zurück und wenn er nicht so eine schnelle Reaktion gehabt hätte, hätte sie ihm rein reflexartig eine gescheuert.
»Sieh‘ an, Dornröschen wird sogar schon durch meine Aura aus dem hundertjährigen Schlaf geweckt«, witzelte er, während er sich wieder aufrichtete.
»Wohl eher durch deinen Mundgeruch«, gab sie scharf zurück.
Felix zwinkerte ihr spöttisch zu, bevor er sich wieder seinen Jüngern zuwandte. »Ich freue mich, dass ihr alle gekommen seid, denn ich wollte euch mitteilen, dass wir das Motto unserer Abi-Zeitung ändern.«
»Wie bitte?« Christine traute ihren Ohren kaum. »Wer hat das entschieden?«, verlangte sie zu wissen. »Habe ich irgendetwas verpasst?«
Ihr Klassenkamerad beachtete sie gar nicht weiter. »Deshalb teile ich hiermit mit, dass unser neues Abimotto: Abihuana - 12 Jahre Stoff und immer noch nicht High lautet.«
Hatte der Knabe selbst ein bisschen zu viel Gras geraucht? »Sag mal, spinnst du?«, fauchte sie, sprang auf und beugte sich wütend über den Tisch. »Das klingt, als würden wir unseren Kiffer-Abschluss an irgendeiner Hauptschule in Berlin machen und nicht an einem Gymnasium! Abgesehen davon, dass es nicht einmal einen Sinn ergibt. Heißt es nicht normalerweise: 12 Jahre Stoff und immer noch nicht abhängig? Und außerdem, was hattest du dir vorgestellt, wie man das Thema außer dem Titel der Abizeitung gestalten soll? Vielleicht, indem wir alle im Foyer der Schule an einer riesigen Bong ziehen?«
Felix kam auf sie zugeschlendert, die Hände cool in den Hosentaschen vergraben. »Eine Bong hat zwar nichts mit Gras zu tun, mein Schatz, aber an sich keine schlechte Idee. Da lässt sich was draus machen.«
Christine richtete sich wieder auf. »Das wird Dr. Beckers niemals erlauben«, versprach sie.
»Na klar, renn doch sofort wieder zum Direx und verpetz’ uns, als ob wir in der fünften Klasse wären«, forderte ihr Widersacher sie heraus.
Chris öffnete und schloss ihre rechte Hand, als würde sie einen Gummiball kneten, während sie sich vorstellte, dass es Felix war, den sie gerade in ihrer Hand zerquetschte. Es gab Momente, in denen sie sich ganz gut verstanden. Und es gab sehr viele Momente, in denen sie sich wünschte, ihn nie kennen gelernt zu haben.
Offene Drohungen brachten sie bei Felix nicht weiter. Er würde es nur als Machtspielchen zwischen ihnen auffassen und seine Trümpfe ausspielen, die unter anderem darin bestanden, Stufensprecher und bei den anderen Schülern äußerst populär zu sein.
Sie setzte sich auf ihren Tisch. »Felix, könntest du mir zum besseren Verständnis denn erklären, inwiefern dein neues Motto speziell unsere Stufe beschreibt?«, bat sie mit sanfter Stimme, während sie ihm ins Gesicht blickte. Die anderen, die das Thema begeistert aufgenommen hatten, wirkten jetzt durchaus aufmerksam. Sie konnte an Felix Blick erkennen, dass er verstanden hatte, worauf sie hinaus wollte. Er war ein kluges Kerlchen.
Als Antwort streckte er sich, schob den Brustkorb heraus und verschränkte die Arme vor der Brust. »Aber gerne«, sagte er und klimperte mit seinen langen Wimpern, um die ihn jedes Mädchen beneidete. »Das Motto zeigt, dass wir eine humorvolle Stufe sind, die sich selbst nicht allzu ernst nimmt und mit Humor auf ihre Schulzeit zurückblickt.«
»Das mit dem Humor hattest du schon«, erwiderte sie bissig.
Er stellte sich dicht vor sie hin und nahm ihr Gesicht in beide Hände. »Chrissie-Schatz, ich weiß, dass du sauer bist, weil du nicht gefragt wurdest. Aber mal ehrlich, wenn ich das jetzt nachholen würde, würdest du dann Ja sagen?«
»Nein«, sagte sie und streifte seine Hände von ihrem Gesicht.
Er grinste sein schiefes Grinsen, bei dem sich ein Grübchen in seiner rechten Wange bildete. »Siehst du«, sagte er so zufrieden, als ob er gerade die Quantentheorie neu erfunden hätte.
»Und was spricht gegen das alte Motto, das mit 97 zu 18 Stimmen gewählt wurde?«
»Oh, du nagelst uns auf unseren demokratischen Grundsatz fest, verstehe.« Er nickte langsam, während er sich im Raum umsah und versuchte, die Stimmung auszuloten. Er kam wohl zu dem Schluss, dass keiner es lustig fand, wenn seine Stimme ignoriert wurde, egal, wie gut das neue Thema war. »Na schön, dann bleiben wir eben beim Alten«, gab er schließlich nach.
»Sehr schön«, sagte sie zufrieden, angelte nach ihrer Tasche und sprang vom Tisch. Sie war schon halb zur Tür raus, als Felix ihr noch etwas nachrief: »Jetzt habe ich etwas gut bei dir!«
Sie zeigte ihm den Mittelfinger ohne sich umzudrehen und verließ das Schulgebäude Richtung Freiheit. Ferien, ich komme.
Sie fuhr mit dem Fahrrad nach Hause und atmete dabei tief die schwere Sommerluft ein. Sechseinhalb Wochen Reitstall pur, so musste es sein. Wegen der hohen Preise im Sommer hatte ihre Familie beschlossen, erst in den Herbstferien Urlaub zu machen. Christine war das nur recht. Es gab nichts Besseres, als den ganzen Sommer zum Reiten zur Verfügung zu haben.
Sie war an ihrem Elternhaus angekommen. In den letzten Jahren hatte ihre Mutter den Vorgarten ihres zweistöckigen Reihenhäuschens in einen Rosengarten par excellence verwandelt, der jetzt im Sommer seine volle Pracht entfaltete. Chris schob ihr Rad hinter die Hecke, schloss es ab und betrat das Haus. Wie üblich war ihre Mutter noch in ihrer Tierarztpraxis. Lukas, Christines Bruder, sechs Jahre jünger als sie, stand in der Küche und machte einen Bauernsalat fertig. »Papa ist im Garten und mäht den Rasen«, informierte er sie und würfelte den Hirtenkäse so geschickt wie ein Profi-Koch.
Sie schnappte sich ein Stück Paprika vom Brettchen und bekam prompt einen Klaps auf die Finger. »Wie war dein Zeugnis?«, erkundigte sie sich.
Ihr Bruder verdrehte nur die Augen. »So wie immer. Deins auch?«
Sie nickte. Schlechte Noten waren in der Familie Holland noch nie ein Problem gewesen.
Sie ging an den Kühlschrank, um sich Orangensaft herauszuholen.
»Wehe, wenn du wieder die letzte Salami-Scheibe isst!«, drohte ihr Bruder sofort. »Die ist für meine Pflanzen.« Er züchtete fleischfressende Pflanzen. Ein ziemlich fragwürdiges Hobby für einen Zwölfjährigen fand seine Schwester, aber vermutlich immer noch besser, als wenn er den ganzen Tag Ballerspiele spielen würde.
»Sollten die nicht Insekten fangen und verspeisen?«, fragte sie, während sie die Saftpackung aus der Kühlschranktür entnahm.
»Und wie sollen hier Insekten reinkommen, die sie verspeisen könnten, wenn Mama vor jedes Fenster ein Insektengitter klebt?«, erkundigte Lukas sich genervt.
Chris stellte den Orangensaft zurück und nahm zwei Möhren aus dem Gemüseabteil für ihr Pferd mit. Im Stall verschimmelten die im Sommer nur. »Das ist echt eklig«, sagte sie mit Bezug auf Lukas Pflanzen. Dieses Gespräch hatten sie schon so oft geführt, dass ihr Bruder gar nicht mehr darauf reagierte.
»Wie lange brauchst du noch mit dem Salat? Ich will heute Nachmittag noch in den Stall.«
»Wann willst du das mal nicht?«, fragte er altklug zurück. »Wenn du mir ein bisschen helfen würdest, anstatt alle Zutaten wegzuessen, dann ginge es erheblich schneller. Aber ich mache das Dressing!«
Ergeben schnappte sie sich ein Messer. »Alles klar, Meister.« Er war der einzige in der Familie, der gerne und wirklich gut kochte, deshalb unterwarfen sich die Älteren in diesem Punkt bereitwillig seinem Kommando.
Christine war im Prinzip auf dem Hof Kirchholm groß geworden. Sie ritt hier, seit sie mit acht Jahren die Erlaubnis ihrer Eltern erhalten hatte, Reitstunden nehmen zu dürfen. Heute, zehn Jahre später, ritt sie längst nicht mehr auf den Schulpferden, sondern nannte eine zierliche Dunkelfuchsstute namens Fee ihr Eigen. Gut, offiziell gehörte Fee ihr nicht, aber da die Besitzerin sich maximal zwei Mal pro Jahr im Stall blicken ließ, war Fee faktisch ihr Pferd.
Chris fuhr mit dem Rad durch den Torbogen, der an der Seite von zwei in Stein gehauenen Pferdeköpfen geschmückt wurde. Im Gründungsstein war die Jahreszahl 1859 eingemeißelt. Direkt dahinter begann die Boxenreihe der Schulpferde, die alle durch ein Außenfenster auf den Hof hinausschauen konnten. Gegenüber stand eine große Scheune, in der das Heu und Stroh gelagert wurden. Die Auffahrt führte weiter zwischen dem großen Gebäudekomplex, der die Reithalle und die Stallungen der Privatpferde umfasste und dem Springplatz hindurch. Die Parkplätze für die Autos und die Abstellmöglichkeiten für Fahrräder befanden sich hinter der Halle, wo auch der große Dressurplatz lag und die Weiden begannen. Betrat man die linke der beiden Stallgassen vom Parkplatz aus, so befand sich Fees Paddockbox direkt als Erste rechts. Christine hätte eine Offenstallhaltung noch besser gefunden, aber das wäre an diesem Stall, der größtenteils aus Turnierreitern bestand, wohl nicht möglich gewesen. Schon so ließen einige Reiter ihre Tiere nicht auf die Wiese, aus Sorge, dass sich ihre wertvollen Turnierpferdchen verletzen könnten.
An diesem Tag stand die Dunkelfuchsstute auf ihrem Auslauf und ließ sich die Sonne aufs Fell scheinen. Als das Mädchen an die Umzäunung trat, hob sie den Kopf und kam mit gespitzten Ohren zu ihr. Sie grummelte leise zur Begrüßung und presste ihrer Reiterin die weiche Schnauze gegen die Wange. Christine lachte, gab ihr einen kurzen Kuss auf die Nüstern und anschließend eine Möhre zur Begrüßung. Die andere würde sie als Belohnung nach der getanen Arbeit verfüttern.
Im Inneren des Stalls wimmelte es nur so von Personen, die sich wahlweise auf ihren Ferienbeginn oder zumindest auf das Wochenende freuten. Das Problem an Freitagnachmittagen im Stall war, dass auch die Berufstätigen schon frei hatten, die sonst erst gegen Abend kamen. Hinzu kam das perfekte Wetter, nicht zu heiß und nicht zu schwül, was das Reiten auch für die Wetterempfindlichen ermöglichte. Christine sah sich das chaotische Treiben kurze Zeit an und beschloss dann, die eigentlich geplante Dressurarbeit auf einen anderen Tag zu verschieben und mit Fee ins Gelände zu gehen.
Erfrischt und glücklich kamen sie zurück. Auf dem Platz war zu diesem Zeitpunkt nur noch eine einzige Person und die hätte Chrissie auch aus größerer Entfernung erkannt. Nicht nur, dass es an diesem Stall, wie an so vielen anderen, wenig männliche Reiter gab, es war vor allem das unverwechselbare Bewegungsbild der dunkelbraunen Stute, das die Identifizierung leicht machte. Ariadne war eine hochblütige Trakehnerstute, die fantastische Gänge und ein noch größeres Springpotenzial hatte, aber schwierig zu reiten war. Felix hatte sie von einer Rettungsaktion aus Polen. Keiner wusste genau, was die Stute erlebt hatte, aber mehrere Narben im Gesicht deuteten darauf hin, dass sie schwer misshandelt worden war. Sie hatte panische Angst vor Gerten und Sporen und neigte bei Gefahr dazu, in kopfloses Toben auszubrechen. Es hatte Monate gedauert, bis sie einen Hufschmied an sich heranließ und an Beschlagen war gar nicht zu denken. Zum Glück hatte sie feste, robuste Hufe, so dass Eisen überflüssig waren. Sobald ein Reiter auf ihren Rücken stieg, ging sie durch und war dann weder durch Gebisse noch durch Zäune zu stoppen.
Alle im Stall hatten Felix bis dato nur als risikofreudigen Springreiter gekannt, der mit seinem Pony Pumpkin über jedes Hindernis fegte, ob die Distanz passte oder nicht und zahlreiche goldene Schleifen im Zeitspringen sammelte. Keiner von ihnen hätte dem damals Sechzehnjährigen zugetraut, mit einem Pferd wie Ariadne klar zu kommen. Doch Felix hatte sie alle mit seiner Geduld und seinem Feingefühl überrascht. Es hatte fast ein Jahr gedauert, bis er das erste Mal ohne Sattel und nur mit einem Halfter auf Ariadnes Rücken gestiegen war. Seine Reitlehrerin und alle anderen Zuschauer hatten bald einen Herzinfarkt bekommen, doch Felix war ganz ruhig geblieben. Und die Stute, die durch die einjährige Bodenarbeit und die langen Spaziergänge Vertrauen zu ihm aufgebaut hatte, war es auch gewesen. Noch heute ritt Felix sie mit einem Sidepull, einer gebisslosen Westerntrense. Einen Sattel akzeptierte sie mittlerweile ohne größere Panikattacken, allerdings durfte er nicht allzu fest gegurtet werden, was schon zu einigen waghalsigen Rutschaktionen geführt hatte. Im Training ritt Felix sie deshalb meistens einfach nur mit einem mehrlagigen Woilach, der mit einem einfachen Gummigurt fixiert wurde. Im Winter hatte Felix angefangen, die Stute probeweise auf ein paar Hallenturnieren vorzustellen und seitdem war ihr Siegeszug in den Springprüfungen nicht mehr aufzuhalten. Die selbstbewusste Art ihres Reiters, kein Hindernis als zu hoch, keine Distanz als zu knapp zu empfinden, half Ariadne, das nötige Selbstvertrauen zu finden, um den Befehlen ihres Herrn ohne weiteres Zögern Folge zu leisten. Und erstaunlicherweise passte es dann von den Distanzen auch immer.
Christine hielt ihr Pferd auf Höhe des Eingangs zum Platz an, um den beiden ein bisschen beim Training zuzusehen. Der Felix, den sie im Umgang mit diesem sensiblen Tier erlebte, sorgte dafür, dass sie ihm die anderen Charakterschwächen verzieh. Wer so einfühlsam mit einem schwierigen Pferd umging, konnte einfach kein schlechter Mensch sein.
Er war so in seine Arbeit mit seiner Stute vertieft, dass er sie nicht bemerkte. Nach ein paar Minuten wurde Fee unruhig und Chris ritt zurück zum Stall, um ihre Stute zu versorgen.
Das Wochenende verging in ähnlich ruhiger Art und Weise. Chris stand morgens früh auf, ging joggen und aß anschließend gemütlich Müsli mit Quark und frischen Früchten auf der Terrasse. Dann verschwand sie für den Großteil des Tages im Stall, und die Abende verbrachte sie dann wieder mit einem Buch auf der Terrasse. Von ihr aus hätte es die gesamten sechseinhalb Wochen so weitergehen können. Doch am Montag kam etwas hinzu, auf das sie sich eigentlich gefreut hatte, was sich nun aber als winziger Stich in ihrer Sommer-Idylle herausstellte: In diesen Sommerferien wurden nämlich an ihrem Stall eine Reihe von Lehrgängen angeboten und sie hatte sich für den Kurs eingeschrieben, an dessen Ende der Erwerb des Silbernen Reitabzeichens der Klasse II stand. Da aber Hauptreisezeit war, hatte sich nur ein einziger weiterer Teilnehmer für den Kurs gefunden. Und das war ausgerechnet Felix Heiner.
»Ich kenne und betreue euch beide schon seit Jahren«, sagte Michaela Hoffmann, Reitlehrerin und Pferdewirtschafts- meisterin auf dem Hof. »Da sich außer euch leider niemand mehr für den Kurs gefunden hat, würde ich vorschlagen, dass ihr beide euch gegenseitig trainiert. Felix, du bist sehr erfolgreich im Springen, kannst dir von Christine aber noch ein paar Tipps in der Dressur holen und umgekehrt. Und die Theorie-Fragen könnt ihr auch super zusammen lernen und euch gegenseitig abfragen. Wir vereinbaren alle zwei Wochen einen Termin, um die erforderlichen Lerneinheiten zusammen zu kriegen, und dann gucke ich mir eure Fortschritte an und gebe euch Tipps. Wenn ihr zwischendurch Fragen oder Probleme habt, könnt ihr natürlich gerne zu mir kommen. Aber ich gehe davon aus, dass ihr das Abzeichen am Ende der Ferien ohne Schwierigkeiten besteht. Wäre das so okay für euch?«
Die beiden Jugendlichen wechselten einen Blick. Lustigerweise war ihr Verhältnis im Stall ein anderes als in der Schule. Im Stall respektierten sie die Arbeit und das Können des jeweils anderen und Felix verzichtete auf seine üblichen Sprüche.
»Das geht in Ordnung«, erklärte Christine schließlich. »Da wäre nur noch eine kleine Sache: Ich hatte extra dazu geschrieben, dass ich nur das Abzeichen in der Dressur machen will.«
»Das habe ich wohl gesehen«, entgegnete Michaela, »aber ich verstehe es nicht ganz. Du bist eine so gute Reiterin, Chris, du kannst ohne Probleme auch die Stilspringprüfung absolvieren. Das ist L-Niveau, das schaffst du locker. Und Fee auch.«
»Ich springe nicht«, erklärte sie kategorisch.
Felix wollte etwas sagen, verkniff es sich aber.
»Nun gut, dann nicht. Aber ich denke, es ist trotzdem sinnvoll, wenn ihr zusammen trainiert. Man sieht bei anderen einfach mehr Fehler, die man bei sich selbst nicht bemerkt.«
Felix legte Christine einen Arm um die Schultern. »Geht klar, Michaela. Fangen wir gleich an, Partner?«
Und so kam es, dass Chris ungeplant ihre gesamten Sommerferien mit Felix Heiner verbrachte, während sich ihre Freundin Sarah ahnungslos irgendwo in der Toskana sonnte.
Hätte sie gewusst, welche Auswirkungen dieser Sommer hat, dann hätte sie dem gemeinsamen Training vielleicht nicht zugestimmt. Aber das ließ sich wohl auf alle Lebenserfahrungen beziehen. Und wie Peer Steinbrück im Wahlkampf vor einigen Jahren so passend gesagt hatte: »Hätte, hätte, Fahrradkette.«
Für das Silberne Reitabzeichen der Klasse II in der Dressur war es erforderlich, dass Christine mit Fee eine M-Dressur auf Kandare absolvierte. Bislang waren sie zwar mit Kandare, aber nur in Prüfungen der Klasse L gestartet. Allerdings hatte sie auch unabhängig vom Erwerb des Reitabzeichens für diese Saison ihre ersten M-Starts geplant. Sie war der Meinung, und ihre Trainerin Michaela hatte sie darin bestärkt, dass sie soweit waren.
»Es ist ewig her, dass ich mal eine Dressurprüfung geritten bin«, erzählte Felix, als sie nebeneinander ihre Pferde auf dem Außenplatz aufwärmten.
Chris warf ihm einen zweifelnden Blick zu. »Bist du überhaupt schon einmal auf einem Dressurturnier gestartet? Ich kann mich nicht daran erinnern.«
Er winkte ab. »Doch, irgendwann mal. Reiterprüfung oder so auf einem ausgebundenen Schulpferd. Bei der E-Dressur haben Pumpkin und ich schon keinen Bock mehr gehabt. Ich verstehe nicht, wie du dir diesen Mist jedes Wochenende antun kannst. Die Bewertungen sind sowieso objektiv nicht nachzuvollziehen und die Richter sitzen nur in ihrem Häuschen und versuchen zu erraten, ob ihr einen Stringtanga tragt oder nicht.«
»Bist du jetzt fertig?«, erkundigte sie sich genervt.
Er grinste frech. »Was für Unterwäsche trägst du eigentlich beim Reiten?«
Sie verdrehte die Augen. Vielleicht stimmte das mit dem Verzicht auf seine blöden Sprüche im Stall doch nicht. »Gar keine«, gab sie zur Antwort und trabte an.
»Oh verdammt, Christine, lass die Scherze! Ich versuche mich hier zu konzentrieren!«, rief er.
Sie war einen Zirkel getrabt und parierte neben ihm wieder durch. »Wer sagt, dass ich scherze?«, fragte sie mit großen Augen.
»Ich würde ja sagen, lass uns das überprüfen, aber ich befürchte, dann scheuerst du mir eine.«
»Du befürchtest richtig. Aber lass uns zum Ernst der Dinge zurückkehren. Bist du überhaupt schon einmal mit einer Kandare geritten?«
Er schüttelte den Kopf. »Und bevor du fragst: Ariadne kennt es auch nicht. Was wohl das Hauptproblem werden dürfte.«
Nachdenklich betrachtete Christine die schwierige Trakehnerstute. »Dann wäre es wohl das Beste, wenn du es die ersten Male auf Fee übst und parallel versuchst, Ariadne an die zwei Gebisse in ihrem Maul zu gewöhnen.« Keiner von beiden sprach aus, dass es äußerst unwahrscheinlich war, dass die sensible Stute, die nicht einmal ein Gebiss ertrug, zwei dulden würde. Es hatte schließlich Gründe, dass Felix sie stets mit einer gebisslosen Trense ritt. Innerlich stellte Christine sich bereits darauf ein, ihrem Stallkollegen ihre Stute für die Dressurprüfung leihen zu müssen.
»Ich würde vorschlagen, dass wir jetzt eine halbe Stunde lang jeder mit seinem eigenen Pferd trainieren und danach kannst du dich auf Fee mal an der Kandare und den vier Zügeln versuchen.«
»Ist das denn okay für dich?«, fragte er in einem ungewohnten Anfall von Einfühlsamkeit. »Ich könnte sonst auch Michaela fragen, ob ich eines von den Schulpferden bekomme.«
Sie zog zweifelnd eine Augenbraue hoch. »Fällt dir auch nur eines ein, das schon einmal auf Kandare gelaufen ist?«
Diese Frage musste er wie erwartet verneinen.
»Ist schon in Ordnung. Du kannst ruhig mit Fee üben«, sagte sie daher. »Außerdem sind wir jetzt Partner, oder?«
Er grinste breit. »Partner«, bestätigte er. »Ich habe sogar auf deinen Wunsch hin meinen Motto-Vorschlag zurückgezogen, obwohl er wirklich gut war.«
»War er nicht«, widersprach sie lächelnd. Sie blickten sich in die Augen und der Moment dehnte sich zu einer halben Ewigkeit aus.
»Huch, was ist denn da gerade passiert?«, fragte Chrissie sich erschrocken, als sie wieder zu sich kam und den Blickkontakt abrupt beendete. Das ist doch Felix Heiner-ich-habe-jede-Woche-eine-andere, dem Flirten zur zweiten Natur geworden ist. Du wirst doch jetzt nicht so blöd sein und auf ihn hereinfallen, oder?
Nein, würde sie nicht. Sie sammelte ihre Gedanken und konzentrierte sich von da an voll und ganz auf ihr Pferd. Partner hin oder her, das half ihr auch nicht beim Bestehen der Prüfung.
Christine lag mit geschlossenen Augen in der Abendsonne und lauschte dem leisen Rauschen der Blätter und dem Vogelgezwitscher. Aus irgendeinem Nachbargarten drangen verlockende Grilldüfte herüber. Ansonsten herrschte Frieden.
»Fährst du mich morgen zum Fußball?«, durchbrach ihr kleiner Bruder die wunderbare Stille.
Das Problem an zu großen Altersunterschieden zwischen Geschwistern war, dass die älteren Geschwister zu schnell achtzehn und dann mit ihrem Führerschein zu den Sklaven ihrer geschwisterlichen Verantwortung wurden, dachte sie finster.
»Wie wäre es, wenn du dich einfach mal auf dein Fahrrad setzen und hinfahren würdest?«, erkundigte sie sich, ohne die Augen aufzuschlagen. Eigentlich war es äußerst erstaunlich, dass ihr Bruder tatsächlich ein solch typisches und bei Jungen seines Alters verbreitetes Hobby wie Fußball spielen hatte. Deshalb unterstützte sie es normalerweise stets, aber bei diesem traumhaften Sommerwetter mit dem Auto zu fahren, erschien ihr wie eine Freveltat.
»Das ist kaputt.«
»Dann reparier es«, empfahl sie, während sie sich gleichzeitig vorstellte, wie ihr Bruder tatsächlich eine echte, körperliche Aufgabe und keine geistige bewältigte. Allein bei dem Gedanken daran musste sie kichern.
»Es ist längst in der Werkstatt, du Hirni.«
Sie öffnete ergeben die Augen und setzte sich auf ihrer Liege auf. »Na schön, ich bringe dich hin, muss danach aber zum Stall. Wie kommst du zurück?«
»Indem du mich abholst, selbstverständlich.«
Hatte sie nicht gerade gesagt, dass sie zum Stall musste? »Frag die Eltern irgendwelcher Teamkollegen, ob sie dich mit zurücknehmen.«
»Die meisten meiner sogenannten Teamkollegen kommen bei dem Wetter mit dem Fahrrad. Jetzt stell dich nicht so an. Du bist jeden Tag im Reitstall!«, beschwerte er sich.
»Ja, weil ich zufälligerweise am Ende der Ferien eine wichtige Prüfung habe.«
»Und ich tue etwas für meine körperliche Betätigung und mein Sozialleben, auch, wenn ich nicht weiß, was es mir bringen soll, mich anderthalb Stunden lang mit Idioten, die nicht halb so schlau sind wie ich, über einen künstlich angelegten Rasenplatz zu laufen und mich um einen Ball zu kloppen.«
»Ach Luki.« Sie zerzauste ihm liebevoll die Haare, was er hasste wie die Pest. »Du bist eben was ganz Besonderes. Also gut, ich fahre dich hin und hole dich wieder ab.« Das einzige Problem war, dass das mit der vereinbarten Trainingszeit mit Felix kollidierte. Und sie hatte seine Handynummer nicht, um ihm abzusagen. Keine gute Voraussetzung für eine funktionierende Partner-Arbeit. Dann fiel ihr noch etwas anderes ein. »Hey, Lukas!«, rief sie ihrem Bruder hinterher, der schon wieder auf dem Weg ins Haus war. »Wieso habt ihr überhaupt Training? Fällt das sonst in den Ferien nicht immer aus, weil der Hausmeister der Sporthalle auch Ferien hat und die meisten Kinder wegen Urlaub sowieso nicht da sind?«
»Wir trainieren auf einem öffentlichen Platz der Stadt. Unser Trainer meint, wir wären so unterirdisch schlecht, dass er es nicht ertragen würde, wenn wir auch nur eine Woche aussetzen würden.«
Alles klar. Sehr positiver Trainer. Also kam sie um den Chauffeurdienst nicht herum. Blieb noch die Trainings-Verabredung mit Felix.
Festnetz. Vielleicht stand Felix Vater ja im Telefonbuch? Lebte er eigentlich aktuell bei seinem Vater? Soweit sie das in den letzten Jahren in der Schule mitbekommen hatte, hatte das immer mal gewechselt. Ihr war es vorgekommen, als wäre er wie ein störendes Paket zwischen seinen beiden Elternteilen hin und her gereicht worden. Ein weiterer Grund, warum sie ihm einige seiner schlechten Angewohnheiten verzieh.
»Kann dein Bruder nicht mit dem Fahrrad fahren?«, erkundigte Felix sich genervt, als sie sich am nächsten Tag zwei Stunden später als geplant am Stall trafen, damit er weiter mit Fee und der Kandare üben konnte. Offensichtlich hatte er ihre, auf den Anrufbeantworter seines Vaters gesprochene Nachricht tatsächlich erhalten.
»Das ist in der Werkstatt«, erklärte sie.
»Ist dein Bruder nicht dieser Freak, der jedes Jahr bei der Mathe-Olympiade und Jugend-forscht die Preise abräumt und die Schach-AG leitet?«
Sie nickte.
»Und so jemand spielt Fußball?«, fragte er ungläubig. Da fiel ihr auf, dass er, Felix, nie Fußball gespielt hatte und wenn es im Sportunterricht gefordert war, sich nicht gerade durch ein großes Balltalent ausgezeichnet hatte. Sie grinste leicht. Hatte sie doch endlich etwas gefunden, was er mal nicht konnte.
»Du kannst den Kandarenzügel ruhig ein bisschen mehr annehmen«, rief sie ihm zu. »Natürlich soll er nicht angezogen sein, aber er muss auch nicht durchhängen. Die Richter wollen schon sehen, dass du auch mit der Kandare reitest und sie nicht nur als schmückendes Beiwerk dabei hast. Und achte in der Traversale darauf, dass sie ihre Hinterhand ordentlich mitnimmt. Da schludert sie gerne.«
Er hielt direkt vor der Stelle, wo sie auf der Umzäunung des Reitplatzes saß. Zufrieden bemerkte sie, dass Fee geschlossen stand, also die Vorder- und Hinterbeine jeweils exakt nebeneinander standen.
»Eigentlich ist es ziemlich unfair, Partner, dass du mich kritisieren darfst und ich dich nicht in meiner Parade-Disziplin trainieren kann. Warum wehrst du dich so gegen das Springen? Michaela hat schon recht, Fee könnte mit Sicherheit L springen.«
»Versuch es nochmal mit der Traversale im Trab nach links. Denk an die Hinterhand und achte darauf, dass ihr einen klaren Takt beibehaltet.«
Er sah ihr ins Gesicht. Für einen Moment sah es so aus, als wollte er etwas sagen, sie darauf hinweisen, dass er sich nicht einfach mit einem Themenwechsel abspeisen ließ, doch dann schluckte er es herunter. Christine nahm es erleichtert zur Kenntnis. Sie hatte keine Lust ihm zu erklären, warum sie nicht springen wollte. Er kehrte auch nicht zu dem Thema zurück.
Zwei Wochen gingen ins Land. Mittlerweile stand fest, dass Felix die Dressurprüfung mit Fee bestreiten würde. Ariadne hatte, wie erwartet, schon die dünne Unterlegtrense nicht akzeptiert, von der Kandare ganz zu schweigen. Wenn es in der Mittagszeit zu heiß zum Reiten war, saßen sie irgendwo im Schatten im Hof und lernten für die Theorie. Zunächst zeigte sich der Sommer von seiner besten Seite, doch am letzten Tag der zweiten Woche schlug es um. Es schüttete wie aus Kübeln. Die beiden Jugendlichen verzogen sich erst in das Stübchen, von dem aus man in die Reithalle sehen konnte, aber dort war zu viel los, um sich zu konzentrieren. Chris schlug die Sattelkammer vor, doch Felix schüttelte den Kopf. »Lass uns zu mir fahren, da sind wir ungestört.«
»Wie darf man das denn verstehen?«, erkundigte sich Janina, die ihr Pferd ebenfalls am Stall stehen hatte und mit Christine befreundet war. Sie hatte Felix’ Worte gehört und musterte die beiden nun neugierig und mit einem gewissen amüsierten Blitzen in den Augen.
Chris merkte, wie sich ihre Wangen röteten. Felix nahm die Spitze natürlich sofort auf. Er legte seiner Trainingspartnerin einen Arm um die Schultern und zwinkerte Janina zu. »Ich glaube, du hast das schon ganz richtig verstanden«, entgegnete er.
Chris schubste seinen Arm von ihren Schultern. »Wir lernen zusammen für das Silberne Reitabzeichen«, erklärte sie.
»Ach so. Wir hatten uns schon gewundert, dass ihr plötzlich die ganze Zeit zusammenhängt.«
Die Röte auf Christines Wangen vertiefte sich. Ihre Freundin hatte recht. Seit dem ersten Ferientag war kein Tag vergangen, an dem sie die Zeit am Stall nicht mit Felix verbracht hatte. Irgendwie hatte es sich ganz selbstverständlich so ergeben. Dabei war es nun wirklich nicht nötig, dass sie jeden Tag zusammen trainierten und für die Theorieprüfung lernten. Warum verbrachte sie plötzlich freiwillig so viel Zeit mit ihrem Klassenkameraden?
Weil sie sich gut verstanden, lautete die Antwort. Wenn er nicht das Gefühl hatte, für ein Publikum spielen zu müssen, dann konnte er ein richtig netter Kerl sein.
Weil sie beide Pferde liebten und damit ein unerschöpfliches Gesprächsthema hatten.
Weil ihre anderen Freunde alle im Urlaub waren.
»Dann will ich euch mal nicht länger aufhalten«, sagte Janina. »Ich finde übrigens, ihr passt gut zusammen.« Sie grinste und wandte sich dann zur Sattelkammer.
»Musst du das immer machen?«, fuhr Christine Felix an.
Dieser sah sie aufgrund ihres plötzlich wütenden Tonfalls überrascht an. »Was mache ich denn deiner Meinung nach immer?«, fragte er mit gerunzelter Stirn zurück.
»Vor anderen so tun, als ob zwischen uns irgendetwas …«, sie fuchtelte auf der Suche nach einem passenden Wort wild mit den Armen, »Amouröses wäre.«
»Amourös?«, wiederholte er und ließ sich das Wort auf der Zunge zergehen, während er einen Heiterkeitsausbruch mannhaft zu unterdrücken versuchte.
Christine betrachtete ihn aus schmalen Augen und nickte bekräftigend.
Er legte ihr beide Hände an die Wangen. »Ach Schatz, ich will dich doch nur ein bisschen provozieren.«
Das funktionierte ganz hervorragend, aber das würde sie ihm nicht sagen. Wahrscheinlich merkte er es sowieso. Sie entzog ihm ruckartig ihr Gesicht. »Warum?«, verlangte sie zu wissen. Das Grinsen verschwand aus seinen Zügen. Es schien, als würde er über ihre Frage tatsächlich nachdenken.
»Weil ich auf deine Reaktion stehe«, erklärte er schließlich.
Sie spürte, wie sich ihr Zorn legte. Er war einfach nur ein Idiot. »Alles klar«, sagte sie. »Aber wir fahren zu mir, wo mein Bruder ist. Nicht, dass du mir nachher noch auf falsche Ideen kommst – wer weiß, worauf du sonst noch stehst?«
Er hielt sie an ihren Oberarmen fest. »Ich würde nie etwas tun, was du nicht willst.« Sein Blick war ernst geworden.
Sie wollte ihm eine spöttische Antwort geben, doch dann besann sie sich. »Das habe ich weder geglaubt, noch gesagt. Wir fahren trotzdem zu mir.«
Er ergab sich achselzuckend seinem Schicksal.
Also fuhren sie in Felix’ Auto zu Christine nach Hause. Ihr Bruder kam sofort aus seinem Zimmer, als er eine fremde Stimme im Flur hörte. Mit weit aufgerissenen Augen musterte er den Besuch seiner Schwester. Dann stemmte er die Fäuste in die Seite und wandte sich kopfschüttelnd an Christine. »Dein Ernst?«, fragte er ungläubig. »Ausgerechnet der?«
Chris errötete aufgrund der Unverschämtheit ihres Bruders, obwohl sie vor ein paar Wochen vielleicht noch genauso reagiert hätte. »Luki, bitte. Reiß dich zusammen. Felix ist ein Freund und wir lernen gemeinsam für das Silberne Reitabzeichen.«
»Nennt man das heutzutage so?«, fragte er mit hochgezogenen Augenbrauen und verschwand dann wieder in seinem Zimmer, während seine ältere Schwester mit offenem Mund im Flur stand.
»So viel dazu«, sagte Felix, der den Schlagabtausch amüsiert verfolgt hatte.
»Möchtest du etwas trinken?«, erkundigte sich Chrissie, als sie sich auf ihre Gastgeber-Manieren besann. »Am besten setzen wir uns sowieso an den Küchentisch, da kann man gut lernen.«
»Ich wäre ja dafür, in dein Zimmer zu gehen, aber …«
Sie schob ihn Richtung Küche. »Übertreib es nicht, Heiner.«
Er lachte, blieb aber so plötzlich in der Küchentür stehen, dass sie fast in ihn hineingelaufen wäre. »Was ist?«
Er wandte sich um und sie machte instinktiv einen weiteren Schritt nach hinten, um mehr Platz zwischen ihnen zu schaffen.