Alleingang - Sonja Rudorf - E-Book

Alleingang E-Book

Sonja Rudorf

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Beschreibung

Ein Sommerabend in Frankfurt. Die Therapeutin Jona Hagen findet ihren jungen Kollegen Alexander Tesch schwer verletzt in ihrer Praxis. Bei Durchsicht seiner Unterlagen muss sie entsetzt feststellen, dass er sie schwer getäuscht hat. Ein heimlicher Besuch in seiner Wohnung offenbart ihr das ganze Ausmaß seiner Persönlichkeit. Doch um die Polizei einzuschalten, ist sie schon zu sehr in die Sache verwickelt. Zur gleichen Zeit kämpft jenseits des Mains ein Vater darum, seinen Sohn vor Mobbing in der Schule zu bewahren. Doch der 16-jährige Hendrik verweigert sich jeder Hilfe. Seit seine Sitzungen beim Kollegen Tesch ausfallen, scheint er verändert. Steht er in Kontakt zu anderen geschädigten Patienten? Und warum kontaktiert sein Vater die Therapeutin immer wieder? Jona Hagen hat keine Wahl: Sie muss die Beteiligten gegeneinander ausspielen, um das undurchsichtige Beziehungsgeflecht zu entwirren. Die einzig mögliche Strategie und die gefährlichste dazu …

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Sonja Rudorf
Alleingang
Frankfurt-Krimi
Alle Rechte vorbehalten • Societäts-Verlag
© 2016 Frankfurter Societäts-Medien GmbH
Satz: Julia Desch, Societäts-Verlag
Umschlaggestaltung: Julia Desch, Societäts-Verlag
Umschlagabbildung: © BorisBlocksberg / photocase.de
E-Book: SEUME Publishing Services GmbH, Erfurt
ISBN 978-3-95542-236-3
Die Autorin dankt dem Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst für die Unterstützung an diesem Buch.
Für Dieter Kuczka

Prolog

Kann man an Dunkelheit ersticken? Rechte Hand ist taub. Vielleicht war alles nur ein böser Traum. Die Hitze, sein Blick. Sein Blick? Dich sieht niemand, weißt du doch. Du bist ein Nichts. Unsichtbar. Warum hat dieser Typ gelächelt? Menschen wie er denken, sie können nicht verlieren. Du hättest nicht rennen sollen. Nie mehr rennen. Aber dieses Pochen an der Halsschlagader. Kann einen verrückt machen. Die wollen, dass du aufgibst. Kaputtgehst. Treibjagd, bis du von innen explodierst. Jetzt nicht durchdrehen! Raus aus dem Bett. Barfuß durchs Wohnzimmer. Tür auf. Der Garten. Luft. Endlich Luft!

Erster Teil

1 Die Nacht war warm und windstill, selbst am Mainufer regte sich kein Lufthauch. Dunkel zog der Fluss an den Menschen vorbei. Auf seiner Oberfläche schaukelten sanft die Lichter der Brücke, auch die Türme der Skyline spiegelten sich darin. Eine Melange aus Sehnsucht und Melancholie, so hatte Frau Keun in der letzten Sitzung das nächtliche Frankfurt beschrieben. Dabei pulsierte hier das Leben. Auf dem Rasenstreifen am Fluss saßen junge Menschen um eine Shisha, Weinflaschen machten die Runde, daneben lagen Pärchen und hörten Musik. Rufe, Gelächter. Von fern Technobeats aus einem Wagen, der vermutlich mit offenem Verdeck durch die Stadt raste. In all dem lag eine Spur Vergänglichkeit.
Unwillkürlich wandte Jona ihren Blick zu den orange angestrahlten, historischen Villen auf der Sachsenhäuser Seite. Frau Keun hatte am Nachmittag in der Praxis ihre Verlorenheit derart plastisch beschrieben. Das Mainufer, Menschen, Lichter, alles einzeln und unverbunden, hörte sie die junge Patientin sagen, man selbst nicht bedeutungsvoller als eine der Mücken, die im Kegel der Laterne das Licht umschwirren. Jona versuchte, die Erinnerung an die Patientin abzuschütteln, die zu jeder Sitzung ihre deprimierenden Gedichte mitbrachte und oft welche vorlas. Sie beschleunigte ihre Schritte in Richtung Brücke, an deren Pfeiler ihre Vespa stand. In den letzten Wochen hatte sie sich eindeutig übernommen und die Patienten zu nah an sich herangelassen. Aber jetzt hatte sie Urlaub. Seit genau fünf Stunden. Diesmal würde sie auf keinen Fall Anrufe auf ihre Privatnummer weiterleiten lassen. Sie musste das Band in der Praxis neu besprechen und auf Alexander oder den psychologischen Notdienst verweisen.
Am besten sofort!
Die Praxis lag in einem Bürogebäude an der Zeil. Jonas Blick wanderte über die Fußgängerzone und dann zu dem beleuchteten Fenster im zweiten Stock. Seltsam, dass ihr Kollege nachts arbeitete. Während sie durch das verlassene Treppenhaus nach oben lief, empfand sie Beklommenheit, die erst nachließ, als sie in den Flur ihrer Praxis trat. Der Sandsteinbrunnen im Wartebereich plätscherte, in der Küche brannte Licht. Sie rief „Ich bin’s“, erhielt aber keine Antwort. Vermutlich saß Alexander an seinem Eichensekretär und studierte Patientenakten. Sein Zimmer wirkte wie die Kopie von Freuds Interieur. Er war nicht nur charmant und fleißig, sondern auch eitel. Sie lauschte. Nichts. Er musste wirklich in seine Arbeit versunken sein. Aber einen Drink würde er ihr nicht abschlagen. Sie klopfte an seine Zimmertür und drückte, als sich nichts rührte, zögernd die Klinke hinunter.
Die Schreibtischlampe warf einen gelben Lichtkegel auf eine Ginflasche und ein halbvolles Glas. Erst als ihr Blick auf das Teppichstück hinter dem Schreibtisch fiel, entdeckte sie ihn. Er lag auf der Seite, Beine angewinkelt, den Arm um ein Stuhlbein geschlungen, wie zum Schlaf, und am Kopf…
Wie von fern hörte sie den Schrei, der sich aus ihrer Kehle löste. Sekunden später kniete sie vor dem reglosen Körper, ohne den Blick von der kleinen, tiefroten Lache wenden zu können, in der der Kopf ihres Mitarbeiters lag. Der schwache Puls am Handgelenk verriet ihr, dass er lebte. Sie wählte die Nummer des Notdienstes. Ein Überfall auf meinen Kollegen, hörte sie sich sagen. Ja, er lebte, nein, er war nicht bei Bewusstsein. Nein, sie konnte die Verletzungen nicht abschätzen, eine Kopfwunde, viel Blut, er lag auf der Seite. Keine Erstickungsgefahr. 15 Minuten? Wie ein Massiv ragte der Eichholzschrank vor ihr auf. Sie unterdrückte einen Fluch und hörte, wie es in der Leitung klickte. Wieder schloss die Stille sie in ihren Kokon ein. Das Fitnesscenter zwei Stockwerke über ihr war längst geschlossen. Gut möglich, dass sie und Alexander die Einzigen in dem ganzen Gebäude waren.
Hör nicht auf zu atmen, flüsterte sie, während sie sein fein geschnittenes Gesicht betrachtete. Im Profil sah es noch hübscher aus, die hauchdünnen Linien um den Mund verliehen ihm etwas Vornehmes, selbst die verblasste Narbe zwischen Nase und Mund wirkte wie gemalt.
Sie konnte sich noch gut an den Moment ihrer ersten Begegnung erinnern, an das entwaffnende Lächeln, als er ihr im Türrahmen die Hand entgegengestreckt hatte. Der erste Mann, der im taubengrauen Anzug nicht spießig wirkte, und der sowohl ihre ungewöhnliche Größe als auch ihre farbenfrohe Kleidung unkommentiert ließ. Er hatte gelacht, als sie die Espressotasse neben den Rost der Maschine stellte, und das Küchenkrepp von der Wandrolle gezogen, als sei er in diesen Räumen bereits zu Hause.
Charisma, Offenheit, Selbstbewusstsein; ein Glücksfall. Nicht lange, und ihre Zusammenarbeit war besiegelt gewesen. Und jetzt? Panik überkam sie. Noch immer war sein Puls kaum zu spüren. Im schlimmsten Fall bliebe ihr nur die Herzdruckmassage. Den Erste-Hilfe-Kurs hatte sie erst letztes Jahr aufgefrischt. Aber hier, alleine und ohne Anleitung, wo es auf Leben und Tod ging…
Sie erschrak, als es klingelte, und stürzte gleich darauf erleichtert zur Tür.
Im Treppenhaus stand ein Mann um die 40 in Jeans und blütenweißem Hemd und hielt ihr seine Dienstmarke entgegen.
„Kommissar? Wieso Kripo?“ Sie hörte, wie sich ihre Stimme überschlug. „Verdammt, wir brauchen einen Arzt, dringend.“
Ihr Gegenüber lächelte freundlich.
„Ulf Steiner. Und Sie sind?“
„Jona Hagen. Entschuldigung. Aber ein Arzt…“
„…kommt gleich. Ich war nur gerade im Präsidium um die Ecke. Wo liegt er denn?“
Jona führte den Kommissar durch den Flur und blieb an der Türschwelle zum Arbeitszimmer ihres Kollegen stehen. Bei dem Gedanken, dass er unbemerkt gestorben sein könnte, wurde ihr schlecht. Hinter dem Schreibtisch zog sich Ulf Steiner Handschuhe über und ging vor dem Liegenden in die Hocke. Wie im Krimi, dachte sie. Aber das hier war kein verdammter Krimi, das war echt. Die schrille Sirene eines Martinshorns zerriss die Stille. Wie betäubt lief sie zur Tür, drückte den Summer, bevor die Klingel ging und lauschte reglos ins Treppenhaus nach heraneilenden Schritten. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis zwei Rettungssanitäter mit einer Trage vor ihrer Tür standen.
Als sich die Männer kurz darauf über Alexander beugten, suchte sie in der kleinen Praxisküche Zuflucht. Vor dem Fenster zuckten die blauen Lichtblitze des Rettungswagens durch die Nacht und reflektierten in den Scheiben des Kaufhauses gegenüber. Ihre Zunge klebte am Gaumen. Im Flur schnappte die Tür ins Schloss.
Gleich würden sie mit Alexander aus dem Gebäude kommen. Die Trage ins Innere des Krankenwagens schieben, die Türen schließen. Ihn fortnehmen.
„Der Erkennungsdienst ist schon informiert.“
Ulf Steiner stand im Türrahmen und streifte die Latexhandschuhe von den Händen. „Also die Spurensicherung.“
Sie nickte, suchte in dem scharfkantigen, schmalen Gesicht nach einer Gefühlsregung. Nichts, keine Spur von Empathie. Ihre Blicke huschten über sein grauschwarz meliertes Haar und die glatt rasierten Wangen.
„Ich habe keine Ahnung, was passiert ist. Als ich kam, lag mein Kollege schon so da.“
Jona spürte, wie ihr Kreislauf absackte. Sie bot Steiner einen Espresso an, doch der schüttelte den Kopf. Wie ihr Kollege denn heiße, fragte er sie, und warum er nicht auf dem Praxisschild stehe.
„Das ist meine Praxis“, erklärte sie, „seit dreieinhalb Jahren. Alexander ist mein Angestellter. Alexander Tesch.“
Sie füllte den Wassertank der Kaffeemaschine und verspürte das Verlangen, ihren Kopf unter den kalten Wasserstrahl zu halten. Ungefragt schickte sie die Erklärung hinterher, dass ihr Terminkalender aus allen Nähten platze und sie Alexander, weil er noch keine eigene Kassenzulassung besitze, als Honorarkraft eingestellt habe.
„Wann war das?“
„Eigentlich erst Anfang des Jahres, aber gefühlt ist er schon ewig hier.“
„Ein gutes Arbeitsverhältnis also.“
„Perfekt.“
„Wie schön. Ist das Ihrer?“ Steiner deutete auf den Motorradkalender an der Wand.
„Seiner. Und nur so nebenbei: Wir haben kein einziges Mal gestritten. Ich habe nie auch nur ein lautes Wort von ihm gehört.“ Das Päckchen mit dem Espresso entglitt ihren Fingern. Jona starrte auf den von dunklen Kaffeebohnen übersäten Küchenboden. Hatte sie überhaupt je etwas aus dem Nebenzimmer mitbekommen?
„Alexander war beliebt.“
„Sie duzen sich.“
„Macht mich das verdächtig?“
„Sie denken also an Fremdeinwirkung?“
Jona atmete hörbar aus. „Sein Kopf lag in einer Blutlache. Das passiert doch nicht, wenn man stolpert oder ohnmächtig wird.“
Der Kommissar lehnte wieder am Türrahmen. Er blickte freundlich, als er sie fragte, ob sie ein Verhältnis mit ihrem Kollegen habe.
„Wie bitte?“
„Ich habe mich nur gefragt, ob es unter Therapeuten üblich ist, nachts zusammenzuarbeiten.“
Fester als nötig stellte Jona die Tasse auf den Rost und sah zu, wie auf Knopfdruck die dampfende Flüssigkeit hineinfloss.
„Ich wollte nur die Ansage meines Anrufbeantworters ändern. Ab morgen habe ich zwei Wochen Urlaub. Dass Alexander auch da war, ist reiner Zufall.“
Sie zögerte einen Moment, bevor sie angab, dass ihr die Nachtarbeit ihres Kollegen seltsam vorgekommen sei und sie deshalb nachgeschaut habe. „Hören Sie, privat kennen wir uns kaum. Wir waren nur einmal zusammen etwas trinken. Mein Kollege arbeitet eigenständig. Ich musste bisher nie nachfragen oder eingreifen.“
„Was wissen Sie über seine Patienten?“
„Alles, was wichtig ist.“
Wichtig! Wie sollte man das immer entscheiden, wenn man Tag für Tag Lebenskrisen anderer verhandelte. Da gab es nichts Unwichtiges. Alexander würde ihr das Wesentliche schon mitgeteilt haben.
Der Espresso, den sie in einem Zug trank, schmeckte bitter. Erst die Sätze, die sich nun von selbst aneinanderreihten und das flexible, vernetzte Nebeneinander ihrer Zusammenarbeit beschrieben, gaben ihr wieder Sicherheit. Und es war ja nicht gelogen, dass sie sich mit Alexander jeden Montagmorgen in der Teamsitzung über den Therapieverlauf von Patienten austauschte.
„So eine Art Supervision“, hörte sie sich sagen, während ihr die gehemmte Frau einfiel, über deren extreme Spinnenphobie Alexander letzte Woche geredet hatte. Und der Lehrer mit seinen Panikattacken. Ein paar von den Patienten würde sie vertretungsweise übernehmen müssen.
„Kommt es vor, dass Patienten aggressiv werden? Es gibt keine Einbruchsspuren. Das legt nahe…“
„…tut es nicht. Hier klingeln öfter fremde Menschen. Letzte Woche stand ein Patient der HNO-Praxis vor meiner Tür, gestern Morgen die Zeugen Jehovas.“
„Gut. Ihr Kollege könnte also jedem geöffnet haben. Wir warten erstmal ab, bis er wieder zu sich kommt. Noch etwas. Wir haben bei ihm weder Tasche noch Jacke gefunden. Dass jemand ohne Mobiltelefon oder Portemonnaie aus dem Haus geht, wäre ungewöhnlich.“
„Klingt nach Raubüberfall.“
„Möglich.“ Ulf Steiner sah sie prüfend an. „Wie gesagt. Vielleicht löst sich vieles von selbst. Wen sollen wir benachrichtigen?“
„Keine Ahnung. Ich weiß noch nicht mal, ob er alleine wohnt“, sagte sie und fuhr zusammen, als die Türklingel schrillte.
Kurze Zeit später taten zwei Männer von der Spurensicherung ihre Arbeit, und Steiner bat sie um die Adresse ihres Kollegen. Ihren Vorschlag, gleich zur Wohnung ihres Kollegen zu fahren, lehnte er ab. Das werde frühestens am Nachmittag des folgenden Tages in Erwägung gezogen. Doch seine Worte vernahm Jona bereits wie aus weiter Ferne. Wie sollte sie jetzt Sitzungen halten, ohne in jedem Patienten einen Verdächtigen zu sehen? Steiners Frage nach einer Videokamera im Haus hatte sie auch verneinen müssen, und für Alexanders Handynummer im Adressspeicher ihres eigenen nachgesehen.
„Er hat mal was von einer abgelaufenen Prepaidkarte gesagt.“
„Ein Prepaidhandy, als Therapeut?“
Sie zuckte die Achseln und bermerkte im gleichen Moment, wie einer von Steiners Kollegen Fotos im Zimmer ihres Mitarbeiters schoss.
Kurz darauf stand sie mit Ulf Steiner in der Sommernacht. Die Wärme, die sich wie ein Tuch auf ihre Haut legte, fühlte sich unwirklich an. Ebenso unwirklich wie die Tatsache, dass in ihrer Praxis Kriminalisten nach verdächtigen Spuren suchten und später, wie er ihr erklärt hatte, die Tür zu Alexanders Zimmer versiegeln würden. Die Welt stand still. Unbewegt reckten die Platanen ihre Blätterarme in den Himmel.
„Sie sollten heute nicht alleine bleiben. Haben Sie jemanden, zu dem Sie gehen können?
„Ich bin okay.“
Jona starrte auf die geöffnete Schachtel Nelkenzigaretten, die ihr der Kommissar entgegenhielt und lächelte zum ersten Mal. Schweigend rauchten sie und sahen zur Bronzeskulptur, die in der Mitte der Fußgängerzone stand. Goliaths abgeschlagenes Haupt, auf dem der siegesgewisse David saß. Jona folgte dem Blick der Bronzefigur und sah direkt in die erleuchteten Fenstervierecke ihrer Praxis.
„Morgen werde ich in Ruhe die Patientenakten durchsehen. Ich rufe Sie an, wenn mir etwas auffällt.“
Statt einer Antwort reichte der Kommissar ihr seine Visitenkarte, bevor er seine Zigarette mit dem Schuh ausdrückte, auflas und in den nebenstehenden Papierkorb warf.
„Bitte bleiben Sie für uns erreichbar. Soll ich Sie irgendwo hinfahren?“
„Ich komme schon zurecht. Danke.“ Jona sah der aufrechten Gestalt des Kommissars nach, bis er hinter einer Gruppe Jugendlicher aus ihrem Blickfeld geriet.
Sie kam schon zurecht. Wie oft hatte sie diesen Satz in ihrem Leben von sich gegeben und ihm Genüge getan, bis heute.
Sie überquerte die Fußgängerzone und hob kurz die Hand, als sie einen an seinem Wagen lehnenden Taxifahrer als Rons Kollegen identifizierte. Während sie in ihrer Tasche nach dem Handy suchte, wusste sie bereits, dass es falsch war, Ron darum zu bitten, seine Nachtschicht zu beenden und zu ihr zu kommen.
Auch die vertraute Umgebung ihrer Wohnung und die Stille darin beruhigten sie nicht. Sie legte sich auf ihren Futon und starrte in das Halbdunkel ihres Zimmers. Drei Kilometer Luftlinie entfernt auf der Intensivstation kämpfte Alexander vermutlich gegen den Tod an. Konnte man spüren, ob jemand noch lebte? Wieder tauchte das blasse Gesicht des Bewusstlosen vor ihr auf, doch der Anblick entglitt ihr, bevor sie ihn fassen konnte. Stattdessen sah sie die unergründliche Miene des Kommissars vor sich. Es war logisch, dass er seine Schlussfolgerungen zog. Was sollte er auch denken, wenn sich zwei Menschen nachts gemeinsam an ihrem Arbeitsplatz aufhielten, einer von beiden bewusstlos geschlagen wurde, keine Spuren eines Einbruchs festzustellen waren und eine halb leere Flasche Gin am Ort des Geschehens stand.
Ihr Blick tastete durchs Halbdunkel und blieb auf dem Umriss einer Weinflasche liegen. Hatte sie nach Alkohol gerochen? Wieder hörte sie Ulf Steiners harmlos klingende Frage nach einem Liebesverhältnis zwischen Alexander und ihr. Warum hatte sie nicht sachlich darauf antworten können, warum nicht emotional beherrscht wie täglich bei ihrer Arbeit? Stattdessen waren ihre Worte wie giftige Pfeile durch die Luft geschnellt. Viel zu schroff. Und unkontrolliert. Wie immer, wenn sie Rede und Antwort stehen sollte.
Ihr Atem wurde schwer. Sie war 14 gewesen, als sie den Glauben an ihre Unverwundbarkeit verloren hatte, und mit ihm einen Menschen. Franky. Wieder sah sie die ungläubigen Augen des Spielkameraden aus ihrer Kindheit vor sich, spürte seine Angst, dann ihre Wut, ihre unbändige Wut auf die anderen und die Ohnmacht, vor und nach den Elternverhören, in denen sie sich verteidigt hatte, Rede und Antwort.
Sie warf sich zur Seite und versuchte, ihre Gedanken wieder auf Ulf Steiner zu konzentrieren. War er ihr beim Rauchen nicht plötzlich sympathisch gewesen? Im Geiste ging sie ihr Gespräch durch. Noch während sie darüber nachdachte, warum er alleine, ohne Kollegen gekommen war und ob die gemeinsame Zigarette zu seinen Ermittlungsmethoden gehörte, sank sie in einen erschöpften Schlaf.
Ein Hupkonzert vor dem Fenster riss sie am nächsten Morgen aus ihren Träumen. Nur zeitverzögert kam die Erinnerung an die gestrige Nacht zurück. Jona sprang aus dem Bett, schöpfte sich im Bad kaltes Wasser ins Gesicht und atmete tief durch, bevor sie die Nummer des Krankenhauses wählte. Doch Auskünfte gab es telefonisch nicht und ohnehin nur für Angehörige, wie die sachliche Frauenstimme am anderen Ende der Leitung sie belehrte. Als ob sie das nicht wüsste. Ohne einen Kaffee zu trinken, verließ sie die Wohnung.
Eineinhalb Stunden später parkte sie ihren Roller an der Hauptwache. Passanten liefen über die Zeil, Brötchen und Pappbecher mit Kaffee in der Hand, als sei dies ein ganz normaler Morgen. Dabei war sie gerade einem Albtraum entronnen. Über die Gegensprechanlage der Intensivstation hatte sie sich als Alexanders Schwester ausgegeben und die Intensivschwester, die ihr öffnete, so selbstverständlich und mit einer Mischung aus Aufgeregtheit und Besorgnis um ein Gespräch gebeten, dass diese nicht nach ihrem Personalausweis gefragt hatte. Auch den Arzt hatte sie ausfindig gemacht. Schädelbasisfraktur, hatte er diagnostiziert und ihr damit in nüchternen Worten zu verstehen gegeben, dass Alexander zwischen Leben und Tod schwebte. Ihr Gespräch am Türrahmen des Schwesternzimmers hatte genau zwei Minuten gedauert. Der Stationsarzt hatte ihr beim Abschied versprochen, sie bei Neuigkeiten anzurufen. Sie. Die jetzt als Alexanders Schwester galt.
Sie blickte über die Reihe der Stahlbügel, die spätestens in einer Stunde von Fahrrädern verstellt sein würden. Ihre Schritte wurden langsamer, je näher sie dem Bürogebäude kam. Zögernd trat sie durch den Eingang und spähte in der zweiten Etage durch die Glastür, die das Treppenhaus vom Flur trennte. Während sie den Schlüssel ins Schloss schob, blickte das kreisrunde Auge des Spions sie an. Hatte Alexander vielleicht doch gewusst, wem er öffnete?
Vom Türrahmen aus ließ sie den Anblick der Praxis auf sich wirken. Die schräg einfallenden Strahlen der Morgensonne tauchten Warteraum und Flur in ein freundliches Licht. An der Wand oberhalb der Stuhlreihe hingen das Wüsten- und das Dschungelaquarell, dazwischen reckte der üppig gediehene Drachenbaum seine Blätter in die Höhe. Zeitschriften, Informationsbroschüren, alles lag an seinem Platz. Auch Alexanders Adressregister fand sich in seinem Fach im Flurschrank, der keine Spuren eines Einbruchs aufwies. Sie schnappte sich den Kasten mit den Adressen und zwang sich, das Versiegelungstape an Alexanders Tür zu ignorieren, während sie zu ihrem Sprechzimmer am Ende des Flures durchging.
An ihrem Schreibtisch überflog sie die Namen der Patienten, die sie gestern in Steiners Beisein aus dem Terminkalender abgeschrieben hatte und sortierte nach Dringlichkeit, wem sie die Sitzung absagen musste. Von den meisten kannte sie nur Eckdaten, die Diagnose und einzelne Problemstellungen. Sollte sie Alexanders Patienten übernehmen, musste sie sich einarbeiten. Seufzend griff sie zum Hörer. Die erste war Melissa Raike, die Studentin mit der Spinnenphobie. Im Geiste wiederholte Jona noch einmal die zurechtgelegten Sätze, während sie die Nummer wählte. Ein automatisches Band bat um Hinterlassung einer Nachricht. In knappen, freundlichen Worten entschuldigte Jona ihren Mitarbeiter, der krankheitsbedingt bis auf Weiteres die Termine absagen müsse und sich bei den Patienten melden würde, sobald er wieder gesund sei. Für den Übergang oder Notfall gab sie ihre eigene Durchwahl an, dann legte sie auf und atmete tief durch. Das Flattern in ihrer Stimme hatte sich nach den ersten Worten gelegt. Sie fischte aus dem Durcheinander ihrer Schreibtischschublade ein Päckchen Nelkenzigaretten. Seltsam, dass der Kommissar die gleiche Marke rauchte. Sie schob den Gedanken an Ulf Steiner beiseite und beschloss, sich erst eine Zigarette zu genehmigen, wenn alle Patienten der laufenden Woche Bescheid wussten. Ihre nächste Absage landete auf der Mailbox eines Handys. Die gleiche Lüge, das gleiche Bedauern. Mit jedem neuen Telefonat kamen ihr die Worte glaubhafter über die Lippen, bis schließlich hinter nahezu allen Namen ein Haken stand. Nur eine Patientin ließ sich weder direkt noch über Anrufbeantworter erreichen: Anna Sturm. Ihr Termin war auf den heutigen Tag elf Uhr datiert, Zeit genug, um die Vollständigkeit der Patientenakten zu überprüfen. Außerdem musste sie unbedingt das Tape verdecken, mit dem Alexanders Tür von der Polizei versiegelt worden war. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie noch nie eigenmächtig an seine Unterlagen gegangen war.
Nachdenklich öffnete Jona das Fenster, um eine Zigarette zu rauchen und hielt in der Bewegung inne, als sie begriff, was ihr Sichtfeld gestreift hatte.
Dem Kommissar war es nicht in den Sinn gekommen, ihr Sprechzimmer zu inspizieren, und auch die Männer von der Spurensicherung schienen sich ausschließlich auf den Tatort konzentriert zu haben. Oder hatten sie das marineblaue Jackett, das über Lehne des hinteren Ledersessels hing, für einen Blazer von ihr selbst gehalten? Als sie es in die Hände nahm, drang ein feiner Duft in ihre Nase. Egoist. Gerade letzte Woche hatte sie Alexander nach dem Namen seines Parfums gefragt. Was hatte sein Jackett hier zu suchen?
Während sie sich fragte, ob sie es überhaupt anfassen durfte, schüttelte sie es bereits vorsichtig und vernahm ein Klimpern. Wie von selbst glitten ihre Finger in die Tiefen der Brusttasche und ertasteten einen schweren Schlüsselbund, den sie an einem Harley-Davidson-Anhänger herauszog. Neun Schlüssel. Im Geiste ordnete sie sie ihrer Bestimmung zu, Wohnung, Praxis, Motorrad und betrachtete ratlos drei flache Schlüssel an einem Extraring. Vielleicht hatte Alexander doch eine Freundin. Sie musste Ulf Steiner benachrichtigen. Mit einem leisen Klimpern glitt der Schlüsselbund in die Brusttasche des Jacketts zurück. In der anderen fand sich ein wenig Münzgeld und ein kleines, digitales Diktafon. Alexander konnte länger in der Praxis geblieben sein, um noch in Ruhe die nach der Sitzung aufgesprochenen Berichte in die Akten zu übertragen. Sie würde den Kommissar bitten, dabei sein zu dürfen, wenn es abgehört wurde. Aber erst einmal musste sie das Gespräch mit Anna Sturm führen. Unentschlossen sah sie sich im Zimmer um und nahm das Jackett schließlich mit in die Küche, wo sie es von innen an die Türklinke hängte. Mit einer Regenjacke, die zusammengefaltet im Flurschrank lag, verdeckte sie das Versiegelungstape an der Tür ihres Kollegen. Zurück im Sprechzimmer legte sie eine Liste der Patienten an, zu denen eine Akte existieren musste. Als sie beim Buchstaben „D“ des Adressregisters angelangt war, schrillte es an der Tür in einer Weise, die keinen Aufschub zu dulden schien. Mit klammen Fingern legte Jona den Stift beiseite und betätigte den Summer.
2 Krank?“
Anna Sturm riss sich die Stöpsel des MP3-Players aus den Ohren. Instinktiv trat Jona einen Schritt zurück und betrachtete die junge Frau mit den schwarz gefärbten Haaren, die sie entgeistert anstarrte.
Ihr Mund war grellrot geschminkt, die Augenlider mit Kohlestift nachgezeichnet, und seit sie in den Praxisflur getreten war, durchdrang ein herbes Parfum die Luft.
„Sollen Sie mir was ausrichten?“
„Ich wüsste nicht, was.“
Verdutzt sah Jona, wie die Frau im schwarzen Minirock sich an ihr vorbeidrückte und auf die Zimmertüre ihres Mitarbeiters zusteuerte. Gerade noch rechtzeitig konnte sie sie am Arm packen und davon abhalten, die Klinke hinunterzudrücken.
„Lassen Sie mich los, ich…“
Die junge Frau verstummte. Jona löste den Griff um ihren Arm.
„Möchten Sie vielleicht einen Kaffee?“
„Nein.“ Anna Sturm zögerte. Während sie in ihrer Handtasche nach etwas suchte, erhaschte Jona einen Blick auf die Unterseite ihres Armes, über die sich feine, rötliche Narben zogen.
„Bitte geben Sie ihm das.“ Auf dem Stück Papier, das Anna Sturm ihr reichte, stand eine mit Bleistift gekritzelte Telefonnummer.
Verwirrt sah Jona der jungen Patientin nach. Bisher hatte sie immer in sich gekehrt auf einem der Stühle gesessen und auf den Beginn ihrer Therapiestunde bei Alexander gewartet. Wie kam sie darauf, dass er nicht krank, sondern in seinem Zimmer war und sich verleugnen ließ? Anna Sturm litt, so viel wusste Jona, unter einer Borderline-Persönlichkeitsstörung, die auch von starkem Misstrauen gekennzeichnet sein konnte, aber in der montäglichen Teamsitzung hatte Alexander von positiven Veränderungen geredet. Vielleicht war er mit Borderline-Patienten überfordert. Jona blieb vor dem Flurschrank stehen, während ihr das ewige „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“ ihrer Mutter durch den Kopf ging. Erst der Gedanke, dass sie als Alexanders Arbeitgeberin auch Fallbeauftragte war und die volle Verantwortung für alle Kassenpatienten, auch für diese Frau, trug, ließ sie die unverschlossene Schublade ihres Kollegen öffnen.
Die Akte der jungen Frau lag zuoberst. Eine dünne Mappe. Jona blätterte im Stehen die Papiere durch. Therapievertrag, Bewilligungsschreiben der Krankenkasse, ein Klinikbericht, den Alexander ihr damals zusammengefasst hatte, die Diagnose der Persönlichkeitsstörung. Sie überflog den Bericht: Übergriffe in der Kindheit, Heimaufenthalt, Selbstverletzungen, wechselnde Beziehungen und Jobs, derzeit in einem Bistro im Nordend.
Die von Alexander erhobene Anamnese las sich dagegen ungewöhnlich lapidar und aussagelos und umfasste gerade die nötige Länge, um von der Krankenkasse akzeptiert zu werden. Auf eine Erfassung der Familienverhältnisse hatte er verzichtet, dafür lagen massenhaft ABC-Formulare darin, mit deren Hilfe man lernen sollte, negative Gedanken zu erkennen und zu ersetzen. Jonas Augen huschten über die steile, eng gedrängte Schrift, in der die Notizen zu allen bisherigen Sitzungen abgefasst waren. Die stichpunktartigen Beschreibungen der Stunde umfassten nur Erzählungen der Patientin. Keine Analyse, kein Therapieverlauf, keine Techniken, die er angewendet hatte. Nichts von dem, was sie in der gemeinsamen Teamsitzung besprochen hatten. Die beiden schienen gleich von der ersten Stunde an über Annas Gefühl der Leere geredet zu haben, über ihre Sucht nach Alkohol, Drogen und nach Nähe. Jona stockte, las sich den Satz, den ihr Kollege Alexander als Zitat markiert hatte, laut vor. „Wenn ich in diesen Sog gerate, gehe ich raus und reiße jemanden auf. Ich brauche das.“ Die Eintragung war auf den 9. Mai datiert, danach gab es nur noch wenige Notizen. Jona ging den dünnen Stapel Blätter noch einmal durch. An den Rand der dritten Seite war mit Bleistift eine Webadresse gekritzelt. Eine Vorahnung erfasste sie, während sie die Adresse ins Netz eingab, und Sekunden später die Homepage der Leguanbar auf dem Monitor erschien. Vor zwei Jahren war sie mit Freundinnen in der Bar gewesen und hatte sich damals über die Pärchen amüsiert, die bei gedämpftem Licht in Nischen mit schwarz gepolsterten Lederbänken knutschten. Dass Anna Sturm versucht hatte, Alexander in diese Bar zu lotsen, schien nicht abwegig. Gerade vor fünf Minuten hatte die junge Frau sich an ihr vorbeigedrängt, um ihn zu Gesicht zu bekommen. Die Frage war, ob Alexander sich darauf eingelassen hatte. Immerhin stand die Adresse der Leguanbar in seinen Notizen. Außerdem fehlte die Dokumentation der letzten zwei Monate. Jona schlug die Akte zu und starrte auf die Maserung der Ledermappe. Dieser Idiot.
Sie zog die Visitenkarte des Kommissars aus der Tasche, wählte seine Nummer und legte auf, bevor das Freizeichen ertönte. Wenn Alexander aus dem Koma erwachte, bevor intensivere Ermittlungen eingeleitet wurden, konnten sie die Sache vielleicht unter sich klären. Bislang war ihr Verdacht reine Spekulation. Außerdem ging es der Polizei schließlich um den Überfall, nicht um unprofessionelles Verhalten. Abwarten, hatte Ulf Steiner selbst gesagt. Sie schloss Anna Sturms Patientenakte in ihre Schreibtischschublade ein und verließ die Praxis.
Einer der Stehtische vor ihrem Lieblingsbistro war noch frei. Sie bestellte Espresso und verfolgte das Treiben in der Fußgängerzone, während sie gegen aufsteigende Bilder ankämpfte, Gesprächsfetzen, Erinnerungen an ihre letzte Teamsitzung, die suggestiven Fragen des Kommissars. Erst nach dem dritten Espresso begann sich eine gewisse Ordnung in ihrem Kopf einzustellen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite lehnte ein Taxifahrer an seinem Wagen und rauchte, während sich sein Blick an zwei vorbeilaufenden langhaarigen Frauen heftete.
Männer reagierten eben, würde Ron sagen und ihre Erwiderung, der Beruf eines Therapeuten verlange Distanz, mit einem Schulterzucken quittieren. Sie wandte ihren Blick von dem Taxifahrer und fragte sich, ob sie sich wirklich so in Alexander getäuscht hatte. Die junge Frau war regelrecht aus der Praxis geflüchtet. Warum? Was war so ungewöhnlich daran, dass jemand erkrankte? Oder wusste sie, dass es nicht stimmte? Dann war sie in die Geschichte verwickelt.
Jona lieh sich von der Bedienung hinter dem Tresen Zettel und Stift und schrieb Alexanders Namen in die Mitte des Papieres. Übergriff, fiel ihr als Erstes ein. Sie setzte den Begriff neben den Namen ihres Kollegen und malte ein Fragezeichen dahinter. Ergänzte ihn durch den Zusatz „sexueller Übergriff“. Wieder mit Fragezeichen. Ihre Finger umklammerten den Bleistift, während wie von selbst das Wort „Enttäuschung“ auf dem Papier erschien.
Sie starrte darauf und konzentrierte sich auf ihre eigene Enttäuschung. Auf ihr Misstrauen, das seine mangelhaft geführten Notizen in ihr hervorriefen. Anna Sturms Mappe war ein Zufallstreffer gewesen, dazu die erste seiner Akten, in die sie überhaupt einen Blick geworfen hatte. Der nächste Gedanke schlug wie ein Blitz ein und erhellte ein Szenario, das ihr für einen Moment den Atem nahm. Sie warf einen Zehn-Euro-Schein und den geliehenen Stift auf die Bistrotheke und eilte über die Zeil.
In ihrer Praxis zerrte sie den Stapel brauner Ledermappen aus dem Flurschrank und klappte nach kurzem Zögern die von Melissa Raike auf. Auch sie war laut der Notizen vorbehaltlos in die Therapie eingestiegen. Vor zwei Wochen hatte es eine Expositionsübung wegen ihrer Spinnenphobie im Zoo geben sollen, im Exotarium. Der Bericht darüber fehlte, vermutlich war der Termin verschoben worden, nichts Ungewöhnliches. Wie oft sagten Patienten die praktischen Übungen mit den Therapeuten ab. Er hätte ihr das dennoch mitteilen müssen. Aber war sie nicht froh gewesen, dass er so selbstständig arbeitete und sie sich auf ihre eigenen Patienten konzentrieren konnte?
Der Anflug eines Schuldgefühls überkam sie, während sie in der nächsten Akte die Anamnese eines 29-jährigen Werbetexters las, dessen verzweifelter Wunsch es war, seine junge Frau und ihr gemeinsames Baby nicht durch seine Spielsucht in den Ruin zu stürzen. Blatt für Blatt durchsuchte sie die Notizen nach Auffälligkeiten oder Anzeichen einer möglichen Grenzüberschreitung, bis ihr Blick an einem nachträglich mit Bleistift notierten Kürzel hängen blieb. „Sp“ stand dort, wo gewöhnlich die ICD10-Klassifikation, die Diagnose, stand. Diese Abkürzung gab es in den Richtlinien nicht. Irritiert blätterte sie weiter. Schon seit Anfang Februar therapierte Alexander Florian Moser, dessen Sucht sich schwer in den Griff kriegen ließ. Sie erinnerte sich, dass sie ihren Kollegen Anfang Mai in einer Teamsitzung gebeten hatte, den Patienten eindringlich zu einer multimodalen Psychotherapie zu raten und ihm nahezulegen, sich jetzt endlich mit den Anonymen Spielsüchtigen in Verbindung zu setzen. Hier stand nichts davon. Überhaupt war in den Teamsitzungen seither kein Wort mehr über Florian Moser gefallen. Warum, verdammt, hatte sie nicht nachgehakt.
Und was war das?
Jona zog einen Computerausdruck von Wikipedia aus dem Papierstoß.
„Pathologisches Spielen“ stand über dem mehrseitigen Artikel, der stellenweise mit Marker angestrichen war.
Ein Blatt fiel heraus und glitt zu Boden. „Exposition“ lautete das einzige Wort, das, wie Jona am Datum erkannte, letzte Woche geschrieben worden war. Der dazugehörige Termin wäre am gestrigen Abend gewesen. Du meine Güte, flüsterte sie und trug die Patientenakten in ihr Arbeitszimmer.
Eine halbe Stunde später riss sie das Fenster auf und ließ das Nikotin der Zigarette tief in ihre Lungen strömen. Das sonst so süße Nelkenaroma auf ihren Lippen schmeckte bitter.
Wenn sie an Alexanders unpassende Aufheiterungsversuche einer Patientin gegenüber dachte, die anscheinend jede Sitzung über Suizidgedanken gesprochen hatte, wurde ihr ganz anders. Sie hatte sich sofort eine Notiz gemacht, dass sie mit der Frau über eine stationäre Einweisung reden musste. Zwischen zwei Blättern einer anderen Akte hatte sie eine Google-Recherche über einen jungen Patienten gefunden, der an Depressionen litt. Das Wort „Facebook“ dahinter war eingekreist und legte den Verdacht nahe, dass ihr Kollege mit dem depressiven Patienten über eine soziale Plattform kommunizierte, vielleicht sogar anonym. Ihr war schwindlig. Was waren das für Berechnungen in der Akte von Celia Rumpf? Sie glichen einer Kalkulation. Einem Patienten hatte er geraten, seiner schüchternen Seite einen diffamierenden Spitznamen zu geben, sich vor den Spiegel zu stellen und den Namen so oft zu wiederholen, bis er seine Bedeutung verlor. Entweder hatte Alexander keine Ahnung, dass er Grenzen überschritt oder er spielte ein Spiel. Ein Spiel, in dem jemand womöglich die Regeln neu definiert und sich gerächt hatte.
Jonas Nacken versteifte.
Auf dem Schreibtisch lagen drei Akten, die ihr besonders bedenklich erschienen. Sie hatte keine Ahnung, wie sie mit den Patienten reden sollte, ohne zugeben zu müssen, dass etwas gewaltig falsch gelaufen war. Aber auch die Wahrheit war riskant. Wer sagte ihr, dass sie damit nicht einen der labileren Patienten in die Krise stürzte? Sie war Therapeutin, keine verdammte Wahrsagerin. Der Rauch ihrer Zigarette wehte in Richtung der Platanen. Wie eine Armee reihten sich die Bäume entlang der Fußgängerzone, eine Armee vor den Glasfassaden der Kaufhäuser. Seit Jahren fluchte sie über die ständigen Veränderungen der Einkaufsmeile. Bäume raus, Bäume rein, hier ein neues Inselbistro, dort ein architektonisches Meisterwerk. Schräg gegenüber ihrer Praxis klaffte seit Wochen ein tiefes Loch im Erdreich und entblößte Metallleitungen. Die Zeil war eine ewige Baustelle. Doch jetzt, da ihre Praxis in Gefahr war, kam sie ihr vor wie ein Stück Heimat.
Bernhard Jung fiel ihr ein. Er arbeitete bei der Kassenärztlichen Vereinigung. Er mochte sie, aber im Falle von fahrlässigem Verhalten konnte er wahrscheinlich nichts für sie tun. Sie hatte ja noch nicht einmal Supervision nachzuweisen. Und wenn in Fachkreisen erst die Runde machte, was hier vor sich ging, konnte sie ihre Praxis schließen. Blind hatte sie einem Dilettanten vertraut und Patienten, die ihre Hilfe gesucht hatten, bedingungslos in seine Obhut gegeben. Wenn das nicht fahrlässig war. Ihre Bluse klebte am Rücken. Sie brauchte Luft. Während sie ihren Kopf weit aus dem Fenster streckte, wurde ihr bewusst, dass auch alle Patienten, die privat zahlten und die Alexander betreute, in ihrer Verantwortung lagen. Schließlich hatte sie ihn eingestellt. Und wenn sie sämtliche Fälle übernahm und versuchte, die Therapie auf den richtigen Weg zurückzuführen? Unauffällig und professionell.
Unten breitete ein junger Mann mit Pferdeschwanz eine Decke über das Kopfsteinpflaster und dekorierte sie mit Metalltieren, während sie gerade dabei war, das größte Versprechen zu brechen, dass sie sich je gegeben hatte: Nie einen Menschen absichtlich zu manipulieren und bei der Wahrheit zu bleiben, koste es, was es wolle.
Wie gelähmt saß sie am Fenster und spürte, wie ihr mit der Aufmerksamkeit auch die Kraft entglitt, den Gedanken, dem sie sich seit geraumer Zeit verschlossen hatte, weiter von sich zu schieben. Die Frage, ob in diesem Fall Verschweigen gleichbedeutend mit Lügen war. Ihr Freund Ron würde das verneinen. Im Geiste hörte sie seine klugen, in sich logischen Ausführungen. Er lebte in einem anderen Universum als sie. Manchmal war er ihr so fremd wie ein Außerirdischer, der die Dinge von seinem galaktischen Blickwinkel aus betrachtete und dabei zu niederschmetternd wahren Einsichten kam. Sie musste ihm endlich alles erzählen. Seufzend drückte sie den Zigarettenstummel am Fenstersims aus und sah zu der Bronzeskulptur des David und Goliath hinüber, auf deren Spitze gerade eine Taube landete. Gestern Nacht hatte ihr der Kommissar dort unten seine Visitenkarte gereicht und sie um Mithilfe gebeten. Doch wenn sie ihm gestand, dass sie allem Anschein nach einem Hochstapler vertraut und ihre Pflichten als fallverantwortliche Therapeutin vernachlässigt hatte, würde sich das wie ein Lauffeuer auch in Therapeutenkreisen ausbreiten. Einen Ermittler konnte sie schlecht um Geheimhaltung bitten. Mit klammen Fingern schloss sie das Fenster, räumte die Akten in den Flurschrank zurück und ging in die Küche, um ein Glas Wasser zu trinken.
Als sie das blaue Jackett an der Türklinke hängen sah, fiel ihr das Diktafon wieder ein. Zwei Minuten später hielt sie das Aufnahmegerät in ihren Händen. Es war flach und silbern und gab keine Informationen preis. Welchen Knopf sie auch drückte, die kleine Null auf dem Display zeigte an, dass sämtliche Datenspeicher leer waren.
Enttäuscht ließ sie es in die Tasche zurückgleiten und vernahm im gleichen Moment das Klimpern des Schlüssels aus der Brusttasche. Es dauerte mehrere Augenblicke, bis sie wusste, was zu tun war.
Der Sachsenhäuser Berg lag in mittäglicher Stille, nur das Raunen der Flugzeuge, die ihre Schleifen über dem Wohngebiet zogen, störte den Frieden. Über dem Hang lag der Malzgeruch der nahegelegenen Binding-Brauerei, der an windstillen Tagen so intensiv war, dass er selbst den süßen Duft der Lindenbäume überdeckte. Jona atmete ihn tief ein, während sie ihre Vespa im Schutz einer Einfahrt parkte, um die letzten 200 Meter zu Fuß zurückzulegen.
Das letzte Mal war sie hier gewesen, als ihre Tante auf dem Südfriedhof begraben worden war. Die Beerdigung lag zehn Jahre zurück. Damals hatte sie den Eindruck eines stillen, noblen Villenviertels gehabt, doch davon war nur noch wenig zu sehen. Staunend lief Jona an einheitlichen Wohnblöcken einer Neubausiedlung vorbei, die sich entlang des Grethenwegs reihten. Wie Schubladen aus Glas ragten die rechteckigen Balkone über die Vorgärten hinaus, präsentierten eine Landschaft aus Terrakottatöpfen, gediegenen Gartenmöbeln und Dreirädern. Spießerhochburg, dachte sie und fragte sich, was ihrem Mitarbeiter an dieser Gegend gefallen mochte.
Sie würde fragen. Wenn es denn zu einem Gespräch zwischen ihnen käme und sie nicht doch die Kripo aufklären musste. Aber noch waren es nur Verdachtsmomente, die sich auch anders erklären ließen. Vielleicht war Alexander ja doch der Mann, den sie zu kennen glaubte, und die unerklärlichen Notizen waren eine Kette von Missverständnissen und Irrtümern. Träum weiter, hörte sie Ron in Gedanken sagen und ballte ihre rechte Hand zur Faust, bis die Metallzacken des Schlüsselbundes in ihren Handteller schnitten. In jedem Fall sollte sie sichergehen, bevor er aus dem Krankenhaus entlassen würde und mögliche Hinweise verschwinden lassen konnte. Das war sie ihren Patienten schuldig. Und was, wenn er sterben würde? Der Gedanke war unvorstellbar. Im Geiste sah sie Alexander lachend auf seiner Harley-Davidson sitzen. Die Maschine stand am Bordsteinrand. Gewöhnlich kam er mit seinem Motorrad zur Arbeit, aber vielleicht war er ja gemeinsam mit jemandem in die Praxis gefahren. Um dort was zu tun? Bei dem Gedanken an sein Jackett, das sie in ihrem Zimmer gefunden hatte, beschleunigte sie ihre Schritte. Die Hausnummer, nach der sie suchte, gehörte zu dem Gebäude auf der anderen Straßenseite, einem zurückgesetzten Haus mit Granitfassade. Während sie sich nach möglichen Zeugen umsah, öffnete sich die Haustür. Entgeistert fixierte Jona die vertraute Gestalt, die heraustrat, und konnte sich gerade noch rechtzeitig hinter einem parkenden Wagen verstecken.
3 Im Schritttempo fuhr der Müllwagen die Straße hinauf. Zwei Männer sprangen vom Trittbrett und rollten die Tonnen an den Straßenrand. Während sie an der Klappe kopfüber entleert wurden, wehte ein fauliger Geruch durch die Luft. Fluchend drückte Jona ihre Nase in die Armbeuge. Normalerweise entspannte sie sich in dem Café an der oberen Berger Straße, in dem manchmal eine Bedienung auf einem in die Hausfassade eingelassenen Bänkchen saß und rauchte, in dem man Pastis und Milchkaffee trank, Zeitung las und sich der Hektik des Alltags verweigerte. Aber heute Mittag fiel ihr die Entspannung schwer. Sie sah auf das Display ihres Handys. Noch immer kein Rückruf von Ron, dabei hatte sie ihn sowohl auf Band als auch per SMS wissen lassen, dass es dringend war. Sie winkte der Kellnerin und griff nach der Tasche, in der der fremde Schlüsselbund steckte. Der Schlüssel, das Tor zu Alexanders Welt, einer Welt, die immer bizarrer wurde. Erst letzten Montag hatten sie den Fall der rundlichen Patientin mit dem Pagenkopf diskutiert, und dann trat genau jene so selbstverständlich aus der Tür des Mehrfamilienhauses, in dem er wohnte, dass man hätte meinen können, sie besitze einen Schlüssel. Oder war sie seine Nachbarin? Ein Blick auf die Adresse in ihrer Akte würde Aufschluss geben.
Jona krallte ihre Hände in die Armlehne, bis der Schwindel nachließ.
Wenn sie die Sache nicht jetzt anging, dann nie. Aber was trieb sie wirklich dazu?
„Schadensbegrenzung“, murmelte sie und zog die Blicke des Nachbartisches auf sich, als sie energisch aufstand und dabei die Espressotasse vom Tisch fegte.
Zum zweiten Mal an diesem Tag lief sie den Sachsenhäuser Berg hinauf. Die Vespa hatte sie am Wendelsplatz vor einer Bäckerei abgestellt, nur für den Fall, dass Steiner oder einer seiner Kollegen schon am frühen Nachmittag nach Alexanders Wohnung schauen würden. Eine Kamera und Einweghandschuhe steckten in ihrer Umhängetasche. Statt ihres Pailletten-T-Shirts und der weißen Cordhose trug sie unauffällige Kleidung. Beim Aufsetzen der Baseballkappe hatte sich ein schiefes Lächeln in ihr Gesicht geschlichen, aber jetzt, kurz vor dem grauen Granitbau, ließ sich die forsche Haltung nur mühsam aufrechterhalten.
Alexander wohnte im Erdgeschoss, wie das Klingelschild verriet. Sie schellte. Während sie sich für etwaige Mitbewohner Worte zurechtlegte, huschte ihr Blick zum Fenster der Wohnung. Nichts. Erneut drückte sie die Klingel, wartete, fühlte, wie sie mit jeder verstreichenden Sekunde unruhiger wurde. Als sich nichts tat, verschaffte sie sich mit dem Schlüssel Zutritt. Im Treppenhaus war es still. Sie streifte die Latexhandschuhe über ihre feuchten Hände, führte den Schlüssel in den Zylinder und schlüpfte nach einem Moment des Zögerns in die Wohnung.
Das Erste, was sie wahrnahm, war der Geruch nach neuen Möbeln. Zwei in Zellophan gehüllte Hemden hingen am oberen Knauf eines Flurschrankes. Am Ende des länglichen Flurs zweigte die Küche ab, ebenfalls ein schmaler Schlauch, auf dessen Steinboden ein Bierkasten stand. Sie schob die halb geöffnete Tür zu ihrer Rechten auf und sah auf ein rotes Sofa, das den Raum dominierte. Zu dessen Füßen stand ein aufgerissener Karton, aus dem ein Flachbildfernseher ragte. Schräg gegenüber versperrte ein Schreibtisch aus Glas den Weg zum Fenster, das schlanke Regal rechts an der Wand fasste nur wenige Bücher. Jona legte den Kopf schief und entzifferte die Titel.