Alles andere ist eine Lüge - Michele Lo Chiatto - E-Book

Alles andere ist eine Lüge E-Book

Michele Lo Chiatto

5,0

Beschreibung

Ein Kopfschuss auf offener Straße. Ein von Schrotkugeln durchsiebter Hund. Ein Geschäftsmann, der nachts auf einer Kreuzung verblutet. Drei Ereignisse, die scheinbar nicht zusammenhängen und doch unheilvoll miteinander in Verbindung stehen. Als Nino Alfieri nach einem auf ihn verübten Mordversuch im Krankenhaus erwacht, weiß er nur eines: Er muss so schnell wie möglich aus Neapel verschwinden. Auf dem abgelegenen Bauernhof seiner dementen Großtante findet er Unterschlupf. Die Einsamkeit und die Sorge, früher oder später aufgespürt zu werden, setzen ihm jedoch stark zu. Als Nino seine Ängste zu erdrücken drohen, steht er vor der Wahl: Durch einen Freitod seinen Leiden zu entkommen oder herauszufinden, warum auf ihn geschossen wurde, mit der Hoffnung, einen Weg zurück ins Leben zu finden. »Alles andere ist eine Lüge« erzählt spannend von Machtstrukturen, ungleichen Lebensbedingungen und davon, wie das eine das andere bedingt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 298

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
5,0 (3 Bewertungen)
3
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Inhaltsverzeichnis

ENDE

FURCHT

1

2

3

SCHMERZ

1

2

3

4

5

WILLE

1

2

3

4

5

6

ZORN

1

2

3

GLEICHGÜLTIGKEIT

1

2

3

4

5

6

7

HOFFNUNG

1

2

3

4

5

VERBLENDUNG

1

2

3

4

5

ANFANG

ENDE

Begonnen hatte es vor wenigen Monaten mit dem Verlust des Appetits. Fast unmerklich zog sich der Geruchssinn zurück und mit ihm das Schmecken. Zwei Sinneswahrnehmungen, die untrennbar miteinander verbunden sind. Käse, Nudeln und Gemüse, selbst die Kekse, die er seit seiner Kindheit gerne aß, wurden in seinem Mund zu einer faden Masse. Einer Masse, die sich mit Speichel mischte und nur noch schwer zu schlucken war. Sein Körper verlangte nicht, was er nicht länger benötigte.

Stattdessen machte sich eine unbekannte Schwäche breit, die ihn immer häufiger und immer länger in den Schlaf zwang. Während der wachen Phasen hatte er begonnen, sich nach innen zu wenden. Seine Gedanken wühlten in den nebelhaften Bildern der Vergangenheit. Was er fand, ließ sich nicht festhalten, verschwamm im Zusammenhanglosen und löste eine unaussprechliche Melancholie aus, die seine Augen mit Tränen füllte. Feuchtigkeit, die in seiner Kehle fehlte. Mund und Gaumen schienen mit Sägespänen bedeckt. Ein Belag, der jeden Tropfen aufsog und ihn bis zum Husten reizte. Das ausgewogene Zusammenspiel seiner Organe löste sich auf. Der Blutdruck sank, was ihm an die Nieren ging. Als Folge lagerte sich Wasser in den Beinen ein und flutete die Lunge. Zur gleichen Zeit verebbte der Schluckreflex und in der Tiefe seines Rachens sammelte sich Speichel, der durch den kraftlosen Atem zu brodeln und bersten begann.

Jetzt, kurz vor Mitternacht, starrten seine Augen in die Dunkelheit, ohne zu sehen. Das Licht der Straßenbeleuchtung fiel durch das große Fenster und zeichnete schwache Konturen in den Raum.

Still war es im dritten Stock des Ospedale dei Pellegrini, abgesehen von einem peitschenden Schuss, der von der Straße in den Raum drang. Vor einigen Tagen hätte er das Geräusch noch wahrgenommen und darauf reagiert. Nun lag er regungslos in seinem Bett.

Die Dunkelheit verbarg seine wachsartige Haut und die darunter verlaufenden schwarzen Blutbahnen. Wie glänzend kalter Marmor. Das Nagelbett der Finger und Zehen war schon länger bläulich verfärbt. Neu war das Dunkel der Kniescheiben und der Mundwinkel. Das Herz hatte sich entschieden, kein Blut mehr in die Extremitäten zu pumpen. An anderer Stelle wurde es dringender benötigt. In der Leber. Der Lunge. Dem Hirn.

Erschöpfung sperrte den Mund weit auf, als wolle er etwas sagen. Kein Wort kam über seine Lippen. Die tief in die Höhlen gesunkenen Augen vergrößerten den Abstand zur Nase, die spitz in Richtung Himmel ragte. Der Schädel glich den Tausenden im Cimitero delle Fontanelle. Hätte ihn jemand berührt, wäre der Reiz wahrscheinlich noch bis in sein verblassendes Bewusstsein gedrungen. In dieser Nacht berührte ihn jedoch niemand.

Als der Unterkiefer verkrampfte, schnappte er nach Luft. Die Augen aufgerissen. Ein Atemzug, ein zweiter, ein dritter. Die Rippen in seinem Brustkorb blieben unbewegt. Seit seiner Geburt hatte sein Herzmuskel ohne Unterbrechung geschlagen, nun stand er still. Wenige Augenblicke pulsierte die Halsschlagader noch. Das Gehirn flutete verschiedene Bereiche seines Körpers mit Serotonin, Endorphin, Dopamin. Kein Schmerz. Kein Gestern. Kein Heute. Kein Morgen. Einzig und allein der Rausch des radikalen Übergangs vom Leben in tote Materie. Ein letztes großes Feuerwerk verbrennender Neuronen. Dann war er tot.

FURCHT

– 1 –

Nino Alfieri lag nur mit einer Unterhose bekleidet auf dem Bett und starrte in die Dunkelheit. Wieder quälten ihn diese fürchterlichen Kopfschmerzen. Durch das Fenster trafen helle Lichtbalken die Zimmerdecke und zogen in unregelmäßigen Zeitabständen immer die gleiche Bahn. Sie bewegten sich von der Mitte der Decke auf Nino zu und brachen über seinem Kopf ab. Eine lang gezogene Kurve der Autobahn A16 schickte die Fernlichter der in Richtung Bari fahrenden Autos aus dem Tal in sein Zimmer.

In dem Raum stand nicht viel. Ein schweres Bettgestell aus Eisen, über dem ein Kruzifix hing, und rechts neben der Zimmertür ein alter Holzschrank. Durch die verzierten Ecken und massiven Füße wirkte er schwer und wuchtig. In ihm die Kleidung von Antonio und Rosa. Der Dielenboden war übersät mit Notizzetteln in verschiedenen Größen. Jeder von ihnen mit einzelnen Wörtern oder Sätzen beschrieben, einiges hektisch durchgestrichen, anderes um Stichworte ergänzt. Hier und dort wilde Kritzeleien und krakelige Fratzen.

Neben dem Bett lag ein Stapel Bücher. Sie waren mit Lesezeichen versehen, die Seitenränder als Kommentar-spalten missbraucht. Auf der aufgeschlagenen Seite des obersten Buchs stand dick unterstrichen: »Wie kommt’s, wenn sie den Zorn des Himmels tragen, dass nicht die Feuerstadt ihr Strafort wird?«

Was tatsächlich gerade wie Feuer brannte, war das vernarbte Gewebe auf Ninos Wange. Er berührte die Stelle vorsichtig mit seinen Fingern, heiß und wulstig fühlte sie sich an. Die kleinen Löcher, aus denen die Fäden geragt hatten, juckten fürchterlich. Vor einer Weile hatte er sie selbst gezogen.

Mit seiner Ankunft im Haus hatte eine Hitzewelle eingesetzt, die sein Zimmer in einen Backofen verwandelt hatte. Jede Pore seines Körpers war geöffnet. Nass geschwitzt klebte das mittellange Haar an seinem Kopf.

Er strich es sich aus dem Gesicht und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Das weiße Kissen und das Bettlaken wurden feucht, wo sie mit seinem Körper in Berührung kamen. Selbst das Atmen fiel ihm schwer. Das nächtliche Zirpen der Grillen verband sich mit dem dumpfen Rauschen der Autobahn. Es war, als würden die Insekten ihre Flügel direkt an seinen Nerven reiben, und der Verkehr durch ihn hindurchrollen.

Er hätte es ertragen, wären da nicht außerdem diese vermeintlichen Geräusche vor dem Haus. Das Gefühl, dass jemand umherschlich, ihn beobachtete und nur darauf wartete, dass er einen Fehler beging. Den Lichtern an der Decke gleich jagte ein Gedanke den nächsten. Wenn es doch still würde in seinem Kopf. Keine Nacht konnte er wirklich schlafen.

Er richtete sich auf und setzte sich an die Bettkante. Bis zum Fenster waren es drei Schritte. Trotz der Wärme hielt er es ausnahmslos geschlossen. Er trat neben die Scheiben und schaute in die Nacht hinaus.

Vor dem Haus erstreckten sich Felder den Hügel hinab bis zur Autobahn im Tal. Nino beneidete die Vorbeifahrenden. Sie alle hatten ein Ziel und war es noch so bedeutungslos. Wenn er lange in die weißen und roten Lichter der Fahrzeuge schaute, verbanden sie sich zu leuchtenden Fäden. Fäden, die sich selbst hinter seinen geschlossenen Lidern weiterspannen.

Wie sehr hätte es ihm geholfen, jemandem zu erklären, wie es ihn zerfraß, dieses Nichts und Nichts, dieses immer Bett und Schrank, dieses Schweigen, diese um sich selbst kreisenden Gedanken, bis hinab in den Wahnsinn. Wie lange hatte er dieses Haus mit seinen vier Zimmern nicht mehr verlassen? Waren es zwei oder drei Monate? Unbegreiflich, wie langsam die Zeit im Stillstand verging.

Leicht benommen schritt er in die Mitte des Raums und entzündete eine auf dem Boden stehende Kerze. Er vermied es, das Deckenlicht einzuschalten. Mit dem Kopf nach vorne gebeugt, begutachtete er die verschiedenen Zettel auf dem Boden und begann die Notizen zu lesen.

»Denn die Zeit treibt alles vor sich her und kann Gutes wie Böses, Böses wie Gutes in gleichem Maße mit sich führen.«

Das suchte er nicht. Nervös durchblätterte er einen der Haufen vor sich.

»Sicher ist, wer sterben kann.«

Aus welchem Buch stammte dieser Satz? Er fühlte sich nicht sicher und sterben wollte er auch nicht. Die Vorstellung ließ ihn am ganzen Körper frösteln.

Was hatte er gesucht? Er wusste es nicht mehr. Ohne weiter auf die Notizen zu achten, ging er zur Tür. In der Küche würde er sich ein Glas Wasser holen, um die dunklen Gedanken zu verjagen. Auch im Treppenhaus machte Nino kein Licht.

Der Grundriss des Hauses glich einem Rechteck. Zwei Zimmer im Erdgeschoss und zwei im Obergeschoss, verbunden durch das Treppenhaus in der Mitte. Das Gebäude war der ganze Stolz des Ehepaars Antonio und Rosa Di Simone gewesen. Im Jahr 1980 hatte ein Erdbeben ihr altes Steinhaus, in dem Antonio geboren war, zerstört und sie mit ihren zwei Töchtern obdachlos gemacht. Anschließend hausten sie jahrelang in einem Wohnwagen vor der Ruine.

Nach dem Unglück hatte Antonio noch regelmäßig Anträge bei der örtlichen Verwaltung ausgefüllt, um die vom Staat versprochene Unterstützung zum Wiederaufbau zu erhalten. Vergebens. Immer neue bürokratische Gründe wurden angeführt, die eine Auszahlung nicht ermöglichten. Als fast zehn Jahre später unerwartet doch noch ein amtlicher Auszahlungsbescheid in der Post lag, baute das Ehepaar dieses Haus.

Viel Geld war es nicht, es reichte gerade für das Notwendigste, das Fundament, die tragenden Wände und das Dach. Für alles Weitere forderte die Bank eine Hypothek auf das Land. Und dennoch beklagte sich das Ehepaar über keine Lira, die sie sich vom Mund ab-sparten, um den Kredit abzustottern. So groß war die Freude über die Veränderung.

Sie mussten nicht mehr alle zusammen schlafen. Es gab eine Toilette, die den Gang hinaus aufs Feld ersetzte. Die neue Küche erleichterte die Hausarbeit. Und weit wichtiger: Nun besaßen sie etwas. Etwas, das man vorzeigen konnte. Sie hatten sich sogar einen Salon geleistet, neben der Küche der zweite Raum im Erdgeschoss. Zunächst war er leer geblieben. Aber zumindest hatten sie in der Zukunft die Möglichkeit, einen Raum einzurichten, der ausschließlich repräsentativen Zwecken dienen sollte, wie die Leute in der Stadt ihn besaßen.

Höchstwahrscheinlich wäre der Raum nie eingerichtet worden, hätte Rosa nicht als Haushälterin für den Avvocato Vittorio Rossi gearbeitet. Als dieser familienlos verstarb, hatte er Rosa überraschend in seinem Nachlass bedacht und ihr die Möbel seines Salons vermacht. So wanderte in einen Haushalt, in dem es sonst nur Dinge gab, die einen praktischen Nutzen hatten, ein Vitrinenschrank, vollgestopft mit Kristallgefäßen, Porzellanfiguren und Büchern.

Die in rotem Leder gearbeitete Chesterfield-Sofagarnitur drapierten sie um den flachen Marmortisch, wie sie der Anwalt bei sich stehen gehabt hatte. Und auch der Aschenbecher und eine Spieldose standen an der gleichen Stelle. Die Dose hatte die Form eines kleinen runden Pavillons. Drückte man auf einen Messingknopf, erklang eine Melodie und die Seitenwände öffneten sich. In der Mitte drehte sich eine Ballerina um sich selbst.

Nachdem der Raum eingerichtet war und die Verwandten und Nachbarn ihn gesehen hatten, wurde die Zimmertür geschlossen und erst Jahre später für die Aufnahme der Hochzeitsfotos der Kinder wieder geöffnet.

Nino war die Treppen hinuntergestiegen und formte seine Hände wie zum Gebet, um die spiralförmigen Kunststoffzotteln, die am Türrahmen der Küche anstelle einer Tür hingen, zur Seite zu schieben. So leise wie möglich betrat er den Raum.

Rosas Gesicht lag im Schatten. Die Leuchtdiode der Madonnenfigur, die das kleine Jesuskind auf dem Arm hielt, und die Kerze, die zum Gedenken an Antonio auf dem Kaminsims brannte, tauchten den Raum in ein warmes Rot. Offenes Feuer wurde nicht mehr entzündet. War es im Winter kalt, rückte Rosa den elektrischen Heizkörper, den sie von ihren Kindern geschenkt bekommen hatte, nah an ihren Sessel. Das Polstermöbel verließ die alte Frau nur noch für das Nötigste. Die Jahre hatten ihren Knien stark zugesetzt, sodass sie sich bloß unter Schmerzen und mithilfe eines Gehstocks bewegen konnte. Treppensteigen war ihr nicht mehr möglich.

Nino ging zum Hängeschrank über der Spüle, holte sich ein Glas heraus und füllte es mit dem Wasser aus einer Karaffe. Rosa schlief tief, ihr voluminöser Brustkorb hob und senkte sich gleichmäßig. Die Haut in ihrem Gesicht war faltig und hing wie ein lebloser Lappen herunter. Ihr kurzes weißes Haar stand fettig vom Kopf ab.

Nino schaute lange in das Gesicht. Eine Mischung aus Dankbarkeit und Verzweiflung überkam ihn bei ihrem Anblick. Dieser Ort war der letzte Strohhalm vor dem Ertrinken. Hätte Rosa ihn abgewiesen, hätte er nicht gewusst, wie weiter.

Sie hatte ihn nicht weggeschickt, keine unangenehmen Fragen gestellt und seinen Wunsch, niemandem von seiner Anwesenheit zu erzählen, mit einem verständnisvollen Nicken quittiert. Selbst bei den wöchentlichen Besuchen des Nachbarn, der nach dem Rechten sah, und des Lebensmittelhändlers, der die Einkäufe lieferte, erwähnte sie ihn mit keinem Wort. Bei jedem Besuch saß er hinter seiner Zimmertür und lauschte voller Furcht, ob sie sich im nächsten Moment verplappern würde. Nie war es passiert.

Er lebte mit dieser Person gemeinsam unter einem Dach und war doch ganz allein. Für Rosa gab es lediglich ihre körperlichen Bedürfnisse und die Vergangenheit, sodass Nino mit der Gegenwart allein war.

Als er das Glas an die Lippen führte, fragte er sich, ob er zusammen mit der alten Frau auf den Tod wartete. Erneut ein Frösteln, das eine Gänsehaut auf seinem Rücken hinterließ. Mit jedem Tag, der verging, raubte ihm diese Einzelhaft etwas mehr von seinem Verstand.

An dem zweiten Schluck Wasser verschluckte er sich heftig. Bellend hustete er die Flüssigkeit aus seiner Kehle. Tränen schossen ihm in die Augen. Er konnte schon wieder atmen, trotzdem verdichteten sich die Tränen zu einem Rinnsal, bis sie über seine Wangen liefen. Und aus dem Husten wurde ein Schluchzen. Rosas faltige Augenlider öffneten sich. Träge versuchten die grauen Pupillen etwas im Raum zu fixieren.

»Nino, Nino, bist du das?«

Nino stand still. Er benötigte einen Moment, um seine Stimme unter Gewalt zu bekommen.

»Ja, Zia. Ich hatte Durst und habe mir ein Glas Wasser geholt.«

Seine Stimme klang fest, die Tränen flossen ungehindert.

»Es ist wieder heiß heute Nacht«, brachte Rosa mit Mühe über ihre Lippen und fügte hinzu: »Sei so gut und gib mir auch ein Glas Wasser. Ich habe Durst.«

Nino nahm ein zweites Glas aus dem Regal, füllte es und gab es ihr in die Hand. Sie nahm einen Schluck und gab Nino das Glas zurück.

»Schlaf weiter, Zia, es ist mitten in der Nacht.«

Rosa hatte ihre Augen schon wieder geschlossen, was keinen Unterschied machte. Der Graue Star hatte sie fast blind werden lassen. Nino stellte die Gläser ab und verließ die Küche. Auf den ersten Stufen der Treppe machte er Halt. Er konnte nicht zurück in sein Zimmer. Mit einer langsamen Bewegung ließ er sich auf der Treppe nieder. Vor ihm war die Ausgangstür. Eine massive Holztür, die sich mit einem Metallriegel von innen verschließen ließ.

Was, wenn tatsächlich jemand vor dem Haus stand? Wenn sie wussten, wo er war, und auf eine gute Gelegenheit warteten? Der Schweiß stand Nino auf der Stirn. Er hielt die Luft an, um nach Geräuschen zu lauschen. Der Atem Rosas ging ruhig, hier und dort hörte er ein Knacken im Gemäuer.

Er stand auf und ging zur Tür. Vorsichtig ziehend, teilweise rüttelnd, bewegte er den Eisenriegel aus der Verankerung. Eine kurze Pause. Noch einmal vergewisserte er sich, nichts Verdächtiges zu hören.

Wenn ihn doch nur diese Kopfschmerzen für einen Moment in Ruhe ließen, damit er einen klaren Gedanken fassen könnte. Er hatte gewaltige Angst, entdeckt und ermordet zu werden. Und diese Angst verlangte, das Haus auf keinen Fall zu verlassen. Zum anderen erdrückte ihn die Enge dieser Räume und drohte ihn zu ersticken.

Nino fasste nach dem Griff. Ohne sich bewusst zu entscheiden, öffnete er die Tür einen Spalt. Er spähte hinaus in die Nacht. Nichts Verdächtiges in Sichtweite. Er wollte einen Augenblick das Gefühl haben, frei zu sein.

Er schob seinen Körper nach draußen auf den Platz aus Kieselsteinen. Vor ihm erstreckte sich ein gemähtes Getreidefeld den Hügel hinab. Rechts von Nino verband eine lange Auffahrt das Haus mit der Via Bosco. Leicht links stand eine alte Scheune.

Die Kiesel bohrten sich angenehm in seine Fußsohlen. Er trug nach wie vor lediglich Unterwäsche, die er aus Antonios Schrank genommen hatte. Drahtig und zäh lagen seine Muskeln über den Knochen. Das Gewicht aus der Zeit vor dem Krankenhausaufenthalt hatte er zurück.

Die unzähligen Geräusche der Nacht verbanden sich mit dem Rauschen der Autobahn. Es gelang ihm nicht, die Ursache für das Knirschen und Knacken im Dunkel ausfindig zu machen. Die Luft glühte. Der leichte Wind auf seiner Haut rief die Erinnerung an die schmalen Gassen Neapels in ihm wach.

Ein Knarren aus Richtung der Scheune verscheuchte jeden Gedanken. Erschrocken versuchte er etwas zu erkennen. Die Furcht verengte seine Wahrnehmung ins Hier und Jetzt. Hatte sich neben der Scheune jemand bewegt? Die Vorstellung, entdeckt worden zu sein, raubte ihm die Luft. Er wollte weglaufen, konnte aber nicht.

Das Scheunentor bewegte sich. Die Silhouette einer Katze schälte sich aus den Schatten. Sein Puls raste. Er sollte zurück ins Haus zu gehen. Sogleich ärgerte er sich über den Gedanken. Feigling. Sie hatten es also doch geschafft, ihm sein Leben zu nehmen. Anstatt tot unter der Erde, war er lebendig in diesem Haus begraben.

Er blickte auf die offene Tür und drehte seinen Kopf in Richtung Autobahn. Das Licht der heranfahrenden Fahrzeuge ließ die markante Nase einen Schatten auf die fleischige Narbe auf seiner Wange werfen. Seine Augenbrauen verzogen sich, was seinem Blick etwas Finsteres gab. Ohne dass er es bemerkte, bewegte sich sein Kiefer und die Zähne rieben aufeinander, wie Kreide auf einer Tafel.

Mit jedem Atemzug wuchs der Zorn über seine Situation, breitete sich in ihm aus und verschlang alle anderen Gefühle. Nein, die Hölle war nicht, wie er in einem der Bücher gelesen hatte, ein Ort des Schmerzes, in den man hinabstieg und durch Blut watete. Sie war die Einsamkeit. Wie konnte es sein, dass er unschuldig in dieser Hölle schmorte, während die Mörder frei waren?

Er wollte sein Leben zurück! Die Gedanken waren so quälend, dass Nino das Gefühl hatte, sein Kopf würde sich von innen nach außen stülpen. Die Füße tief in den Untergrund gedrückt, stand er immer noch regungslos an derselben Stelle.

Hinter der Scheune und seitlich vom Haus, dort wo die Kiesel endeten, stand hohes Gras. Seit Antonios Tod kümmerte sich niemand mehr darum. Aus dieser Richtung war Nino vor Monaten auf den Hof gekommen.

Aus einem plötzlichen Impuls heraus begann Nino zu gehen. Mit jedem Schritt wurde er schneller und schneller. Seine Arme schlugen unsichtbare Feinde aus dem Weg. Die Kiesel schnitten kleine Wunden in die Fußsohlen.

Als er die kleinen Steine hinter sich ließ und die Wiese erreichte, wurde sein Schritt fester. Die langen Halme strichen über seine Haut. Adrenalin pumpte Blut in jeden Muskel des Körpers. Tief saugte er Luft in seine brennenden Lungen. Im Rausch der Bewegung mobilisierte Nino alle Kraft, die er besaß.

Vor ihm tat sich ein Stoppelfeld auf. Die erste Berührung mit dem neuen Untergrund war verheerend. Jeder abgemähte Halm war hart und hohl, mit einer scharfen Kante am Ende. Wie kleine Hobel schabten sie die Haut von den Zehen, Ballen, Fersen und Knöcheln. Der Schmerz befeuerte, was in ihm wütete.

Immer kräftiger schleuderte er die Beine nach vorne in die Finsternis. Die weit ausholenden Arme erzeugten Schwung, während die Finger kalt wurden. Mit aufgerissenem Mund schnappte er nach Luft. Dunkle und helle Punkte flackerten vor seinen Augen.

In seinem Kopf wurde es still. Der Körper konnte nicht mehr und wollte sich übergeben, aber Nino zwang ihn weiter, tiefer in das Feld hinein. In seinem Schädel begann sich der Horizont in Bewegung zu setzen, oben und unten, links und rechts tauschten ihre Plätze.

Nur noch von Zorn getrieben, kam er ins Schwanken, stolperte nach vorne und spürte einen harten Schlag gegen den Kopf. Die dunklen und hellen Punkte vor seinen Augen wurden schwarz.

Als Nino eine halbe Stunde später vor dem Spiegel im Badezimmer stand und kaltes Wasser über seine Finger floss, wusste er nur noch schemenhaft, wie er zurück in das Haus gekommen war. Das cremefarbene Glas der Wandlampe zeichnete alles mehrere Schattierungen weicher.

Es nützte nichts, er sah erbärmlich aus. Die Seite, auf die er gefallen war, war von kleinen Schnitten übersät und die Füße voller Blut. Viel schlimmer als die Verletzungen wog das Gefühl der Furcht, das seinen Weg zurück in seine Seele gefunden hatte.

Ohne seinen Wunden weitere Aufmerksamkeit zu schenken, trocknete er sich die Hände ab und ging in sein Zimmer. Die Dunkelheit konnte er jetzt nicht ertragen, weshalb er ausnahmsweise das Deckenlicht anmachte.

Auf dem Bett drehte er sich zur Seite, und obwohl es in dem Raum nach wie vor unerträglich heiß war, zog er die Bettdecke über den Körper.

Im selben Moment, in dem das Licht in Ninos Zimmer anging, blitzte die Flamme eines Feuerzeugs einige hundert Meter von Rosas Haus entfernt im Dunkel auf. Ein kräftiger Zug und die Zigarette brannte im Mundwinkel.

Der Rauchende beobachtete interessiert das Licht im Fenster des ersten Stocks. Dann packte er das Feuerzeug zu der Packung Nazionali in seiner Tasche. Morgen würde er dem nachgehen.

– 2 –

An dem Tag, als Nino auf Rosas Hof gekommen war, trug er einen blauen Trainingsanzug und seine Füße steckten in alten Lederschuhen. Er entschied sich den Weg über die Felder zu nehmen, in der Hoffnung von niemandem gesehen zu werden.

Der Marsch kostete ihn viel Kraft, vor allem wegen der mörderischen Kopfschmerzen, unter denen er litt. Das letzte Mal war er hier als kleines Kind gewesen. Ein Besuch bei Verwandten mit seinen Eltern, was nicht häufig vorkam.

Ohne klare Vorstellung, was ihn erwartete, erreichte er das Haus. Sicher war er sich lediglich darüber, dass der Hof sehr abgeschieden lag und er keine Alternative hatte. Wenn ihm die Kopfschmerzen Raum zum Denken ließen, quälten ihn viele Fragen. Wer würde ihm die Tür öffnen? Wie würde die Person reagieren? Die Kleidung, die er trug, warf mit Sicherheit Fragen auf, erst recht die Narbe und sein rasierter Schädel.

Es dauerte lange, bis er den Mut aufbrachte, anzuklopfen. Die Möglichkeit, dass niemand die Tür öffnete, hatte er nicht in Betracht gezogen. Verzweifelt und erleichtert zugleich blieb er vor der Tür stehen. Er wusste nicht, wohin er sonst gehen sollte.

Als sich die Tür dann doch öffnete, erschrak er heftig. Auf einen Gehstock gestützt stand Rosa da. Die grauen Augen tasteten ihn ab, griffen dabei aber ins Leere.

Mit knarziger Stimme fragte sie: »Wer sind Sie?«

»Zia, ich bin es, Nino, der Enkel von Pasquale.«

»Von welchem Pasquale?«

»Deinem Bruder.«

Erst jetzt entspannte sich das Gesicht der Alten. Der Gedanke an ihren Bruder schien sie zu beruhigen. Nino benötigte jedoch eine Weile, um ihr zu erklären, wer er genau war. Als sie ihn hereinbat, war seine Erleichterung grenzenlos.

In den ersten Wochen in seinem selbst gewählten Exil ging es Nino körperlich schlecht. Oft musste er sich erbrechen, das durchgehende Hämmern in seinem Schädel prügelte förmlich alles aus ihm heraus. Überfallartig plagten ihn Krämpfe an verschiedenen Stellen des Körpers. Das Sprechen fiel ihm phasenweise schwer und auch sein Sehvermögen war beeinträchtigt.

In dieser Phase gab es für ihn nichts außer dem Schmerz. Sein eigener Leib wurde für ihn zum Feind. Die Sorge, dass ihn jemand suchte und aufspürte, trat in den Hintergrund.

Erst als sich seine Verfassung besserte, merkte er, dass sich diese Angst lediglich versteckt hatte und als Folterknecht genauso taugte. Dazu kam, dass er sich in diesem Haus mit nichts ablenken konnte. Es bot keine Beschäftigung, nicht die geringste.

Die Gespräche mit Rosa stellten sich als ermüdend heraus. Sie erzählte von ihrem verstorbenen Ehemann, von der harten Feldarbeit in ihrer Jugend und ihren zwei Kindern, die heute in Norditalien lebten. Dabei glich sie einem Plattenspieler, der in Endlosschleife das gleiche Lied abspielt. Was an einem Tag geschah, hatte sie am nächsten schon wieder vergessen.

Auch das Durchstöbern des Hauses förderte nichts zutage, mit dem er sich hätte lange aufhalten können. In den Schränken lag alte Kleidung. Die Schubladen beherbergten angestaubte Unterlagen und vergilbte Fotos. Ninos Neugierde weckte das zweite Zimmer im Obergeschoss, das Rosa verschlossen hielt. Ihr Ehemann war darin verstorben, und auch wenn sie es lediglich andeutete, verstand Nino, dass Rosa sich vor der Vorstellung ängstigte, der Tote könnte sich frei im Haus bewegen.

Als Nino zufällig eines Nachmittags in einer Küchenschublade einen einzelnen Schlüssel fand, nahm er ihn an sich. Die Erwartung, damit den verschlossenen Raum öffnen zu können, erfüllte sich. Aber mehr als ein altes Bett, eine staubbedeckte Kommode und eine alte Schrotflinte mit passender Munition fand er nicht.

Der Röhrenfernseher in der Küche musste schon seit längerer Zeit nicht mehr funktionieren. Das Radio empfing ausschließlich einen lokalen Rundfunksender, der neapolitanische Volksmusik spielte, und am Wochenende Kirchenlieder. Seine Versuche, den Fernseher zu reparieren und dem Radio einen anderen Sender abzugewinnen, blieben erfolglos.

Tagelang streifte er durch das Haus, seiner selbst überdrüssig. Konnte er einen Fuß vor das Haus setzen? Diese Frage wälzte er gedanklich in alle Richtungen. Am Ende kam er immer zum gleichen Ergebnis. Nein, es ging nicht.

Im nächstgelegenen Dorf und ebenso in der etwas ferneren Kleinstadt kannte jeder jeden. Ein unbekanntes Gesicht blieb nicht unbemerkt. Und er hatte keine Zweifel, dass selbst hier, eine Stunde von Neapel entfernt, einige auf der Gehaltsliste des Systems Grosso standen. Das Risiko, aufgespürt zu werden, wollte er auf keinen Fall erhöhen.

Immer versessener versuchte er, Beschäftigungen zu finden. Ganz gleich, was er sich einfallen ließ, es füllte den Tag nicht aus. Er sehnte sich nach seinem alten Leben. Früher hatte er die Arbeit im Farben- und Lackgeschäft als eintönigen Trott empfunden, jetzt hätte er alles getan, um sich dort wieder aufhalten zu dürfen.

Am Abend half immer häufiger der Wein, seinen seelischen Druck zu lindern. Die sich ausdehnende Zeit ließ sich so besser ertragen. Stieg der Pegel jedoch über eine unsichtbare Marke, kam die Paranoia umso heftiger zurück. Jedes Knarren gewann dann an Bedrohung, mehr noch, es wurde ein Zeichen für die Gefahr, in der er sich befand. Die Einsamkeit seines kargen Zimmers ertrug er nur noch schwer, was dazu führte, dass er vermehrt nach Sonnenuntergang im Salon saß und trank.

In einer dieser Nächte im Salon durchstöberte er erneut den breiten Vitrinenschrank. Er fuhr mit den Fingern über die Ränder der Kristallgläser und betrachtete die kleinen Porzellanfiguren. Die Schönste war die des Pulcinella, mit seiner weiten Kleidung und der pechschwarzen Maske. Auf den Regalbrettern standen viele Bücher. Nino selbst hatte noch nie eines in der Hand gehabt, abgesehen von einigen Schulbüchern, in denen er im Unterricht Aufgaben lösen musste. Er wusste nicht, wer in seinem Umfeld je eines besessen hätte.

Wahllos zog er einen schwarzen Einband aus dem Regal. Mit dem Daumen ließ er die Seiten vor seinen Augen vorbeiziehen. Wort an Wort, ohne jegliches Bild, was für eine Enttäuschung. Er hätte das Buch gerne zurückgestellt, aber womit sollte er sonst die Zeit totschlagen?

Aus Mangel an Alternativen nahm er auf dem Sofa Platz und entzifferte die Buchstaben auf dem Buchdeckel. Il Principe. Nino schlug eine Seite in der Mitte auf und begann zu lesen: »Es ist gewiss in der Ordnung und ein natürliches Verlangen, dass man sich zu vergrößern wünscht; und immer werden die es tun, sofern sie es nur zu tun vermögen, darum gelobt, oder doch nicht getadelt werden.«

Von welchem natürlichen Verlangen war hier die Rede und wer lobte oder tadelte? Wie er es erwartet hatte, ergab der Kram keinen Sinn. Er legte das Buch zur Seite und nahm einen Schluck vom Wein. Die unermessliche Gier nach Veränderung und die Fülle an ungenutzter Zeit führten den Blick zurück in den Text.

Er las die ganze Seite und an ihrem Ende angelangt, hatte er kaum mehr verstanden als zuvor. Aber dass Neapel einst von Frankreich regiert worden war, hatte er nicht gewusst. Der Text hatte offenbar mit dieser Gegend zu tun, also auch mit ihm.

Stunden später schloss er das Buch mit einer Erkenntnis. Auch wenn er nicht alles verstand, hatte er einen Weg gefunden, dieses Haus zu verlassen. An den kommenden Abenden legte er einen großen Stapel Bücher auf den Tisch. Abwechselnd griff er nach den unterschiedlichen Werken und las kreuz und quer. Und mitunter stolperte er über Stellen, die zu ihm sprachen. »Die Welt des Glücklichen ist eine andere als die Welt des Unglücklichen.«

Natürlich war sie das, dachte er. So, wie die Welt der Reichen eine andere war, als die der Armen. Oder die der Täter eine andere, als die der Opfer. Aber alle Menschen, die er kannte, sahen nur ihre eigene Welt. Verstanden einzig ihr eigenes Leid und ihre eigenen Bedürfnisse.

An anderer Stelle las er von einem Feuer, das neun Tage wütete und über die Hälfte Roms verschlang. Kaiser Nero soll die Flammen von einem Turm aus beobachtet haben, während er auf der Leier spielte und sang. Um dem Gerücht, er sei der Brandstifter gewesen, den Boden zu entziehen, schob Nero die Schuld auf eine neue Sekte. Die sogenannten Christen wurden teils in Tierfelle genäht und von Hunden zerfleischt, teils ans Kreuz geschlagen und nach Sonnenuntergang als Fackeln verbrannt. Das waren Schilderungen, die Nino fesselten und deren Gewalt ihn schmerzte, wusste er doch allzu genau, wozu Menschen fähig waren. Er tastete nach seinem Hinterkopf.

In einem anderen Buch wiederholte sich ein Gedanke durchgehend, der Nino bisher fremd gewesen war: »Wer sich zwingen lässt, weiß nicht zu sterben.«

Der Freitod wurde auf vielen Seiten nicht als Sünde beschrieben, sondern als die letzte Macht, die jeder Mensch besitzt. Die Macht, sich gegen dieses Leben zu entscheiden, sich dem zu entziehen, was man nicht länger ertragen wollte. Diese Sicht enthielt etwas Tröstliches für Nino.

Die neue Beschäftigung half ihm zunehmend, Halt zu finden und seinen Tag zu strukturieren. Am Anfang las er in den Abendstunden beim Wein. Dann kam ihm die Idee, jedes dieser Bücher vollständig zu lesen.

Die nicht gekannte geistige Belastung strengte ihn zu Beginn außerordentlich an. Häufig musste er ein Buch weglegen, pausieren und einige Seiten zurückblättern. Angetrieben von der Herausforderung und der Erkenntnis, dass die Lektüre ihm unbekannte Sichtweisen eröffnete, begann er, seinen Tag ganz dem Lesen unterzuordnen.

Er stand frühmorgens auf und las. Mittags ging er Rosa in der Küche zur Hand, erledigte die täglich anfallende Hausarbeit, um sich dann bis tief in die Nacht im Salon zu vergraben. Wie im Fieber vergingen die Stunden beim Lesen. Begleiterscheinung war der Kater am Morgen, verursacht durch die Folgen des Weins und die Flut von neuen Gedanken. Was ihm beim Lesen wichtig erschien, hatte er am nächsten Tag vergessen.

Um das zu verhindern, begann er sich Notizen zu machen. Anfangs fein säuberlich nach Themen sortiert. Verschiedene Stapel mit Zetteln über Gewalt oder dass häufig schon Drohen oder Belohnen ausreicht, um andern Menschen seinen Willen aufzudrängen. Letztendlich kreisten alle Gedanken um die Frage der Macht.

Was ihn am stärksten bewegte, las er wieder und wieder. Dabei brannten sich die Sätze in sein Gedächtnis, bis er nicht mehr wusste, ob es sich um seine eigene Meinung oder etwas zuvor Gelesenes handelte. In allem war auf einmal eine Botschaft für ihn versteckt. Der Wunsch, mit jemandem über seine Gedanken zu sprechen, verstärkte sich.

Die Flucht in diese heillose Beschäftigung glich dem Verlorengehen in einem Wald. Ein Waldweg gabelte sich in den nächsten, keiner führte ins Freie. Die unruhigen Streifzüge durch das Haus begannen von Neuem. Er nahm Schilderungen aus den Texten mit in seine Träume oder saß stundenlang im Salon und kritzelte kleine Bilder an den Seitenrand.

In den Schlaf zu finden, wurde zunehmend schwerer. Die Unabsehbarkeit seiner Haft zersetzte die neu gefundene Struktur seines Tagesablaufs. Das zeigte sich auch an der peniblen Ordnung seiner Notizzettel, die mehr und mehr ausfranste. Bis die Zettel am Ende kreuz und quer im Zimmer verstreut lagen. Ohne es zu merken begann er, mit sich selbst zu sprechen. Die Schritte, die er außerhalb des Hauses zu hören meinte, wurden lauter. Die Furcht hatte wieder das Kommando übernommen.

– 3 –

Die Verletzungen an Ninos Füßen durch das Stoppelfeld waren noch nicht verheilt. Einige der Wunden nässten und eiterten. Seine Beine lagen auf dem flachen Marmortisch. Der Stein kühlte sie angenehm. Er saß mit einem Buch auf dem Schoß auf dem roten Ledersessel im Salon.

Es war spät geworden. Um die Stille zu vertreiben, murmelte er das Gelesene vor sich hin. Ganz gleich, wie sehr er versuchte, sich in die Lektüre zu vertiefen, es beschlich ihn das Gefühl, dass jemand sich vor dem Haus aufhielt. Er legte das Buch langsam auf den Tisch.

Als seine Füße den Boden berührten, biss er die Zähne zusammen. Das Gehen fiel ihm noch schwer. Er löschte die Kerzen.

In diesem Raum war das Fenster bodentief, die Scheiben ließen sich in der Mitte öffnen. Der Holzklappladen war verschlossen. Bei geöffnetem Fenster würde er besser hören, ob sich draußen jemand bewegte.

Er bereute das Vorhaben umgehend, da der Fensterrahmen beim Öffnen laut knarzte. Steif vor Schreck hielt er inne und spürte, wie die vom Tag erhitzte Luft in den Raum drang.

War es wirklich nur Luft oder streifte ihn der Atem eines Menschen? Wie sehr er sich auch bemühte, durch die Lamellen etwas zu erkennen, die Dunkelheit verbarg es. Angst kam auf und legte sich wie ein kaltes Tuch auf seinen Rücken. Er wich einen kleinen Schritt vom Fenster zurück und verließ leise den Raum.

Bevor er nach oben ging, warf er einen Blick in die Küche. Rosa schlief. Wenige Zeit später saß er mit der geladenen Flinte in der Hand auf der Treppe, den Lauf auf die Eingangstür gerichtet. Er wartete auf ein verdächtiges Geräusch, irgendeinen Beweis, dass die Männer des Systems vor der Tür standen.

Die Zeit verging, aber zu hören war einzig das Zirpen der Grillen und das Knarren der alten Holzdielen. Leise flüsterte Nino, einem Mantra gleich: »Ich will mein Leben zurück. Ich will mein Leben. Will mein Leben. Mein Leben. Leben. Leben. Leben.«

Mit der Waffe in der Hand wich das Gefühl der Ohnmacht. Die entstandene Lücke füllte Wut, in die sich der Wunsch nach Vergeltung mischte. Er war sich sicher, etwas ändern zu müssen.

Am nächsten Abend sondierte Nino durch die Fenster das Gelände vor dem Haus, immer und immer wieder. Es war nichts Verdächtiges zu sehen. Als er überzeugt war, dass niemand vor dem Haus lauerte, ging er zur Eingangstür. Die Schrotflinte stand bereit.

Schnell öffnete er die Haustür, machte einen Schritt in die Abendsonne und schloss die Tür hinter sich. Von der Autobahn dröhnte das Geräusch der Lkws. Während er zur Scheune lief, schaute er sich in alle Richtungen um. Das große Tor war nicht verschlossen. Licht drang durch die Ritzen der langen Bretter. An einer Wand lagen Holzscheite aufeinandergeschichtet, die früher im Kamin der Küche Verwendung gefunden hatten. In einer Ecke rosteten eine Schubkarre und einige Spaten vor sich hin. Die Luft stand warm und staubig in dem Verschlag.

Er suchte einen Spalt in der Bretterwand, von dem man die Vorderseite des Hauses beobachten konnte. Die untergehende Sonne verwandelte die Fenster des Gebäudes in gelbrot leuchtende Spiegel. Hier würde er die Nacht verbringen und, wenn notwendig, die kommenden, bis er Gewissheit hatte. Er holte einen großen Holzscheit vom Stapel und setzte sich vor sein Guckloch. Das Gefühl der Kontrolle tat ihm gut.

Und dann begann das Warten. Er fuhr sich über den Mund, durch das Haar, krempelte die Ärmel des alten Hemdes hoch und runter und starrte auf die Fassade. Das Gelb und Rot in den Fenstern verdichtete sich zu Blutrot, um dann in Dunkelblauschwarz zu kippen.

Die vergehende Zeit nagte an seinen Nerven. Er malte sich aus, wie es wäre, wenn tatsächlich jemand auftauchte. Wollte er das überhaupt? Die Männer vom System würden bewaffnet sein. Wenn er ihnen gegen-übertrat, musste er damit rechnen, selbst die Flinte benutzen zu müssen. War er dazu imstande?

Er richtete seinen Blick unablässig auf das Haus. Die Straße konnte er nicht sehen, aber für einen Teil der Auffahrt reichte es. Er musste lediglich seinen Kopf zum nächsten Spalt bewegen.

Mit jeder weiteren Minute veränderte sich die Zeit ein klein wenig. Sie dehnte sich, wurde weich, bis er in ihr zu ertrinken drohte. Der Zustand reizte seinen Verstand, sodass sich die Gedanken überschlugen. Vielleicht kam heute Nacht niemand? Sollte er sich in den folgenden Nächten erneut dieser Gefahr aussetzen? Hatte ihn jemand in die Scheune laufen sehen? War er hier sicher oder lag er auf dem Präsentierteller, ohne es zu wissen?

Unbeantwortet kreisten die Fragen um sich selbst. Mit jeder weiteren Stunde in diesem Gefühlskarussell verlor er an Kraft.

In sich versunken und innerlich leer saß er gegen Mitternacht immer noch auf dem Stück Holz. Erst ein