Alles Blau der Welt - Peter Terrin - E-Book

Alles Blau der Welt E-Book

Peter Terrin

0,0
16,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der neunzehnjährige Simon will ausbrechen aus dem Leben, das seine fürsorglichen Eltern für ihn geplant haben: studieren, ein nettes Mädchen heiraten, ein Haus ganz in der Nähe bauen. Überhastet bricht er sein Studium ab und stürzt sich in eine Affäre mit Carla, die zwanzig Jahre älter ist als er und im Café des örtlichen Hallenbads arbeitet. Umgeben vom blauen Funkeln des nächtlich beleuchteten Wassers erleben die beiden eine leidenschaftliche Liebesbeziehung. Es gibt Gerüchte über Carlas Vergangenheit und über John, ihren gewalttätigen Ehemann. Doch als Simon erkennt, dass er sich in ein Gewirr aus Lügen verstrickt, steckt er schon viel zu tief in der Sache drin … In seiner klaren, suggestiven Prosa erzählt Peter Terrin die Geschichte zweier Menschen, die am entscheidenden Punkt ihres Lebens vor einer unmöglichen Entscheidung stehen. »Alles Blau der Welt« ist ein ebenso eindringlicher wie feinfühliger Roman über Freundschaft und Liebe – und über die schwierige Suche nach dem eigenen Ich.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 323

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Peter Terrin

Alles Blau der Welt

Roman

Aus dem Niederländischen übersetzt von Rainer Kersten

Dieses Buch wurde mit Unterstützung von Flanders Literature herausgegeben (flandersliterature.be).

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel»Al het blauw« im Verlag De Bezige Bij, Amsterdam und Antwerpen.

© Peter Terrin 2021

© Verlagsbuchhandlung Liebeskind 2023

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Erin Cadigan / Arcangel

Umschlaggestaltung: Robert Gigler, München

eISBN 978-3-95438-163-0

Meiner lieben Mutter

INHALT

EINS

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

ZWEI

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

DREI

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

VIER

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

FÜNF

Kapitel 1

Kapitel 2

EINS

Mitten auf dem leeren Parkplatz liegt jemand, flach auf dem Rücken, die Arme gestreckt neben dem Körper, die Füße geschlossen. Über der Betonfläche breitet sich das blaue Licht des Morgens. Es ist windstill.

Das Gelände gehört zu der verlassenen Fabrik. Vor einem Jahr, nach monatelangem Streik und gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der Polizei, wurde sie geschlossen, eine von vielen. Jeden Abend in den Fernsehnachrichten die gleichen trostlosen Bilder von trotzigen Arbeitern an Streikposten und Demonstrationen in der Hauptstadt, bei denen alles kurz und klein geschlagen wird. Erwachsene Männer werden von Wasserwerfern umgemäht, vermummte Demonstranten schleudern Tränengasgranaten auf die Einsatzkräfte zurück, Autos werden in drei Anläufen umgekippt. Die Gewerkschaften verlieren an Macht und Ansehen, die alten Industrien gehen zugrunde. Wie ein vernichtender Sturm zieht die Privatisierung über das Land.

Am äußersten Rand des Parkplatzes stehen fünf Lastwagenanhänger, nach und nach von Gestrüpp überwuchert. Ihre Abdeckplanen sind grün angelaufen und die Aufschriften nicht mehr zu lesen. Hinter der Baumreihe oben auf der Böschung rauscht der Verkehr über die Umgehungsstraße um die Provinzstadt. Es ist Montag, Anfang August.

Ein Junge folgt dem Weg, der vom Wohngebiet an den Bäumen entlang zu den Sportplätzen und zum Hallenbad führt. Er hat wenig Zeit; in einer halben Stunde beginnt sein Ferienjob in einem Heimwerkermarkt. Für den kleinen Welpen, der neben ihm herläuft, ist er verantwortlich. Wenn er einen Hund will, sagt sein Vater, muss er sich auch darum kümmern. Alle Hundejungen sind süß, aber so ein Tier lebt gut und gern fünfzehn Jahre. Ob ihm das klar ist? Ein Hund ist kein Spielzeug. Ein Hund ist wie ein Kind, er ist immer da.

Der Junge betrachtet seinen Welpen, die dicken Beinchen, den weichen Körper. Schon beim Schwanzwedeln gerät er aus dem Gleichgewicht. Sie gehen nicht bis zum Sportplatz, dazu ist keine Zeit. Als der Junge zu schnell die Böschung hinabsteigt, stolpert der Hund und kugelt nach unten, wo er sich kurz schüttelt und fröhlich weiterläuft. Nach ein paar Metern stutzt der Junge: Am Rand seines Blickfelds sieht er auf dem Beton etwas liegen.

Von seiner Position aus kann er nicht erkennen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt. Es ist zu weit weg, und die Person liegt mit den Füßen oder besser: den Schuhsohlen zu ihm. Einen Augenblick lang bleibt er stehen und schaut hin, als sei er Zeuge eines seltsamen Schauspiels und die Person könne jeden Moment aufstehen und sich davonmachen. Ist diese Inszenierung für ihn bestimmt, hat man auf ihn als Publikum gewartet? Ihn beschleicht das Gefühl, dass ihm jemand einen Streich spielt, sich über ihn lustig macht. Er geht weiter und tut, als ließe ihn dieser merkwürdige Anblick kalt. Man sieht kein Fahrrad, kein Auto, die Person liegt auf dem Rücken mitten auf dem Parkplatz, wie bewusst dort platziert. Außerdem verhält sich sein Hund die ganze Zeit normal und winselt nicht, obwohl Hunde Tod und Gefahr doch sofort riechen. Oder ist sein Hund noch zu klein?

Als sich der Junge den Fabrikgebäuden nähert und der Parkplatz allmählich aus seinem Blickfeld verschwindet, wird die Versuchung zu groß und er blickt noch einmal zur Seite. Die Person liegt reglos da. Er oder sie kann ihn unmöglich beobachtet haben. Vielleicht schaut ein Kumpel von irgendwoher heimlich zu. Der Junge späht umher, auf der Suche nach einem geeigneten Versteck.

Die sollen gefälligst jemand anderen reinlegen. Schnell geht der Junge nach Hause, er ist spät dran. Sein kleiner Hund trottet hinter ihm her.

1

Carla schlendert zur Jukebox. Mit beiden Händen stützt sie sich auf die Glasplatte und liest die Songtitel, die erst letzte Woche erneuert worden sind. Die Kärtchen sind mit Kuli in Großbuchstaben beschriftet. An der Bar steht ein Radio, aber John findet, dass in eine Kneipe eine Jukebox gehört, auch wenn die umsonst spielt. Das war schon immer so, und wenn es nach ihm geht, wird es auch so bleiben. Es ist seine Kneipe, sagt er.

Im Lokal sind um diese Uhrzeit nur wenige Gäste. Ein älterer Mann sitzt mit Kaffee und Zeitung in einer Ecke, an der Bar trinken zwei junge Frauen Weißwein. Es ist Samstagnachmittag, die Leute sind noch am Einkaufen oder tun Dinge, die Carla samstagnachmittags schon seit Jahren nicht mehr tut, weil sie immer hier arbeitet. Etwas später kommen mehr Hallenbadbesucher, Mütter mit kleinen Kindern, die nach dem Planschen einen Kakao trinken. Hormongebeutelte Jugendliche, die sich im Schwimmbad verabredet haben.

Wenn das Sonnenlicht durch die große Glastrennwand zur Schwimmhalle fällt, sieht man einen weißen Belag, der vom Chlor stammen muss. Auch auf den Außenfenstern der Halle ist der Belag zu erkennen, allerdings nur bei direkt einfallender Sonne. Bei künstlichem Licht oder nach Betriebsschluss, wenn die Nachtbeleuchtung im stillen Schwimmbecken alles in einen bläulichen Schein taucht, sieht man merkwürdigerweise nichts mehr.

Carla hört die gedämpften Schreie von zwei Mädchen mit Schwimmflügeln, die auf der anderen Seite des Beckens auf das Sprungbrett zutrippeln. Die Kleinere klettert die Leiter empor und rennt über das Brett ins Leere, als hätte sie das Ende nicht gesehen. Die Ältere springt mit zugehaltener Nase hinterher. Zwei Schwestern, da ist Carla sich sicher. Sie lächelt.

Vielleicht ist der Belag auch etwas anderes, Feuchtigkeit zwischen den Doppelglasscheiben, obwohl Carla auch weiterhin vor allem auf Chlordämpfe tippt. Wenn sie wochentags gegen Mittag die Kneipe aufschließt, um zu wischen, hat das Chlor den Zigarettengeruch weggefressen. Über Nacht lässt sie die Tür zum Eingangsbereich der Schwimmhalle offen.

Auf die Jukebox gestützt, schaut Carla durch das zweite »a« von Azzurra nach draußen. Der Name der Kneipe steht in großen Lettern auf der Scheibe. Der weitläufige Parkplatz ist zur Hälfte mit Autos von Besuchern des Fitnessstudios und der Sporthalle nebenan belegt sowie von Leuten, die hier umsonst parken und die paar Meter bis zur Einkaufsstraße zu Fuß gehen. Carla schaut erst auf ihre Armbanduhr und dann auf die Toreinfahrt in Richtung Stadt, zwei offene Bögen in einer geschlossenen Häuserreihe, die einst für Kutschen bestimmt waren. Von ihrem Standpunkt aus sind sie knapp ihrem Blick entzogen. Noch nie ist sein rotes Auto gekommen, während sie an der Jukebox stand und durch das »a« spähte. Aber nicht in Richtung Einfahrt zu schauen ist einfach unmöglich.

Da kommt auch schon der Junge auf seinem Fahrrad, pünktlich auf die Minute, Sporttasche auf dem Gepäckträger, doch heute ohne das blonde Mädchen mit dem Zopf. Jeden Samstag tauchen sie um zwanzig nach drei auf. Meistens unterhalten sie sich angeregt; der Junge fährt freihändig, und die beiden schauen sich an. Carlas Blick folgt dem Jungen, bis er hinter den Fahrradständern verschwindet. Sie hat keine Ahnung, was für einen Sport die zwei treiben, doch offenbar kann man ihn auch allein ausüben. Carla weiß nichts über den Jungen und das Mädchen, nicht mal ihre Namen. Trotzdem hat sie das Gefühl, die beiden zu kennen, als gäben sie durch die paar Meter Radeln über den Parkplatz und ihren ungezwungenen Umgang miteinander etwas von sich preis, was nur sie, Carla, wahrnimmt.

Sie drückt erst das »B«, dann die »14« und beobachtet die mechanischen Abläufe in der Jukebox: wie sich das Rad mit den glänzenden schwarzen Scheiben dreht, anhält und der Greifarm entschlossen die Platte herauszieht, die Nadel sich langsam in die Rille senkt. Die Musik setzt ein, fast religiös, wie eine Kirchenorgel, dann kommt eine Gitarre dazu. Carla hat Buchstaben und Zahl per Zufall gewählt. U2, liest sie auf dem Kärtchen neben dem Buchstaben-Zahlencode. »Where the streets have no name«.

Sie wirft einen letzten Blick nach draußen und spürt das Vibrieren der Bässe an ihren Oberschenkeln. Kein Auto biegt auf den Parkplatz ein. Ein Mann steigt in einen Lieferwagen, der gleich darauf blaue Rauchschwaden ausstößt. Sie schaut zu, bis das Fahrzeug durch die Einfahrt verschwindet. Die zwei kommen immer gemeinsam, der eine manchmal etwas früher als der andere, aber nie nur einer allein. Marc hat dunkles Haar und einen Schnauzer und ist mindestens einen Kopf kleiner als der Blonde, Simon, der etwas leiser redet als sein Kumpel.

Es gefällt ihr, dass hier nur die Jukebox läuft und nie das Radio, außer bei Fußballreportagen. Dadurch wird es zwischendurch mal still, und die Musik dudelt nicht ununterbrochen. Bis irgendjemand etwas Abwechslung möchte, zur Musikbox geht und ein paar andere ihm ihre Wünsche hinterherrufen, sodass alle wissen, gleich gibt’s Musik, und mangels besserer Beschäftigung auf die ersten Töne lauschen: Wie schnell erkennt jemand den Song, wer errät ihn als Erster?

Manchmal ruft Marc etwas in den Raum. Er hat Ahnung von Musik, verfolgt die neuesten Entwicklungen und Charts. Im Nu kann er die Codes der Jukebox auswendig. Simon hält sich zurück und genießt – wie Carla – vor allem die Stimmung, die in solchen Momenten entsteht. Anfangs rätselt sie, was die beiden hier suchen, warum sie immer wiederkommen. Sie sind kaum zwanzig und gehören eher in die Brugstraat, ins »Klomp« oder ins »Loods«. Studenten, clevere Jungs mit glänzender Zukunft. Doch schon bald sagt ihr irgendetwas an ihrem Verhalten, dass die beiden anders sind und wenig Interesse an dem Gewühl der überfüllten Jugendkneipen haben. Noch haben sie nicht den richtigen Platz für sich gefunden. Nicht, dass das Azzurra der richtige Platz für sie wäre, doch hier lässt man sie wenigstens in Ruhe, und sie müssen niemandem etwas beweisen. Wenn die Hallenbadbesucher weg sind, sitzen hier nur noch Leute, die sich mit ihrem Leben abgefunden haben, obwohl die meisten jünger sind als Carla. Fabrikarbeiter vor allem. Ein Berufssoldat, ein Postbote. Jungs von der Berufsfachschule, die früh am Abend zum Billardspielen kommen.

Freitag- und samstagnachts kommt Carla auf dem Nachhauseweg am »Klomp« vorbei. Im Sommer wechselt sie vorher die Straßenseite, weil Trauben von Leuten davorstehen; im Winter laufen dicke Tropfen Kondenswasser an den beschlagenen Scheiben herunter. Jungen und Mädchen in schwarzer Kleidung sitzen auf der niedrigen Fensterbank, den Rücken am Fenster, manche in sich zusammengesunken, schlafend, betrunken, andere in lange Zungenküsse verwickelt. Es herrscht schummrige Beleuchtung. Die Musik ist laut und aggressiv und klingt manchmal wie Maschinenlärm.

Der Greifarm nimmt die Platte vom Teller, und Carla drückt die A09, bevor sie zum Tresen zurückgeht. Vanessa Paradis, »Joe le taxi«. Die beiden Mädchen im Schwimmbad kommen zur Trennwand gelaufen und klopfen, bis ihr Opa von seiner Zeitung aufblickt. Sie lachen und winken, rufen etwas Unverständliches und trippeln wieder davon. Unter den Leuten im Becken ist niemand, der ihre Mama sein könnte, denkt Carla. Wer wird ihnen nachher in der Umkleide beim Abtrocknen helfen, beim Anziehen, ihnen die filzigen Stellen aus den Haaren bürsten? Wo ist ihre Mutter?

2

Auf dem Bürgersteig gegenüber dreht Simon sich um und schaut an dem Gebäude empor, in dem er seit dem letzten Jahr studiert hat. Klassische Fassade, große Fenster, elegant umrahmt von restauriertem Stuck, eher im Stil eines Bankinstituts als einer Universität. Innen überall nur Neonlampen an den Decken. Wie in einem Duell stehen die beiden sich gegenüber, Simon und das Gebäude, von der Straße getrennt. Doch der Kampf ist nun ausgefochten.

In Gedanken hört er immer noch Ryckaert aus der Methodenlehre-Vorlesung von eben. Ein Mann mit Rauschebart, der auf dem Podest vor dem Whiteboard hin- und herläuft, manchmal einen Stift aus der Ablage nimmt, um ein Wort aufzuschreiben, das nur lesen kann, wer genau zugehört hat. Simon muss an die Locken des jungen Mädchens vor ihm denken, blond, federnd, frisch gewaschen. Wie er auf die ausladende Frisur starrte, die das Sonnenlicht einfing. Er spürt wieder die tödliche Langeweile, die Ryckaert verbreitet, und sein Entschluss steht mit einem Mal fest. Übergangslos. Ein Schalter wird umgelegt.

Vielleicht liegt es an ihren Locken, seinem Versinken in dem blonden Wirbel. Das Aufscheinen einer anderen Welt, gleichsam vertraut oder unbestimmt erinnert. Etwas, wo er sofort, unbedingt, hinmuss.

Er kann sich schon nicht mehr vorstellen, dass es je anders war, an diesem Morgen, noch vor zehn Minuten sogar. Er kann sich nicht vorstellen, ernsthaft dieses Studium in diesem Gebäude durchzuziehen. Er dreht sich um, steckt sich eine Zigarette an und wirft sich die Tasche über die Schulter. In der Nähe der Abtei sucht er sein Auto.

Er verirrt sich in einem ihm unbekannten Viertel. Schmale, auf beiden Seiten zugeparkte Straßen. Kleine Häuser mit rauchenden Männern in den Türöffnungen, Bettzeug, das schamlos aus dem Fenster gehängt wird. Kurz darauf findet er einen Weg aus dem Labyrinth der Gassen, die alle gleich aussehen. Die Autobahn benutzt Simon nie. Lieber nimmt er die Fernstraße in die Provinzstadt und fährt von dort aus weiter ins Dorf. Fast alle seine Bekannten haben sich eine Studentenbude genommen. Er hat sich für das Auto entschieden.

Du musst dich entscheiden, sagt eines Tages sein Vater, aber für uns ist beides in Ordnung, deine Großmutter gibt etwas dazu. Schon seit Monaten steht der Mazda 323 mit aufgebocktem Heck vor dem Ausstellungsraum des Gebrauchtwagenhändlers Dhont. Auf dem Dach ein Schild mit der Aufschrift »Top-Angebot«. Ein rotes Coupé mit grauem Zierstreifen unten, Alufelgen und zwei verchromten Auspuffrohren. Als der alte Dhont ihm feierlich die Autoschlüssel überreicht, schaut er Simon tief in die Augen. Denk dran, sagt er, der Motor ist getunt. Sei vorsichtig, sagt er, eh’ du dich’s versiehst, fährt das Auto mit dir. Er wartet auf ein Nicken von Simon, bevor er ihm die Schlüssel in die Hand gleiten lässt.

An Wochenenden kann er jetzt hinfahren, wo immer er will. Kein endloses Warten mehr auf den Bus, kein Vater mehr, der ihn abholt, wenn der Abend gerade erst anfängt. Er braucht niemanden mehr, ist von niemandem mehr abhängig.

Simon sieht die Reflexion seines dahinsausenden Wagens in den Glasfronten der Gebäude, die sich an der Landstraße entlangziehen. Autohändler, Möbelhäuser, Versicherungen. Es ist ein Wagen, der auffällt, aber nicht zu sehr, nur Leuten, die was von Autos verstehen. Er selbst findet seinen Mazda einfach schön. Wenn die Speichenfelgen sich drehen, geht das glänzende Aluminium nahtlos in den grauen Zierstreifen über. Alles stimmt, perfekt ausgeklügelt. Trotzdem im Grunde nichts Besonderes, weiß Simon, schlussendlich ist es nur ein Auto. Aber irgendwo muss man anfangen, und wie ein Anfang fühlt der Mazda sich an.

Zwischen den großen, modernen Gebäuden liegen Bordelle. Die meisten Vorhänge sind zugezogen, hier und da sieht man im Schaufenster einen leeren Barhocker. Erst zehn nach elf. Simon fragt sich, ob in Bordellen in Schichten gearbeitet wird, um frühe Kunden zu bedienen. Ein geschlossener Vorhang oder leerer Barhocker kann auch morgens bedeuten, dass die betreffende Dame gerade einen Kunden hat. Ein Stück weiter herrscht hinter einer Scheibe Betrieb, eine Frau in hellgrüner Schürze ist mit dem Staubsauger beschäftigt. Sie trägt Jeans und hat aschblondes Haar. Sind die langen Beine und die schlanke Figur Zufall? Oder spielt sie Theater für eine bestimmte Art von Freiern?

Simon denkt an das Mädchen aus der Vorlesung, ihre herrlichen blonden Locken. Er weiß nicht, wer sie ist. Als er hinter ihr Platz nimmt, sitzt sie schon da, und ihre üppige Frisur verbirgt ihr Gesicht. Vielleicht trägt sie ihr Haar normalerweise in einem Zopf oder einem Dutt, obwohl er sich auch an eine solche Kommilitonin nicht erinnern kann. Sie hat die Vorlesung bis zum Ende gehört, sich nicht einfach davongeschlichen wie er. Sie schreibt eifrig mit, Ellbogen abgespreizt, strafft ab und zu den Rücken, konzentriert sich auf Ryckaert und beugt sich dann wieder konzentriert über ihre Notizen. Bestimmt hat sie eine leserliche Handschrift. Nach dem Studium wird sie sich alles aufheben, in einem speziellen Bücherregal, das an einem Ehrenplatz in ihrem Büro steht: die Grundlage ihres Erfolgs im Geschäftsleben.

Nicht nur vor der Stadt und dem Mädchen scheint Simon zu fliehen, auch vor dem Leben, das für ihn vorgesehen ist: ein Haus in einer ruhigen Wohngegend, mit Garten und hohen Tannen, einer Familie vielleicht. Kurz flackert sein Interesse am Studium noch einmal auf, spürt er, wie es sich für das Mädchen anfühlen muss, eine gewisse Begierde, der Wunsch nach Erkenntnis. Er könnte morgen zurückkehren, genau genommen ist noch nichts passiert. Nachher, wenn seine Eltern aus der Fabrik zurückkommen, wird er ihnen weismachen, dass er sich krank fühlt. Seine Mutter wird antworten: Gut, dass du gleich nach Hause gekommen bist, und ihm einen Zitronentee mit ordentlich Honig machen. Abends wird er früh auf sein Zimmer gehen und verspricht, heute nicht mehr zu rauchen, und am nächsten Morgen geht es ihm wieder besser.

Simon sieht sich in die Stadt zurückfahren, morgen. Er schüttelt den Kopf, und das Bild ist augenblicklich verschwunden.

3

John fährt nachts und an Wochenenden, wenn es doppelten Stundenlohn gibt. In seiner Kneipe arbeitet er nie, wie es sich für einen guten Chef gehört, sagt er, an den Tresen gelehnt. Er sagt es dröhnend laut, damit alle ihn hören. Er spricht gern kurz und bündig, mit donnernder Stimme. Manchmal unterstreicht er seine Worte mit einem Faustschlag auf den Tresen. Die über ihm hängenden Gläser klirren.

Wenn es passt, schaut er für zehn Minuten im Azzurra vorbei, nur um im schmalen Durchgang zum Tresen Carla im Weg zu stehen. Er trinkt Orangenlimonade. Wenn er brüllt, dass die Gläser klirren, wird sein ironisches Lächeln von seinem Hängeschnauzer verdeckt. Es macht ihm Spaß, andere zu verunsichern. Sollen die mal schön grübeln, denkt er, dann bist du ihnen immer einen Schritt voraus. John fallen die Haare aus, das ging bei ihm früh los, schon mit dreiundzwanzig schimmert seine bleiche Kopfhaut durch. Jetzt, mit vierzig, hat er nur noch einen schwarzen Kranz um den eckigen Schädel und ein schwarzes Hufeisen um den Mund. Seine Augen sind fahlgrau und ausdruckslos.

Groß ist John nicht, er steht immer am Rand des Podests hinter dem Tresen. Carla darf keine hohen Absätze tragen. Tut sie es doch, nennt er sie eine Nutte, vor allen Gästen. Guckt, wie sie mit dem Hintern wackelt, sagt er zu den lachenden Männern, eine Hure, ich sag’s doch, und grinsend gibt er ihr einen Klaps auf den Po. Er meint es nicht böse. Nicht immer.

Es ist ein Privileg, nachts und an Wochenenden zu fahren. Aber darum stinkt es nicht weniger als für die Fahrer am Tag. Er riecht es, wenn er die Kabine betritt und auch noch hinterher, im Qualm der unzähligen Gauloises am Ende der Schicht. Im besten Fall kann man es kurz vergessen, aber wirklich daran gewöhnen tut man sich nie. John fährt Schlachtabfälle zur Abdeckerei. Irgendjemand muss es machen, sagt er, und keiner macht es besser.

Seit achtzehn Jahren arbeitet er bei der Spedition, er ist der Dienstälteste. Das Azzurra bringt nicht genug ein, um zu zweit davon zu leben. Das macht ihm nichts aus. Nichts ist so nervig wie betrunkene Männer am Tresen. Wie Carla das aushält, ist ihm ein Rätsel. An ihr prallt alles ab, das dumme Geschwätz, das Gezänk, das Gejammer, das Selbstmitleid. Zu Hause spricht sie wenig davon. Wie immer, antwortet sie, wenn er fragt, wie es bei der Arbeit war. John glaubt ihr, es ist immer dasselbe, jeder Tag hat seinen festen Ablauf.

In ihrem Reihenhäuschen begegnen sie sich, wenn Carla spät ins Azzurra aufbricht und John früh wach wird. Sein Frühstück steht schon bereit, das Haus ist sauber und ordentlich und riecht frisch nach Bügelhilfe. Seine Kleidung liegt auf dem Schemel im Bad für ihn bereit. Er bietet ihr eine Zigarette an, gibt ihr Feuer, und sie rauchen zusammen am Tisch. Wenn er etwas fragt, gibt Carla meist Antwort.

Sie hat nie viel geredet, doch seit ein paar Jahren, so hat er das Gefühl, steckt mehr dahinter. In seinem Lastwagen hat er Zeit zum Nachdenken. Ihr achtunddreißigster Geburtstag, vor fast drei Jahren inzwischen, damals hat es angefangen. Carla sitzt heulend am Küchentisch und will nicht sagen, was los ist. Das kleine Geschenk steckt sie ungeöffnet in ihre Umhängetasche, bevor sie ins Azzurra aufbricht.

Es geschieht nur einmal, dieses Heulen am Tisch, aber seitdem ist irgendwas anders. John weiß nicht, ob er weiterbohren soll. Was kann er schon tun? Er tut, was er immer tut, mürrisch und laut, und weiß: Es ist nur Theater. Carla konnte immer über ihn lachen. Vielleicht ist »lachen« nicht das richtige Wort, sie lacht nie laut. Ein Lächeln erscheint in ihrem Gesicht, und sie schlägt die Augen nieder, verlegen, wendet sich ab. Diese Reaktion kennt er inzwischen und interpretiert sie als Zustimmung. Sie akzeptiert, wer er ist und wie er sich verhält. Vielleicht trägt er deswegen extra dick auf.

John kann sich die Veränderung in ihrem Verhalten nicht erklären, und er wird wütend und brüllt, auch wenn Carla nichts falsch macht. Wenn er spricht, schaut sie ihn geduldig an, und wenn er etwas fragt, antwortet sie freundlich, das Haus ist sauber und aufgeräumt, das Frühstück steht immer bereit, das Abendessen braucht er nur in den Ofen zu schieben, und im Bad liegen seine Klamotten zusammengelegt auf dem Schemel. Wenn er in der Nacht die Hand auf ihre Hüfte legt, dreht sie sich zu ihm und hilft ihm, oder sie setzt sich auf ihn. Es ärgert ihn, zum ersten Mal ärgert es ihn, dass er die Stimme erhebt.

Warum küsst du mich nicht mehr?, fragt er eines Tages.

Er fragt es ganz ruhig, am Plastikgartentisch auf der Terrasse, er trinkt Kaffee und schaut zu, wie Carla Wäsche aufhängt. Er fragt es leise, damit die Nachbarn ihn durch die offene Tür zum Garten nicht hören. Er hasst sich für diese melodramatische Frage. Unverzeihlich, findet er, dass Carla ihn so weit bringt. Sie zwingt ihn, etwas zu tun, wovon sie weiß, dass er es hasst.

Ich hab dich was gefragt, sagt er.

Sie arbeitet ruhig weiter, und als sie fertig ist, kommt sie zu ihm und stemmt beide Arme auf den Tisch. Er kann ihr in die Bluse sehen, ihre vollen Brüste im weißen BH. Offenbar will sie ihm zeigen, was die Männer im Azzurra zu sehen bekommen.

Ich hab dich was gefragt, wiederholt er, jetzt lauter.

Carla schaut ihn ungerührt an und beugt sich zu ihm, als wolle sie etwas sagen, leise, sie wägt ihre Worte sorgfältig ab. John hat das Gefühl, sie will ihn herausfordern, bringt ihr Gesicht mit Absicht in Reichweite seiner Hände. Er weiß, was geschehen wird, wenn sie nicht schnell antwortet, nicht aufhört zu starren. Er spürt, wie es in seiner Brust anschwillt, er kennt es von früher, aus seiner ersten Ehe. Es ist nicht mehr zu stoppen.

Ein warmer Nachmittag im Sommer, die Tauben des Nachbarn schwirren um ihren Schlag. Es klingt wie ein Seufzen, jedes Mal, wenn sie über das Haus scheren, das kurze Sirren in der stillstehenden Luft. John spürt das Brennen an seinen Fingern. Wie früher glaubt er, es würde etwas bewirken, zum Guten ändern, dass er mit seiner Kraft etwas hoffnungslos Festgefahrenes in Bewegung gesetzt hätte. Reue wegen der Ohrfeige empfindet er nicht. Er ist enttäuscht, dass es so weit kommen musste, dass Carla ihn so weit bringt. Jetzt weiß sie Bescheid. Jetzt können sie weitermachen.

4

Das ist nicht dein Ernst. Echt? Marcs Blick irrt zu den Betonplatten auf der Terrasse. Bei Simons Füßen sieht er Moos in den Fugen, rostbraun durch die Trockenheit. Er kann es nicht glauben. Simon ist intelligenter als er. Simon kann werden, was immer er will. Das Studium abbrechen? Marc lässt die Luft aus seinen aufgeblasenen Wangen. Und was sagen deine Eltern dazu?

Marc hört, wie seine Mutter im Haus mit dem Löffel in einer Schüssel herumkratzt. Es ist Samstagmittag, seine Eltern und sein Bruder sitzen noch zu Tisch. Er hat schnell aufgegessen und ist mit Simon in den Garten gegangen. Simon parkt immer vor der Garage in der Straße hinter dem Haus. Alle Besucher kommen durch die Hintertür. Wenn es klingelt, ist es ein Fremder.

Simon wartet auf der Terrasse, während Marc Jacke und Portemonnaie holt. Am Esstisch entsteht eine kurze, gedämpfte Diskussion, der Simon nicht folgen kann, ein paar Sätze, eine bissige Antwort. Er kommt sich vor wie ein Eindringling und geht schon mal zu seinem Auto, nicht über den Rasen, sondern über den Kiesweg, der einen kleinen Bogen zur Garagentür beschreibt, damit man drinnen seine sich entfernenden Schritte hört.

Marcs Eltern sind ein ganzes Stück älter als die von Simon. Marc war nicht geplant, oder besser gesagt, ein wahres Wunder, angesichts des Alters der Mutter bei seiner Geburt. Sein Bruder ist siebzehn Jahre älter als er. Simon besucht ihn nicht gern zu Hause, denn die Stimmung dort ist immer seltsam angespannt, vor allem, weil der Bruder noch daheim wohnt, aber mit seinem Vater nicht spricht. Marcs Bruder ist meist in einen schmutzigen blauen Kittel gehüllt. Jede freie Minute bastelt er an einem alten Citroen SM herum, der schon seit Jahren komplett demontiert ist.

Durch die Garage geht Simon etwas langsamer. Die Werkbank ist tipptopp aufgeräumt, an der Wand hängt Werkzeug, darüber ein Kruzifix, hinter dem ein verdorrter Palmenwedel steckt. Auf einem Regalbrett ein Transistorradio, die Antenne schräg zum trüben Fenster gerichtet. Der Geruch von Gummi und Handwaschpaste. Nach der schmalen Straße hinter dem Haus scheint die Provinzstadt aufzuhören. Wiesen voller Maulwurfshügel, Kühe liegen im Schatten des nackten Sockels einer Hochspannungsleitung.

Er lehnt sich an sein Auto und raucht eine Zigarette. Er mustert seine weißen Basketballschuhe und krempelt die Ärmel seines breitschultrigen Leinensakkos um. Marc kommt aus dem Dunkel der halb offenen Garage, setzt seine Sonnenbrille auf und stellt sich schweigend zu ihm. Mit dem Blick folgen sie einer alten Frau im Blümchenkleid, die sich ihnen mit dem Rad nähert, über den Lenker gekrümmt und so langsam, dass sie fast umkippt. Immer schön geradeaus, sagt Marc lakonisch, als die Frau schließlich auf ihrer Höhe angekommen ist. Sie lächeln, und die Spannung, die Marc mit nach draußen gebracht hat, ist mit einem Mal verflogen. Mazda?, fragt Marc. Simon nickt und schnippt seine Kippe weg. Mit seinem Bruder teilt Marc sich einen weißen Ford Escort 1100, nichts Tolles, die alte Mühle seiner Eltern. Sie steigen ein und kurbeln die Fenster nach unten. An der Kreuzung holt Marc eine Kassette aus seiner Brusttasche und schiebt sie in den Rekorder. Was ist das?, fragt Simon. INXS, antwortet Marc, »New Sensation«, und Simon swingt mit dem Kopf mit und dreht die Lautstärke auf.

Die Musik ist zu laut zum Reden. Schweigend fahren sie durch die belebte Innenstadt. Simon hält für jeden Passanten, der die Einkaufsstraße überqueren will. Am Morgen hat er den Mazda gewaschen. Die Alufelgen glänzen wie neu, obwohl nach der Fahrt von der Siedlung zu Marc schon wieder feiner schwarzer Bremsstaub darauf liegt, den man allerdings nur sieht, wenn man mit dem Finger darüberfährt. Er hat den Mazda im Schatten gewaschen, damit das Shampoo nicht zu schnell trocknet und keine Flecken auf dem Lack hinterlässt, ein Tipp seines Vaters. Samstagmorgens liegt die Garageneinfahrt zufällig im Schatten. Sein Vater wäscht den Opel Ascona immer freitags, wenn er eine Stunde früher aus der Fabrik zurück ist. Bei schönem Wetter fällt dann die Sonne in die Einfahrt. Aber sein Vater wäscht in drei Phasen: Oberseite, Unterseite und Räder, schön nacheinander. So kann man es auch machen, sagt er zu seinem Sohn, damit ist man dem Trocknen immer einen Schritt voraus.

Simon darf das Autowaschzeug seines Vaters benutzen, wenn er es hinterher wieder genauso wie vorher in die Garage zurücklegt. Im Eimer findet er eine Strumpfhose seiner Mutter; sein Vater verwendet sie für die eingetrockneten Insekten auf Scheinwerfern und Stoßstange. Das alte Fensterleder ist voller Löcher, aber die alten sind die besten, sagt sein Vater. Neue Leder saugen einfach nichts auf. Sein Vater hat kräftige Hände und schwielige Finger, die das Leder kaputt wringen. Zwei weitere Männer in ihrer Straße waschen jeden Samstagmorgen ihre Autos, einen weißen Peugeot und einen hellbraunen Volvo Kombi. Es ist, als würde Simon ungefragt in eine Gruppe aufgenommen, eine Gruppe von Männern, mit denen er nichts zu tun hat.

Als sie das Stadtzentrum hinter sich haben, fährt Simon schneller. Ab und zu schaltet er einen Gang zurück und lässt den Motor aufheulen. Er nimmt die Landstraße zur Stadt im Süden der Provinz, wo Marc an der Fachhochschule studiert. Die Strecke unterscheidet sich wenig von der zu Simons Universitätsstadt. Teppichhändler, Gartencenter, Frittenbuden und Teestuben, Bad- und Sanitär-Läden, Trödler und eine Windmühle ohne Flügel. Die Bordelle sind besser versteckt, anonymer, diskrete Neonbeleuchtung hinter dicken Fichten, ein Schild, das einen zu einem Parkplatz auf der Rückseite des Etablissements lotst.

Marc ist froh, dass ihr gemeinsamer Samstag heute früher beginnt und er nicht erst um fünf oder sechs von zu Hause loskommt. Es fühlt sich wie ein kleines Abenteuer an, mitten am Wochenende seine Fachhochschule und die anderen Studierenden zu sehen. Als würden Simon und er schon zum Partymachen ausziehen, obwohl er gleich einen weißen Kittel überstreifen und ein paar Experimente im Labor vorführen muss. Der Campus liegt zwischen einem Villenviertel und einem Gewerbegebiet, ein neu gebauter, einladender Gebäudekomplex. Er kann sich nicht vorstellen, zu Hause plötzlich mit der Nachricht anzukommen, er wolle sein Studium abbrechen. Seine Eltern würden es für einen Witz halten, und sein Bruder würde bestimmt laut loslachen. Marc findet es aufregend, dass Simon den Mut gehabt hat, sein Studium zu schmeißen.

Was haben sie gesagt, fragt Marc, als du’s ihnen erzählt hast? Nicht viel, antwortet Simon. Sie haben gefragt, was ich denn stattdessen vorhätte. Da hab ich geantwortet, ich weiß es noch nicht. Willst du was anderes studieren? Simon zuckt mit den Schultern. Waren sie nicht sauer oder so? Gefreut haben sie sich nicht. Und wie hast du’s ihnen gesagt? Ganz normal: Ich hör auf. Ich hör auf? Ja. Keine Erklärung, nur: Ich hör auf? Ja. Und dann? Wie haben sie reagiert? Meine Mutter hat weiter abgewaschen, und mein Vater hat die Teller, die ich abgetrocknet hatte, in den Schrank gestellt. Und das war’s, echt? Ein paar Minuten später hat mein Vater gefragt, was ich nun stattdessen vorhätte.

Simon weiß: Marcs Eltern wären wütend geworden. Er kann sich denken, worum es bei den gedämpften Diskussionen geht, wenn er Marc abholt. Es hat nie jemand ausgesprochen, und Marc schon gar nicht, aber er spürt, dass er den Eltern im Grunde nicht gut genug ist. Es spielt keine so große Rolle, aber diese Stimmung schwingt immer mit. Simons Eltern haben mit vierzehn in der Fabrik angefangen. Sie wohnen in einem Reihenhaus in »der Siedlung«, einem sozialen Neubaugebiet. Marcs Vater ist Buchhalter bei der Staatlichen Telefongesellschaft in der Hauptstadt, seine Mutter ist Hausfrau. Reich sind sie nicht, Marc bekommt weniger Taschengeld als er, und doch ist bei ihnen alles anders. Zum Beispiel hat Marcs Vater ein Hobby. Auf dem gesamten Dachboden hat er auf Böcken und Spanplatten eine Berglandschaft nachgebaut, mit acht verschiedenen Strecken für seine elektrische Eisenbahn. Auf den Alpenwiesen weiden Kühe, auf einem Bahnsteig warten Kinder in Schuluniform. Marc behauptet, sein Vater verkleide sich als Schaffner, er habe eine Uniform mit Mütze, und sonntagnachmittags, wenn er mit der Eisenbahn spielt, statt zu basteln, könnten sie vom Speicher her seine Trillerpfeife hören.

Simon fühlt sich versucht, seine Eltern zu verteidigen, denn er vermutet, dass Marc in ihrer ersten, gelassenen Reaktion den Beweis dafür sieht, dass ihm zu Hause das Studium madiggemacht wird. Er erklärt, nächste Woche werde darüber bestimmt noch ein ernstes Wörtchen gesprochen. Sein Vater denke vor dem Reden lieber immer erst nach, und noch während er es ausspricht, denkt er selbst: Lügner. Kurz darauf gibt er zu, dass seine Mutter es vielleicht gar nicht so schlimm findet und jetzt wahrscheinlich hofft, er würde hier in der Nähe bleiben und ein Haus auf dem ehemaligen Land von Bauer Tuyt direkt hinter der Siedlung bauen.

Es herrscht viel Betrieb, der Tag der offenen Tür von Marcs Hochschule ist ein voller Erfolg, die Stellflächen auf dem Campus sind alle besetzt. Sie finden einen Parkplatz im Villenviertel. Am Eingang zum Gebäude vereinbaren sie eine Uhrzeit und gehen auseinander. Simon bleibt eine Weile auf dem Innenhof stehen und raucht eine Zigarette. Anders als an seiner Uni gibt es hier Licht, Luft und Natur. Die künftigen Ingenieurinnen und Ingenieure werden fast alle von ihren Eltern begleitet. In vielen Frisuren, Kleidungsstücken, Schuhen und Brillen erkennt er seine eigenen Eltern wieder. Er streift von Gebäude zu Gebäude und beobachtet einige wissenschaftliche Experimente, die von den Studierenden verschiedener Fachbereiche mit großem Ernst durchgeführt werden. In einem verglasten Durchgang mit einem Tisch und einem Info-Display spricht eine junge Frau ihn an und will wissen, ob sie ihm helfen könne, ob er vielleicht Fragen habe, und weil die Frau ein offenes und freundliches Gesicht hat, lauscht er ihrem Vortrag über die Hochschule und nimmt eine kleine Broschüre entgegen. Wieder vor der Tür fällt ihm ein, was für eine Ironie darin liegt, dass er ausgerechnet nach seinem Entschluss von vorgestern diesen Tag der offenen Tür besucht. Aber am Wochenende sind Marc und er nun mal immer zusammen. Draußen kommt Wind auf, ein sanftes Rauschen fährt durch die Baumwipfel. Er legt die Broschüre auf eine Bank.

Als er seinen Freund hinter einer Scheibe im Laboratorium stehen sieht, mit weißem Kittel und Schutzbrille, sieht er nicht Marc, den Studenten, sondern schon Marc, den Biochemiker, der bloß noch sein Studium zu Ende bringen muss. Dieses Bild wirft ihn auf sich selber zurück, als sei Marc schon unerreichbar geworden. Ihre Blicke treffen sich. Erst hebt Simon die Hand, dann Marc, und es wirkt wie ein stummer Abschied.

Marc geht mit Simon in eine Kneipe am Bahnhof. »Het wit paard.« Am Tresen steht eine ältere Frau, auf dem Kopf ein Turm Locken, als steckten noch die Wickler darin. Sie bestellen Elixir d’Anvers, nur so zum Spaß, weil die Flasche einen so prominenten Platz im Spirituosenregal einnimmt, und zwei Tuborg gegen den Durst. Die Sonne fällt durch die schmutzigen Scheiben, neben der Garderobe hängen eingerahmt vergilbte Zeitungsartikel über einen jung verstorbenen Radrennfahrer. Achtunddreißig Siege, jubelt eine Überschrift, Landesmeister der Junioren, eine andere. Der Mann auf dem Siegertreppchen, dicke Koteletten und die gesunde Gesichtsfarbe eines Bauernburschen, streckt das Blumenbukett in die Höhe. Auf einem Autogrammfoto fährt er in makellosem Dress durch eine Wiesenlandschaft, die Sonne glänzt auf den Speichen. Simon und Marc prosten sich mit den kleinen, bis zum Rand gefüllten Gläsern lächelnd zu. Hast du Kathleen gesehen?, fragt Marc. Sie hat im Labor direkt neben mir gestanden.

Männer kommen herein, zögernd, unschlüssig, ob sie bleiben wollen. Über ihnen, auf dem Bahndamm, schiebt sich ein Zug in den Bahnhof. Marc und Simon reden über Kathleen, ein Mädchen, das vor zwei Jahren, im letzten Jahr vor dem Abitur, in ihrer Klasse war. Sie ist brillant, sagt Marc. Und sie trägt jetzt Kontaktlinsen. Sie sieht echt besser aus ohne Brille. Nein, Simon hat sie nicht gesehen, eben. Sie hat eine Bude, erzählt Marc mit einem geheimnisvollen Grinsen. Sie hat gemeint, nach Verbindungsabenden könnte ich auch bei ihr schlafen, dann bräuchte ich nicht mehr bis nach Hause – das ist doch eine eindeutige Einladung, oder? Sie leeren ihre Gläser und bestellen noch eine Runde. Zwei Herrengedecke. Es ist halb sechs. Manchmal spricht sie von dir, erzählt Marc. Simon schaut ihn an. Sie fragt, was du so treibst. Was soll ich ihr sagen? Die Wahrheit, was sonst? Echt, sagt Marc, früher ist sie mir nie aufgefallen, aber jetzt hat sie sich voll rausgemacht. Ohne Brille erkennst du sie nicht wieder.

Sie ist auch ganz anders angezogen, manchmal trägt sie sogar Pumps. Simon erinnert sich an die kurze Phase, als Kathleen oft seinen Blick suchte, in der Klasse, in den Pausen, bei den Fahrradständern nach der Schule. Er erinnert sich an eine besoffene Knutscherei auf einer Fete, die sich irgendwie schräg anfühlte, ihre fleischige Zunge in seinem Mund, einen unbestimmten Geschmack nach Leber. Weißt du, sagt Simon und dreht sein Glas auf dem Deckel, ich fand, sie hatte damals schon was. Das fand ich auch, stimmt Marc ihm zu. Aber ganz anders als heute. Sie meinte, sie würde vielleicht noch herkommen, um halb fünf hätte sie aber noch einen Versuch bei Elektrotechnik.

Jetzt ist es, als warteten sie auf Kathleen. Sie schauen aus dem Fenster, auf die Autos im Stau. Die Sonne versinkt hinter dem Bahndamm, und aus dem alten Dielenboden der Kneipe steigt Wehmut. Trink aus, sagt Simon. Ich hab Hunger. Essen wir hier in der Stadt? Ich denke, wir sollten vor dem Azzurra besser was im Magen haben. Was meinst du?

Als sie ihre türkische Pizza bekommen, geht draußen eine Gruppe Studierender vorbei. Marc klopft an die Scheibe und winkt. Drei Jungs und ein Mädchen mit kurzem Haar kommen herein und setzen sich zu ihnen, bestellen Bier, reden über Dinge, die Simon vage bekannt vorkommen, weil Marc von ihnen erzählt hat. Schon bald aber reden sie wieder nur noch untereinander, als wären Marc und Simon nicht da. Simon findet es schade, dass Kathleen nicht gekommen ist, Marc hat ihn neugierig gemacht, ob die beschriebene Metamorphose sich tatsächlich vollzogen hat, und etwas in seinem Körper regt sich, eine alte Schwäche, die mit ihrem Hintern und seinen Bewegungen in ihrer Cordjeans zu tun hat.

Keinem seiner Schulkameraden fällt sie auf, auch Marc nicht, doch Simon sieht jeden Schritt, den sie tut. Niemand hat sie auf dem Schirm. Christophe, Koen, Peter. Zusammen mit Marc seine besten Freunde, seit sie fünfzehn sind, alle fünf im mathematischen Zweig. Kathleen und ihre Freundin Inge sind Klassenbeste. Kathleen ist eine Überfliegerin, ihr fällt alles zu, während Inge stur pauken muss. Es ist lange her und gleichzeitig wie gestern. Inge soll Architektin werden, ihr Vater hat ein Büro, ihr Berufsweg ist vorgezeichnet, sie braucht nur ihren Abschluss. Christophe geht zum Studieren ins Ausland, Bauingenieur. Peter: Medizin. Koen hat sein Germanistikstudium angeblich geschmissen und bastelt irgendwo an einer Musikerkarriere. Vom Saufen und von Schmerzmitteln soll er irrsinnig fett geworden sein. Damals hat keiner auf Kathleen geachtet, die tollen Mädchen machen Wirtschaft und Sprachen. Simon genießt seine heimliche Faszination, seine Individualität, seinen Durchblick. Nach ihrer verunglückten Knutscherei auf der Fete, in einer Ecke der wummernden Sporthalle, ist sein Interesse erloschen. Er schaut sie immer noch an, aber jetzt anders, als könne er den Blick nicht abwenden. Wie bei einer Schlägerei oder einem Auffahrunfall.

5

Carla isst einen Sandwichtoast in der kleinen Küche neben der Bar, es ist kurz vor sieben, durch die offene Tür behält sie die Kneipe im Auge. Als sie zu Ende gegessen hat, huscht sie in den Keller, zum Kabuff mit dem Solarium, wo auch ein Spiegel hängt. Sie kontrolliert Mund und Zähne, zieht sich die Lippen nach und richtet ihre schulterlangen Locken. Nachdem sie den kleinen Raum wieder verlassen hat, kontrolliert sie den Druck der Gasflaschen und tippt mit der Schuhspitze gegen die Bierfässer. An den Geräuschen erkennt sie, ob eines der Fässer bald leer wird.