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Marco Missiroli

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Beschreibung

Rimini im Juni, kurz bevor die Touristen kommen. Sandro kehrt in seine Heimatstadt zurück, um seinen Vater Nando zu besuchen. Die Mutter Caterina ist seit ein paar Jahren tot, und ein Freund hat ihm gesagt, der Alte sei nachts ständig unterwegs. Vater und Sohn könnten kaum unterschiedlicher sein. Nando, pensionierter Eisenbahner und passionierter Tänzer, führt ein bescheidenes Dasein. Sandro ist ein Werbetexter ohne Ideen, aber mit jeder Menge Geldsorgen. Allen, die ihm begegnen, stellt er eine Frage, auf die er selbst keine Antwort hat: Wo wärst du mit einer Million Euro auf dem Konto und ein paar Jahren weniger auf dem Buckel? Zwischen den beiden stehen unausgesprochene Verletzungen und Schuldgefühle. In knappen, gerade in ihrer Nüchternheit beeindruckenden Szenen zeigt Marco Missiroli die wortkargen Versuche der beiden Männer, sich anzunähern. Er erzählt von Tanz, Trauer, lebenslangen Träumen, von der Faszination des Kartenspiels und den Momenten, in denen man Alles haben - oder alles verlieren kann.

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Letzte Runde: Marco Missiroli erzählt von einem ambivalenten Vater-Sohn-Verhältnis, dem Abschied von den Eltern, einem Leben im Konjunktiv – und von der Lust, alles aufs Spiel zu setzen. Ein Roman von großer Ruhe und Klarheit.

Marco Missiroli

ALLES HABEN

Roman

Aus dem Italienischen von Esther Hansen

Verlag Klaus Wagenbach Berlin

für Rimini und für Claudio Cazzaniga (1980–2020)

Von dem, was die anderen nicht von mir wissen, lebe ich.

Peter Handke

JUNI

Als er mich anruft, stehe ich im Supermarkt. Ich gehe ran, er räuspert sich, spricht nicht. Ich weiß, dass er nachts im R5 herumfährt.

Ich frage, ob es ihm gut geht.

»Entschuldige die Störung«, sagt er.

»Hör schon auf.«

Er zieht an seiner Zigarette. »Hast du dein Geld endlich bekommen?«

»Noch nicht.«

Wir schweigen wie früher, wenn ich ihm als Kind dabei zusah, wie er eine Steckdose, die Anrichte oder die Regenrinne an der Rückseite des Hauses reparierte. Seine leichten Finger.

Dann sage ich, dass ich ihn besuchen komme.

»Wirklich?«

»Du hast doch Geburtstag.«

»Und deine Arbeit?«

»Krieg ich schon hin.«

Fünf Tage später halte ich vor dem Haus in Rimini. Die Rollläden sind heruntergelassen, das Garagentor steht offen. Er kniet zwischen den Tomaten, den Fischerhut auf dem Kopf.

»Hallo.« Er richtet sich auf, sein Gesicht glänzt vor Schweiß. »War viel Verkehr?«

»Nein.«

Er kommt zu mir und will mir die Tasche abnehmen, ich ziehe sie weg. Ich folge ihm in die untere Wohnung und bleibe in der Tür stehen. Er merkt, dass ich lieber oben schlafen will.

Im Zimmer ziehe ich den Rollladen hoch, und die Sonne fällt durch den Staubnebel auf das Regal mit den Panini-Alben. Vom Fenster aus sehe ich den R5, den er seit siebenundzwanzig Jahren fährt. Eine Felge ist verbeult, die Stoßstange ist auf Hochglanz poliert. Don Paolo hatte mich in Mailand angerufen, um mir zu erzählen, dass er sich die ganze Nacht herumtreibe, dass es Probleme gebe.

»Was denn für Probleme.«

»In der Bar wird geredet. Er taucht nachts dort auf und sieht irgendwie komisch aus, sagen sie. Du kennst doch deinen Vater.«

»Dann red mit ihm.«

»Red du mit ihm, Sandro.«

Jetzt bringt er Kissen und Bettzeug. Wir beziehen das Bett, schlagen die Laken ordentlich auf, wie sie es getan hat. Langsam und sorgfältig. Sobald wir fertig sind, geht er in die Küche. Er scheppert mit Töpfen, rumort in Schränken, kramt herum. Als ich hinzukomme, steht er auf Zehenspitzen auf einem Stuhl und inspiziert die Konservendosen. Er hat ein bisschen Bauch bekommen.

Lautlos wie eine Libelle springt er auf den Boden, geht zum Herd und dreht das Gas auf. Aus dem Nichts zückt er ein Streichholz und lässt das Köpfchen auflodern: Nando der Revolverheld.

Später drehe ich meine Runde. Ich gehe die Via Magellano hinauf durch das alte Arbeiterviertel Ina Casa, Menschen sehen aus den Fenstern und halten Ausschau nach dem Juni. Und der Juni kommt, zuverlässig wie die Touristen zur Saisoneröffnung und die herbe Fröhlichkeit, die unsereins fern der Strandpromenade ermüdet.

Ich brauche bis zum Park, um Mailand hinter mir zu lassen, üblicherweise geschieht es auf Höhe der Grundschule oder kurz dahinter, wenn ich den Hof des hufeisenförmigen Gebäudes überquere. Die Schuhe ermatten, und im Kopf verblasst Norditalien, während ich die Straße zur Bar Zeta entlanglaufe. Ich betrete das Cafè und esse einen Grillspieß mit Artischocken und Tunfischsauce, ein paar Gäste grüßen. Jemand sagt: Das ist der Sohn von Pagliarani.

Als ich zurückkomme, zieht ein köstlicher Bratenduft durch die Wohnung. Er ist nicht in der Küche, sondern prüft das Fliegengitter vor meinem Fenster. Er bedeutet mir, dass alles okay ist, und geht hinaus. Er hat das Nachtschränkchen abgestaubt und auf dem Schreibtisch Ordnung geschaffen. Meine Reisetasche steht noch auf dem Boden, der Reißverschluss ist jetzt zu einem Drittel aufgezogen.

Um Punkt halb acht gibt es Abendessen, bevor wir uns setzen, will er wissen, ob ich die Lichter hinter mir ausgemacht habe. Welche Lichter? In den Zimmern, wo du warst. Er hat einen Spar-Tick, den er auch an ihr ausgelassen hat: Du bist doch nicht die Frau des Stromversorgers, hat er immer gesagt.

Es gibt gebratenes Hühnchen mit Schmorkartoffeln, dazu eine Sauce aus Auberginen und Kürbisblüten. Er beobachtet, wie ich die goldgelbe Hühnerkruste ablutsche und macht es mir nach: »In Mailand isst du nur das Tiefkühlzeug.«

»Überhaupt nicht.«

»Woher hast du sonst die Tränensäcke.«

»Sagt Clark Gable, oder was?«

Dann fängt er wieder mit dem ausstehenden Honorar an. Will mir unter die Arme greifen.

»Ich komm schon klar, außerdem ist das Geld bald da.«

»Immer noch zehn acht?«

»Zehn vier.«

»Wie kann das sein, mit vierzig.«

»Ich bin so blöd, dass ich dir überhaupt davon erzählt habe.«

Er seufzt. »Sicher, dass du nichts brauchst?«

»Ich komm klar.«

Er spielt mit den Brotkrümeln, schneidet sich ein Stück Aubergine ab und lässt es liegen. »Einfach so seine Festanstellung zu kündigen, das hast du jetzt davon«, mit einem Ruck steht er auf und holt eine Flasche Wein aus dem Küchenschrank, zieht den Korken heraus und dreht ihn gedankenverloren zwischen den Fingern. »Weißt du noch damals, als wir die Bar America schließen mussten, wie ich da immer rumgebrüllt habe?«

»Ich weiß jedenfalls, dass du ständig wütend warst.«

»Fünf Jahre zuvor hab ich Roberti vierzehn Millionen Lire geliehen, die er nicht zurückgezahlt hat, die hätte ich dringend für die Bar gebraucht.« Er schiebt mir die Kürbisblüten hin.

»Was hat das mit meinem Geld zu tun?«

»Viel – weil ich nie den Mut hatte, zu ihm zu gehen und mir meine Millionen zurückzuholen. Glaubst du, ich hätte Roberti auch nur einmal angerufen? Im Leben nicht.« Er wischt sich mit der Hand über den Mund. »Stattdessen saß ich jeden Abend hier am Tisch und rechnete alles rauf und runter. Rufst du bei denen an?«

Ich nicke.

Er schenkt mir Wein ein. »Eine Bar America reicht, Sandrin«, er hebt sein Glas. »Guten Appetit.«

Aber ich weiß, um die Bar America geht es nicht. Es geht um die Steige Kardinalspfirsiche. Wie schnell sich alles änderte bei der Pfirsichernte mit seinem Vater: Er ist damals fünfzehn und will auf die Schule für Vermessungswesen nach Ravenna.

Das hat sie mir erzählt, als wir nach Verucchio hinaufwanderten, sie mit in die Seite gestemmter Hand und den Tänzerinnenwaden, die nicht recht zum mütterlichen Restkörper passten. Sie wurde langsamer und sagte schnaufend: Muccio, du wählst das Studium, das dir gefällt, mach es nicht wie der Babbo im Garten in San Zaccaria.

Wir blieben am Mäuerchen stehen und blickten hinunter ins Valmarecchia.

Der große Obstgarten in San Zaccaria, erinnerst du dich? Dort ist der Babbo mit Großvater Giuliano, als er sich für die weiterführende Schule entscheiden muss. Er ist glücklich, er mag Baustellen, Fundamente, Wasserwaagen und Quadratmeter, er denkt an so was, auch während er Pfirsiche in eine Holzsteige sortiert.

Ich ging weiter, und sie fasste mich am Ärmel, ich hakte sie unter und wollte sie mitziehen, doch sie machte einen Satz und zog stattdessen mich.

Im Garten nimmt der Babbo dann die Kiste mit den Pfirsichen hoch, dein Großvater packt mit an, und sie hieven sie auf den Karren im Straßengraben. In dem Moment kommt Ingenieur Russi auf der Straße vorbei. Er grüßt den Großvater, grüßt den Babbo, fragt, ob’s gut gehe, sieht die Pfirsiche: Schmecken sie? Der Großvater will ihn probieren lassen, und Russi bringt sich in Position, um einen zu fangen. Und wer wirft ihm den Pfirsich wohl zu? Der Babbo, ein guter Wurf. Du weißt ja, dass er Zielwasser getrunken hat. Ingenieur Russi fragt, ob er Baseballspieler werden wolle, beißt in den Pfirsich, und der Babbo erwidert, er denke an Vermessungstechnik. Russi sieht den Großvater an und sagt mit vollem Mund: Vermessungstechnik taugt nicht mehr, heutzutage muss man Elektrotechnik machen. Elektrotechnik? Elektro- und Telekommunikationstechnik in Cesena, Italien ist voll von Vermessungstechnikern. Russi wirft den Kern in den Graben, verabschiedet sich und geht. Der Großvater kniet über der Steige und sortiert weiter die schon sortierten Pfirsiche.

Und dann?

Wir hatten den Aufstieg nach Verucchio fast geschafft, und sie legte sich die Hand in den Nacken, um ihn gegen den Wind zu schützen.

Dabei hatte dein Babbo schon Lineal und Winkelmaß gekauft und Millimeterpapier. Nach den Kardinalspfirsichen hat er alles weggeworfen.

Bei den Nachrichten decken wir den Tisch ab. Er gießt Wasser in zwei Tassen mit löslichem Kaffee und verlängert ihn mit Milch. Er reicht mir meinen Becher und reibt sich die Augen. Er hat den Brustkorb eines Schwimmers und die Hüften eines jungen Mädchens. Schnurrbart. Er möchte Gian Maria Volonté in einem Sergio-Leone-Film sein und ist doch nur Massimo D’Alema. Höchstens Zorro. Er schluckt seine Herztabletten und springt dann unvermittelt auf, um die Briscola-Karten aus dem Brotkorb zu holen. »Spielen wir eine Runde.«

Ich trinke meinen Kaffee.

»Spielen wir oder nicht?« Er hustet ab.

»Hab noch zu tun.«

»Komm, eine Runde.« Er mischt. Er setzt die Brille auf und zündet sich eine Zigarette an. Er gibt mir drei Karten.

Ich lasse sie liegen. Ich schaue ihn an, er schaut mich an.

»Eine Runde, mehr nicht, Sandro.«

Wir spielen. Im dritten Stich kassiert seine Drei der Münzen meinen König der Münzen, und er strahlt wie ein Honigkuchenpferd. »Heute ist mein Abend«, lacht er.

»Sonst nicht?«

Er drückt die Zigarette im Aschenbecher aus. »Gestern lief ein Scorsese, Goodfellas. Erinnerst du dich an die Szene, wo der Kellner mit dem Gipsfuß von Joe Pesci abgeknallt wird?«, er nimmt eine Karte auf und steckt sie zu den anderen. »Und du, was machst du abends?«

Ich ziehe ebenfalls eine Karte, meine Fingerspitzen sind trocken. »Arbeiten, ausgehen. Was man halt so macht.«

»Denkst du manchmal noch an Giulia?«

Mit der Drei der Schwerter nehme ich seinen Reiter.

Telekommunikations- und Elektrotechniker, Ticketverkäufer für Ausflugsbusse an der Adria, Eisenbahner, Inhaber einer Caffè-Bar, Programmierer bei der Eisenbahn. Und was er nie in seinen Ausweis schreiben wollte: Tänzer.

Nach der Runde Briscola treten wir auf den Balkon, jetzt rauche ich auch eine. Erzähle ihm von dem Spiel, das ich mir für ihn ausgedacht habe: Wo wärst du mit einer Million Euro mehr auf dem Konto und fünfzig Jahre jünger?

Er drückt die Kippe in den Geranien aus und atmet tief den Flussgeruch von Ina Casa ein. Antwortet, ohne zu überlegen: »Mit meinem Vater auf dem Feld. Und in diesem Tanzlokal in Milano Marittima, mit Mama.«

Aber man sieht, dass er schon mit seinem Vater die Erde umgräbt, drei Monate vor dessen Tod.

»Und du?«

»Fünfzig Jahre jünger ist schwierig.«

»Fünfundzwanzig.«

Ich denke, dass ich ungern noch mal fünfzehn wäre. Sommersprossen und Rimini, das so hart ist zu den Schüchternen. »Dann wäre ich gern in London, in einer Wohnung ganz oben, und würde die Passanten unten auf der Straße beobachten.«

»Und die Million?«

»Die Wohnung ganz oben.«

Er kneift die Augen zusammen, wie immer, wenn er nachdenkt. Er atmet Rauch aus und sagt, er habe ein Problem mit den Spielregeln: »Es hat keinen Sinn, zu fragen, was ich vor fünfzig Jahren mit einer Million Euro gemacht hätte, das sind fast zwei Milliarden Lire. Besser wäre doch: Wo willst du sein, wenn du fünfzig Jahre jünger wärst, und was würdest du jetzt mit einer Million Euro machen?«

»Dann lass mal hören.«

Er antwortet nicht, lehnt sich über das Geländer und beobachtet die Amseln auf der Straße. In Ina Casa ist schon Sommer, das Stimmengewirr von den Balkonen und das Kindergeschrei aus den Höfen. Er schweigt weiter, raucht, hat sich weggedreht. Er dreht sich immer weg, wenn er seine Ruhe haben will.

»Dann denk mal über die Million nach, die du jetzt ausgeben könntest.« Ich lege ihm kurz eine Hand auf den Rücken und gehe in mein Zimmer.

Ich fahre den Computer hoch, neben der Schreibtischlampe liegen alte Rechnungen und das Etui des Füllers, den ich zum bestandenen Examen bekommen habe. Ich nehme den Füller heraus und notiere in meinem Kalender, dass ich die Bank wegen des Darlehens anrufen muss, dann arbeite ich.

Vierzig Minuten später höre ich den Motor des R5, und er fährt weg.

Er hat ihre Gemälde abgehängt. Die Abendkleider sind noch da, ihre Schuhe auch. Und der Safe, hinter den letzten zwei Bänden der Enciclopedia Fabbri.

Ich räume meine Reisetasche aus, vier T-Shirts, den Baumwollpulli, zwei Hemden, die Sandalen, drei Hosen. Ich ziehe den Reißverschluss zu und packe alles in den Schrank. Frage mich, ob er wie früher in meinen Sachen gewühlt hat: auf der Suche nach einem Beweis, der seinen Verdacht bestätigt.

Als ich den Computer zuklappe, ist es nach Mitternacht. Er ist noch nicht zurück. Auf dem Herd in der Küche steht der Topf mit einem Rest Milch, die Streichholzschachtel liegt auf der Waage. Er hat Kichererbsen mit einem Lorbeerblatt eingeweicht und die Karaffe bereitgestellt, um das Öl umzugießen. Ich schneide mir eine Scheibe Emmentaler ab: Das ist sein Lieblingskäse, er schnitzt immer im Slalom um die Löcher herum. Das Briscola-Deck liegt auf den Walnüssen im Brotkorb. Er hat ein Gummiband darumgeklemmt, das französische Deck liegt daneben. Draußen, vor dem Fenster, liegt schwarz die Via Mengoni.

Ich nehme die französischen Karten. Halte den Stapel in der rechten Hand, lasse ihn in die linke wandern. Setze mich und rolle das Gummiband ab. Ich verteile die Karten auf dem Tisch und lege die Handflächen darauf. Ich sammle sie wieder ein. Ich mische. Riffle Shuffle: Das zweite Fingerglied des Zeigefingers drückt fest auf das Deck. Hindu Shuffle: Der Daumen zieht die Karten vertikal ab, beide Handflächen gewölbt. Ich werde langsamer, als die Fingerkuppen zu kribbeln anfangen. Ich lege sie im Halbkreis aus, schiebe sie zusammen, noch mal von vorn. Hier ist nicht Schnelligkeit gefragt, sondern Sorgfalt: die Beugung des Arms, die Drehbewegung im Handgelenk, die drei Finger in der Mitte dirigieren. Da war ich schon immer genau.

Noch mal von vorn und dann Schluss. Ich lege die Hand auf das Deck. Laufen die Karten gut, rascheln sie wie Laub im Wind, wie der Flügelschlag eines Finken.

Um zwanzig nach drei kehrt er zurück. Die Haustür fällt ins Schloss, Schritte auf der Treppe. Ich wälze mich im Bett mit zwei Gedanken im Kopf: Er leidet unter Schlaflosigkeit oder. Oder was? Jahrelang ging er nachts im Wohnzimmer auf und ab statt zu schlafen, mehr weiß ich nicht. Außer beim Tanzen war er nie ein besonders körperlicher Typ.

Ich lausche, ob er in sein Zimmer geht, tut er nicht. Ich höre ein Motorengeräusch auf der Via Magellano, das Quietschen meines Bettes, das leere Zimmer. Ich stehe auf und gehe in die Küche.

Er sitzt am Tisch, aus dem Aschenbecher steigt Rauch auf. Er hat seinen guten Anzug an.

»Hallo.«

»Hallo.«

Er hat über unser Spiel nachgedacht, sagt: Wen interessieren schon fünfzig Jahre weniger und eine Million mehr. Er will zurück ins Jahr 2009: zur Gran Galà oben in Gabicce, in der Disco Baia Imperiale.

Ich trinke ein Glas Wasser und sage Gute Nacht.

Mit sechzehn erwischt er mich in der Strandbadkabine mit einer Kippe im Mund. Er fragt, wie lange schon. Ich sage, nicht lange, aber er weiß schon, dass ich ein Lügner bin.

»Welche Marke?«

»Marlboro.«

»Wie viele?«

»Eine, zwei. Samstags drei.«

»Lass dich bloß nicht von Mama erwischen. Versprich’s mir.«

Versprich’s mir: Das Flehen in seiner Stimme klang so gut.

Mittags macht er Nudeln mit Tomaten aus dem Garten, und wehe, du mischst dich ein, wenn es um die Mengen geht. Einhundertsechzig Gramm für zwei, ich lege noch drei Maccheroni mehr auf die Waage.

»Finger weg, Patàca«, rügt er mich nachsichtig und lässt sie liegen.

Er rührt die Tomatensauce um, gibt Gewürze aus seinen Kupfertiegeln dazu. Er lässt zwei Streichhölzer aufflackern, beugt sich über den Herd und prüft die Flammen, wischt sich die Stirn ab.

Er nennt es sein Rentnerrezept. Es stammt noch aus der Zeit nach seinem zwangsweisen Ausscheiden bei der Eisenbahn, 1997, als er eines Tages plötzlich nachmittags in der Küche stand.

Ich hatte am Esstisch über den Lateinhausaufgaben gesessen, er kam herein, leerte mit einer Hand auf dem Bauch ein Glas Wasser und legte sich ins Bett. Ich hatte mir nichts dabei gedacht und weiter gelernt, war dann aber doch zu ihm gegangen: Er lag auf der Seite und schlief, schnarchte nicht. Ich ging zurück in die Küche und verständigte den Arzt. Als der nach vierzig Minuten endlich eintraf und ihn untersuchte, schob er ihm eine Tablette unter die Zunge und rief einen Krankenwagen. Sie kam sofort aus der Schule nach Hause, wir waren alle noch da: Mein Nando, sie streichelte ihn mit einer Zärtlichkeit, die sonst mir vorbehalten war.

Transmuraler Herzinfarkt, Frührentner mit fünfzig.

Der Kaninchenschlag: So nennen die Bauern im Landesinneren die Art, das Tier vor dem Häuten zu betäuben. Beim Boxen existiert der rabbit punch, ein Faustschlag auf den Hinterkopf. Am Spieltisch bedeutet es, dass dir der ultimative Bluff gelingt, wenn du mit dem Rücken zur Wand stehst.

»War viel los gestern Abend?« Ich spieße drei Maccheroni mit der Gabel auf und kaue.

Er schüttelt den Kopf, rührt die Nudeln kaum an. Plötzlich fällt ihm ein, dass er in den Garten muss, um die Gemüsebeete nach der Spinnmilbe abzusuchen.

»Was ist das denn jetzt wieder?«

»Ein Tomatenschädling.«

»Hast du schon gesät?«

»Wäre Zeit für Kohl und Kürbis. Aber nein.«

»Nein?«

»A n ò vòja.«

»Wie, du hast keine Lust?«

»A n ò vòja.«

Nach dem Essen ziehe ich mich ins Zimmer zurück, kurz darauf höre ich, wie er die Beete jätet. Wenn er sich mit seinem Fischerhut hinunterbeugt und wieder aufrichtet, sieht er aus wie eine Reisbäuerin aus der Romagna. Ein großartiger Tänzer, hat sie immer gesagt, haben alle gesagt.

Am Nachmittag will ich ihm einen Geburtstagskuchen kaufen. Ich radele zum Meer, am Strand sieht man schon die ersten geblümten Sonnenschirme und sonnenverbrannten Gesichter. Im Juni ist Rimini noch unter sich: Man kennt sich, kaum Trubel am Strand.

Ich schiebe das Fahrrad bis auf den Vorplatz des Grand Hotel, hier unter den Pinien haben wir früher Wettrennen auf Dreirädern mit Tiergesichtern am Lenker gemacht. Ich wollte immer den Elefanten, sie lehnte mit einem Eis an der Absperrung und passte auf, er stand weiter hinten und rauchte.

Schon damals aß er am liebsten Saint-Honoré-Torte. Also kaufe ich eine große für sechs Personen, verstecke sie im Kühlschrank im Erdgeschoss. Ich habe die Kerzen vergessen und suche herum: In der Schreibtischschublade finde ich zwei kleine rosafarbene. An der Schranktür hängt der gute Anzug, den er letzte Nacht anhatte. Frisch gebügelt.

Am späten Nachmittag bekomme ich eine E-Mail von der Bank mit der Terminbestätigung wegen des Darlehens. Ich soll meine Einkommensnachweise mitbringen. Ich ziehe mich zum Telefonieren ins Zimmer zurück, dann gehe ich zu ihm und sage, dass ich mit Kochen dran bin: Frittata mit Zwiebeln.

»Danke«, sagt er.

»Aber ich schwitze die Zwiebeln nicht an.«

»Danke, dass du gekommen bist.«

»Ist schön hier.«

Wir haben beide keinen großen Hunger und gucken beim Essen Nachrichten. Der Sprecher verkündet Erfreuliches zur Staatsverschuldung. Nando fragt, ob es was Neues zu meinem ausstehenden Honorar gebe: Gibt es nicht, und er winkt ab, einen Zahnstocher im Mund. In den Nachrichten läuft jetzt ein Beitrag über die wachsende Beliebtheit von E-Bikes, dann einer über die French Open, wir kommen auf unseren Besuch des Rom Masters, als wir auf den Rängen des Tennis-Stadions hockend seinem Nadal und meinem Federer zujubelten, und auf die Panini mit Salami, die wir erst auf der Zugfahrt zurück aufaßen.

»Morgen wirst du zweiundsiebzig, Nando.«

»Schöne Sache«, er deckt den Tisch ab.

Gegen Mitternacht fährt der R5 rückwärts aus der Einfahrt. Der Anzug hängt nicht mehr im Arbeitszimmer, die Briscola-Karten liegen aufgefächert auf dem Küchentisch.

Einmal, als ich mit Giulia einen Sonntagsspaziergang im Parco Sempione in Mailand machte, rief er an und fragte, ob Mama die Zukunft aus der Pyramide oder aus dem Fächer lese.

»Fängst du jetzt auch noch damit an.«

»Nein, ich frag nur aus Interesse.«

»Frag sie doch selbst.«

»Sie sagt, am Ende glaube ich noch dran.«

»Fächer und Pyramide, aus beidem. Kommt drauf an, ob es um die Liebe geht oder um den Rest.«

Giulia hatte gelacht: Damals wollten wir nach Lissabon ziehen, eine eigene Wohnung haben.

Doch ich hatte die fremden Wohnungen mit ihren Tischen. Schon beim Eintreten suchte mein Blick instinktiv nach Halt, nach einem Möbelstück, einem Gegenstand oder einer Aussicht aus dem Fenster. Wir nennen dieses Verhalten das »Ablenkungsmanöver«. Als müssten wir das Unglück vom Ernst des Moments ablenken.

Am besten wird man in den ersten Minuten fündig. Das Auge sucht sich ein Wandbild, einen Flaschenöffner, eine Zigarettenschachtel, den Kronleuchter. Gegenstände. Niemals Menschen. Menschen schaust du dir erst an, wenn du wissen willst, was läuft. Menschen nur, wenn die Karten verteilt sind.

Am Morgen frühstückt er im Stehen mit einer Tasse Tee und Madeleines. Er tunkt das Gebäck in den Tee, lässt es abtropfen und beißt hinein. Leckt sich mit der Unterlippe über den Schnurrbart. Dann lässt er ein Tütchen Schmerzmittel in ein Glas Wasser rieseln. »Alte Leute und ihr Rücken.«

»Nando?«

»Hm?«

»Herzlichen Glückwunsch.«

Ich klopfe ihm auf die Schulter, er trinkt das aufgelöste Schmerzmittel.

»Ich hab eine kleine Feier organisiert.«

Er guckt mich schief an. »Ich fahre nach Montescudo.«

»Ich komme mit.«

»Du kommst mit?«

Ich weiß nicht, auf welchem Ast er am Nachmittag des Infarkts gesessen war. Vielleicht auf dem dicken ganz unten. Ich stelle den Fuß darauf und ziehe mich hoch. Ich schaue nach unten, wahrscheinlich ist er zwischen dem Baumstamm und den ersten Grashalmen dort aufgeschlagen.

Von hier sieht das Haus in Montescudo aus wie ein Steinkasten. 1993 hat er den verfallenen Hof für 130 Millionen Lire gekauft und allein wieder aufgebaut. Wäre er damals gestorben, hätten wir ihn hier begraben. Aber was wäre ihm nicht alles entgangen: mein Abschluss, ihre Kunst-Ausstellung, wie er mich und Enrica nackt im Zimmer überrascht, weil wir versehentlich nicht abgeschlossen haben, mein erster Werbespot, die Gran Galà im Baia Imperiale, die Entdeckung des Lasters, all die prächtigen Tomaten.

Die körperliche Verwandlung beim Spiel: die Fingerglieder biegsamer, präziser, sicherer im Greifen. Die Agilität der Pupillen. Die Kontrolle des Kreislaufs über einen kurzen oder langen Zeitraum. Ein fast evolutionärer Akt, der schon nach wenigen Monaten am Spieltisch einsetzt. Dazu die lässige, aber beherrschte Haltung, ein Glücksbringer für jeden.

Sieben Monate nach dem Herzinfarkt hatten sie wieder angefangen, zu tanzen, erzählte sie mir.

»Aber im Krankenhaus haben sie doch gesagt, ihr sollt noch vorsichtig sein.«

»Also morgens ist dein Vater topfit.«

»Tanzt ihr jetzt zu Hause?«

»Bettgymnastik.« Sie war damals noch blond und rief mich immer mittwochs in der Uni an.

»Herrgott noch mal, so was will ich doch nicht wissen.«

»Der Babbo hatte Angst, seine Bypässe könnten abgehen.«

»Ich will das nicht hören!«

»Muccio!«

»Gleich leg ich auf, echt!«

Sie lacht.

»Lach nicht.«

»Stell dir nur die Todesanzeige vor, wenn es schief gegangen wäre: Nando Pagliarani, bei der Liebe gestorben.«

Wir mähen den Hang vor dem Haus in Montescudo: Ich übernehme das Grobe mit dem Freischneider, und er geht mit der Sense nach. Er bearbeitet die Wiese mit nacktem Oberkörper, seine Schuhspitzen graben sich in den Boden, er verrenkt sich in übermenschlicher Anspannung. Mit sicherer Hand führt er die Klinge, seine Schulterblätter öffnen sich zu Flügeln, immer wieder bückt er sich und reißt mit der Faust widerspenstige Grasbüschel aus. Sein vorstehendes Bäuchlein und die Nackenwirbel. Er lässt die Sense fallen und wischt sich den Schweiß von der Stirn, sieht mich an.

Ich schalte den Freischneider aus. »Was ist?«

»Ich werde mir ein Geschenk machen.«

»Ein neues Auto.«

»Einen Mauerstein aus der verfallenen Kirche. Aus dem ich ein Tier machen kann.«

Wir beenden unsere Arbeit und schlagen den Weg zur Kirche ein. Auf halber Strecke überholt er mich und bleibt stehen, um den Duft der Natur einzuatmen. Er kniet sich neben einen Löwenzahn, pustet und hält wie ein Spürhund die Nase in die Luft des Hügels.

Die Kirche ist fünfzig Schritte entfernt. Unter dem verfallenen Turm liegt eine Pyramide aus Steinen. Der Spürhund stöbert eifrig herum, wählt einen länglichen Brocken. Er erkennt darin eine Schildkröte mit länglichem Panzer. Er will sich den Stein auf die Schulter laden, lässt ihn fallen und setzt sich hin, hält sich Kopf und Rücken.

»Hey«, ich beuge mich zu ihm.

»Schon gut, alles in Ordnung.« Er lehnt sich zur Seite, das Hemd rutscht ihm aus den Bermudashorts, ein Windstoß bläht es auf. Seine Waden ragen wie Stelen aus den Nike-Strümpfen.

Ich sage, dass wir sofort umkehren. Er protestiert, gibt erst nach, als ich mich mit dem Stein auf der Schulter auf den Weg mache. Er will mir helfen, ich schiebe ihn weg, und er geht vor.

Hatte er immer schon so spindeldürre Beine? Sie hasten bergab, bremsen, weichen vorsichtig ein paar Schlaglöchern aus, springen geschickt bergauf, fliegen über den Boden. Er ist wieder bei Kräften. Er hängt mich ab, und als er merkt, dass ich den Steinbrocken abgelegt habe und erstarrt bin, dreht er sich um.

»Sandro.«

»Du hast mich gerade auf die Idee für einen Werbespot gebracht.«

»Ich?«

Ich erzähle es ihm.

Er denkt nach. »Also, der Gärtner mit einem Nike-Schweißband am Handgelenk. Der Briefträger in der Nike-Jacke. Eine gebärende Frau, die … die was?«

»Ihre Füße.«

»Die Gebärende im Krankenhaus, die ihre Füße in den Gynäkologenstuhl stemmt und presst.«

»Und dabei Nike-Socken trägt.«

Er schaut auf seine Füße. »Und am Schluss?«

»We are Sport.«

»Das ganze Leben ist Sport.« Er geht weiter. »Die zahlen ja eh nicht«, sagt er und bricht in sein volles Lachen aus.

Wir verstecken den Stein unter dem Efeu am Geräteschuppen und legen die umgedrehte Schubkarre darüber. Ich frage, wie es ihm geht.

»Gut, gut.« Er reckt die Glieder und schließt die Türe ab. Dann lässt er sich hinter das Lenkrad meines Wagens fallen. Will selbst fahren. Er möchte so schnell wie möglich nach Rimini zurück, gibt Gas. Nach einem Drittel der Strecke hält er in der Ortschaft Trarivi an und steigt aus. Er verschwindet in einem Bauernhof und kommt fünf Minuten später mit einem gelb eingeschlagenen Päckchen zurück: Überraschung, sagt er.

Meine Überraschung liegt im unteren Kühlschrank. Ich hole sie heraus, während er unter der Dusche steht. Die Saint-Honoré-Torte ist von der Kälte ein bisschen hart geworden, ich plane eine gute halbe Stunde bis zur Übergabe ein. Doch als ich hochkomme, verkündet er, dass er gleich ausgeht.

»Schon wieder?«, frage ich und komme mir vor wie er, als ich ein Teenager war.

»Aber vorher gibt es die Überraschung.« Im Bademantel wickelt er eine Taube aus dem Papier. Er legt sie in die Pfanne und schickt mich in den Garten, um Rosmarin zu holen.

Den Rosmarin hat er in den hinteren Teil des Beetes gepflanzt, wo der Garbino aus Südwesten durch die Erde pflügt und die Welt in mildes Licht getaucht ist. Aus dem Boden steigt die Hitze des Tages in die Beine. Direkt daneben die dunklen Pflastersteine der Einfahrt mit dem R5. Das Auto glänzt, selbst die Felgen.

Ich gehe zum Wagen, die Knöpfchen sind immer oben, ich öffne die Fahrertür und setze mich hinein. Es riecht sauber, auf der Rückbank liegen der Erste-Hilfe-Kasten und das Kissen mit den angenähten Glöckchen an den Ecken. Am Rückspiegel baumelt das geflochtene Armband aus Montefiore Conca, das sie hat segnen lassen. Er wollte es nicht anziehen, hatte aber nichts dagegen, dass sie es an den Spiegel hängt.