Alles Lametta – Zwei Mädchen bringen Weihnachten zum Glitzern - Sibéal Pounder - E-Book

Alles Lametta – Zwei Mädchen bringen Weihnachten zum Glitzern E-Book

Sibéal Pounder

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Beschreibung

Bianca Claus lebt ganz alleine unter einer Brücke. Weihnachten findet sie schrecklich, weil an diesem Tag alle einen besonderen Ort oder eine Familie haben, und gemeinsam feiern. Nur Bianca nicht. Aber dann schenkt ihr eine alte Frau eine leuchtend rote Weihnachtskugel – und ändert damit alles. Bianca trifft Rinki, die sie zu einem Weihnachtspicknick einlädt. Gemeinsam träumen die beiden von einem Weihnachtsfest, bei dem jedes Kind auf der Welt ein Geschenk bekommt. Jahre später verdingt sich Bianca als Kutscherjunge. Doch sie wird als Mädchen enttarnt und versteckt sich an Bord eines Schiffes. So findet sie sich auf einer Expedition zum Nordpol wieder, wo sie über das Dorf der Weihnachtselfen stolpert und endlich die Gelegenheit hat, ihren und Rinkis Traum wahr zu machen. Mit einem Schlitten, gezogen von Rentieren, macht sie sich auf eine abenteuerliche Reise um die Welt …

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Seitenzahl: 250

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Inhalt

Eine kurze Bemerkung über Wichtel

Prolog

Kapitel 1   Die Weihnachtskugel

Kapitel 2   Ein Pferd für Bianca

Kapitel 3   Das Pfeffernuss-Picknick

Kapitel 4   Fuhrmädchen Bianca

Kapitel 5   Der Stock mit den tausend Augen

Kapitel 6   Der rote Anzug

Kapitel 7   Ein verrückter Plan

Kapitel 8   O du fröhliche

Kapitel 9   Mister Krampus

Kapitel 10 Der Weihnachtsbummel

Kapitel 11 Das Geheimnis

Kapitel 12 Kisten und Chaos

Kapitel 13 Santa

Kapitel 14 Die Katastrophe

Kapitel 15 Die knisternde Zuckerstange

Kapitel 16 Immer nur das Gleiche

Kapitel 17 Magie in der Stratton Street

Kapitel 18 Der Überraschungsgast

Kapitel 19 Fliegende Pferde

Kapitel 20 Wichtelweihnacht und (k)ein Bart

Kapitel 21 Ein ganz gewöhnliches Weihnachtsessen

Kapitel 22 Drei kleine Buchstaben

Kapitel 23 Lametta

Kapitel 24 Mister Krampus und die Karten

Kapitel 25 Noch 270 Tage

Kapitel 26 Der Lametta-Diebstahl

Kapitel 27 Biancas Albtraum

Kapitel 28 Rinki im Rettungseinsatz

Kapitel 29 In der Spielzeug-Werkstatt

Kapitel 30 Rinkis Entschluss

Kapitel 31 Pfeffernuss-Picknick ade?

Kapitel 32 Das Rosenkohl-Gebräu

Kapitel 33 Die Zeit läuft

Kapitel 34 Es hat geklappt!

Kapitel 35 Schlittenglöckchengeklingel

Kapitel 36 Wahre Magie

Kapitel 37 Mister Krampus wacht auf

Kapitel 38 Ein kleines Miss-Verständnis

Kapitel 39 Die Wahrheit geht verloren

Kapitel 40 Und wieder Weihnachten

Kapitel 41 Die Männer im Anzug

Kapitel 42 Tiefe Finsternis

Kapitel 43 Zwei Dinge

Kapitel 44 Viele Jahre später

Epilog

Die Wahrheit über Plätzchen

Eine kurze Bemerkung über Wichtel

Jedes Jahr am ersten Weihnachtsfeiertag errichten die Wichtel in einem fernen, tief verschneiten Land Schneemänner, in denen sie sich anschließend vergraben.

Jeder, der sich eingehender mit Wichteln beschäftigt hat (also niemand), weiß, dass dies der wichtigste Tag im Kalender des Wichteljahres ist. Denn an diesem Tag erhalten sie ihre Wichtelmagie für das gesamte folgende Jahr.

Jeder, der sich eingehender mit Wichtelmagie beschäftigt hat (also niemand), weiß, dass Wichtelmagie – anders als alle anderen Arten von Magie – nicht erschaffen wird. Wichtel brauen ihre Magie nicht in Kesseln zusammen wie Hexen, und sie beschwören sie auch nicht aus dem Himmel herab wie Zauberer. Wichtel verlassen sich voll und ganz auf die Macht eines uralten Weihnachtsrituals namens Schneesala-Bim.

Beim Schneesala-Bim handelt es sich um einen langwierigen, kalten und etwas albernen Prozess, der nur eine geringe Menge Magie erzeugt. Dies führte die Wichtel zu der Annahme, ihre Magie sei die schlechteste von allen. Aber da sie viel Wert auf Tradition und Gewohnheit legen, klettern sie trotzdem Jahr für Jahr in ihre Schneemänner und warten darauf, dass der erste Schnee des Tages fällt.

Der Schneefall ist wichtig, denn er sorgt dafür, dass die Schneemänner zu leuchten beginnen. Sie werden heller und immer heller. Die farbenprächtigen Eiszapfen, die überall in den Straßen aufgehängt werden, beginnen zu blinken, als sei die Stadt eine einzige riesige Disco. Und dann kommen die Wichtel wieder aus ihren Schneemännern hervor, vollgesogen mit Magie, die sie das gesamte folgende Jahr über begleiten wird.

Aber Wichtel sind furchtsame Geschöpfe, und Magie ist nicht immer leicht zu handhaben. Sie macht ihnen Angst, und deshalb benutzen sie sie nur selten. Jeder, der sich eingehender mit Wichtelmagie beschäftigt hat (also niemand), weiß, dass sich im Nordpol genügend Magie verbirgt, um selbst die wildesten Träume wahr zu machen.

Prolog

W as wissen wir eigentlich über die Frau von Santa Claus?

Die Antwort lautet: So gut wie nichts. Sie taucht im Hintergrund fast aller Weihnachtsgeschichten der Welt auf – und über hundert Jahre lang haben wir uns stillschweigend damit abgefunden, dass dort ihr Platz ist. Aber was, wenn wir die ganze Geschichte damals vollkommen falsch verstanden haben? Was, wenn wir die Wahrheit aus dem Blick verloren haben? Und mit ihr auch die Geschichte von »Frau Claus«?

Dabei gab es kaum etwas, das für sie wichtiger war, als dass die Menschen die Wahrheit über ihre Geschichte erfahren. Es ist eine Geschichte, die von Kampfgeist und kleinen Freundlichkeiten erzählt. Eine Geschichte über echtes Lametta und zwei ganz besondere Mädchen, die Weihnachten für immer ein neues Gesicht schenkten.

Dies hier ist ihre Geschichte.

Die Geschichte von Bianca Claus.

Kapitel 1

Die Weihnachtskugel

Es war einmal – vor über hundert Jahren – ein Mädchen mit schneeweißem Haar, das Weihnachten aus tiefstem Herzen verabscheute.

Das Mädchen hörte auf den Namen Bianca Claus, und auch in diesem Jahr – dem Jahr, in dem wir Bianca zum ersten Mal begegnen – schien Weihnachten genau wie immer zu verlaufen. Bianca saß allein in London, zusammengekauert unter der Brücke, die sie als ihr Zuhause betrachtete. Pferdekutschen tanzten die vereiste Straße entlang über den Fluss, sodass es sich für die Menschen darin anfühlen musste, als würden sie an ihr Ziel fliegen. Bianca beobachtete das Geschehen sehnsuchtsvoll. An Weihnachten hatten alle ein Zuhause, in dem sie erwartet wurden. Alle bis auf sie.

Bianca war wohl der einzige Mensch in ganz London, der Weihnachten damit verbrachte, rückwärts die Sekunden zu zählen, bis der Tag endlich vorbei war. Vorzugsweise laut und deutlich.

»Sechsundachtzigtausenddreihundertundvierundzwanzig! Sechsundachtzigtausenddreihundertunddreiundzwanzig! …«

Ihre Eltern waren so früh gestorben, dass sie sich nicht mehr an sie erinnern konnte, und seitdem hatte ihr Leben einem wirbelnden Schneesturm aus Londoner Waisenhäusern geglichen, von denen eines schrecklicher als das andere gewesen war. Mit vier Jahren hatte sie beschlossen, niemals wieder auch nur eine Nacht in einem Waisenhaus zu verbringen. Ganz gleich, wohin man sie auch brachte, sie blieb selten länger als eine Stunde. Trotz der verriegelten Türen und der vergitterten Fenster gelang ihr stets die Flucht.

Wie genau sie entkam, stellte alle Beteiligten vor ein Rätsel.

»Fünfundachtzigtausendeinhundertvier! Fünfundachtzigtausendeinhundertdrei!«

Sie wusste, dass sie wenig Glück gehabt hatte. Sie war allein auf dieser Welt, und kein Tag im Jahr rief ihr das so deutlich vor Augen wie Weihnachten.

»VIERUNDACHTZIGTAUSENDACHTHUNDERTZWEI! VIERUNDACHTZIGTAUSENDACHTHUNDERTEINS!«

Normalerweise zählte Bianca weiter, bis der Tag vorbei war oder sie einschlief. Aber in diesem Jahr kam ihr etwas dazwischen. Genauer gesagt: jemand.

Eine alte Frau in einem Umhang humpelte auf sie zu.

Bianca unterbrach die Zählerei und wartete darauf, dass die Frau an ihr vorbeizockelte. Doch stattdessen kam sie näher und näher. So nah, dass zwischen Bianca und ihr kaum mehr Platz für eine Schneeflocke war. Von ihrem Finger baumelte eine rote Weihnachtskugel.

»Hallo?«, flüsterte Bianca. Ihre Stimme knarzte wie zu dünnes Eis.

Die alte Frau schlug ihre Kapuze zurück, und darunter kam Haar, so weiß wie Biancas, zum Vorschein. Ihre Augen waren so trübe wie die Eisschicht, die den Fluss bedeckte. Sie beugte sich vor. »Das hier ist für dich«, raunte sie und hielt Bianca die Weihnachtskugel hin.

»Für … mich?«, hakte Bianca in der Annahme, dass ein Fehler vorliegen musste, nach.

»Für dich«, bestätigte die alte Frau. »Zu Weihnachten.«

»Danke«, entgegnete Bianca leise. »Ich habe noch nie etwas zu Weihnachten bekommen. Aber … um ehrlich zu sein, ist die Kugel an mich wohl verschwendet. Ich habe doch gar keinen Baum, an den ich sie hängen könnte! Besser, Sie behalten sie.«

»Für diese Weihnachtskugel hier brauchst du keinen Baum.«

»Und was soll ich dann damit anstellen?«, fragte Bianca.

»Das kannst nur du wissen«, entgegnete die alte Frau geheimnisvoll. »Unterschätze niemals die Macht der Gaben, die du erhältst. Du wirst staunen, was manchmal in ihnen steckt.«

Bianca musterte die alte Frau skeptisch, aber diese hielt ihr beharrlich weiter die Weihnachtskugel hin. Vorsichtig nahm Bianca sie an dem Goldfaden entgegen und umschloss sie mit beiden Händen. Die Kugel war unbeschreiblich kalt, kälter als Eis. Das musste irgendein Trick sein.

»Fröhliche Weihnachten«, flüsterte die alte Frau lächelnd, und im selben Augenblick bildeten sich Strudel auf der roten Oberfläche der Weihnachtskugel.

Bianca spähte durch die wirbelnden roten Schlieren ins Innere der Kugel. Darin entdeckte sie eine Schneelandschaft voller winziger Häuser und bunt leuchtender Eiszapfen. Und ganz in der Mitte befand sich ein … Moment, war das etwa ein riesiger, tanzender Weihnachtsbaum?

Sie blinzelte, war überzeugt, dass sie sich das alles nur einbildete. Aber als sie erneut in die Kugel blickte, war der Baum immer noch da. Er wirbelte wie verrückt im Kreis herum, sodass der winzige Schmuck gegeneinanderprallte und einige Kugeln zu funkelnden Scherben zerbarsten, die an ein Feuerwerk erinnerten.

»Ich … ich sehe …«, stammelte sie aufgeregt. »Da ist …« Fragend sah sie auf.

Doch die alte Frau war verschwunden.

Kapitel 2

Ein Pferd für Bianca

Und die Weihnachtskugel war erst der Anfang.

Nachdem Bianca sie erhalten hatte, fühlte sie sich anders als vorher. In ihrem Bauch wirbelte ein Schneegestöber umher, so wild, dass sie glaubte, jeden Moment abzuheben. Auf einmal kam es ihr falsch vor, Weihnachten unter der Brücke zu verbringen und die Sekunden zu zählen, bis der Tag vorüber war. Die Welt in der Kugel hatte ihr bewusst gemacht, dass dort draußen Abenteuer auf sie warteten. Die alte Frau hatte ihr – wenn auch nur für einen kurzen Augenblick – gezeigt, dass sie in Wahrheit gar nicht allein war. Und das Gefühl, einen winzig kleinen Gegenstand in der Hand zu halten, der wirkte, als könnte er die ganze Welt verändern, war magisch. So stand sie auf und marschierte einfach los.

Dieser Tag – um genau zu sein: dieser Moment – sollte Weihnachten aber nicht nur für Bianca, sondern für die ganze Welt verändern.

Erfüllt von neuer Hoffnung überquerte Bianca die Brücke und spazierte in die Stadt. Auf ihrem Weg kam sie an weihnachtlich geschmückten Häusern vorbei, hinter deren Fenstern Kaminfeuer prasselten und sich die Tische unter fetten Weihnachtsbraten bogen. Sie hatte sich kein Ziel gesetzt, sondern war einfach drauflosgelaufen. Auf den menschenleeren Straßen lag eine frische Schneeschicht, und Bianca seufzte zufrieden auf. Es fühlte sich an, als würde London ihr allein gehören. Sie hatte gerade angefangen, tanzend durch die Stille zu wirbeln und mit der Zunge Schneeflocken aufzufangen, als ein ausgesprochen ungewöhnlicher Anblick sie mitten in der Bewegung innehalten ließ.

Auf der Straße stand ein Pferd.

Das arme Ding wirkte vernachlässigt. Es ließ den Kopf hängen, und seine Rippen stachen hervor. Es war eine Stute, und sie zitterte so heftig, dass Bianca näher kam und dabei beruhigend mit der Zunge schnalzte.

»Ist ja gut«, flüsterte sie und tätschelte dem Pferd den Hals.

Es zuckte unter der Berührung zusammen.

»Keine Angst«, murmelte Bianca. Am Straßenrand entdeckte sie auf einem Stapel Fässer ein paar leere Säcke und legte sie der Stute auf den Rücken, um sie zu wärmen. In einem der Säcke steckten noch ein paar alte Spekulatius-Kekse, die sie dem Pferd hinstellte, damit es etwas zum Knabbern hatte.

»Wie heißt du denn?«, flüsterte Bianca, dabei wusste sie natürlich genau, dass die Stute nicht antworten konnte. »Ich kann dich ja wohl schlecht einfach Pferd nennen.«

Ihr Blick fiel auf die Aufschrift der Säcke.

RUDYSSPEKULATIUSSPEZIALITÄTEN.

»Rudy …«, sagte Bianca versuchsweise laut.

Die Stute wieherte begeistert.

»Rudy!«, jubelte Bianca und vergrub das Gesicht in der strähnigen Pferdemähne. Dann sagte sie voller Bedauern: »Tja, jetzt, wo ich deinen Namen kenne, sollte ich dich wohl besser zu deinem Besitzer zurückbringen.«

Sie sah sich suchend um, doch Rudy schlug den Kopf hin und her und wieherte laut, diesmal aber nicht aus Begeisterung.

Bianca musterte sie überrascht. Es wirkte fast so, als hätte Rudy jedes Wort verstanden.

»Du hast keinen Besitzer?«

Rudy wieherte erneut, und Bianca kam eine Idee. »Tja, also wenn du keinen Besitzer hast, dann … könntest du doch mit mir mitkommen, oder? Ich verspreche auch, dass ich mich für immer und ewig um dich kümmere und dich niemals im Stich lasse.«

Rudy stupste Bianca mit ihrer warmen Nase an und knabberte an der Weihnachtskugel herum, die aus ihrer Jackentasche ragte.

Bianca betrachtete das als Zeichen. »Dann ist es also abgemacht?«, fragte sie.

Mit einem ohrenbetäubenden Wiehern stieg Rudy auf die Hinterbeine, und Bianca machte einen erschrockenen Satz nach hinten. Immer wieder warf die Stute heftig ihren Kopf in den Nacken, als wollte sie ihr etwas sagen.

»Was ist los?«, rief Bianca. »Stimmt etwas nicht?«

Rudy schnaubte ungeduldig und warf erneut den Kopf in den Nacken.

»Oben?«, fragte Bianca und sah hinauf in den Nachthimmel.

Rudy verrenkte sich nach hinten und berührte mit der Nase ihren Rücken.

»Oh, du willst, dass ich dich reite?«, rief Bianca. »Tut mir leid, aber ich kann nicht. Ich weiß nicht, wie reiten geht.«

Rudy scharrte mit dem Huf über den Boden und schnaubte erneut.

»Jetzt sei nicht so, das ist doch nicht meine Schuld«, sagte Bianca. »Was kann ich denn dafür, dass ich nie die Möglichk…«

Rudy unterbrach sie mit einem weiteren ungeduldigen Schnauben, dann fasste sie vorsichtig mit den Zähnen nach Biancas Jacke und zog sie zu sich.

»Schon gut, schon gut!«, sagte Bianca. Ungeschickt hüpf-hievte sie sich auf Rudys Rücken, wäre aber fast auf der anderen Seite wieder heruntergefallen und suchte Halt in der Mähne.

Einen Augenblick lang lag sie bäuchlings da und traute sich nicht, sich zu rühren. »Und was jetzt?«, fragte sie schließlich. »Soll ich mal versuchen, mich aufzuset…?«

Doch da schoss Rudy schon los durch die Straßen von London, schneller, als Bianca je ein Pferd hatte laufen sehen. Sie klammerte sich mit aller Kraft in der Mähne fest, quietschte bei jedem Laternenpfahl, dem sie auswichen, und gab bei jeder Ecke, um die sie schlidderten, gellende Schreie von sich. »RUDY!«, rief sie. »HALT! LANGSAMER! STOPP! STEHENBLEIBEN! WASISTDASPFERDISCHEWORTFÜRSTOPP?«

Rudy wieherte, und Bianca hätte schwören können, dass es klang, als würde die Stute sich über sie lustig machen.

Verzweifelt klammerte sie sich weiter mit ihren eiskalten Fingern an der strähnigen Mähne fest. Die Welt holperte so ruckartig an ihr vorüber, dass ihr übel davon wurde. Da Rudy nicht die Absicht zu haben schien anzuhalten, nahm Bianca allen Mut zusammen und richtete sich auf.

Sobald sie aufrecht saß, wurden die Bewegungen der Stute regelmäßiger. Es war fast so, als würden Bianca und Rudy ineinander einrasten.

»SOFÜHLTSICHREITENAN?«, rief Bianca.

Rudy sah sich zu ihr um und zwinkerte.

Sie donnerten weiter durch die Stadt, und nach einer Weile fing Bianca an, ihren Ritt zu genießen. Zum ersten Mal seit Jahren grinste sie von einem Ohr bis zum anderen. Sie jubelte gerade ein lautes »HÜÜÜÜ-HA!« in die Nacht hinaus, als Rudy plötzlich etwas vor die Beine sprang und die Stute erschrocken auf die Hinterbeine stieg. Ehe Bianca sich’s versah, war Rudy unter ihr verschwunden, und sie purzelte rückwärts in den Schnee.

Als sie die Augen öffnete, war ihre Sicht verschwommen vom Matsch.

Eine unscharfe Gestalt schwankte vor ihr hin und her. »BEIMHOPSENDENWEIHNACHTSBAUM! GEHTESDIRGUT?«

Kapitel 3

Das Pfeffernuss-Picknick

Zwei Hände packten Bianca unter den Achseln und zogen sie auf die Beine. Hastig rieb sie sich den Schneematsch aus den Augen – und hatte bereits zum dritten Mal an diesem Tag einen überraschenden Anblick vor sich.

Es handelte sich um ein Mädchen ungefähr in ihrem Alter, das die ungewöhnlichste Kleidung trug, die Bianca je gesehen hatte. Der Saum ihres Lumpenrocks war mit zerknittertem Geschenkpapier verziert, und an ihren Ohren hingen Weihnachtskugeln. Am Revers ihrer schmuddeligen Jacke steckte anstelle einer Brosche ein kaputter Engelsanhänger, und ihr dunkles, zu einem Zopf geflochtenes Haar war mit einem verwelkten Mistelzweig umwickelt.

»Du siehst SPEKTAKULÄR aus!«, sagte Bianca bewundernd.

Das Mädchen lächelte und machte eine kleine Verbeugung. »Ich danke dir!«

»Wo hast du das alles gefunden?«, fragte Bianca.

»Ach, größtenteils auf der Straße«, erwiderte das Mädchen. »Die meisten Sachen hat jemand verloren. Deswegen trage ich sie an meiner Kleidung. So finden die Besitzer sie leichter wieder.« Sie tätschelte Rudy. »Es tut mir sehr leid, dass ich dein Pferd erschreckt habe. Ich bin einfach losgesprungen! Damit hat es wohl nicht gerechnet … Aber ich war einfach so aufgeregt, dass du wahr geworden bist.«

»Dass ich was?«, fragte Bianca.

»Dass du wahr geworden bist!«, wiederholte das Mädchen und umarmte Bianca fest. »Ich hätte nie damit gerechnet, dass du so schnell zu mir kommst. Es ist jetzt keine zwei Minuten her, da habe ich in den verschneiten Himmel hinaufgerufen: KANNSTDUMIRBITTEJEMANDENSCHICKEN, MITDEMICHEINPFEFFERNUSS-PICKNICKMACHENKANN? Und, ZACK-BUMM!, da bist du. Ich finde dich jetzt schon ganz fantastisch, und dabei kenne ich dich erst seit zwei Sekunden. Ich bin Rinki, und ich würde mich sehr freuen, wenn du mit mir Pfeffernüsse picknicken würdest.«

»Ich?«, war das Einzige, was Bianca hervorbrachte, weil sie so überwältigt war. Vorsichtig schob sie die Hand in die Tasche, um noch einmal die eiskalte Weihnachtskugel zu berühren. »Gern. Sehr gern sogar«, antwortete sie dann leise. »Ich habe noch nie jemanden gehabt, mit dem ich Weihnachten feiern konnte, und ich war auch noch nie bei einem … ähm … wie hast du das noch mal genannt?«

»Ein Pfeffernuss-Picknick!«, jubelte Rinki. »Die beste Weihnachtstradition überhaupt! Übrigens habe ich sie ganz allein erfunden.«

Sie holte ein durchlöchertes, mit goldenen Glöckchen und Stechpalmenzweigen besticktes Taschentuch hervor und schlug es auseinander. Darin verbargen sich zwei leicht ramponierte Pfeffernüsse, die sicher schon mehrere Tage alt waren. »Ein wahres Festmahl!«, rief sie. »Eine Pfeffernuss für jede.«

Sie setzten sich in den Schnee, und Rinki breitete das kleine Taschentuch aus wie eine Picknickdecke.

»An dieser Straßenecke hier werden im Winter die Weihnachtsbäume verkauft«, erklärte sie. »Darum mag ich sie von allen Straßenecken am liebsten.«

Bianca warf einen Blick in die Gasse hinter ihnen, in der sich Rinki mithilfe einer alten Decke ein Zelt mit einem Lager darunter errichtet hatte. Sie war sich ziemlich sicher, dass Rinki diese Weihnacht ebenfalls allein verbrachte.

»Was für ein herrlicher Tag für ein Pfeffernuss-Picknick! Schöner könnte das Wetter gar nicht sein, findest du nicht?«, schwärmte Rinki, während sie Bianca eine Pfeffernuss reichte. »Ach, was freut es mich, euch beide hier bei mir zu haben!«

Sie brach ihre Pfeffernuss in zwei Hälften und verfütterte die eine an Rudy. Dann hob sie die andere in die Luft, wie es Erwachsene mit Gläsern machten, um anzustoßen. »Auf Weihnachten!«, rief sie und stopfte sich die Pfeffernuss in den Mund.

Sie verbrachten mehrere Stunden dort draußen, legten sich auf den Rücken, um Schneeengel zu machen, und unterhielten sich dabei über alles Mögliche.

Genauso wie Bianca war Rinki eine Waise und schlug sich allein auf der Straße durch. »Eines Tages habe ich eine Familie und eine ganze Küche voll mit frisch gebackenen Pfeffernüssen«, verkündete sie und sprang auf. »Das weiß ich einfach!«

Genau in diesem Augenblick kam eine grüne auf Hochglanz polierte Pferdekutsche um die Ecke gebogen und raste auf die beiden Mädchen zu.

»VORSICHT!«, schrie Bianca und zog Rinki aus der Bahn.

Erleichtert sahen sie der Kutsche hinterher, die bei ihrem Ausweichversuch kurz auf zwei Rädern weiterschlitterte.

»FRÖHLICHEWEIHNACHTENNOCHUNDVIELEPFEFFERNÜSSE!«, brüllte Rinki.

»Eines Tages hätte ich auch gern so etwas«, murmelte Bianca.

»Ein Pferd und eine Kutsche?«, fragte Rinki. »Wieso?«

»Weil jeder, der eine Kutsche hat, auch ein Zuhause hat, wo er erwartet wird.« Sie ließ sich wieder in den Schnee sinken. »Ich würde auch gern zu diesen Leuten zählen.«

»Na, das Pferd hast du ja schon mal«, bemerkte Rinki und nickte in Rudys Richtung. »Die Hälfte hast du geschafft.«

Bei dem Gedanken musste Bianca grinsen. »Vielleicht bastle ich mir die Kutsche einfach aus den Sachen, die ich auf der Straße finde. So wie du deine Kleidung!«

»Eine spektakuläre Idee!«, rief Rinki. »Wir können alles schaffen, was wir uns vornehmen! Ich entwerfe herrliche Kleider, in denen ich Bälle und das Theater besuche. Und dann spüre ich die besten Pfeffernüsse der Welt auf. Für unser Pfeffernuss-Picknick! Zu dem du natürlich für alle Zeit eingeladen bist.«

Bianca lachte auf und musterte Rinki voller Bewunderung.

Und während sich ganz London den Weihnachtsbraten schmecken ließ, wurde draußen an der Straßenecke, an der im Winter die Weihnachtsbäume verkauft wurden, der Grundstein für eine Freundschaft gelegt, die entscheidend für die Zukunft von Weihnachten sein sollte.

Bianca konnte ihr Glück kaum fassen. Wie hatte ihr nur eine so wundersame und wunderbare Person wie Rinki begegnen können? Eine Person, die ohne Wenn und Aber ihre Pfeffernüsse mit ihr teilte? Noch am Morgen hatte sie nichts gehabt – und nun besaß sie ein Pferd, eine Freundin und eine geheimnisvolle Weihnachtskugel.

»Was ist das?«, fragte Rinki wie auf Kommando und stupste mit dem Finger gegen die Kugel in Biancas Tasche.

Bianca reichte sie ihrer Freundin vorsichtig.

»Die ist ja kälter als Eis!«, rief Rinki. »Dabei war sie doch in deiner Tasche!«

Bianca nickte. »Wenn dir das schon merkwürdig vorkommt, dann warte erst, bis du reingeschaut hast!«

Rinki tat, was sie gesagt hatte, und zog eine Grimasse. Schaute von oben und unten in die Kugel, drehte sie, begutachtete sie aus jedem denkbaren und undenkbaren Winkel. »Der Baum tanzt ja!«, quietschte sie schließlich. »Er TANZT! Und dann auch noch mit so viel Begeisterung!«

»Was glaubst du, wo sich dieses verschneite Dorf befindet?«, flüsterte Bianca.

Rinki überlegte kurz. »Irgendwo jedenfalls, wo es kälter ist als in London. Vielleicht irgendwo weiter im Norden?«

»Aber glaubst du, das ist echt?«, fragte Bianca. »Das ist eine tanzende Tanne, und Bäume können eigentlich nicht tanzen …«

»Hier vielleicht nicht! Aber dort offenbar schon … wo auch immer dort sein mag.«

Bianca versenkte sich wieder in den Anblick des Kugelinneren. »Heute sind mir eine Menge seltsamer Dinge widerfahren, Rinki. Und ich glaube, sie alle hängen mit der Kugel zusammen.«

»Glaubst du, die Kugel zeigt uns unser Schicksal?«, fragte Rinki.

»Glaubst du, mein Schicksal besteht darin, ein tanzender Tannenbaum zu werden?«, fragte Bianca zurück. »Na wunderbar, endlich etwas, worauf ich mich freuen kann.«

»Ich würde dich immer noch mögen, auch wenn du ein tanzender Tannenbaum wärst. Ich würde den allerschönsten Baumschmuck für dich basteln.«

Bianca lächelte und steckte die Kugel zurück in ihre Tasche.

Rinki faltete ihr Taschentuch und band es sich ordentlich um den Ärmel, damit der ursprüngliche Besitzer es leicht

entdecken konnte, falls er ihr einmal über den Weg laufen sollte.

»Das ist ein ausgesprochen hübsches Taschentuch«, bemerkte Bianca.

»Mein bisher herausragendster Fund! Am besten gefallen mir die aufgestickten Glitzerglöckchen. Kling, Glöckchen, klingelingeling«, rief sie, und dann noch ein wenig lauter: »KLING, GLÖCKCHEN, KLING!«

»KLING, GLÖCKCHEN, KLINGELINGELING!«, fiel Bianca mit ein, und ihre Stimmen hallten durch die leeren Straßen. »KLING, GLÖCKCHEN, KLING!«

Und dann riefen sie im Chor: »KLINGELING! KLINGELING! KLINGELING!«

»Rinki?«, sagte Bianca und ließ sich wieder in den Schnee zurückfallen. Ihr war so warm wie nie zuvor in ihrem ganzen Leben. »Ich habe eine Idee.«

Sie griff in ihre Tasche und befreite den Goldfaden aus der Aufhängung der Kugel. Vorsichtig durchtrennte sie ihn in der Mitte und band Rinki die eine Hälfte um den Mittelfinger wie einen kleinen Ring. Sich selbst bastelte sie auch einen.

»Als Dankeschön für heute und zum Zeichen, dass wir Freundinnen sind, solange wir die Ringe tragen«, erklärte sie.

»Ein magischer Ring!«, rief Rinki. »Ich werde ihn niemals wieder ablegen!«

Sie blieben an ihrer Straßenecke, bis sich die Nacht über die Stadt senkte und die schimmernde Weihnachtsbeleuchtung nach und nach erlosch. Es war Zeit, zu Bett zu gehen.

»Kommst du morgen wieder?«, fragte Rinki.

»Aber klar doch! Und auch sonst an jedem Tag«, versprach Bianca, während sie auf Rudys Rücken kletterte.

Rinki lächelte. »Gute Nacht, Bianca. Bis morgen!«, rief sie ihr hinterher.

»Gute Nacht, Rinki!« Bianca winkte und winkte, bis ihre Freundin außer Sicht war.

Danach saß sie schweigend auf Rudy und beobachtete, wie die letzten Lichter von London im Takt der klappernden Pferdehufe an ihr vorbeizogen.

Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie den Zauber der Weihnacht zu spüren bekommen.

Am nächsten Tag begann der Schnee zu schmelzen, und Bianca ritt auf Rudys Rücken aufgeregt durch den grauen Matsch, um ihre neue Freundin wiederzusehen.

Aber an der Straßenecke, an der im Winter die Weihnachtsbäume verkauft wurden, war niemand, insbesondere nicht Rinki. Und es wies auch nichts darauf hin, dass sie je hier gewesen war.

»Aber genau hier waren doch ihre Sachen«, sagte Bianca und unterdrückte dabei einen Schluchzer. »Du hast sie doch auch gesehen, Rudy!«

Rudy schnaubte ein empörtes Ja. Als ob sie jemals den Schrecken vergessen könnte, den Rinki ihr eingejagt hatte!

»Beim hopsenden Weihnachtsbaum«, flüsterte Bianca und ging in Gedanken jeden ihrer Schritte, jedes Wort, jeden Augenblick der Nacht zuvor noch einmal durch. »Sie war genau hier … oder etwa nicht?«

Bianca wartete stundenlang und kehrte Tag für Tag an die Straßenecke zurück, um nach ihrer Freundin zu suchen.

Aber genauso wie der Schnee schien auch Rinki vom Erdboden verschluckt worden zu sein.

 

 

5 JAHRE SPÄTER

Kapitel 4

Fuhrmädchen Bianca

Bianca Claus war gekleidet wie ein Junge. Aber nur, weil ihr keine andere Wahl blieb.

Es war der 1. Dezember, und endlich schneite es. Der Winter legte sich um London wie ein festliches Seidenband.

Unten am Hafen entluden die Arbeiter die Schiffe. Im grauen Schneematsch zwischen ihnen eilten unzählige Pferdekarren umher. Trauben flüsternder Besucher sammelten sich zu einer beachtlichen Menschenmenge. Sie unterhielten sich aufgeregt über einen Kapitän, der heute mit seinem Schiff eintreffen sollte.

Bianca, eigenbrötlerisch wie eh und je, hämmerte in einiger Entfernung vom Trubel an ihrem Karren herum. »Fertig!«, rief sie und richtete sich stolz neben Rudy auf. »Und, was meinst du?«

Die Stute seufzte deutlich vernehmbar und weigerte sich hinzusehen.

»Nun hab dich doch nicht so«, sagte Bianca und deutete auf die Holzplanken, die sie unter den Rädern des Karrens befestigt hatte. »So können wir über den Schnee gleiten wie mit einem Schlitten!«

Sie wartete auf eine Reaktion, aber ihre Stute blieb störrisch. Als Bianca im Frühjahr den Karren fertiggestellt hatte, hatte Rudy ähnlich übellaunig reagiert. Bianca hatte jahrelang daran gearbeitet. Trotzdem musste sie Rudy zugestehen, dass das Ergebnis nicht viel mit einem echten Karren gemeinsam hatte. Aber ihr Konstrukt funktionierte, und es gehörte allein ihnen, und sie konnten damit überall hinfahren, wohin sie wollten.

Genauer gesagt: überall, wo ihre Kunden sie hinschickten. Denn Bianca nutzte Rudy und den Karren, um Frachtgut von den Schiffen in die Stadt zu bringen. Dass sie ein Fuhrmädchen war, durfte allerdings keiner wissen. Deswegen auch die Verkleidung.

»Mädchen dürfen nicht mit Karren arbeiten«, wiederholte sie mit verstellter Stimme für Rudy. So hatte man es ihr damals gesagt. »Das ist nur etwas für Jungen und Männer!«

Rudy beugte sich zu ihr und stupste sie mitfühlend an.

Bianca hielt sich die Hände vor den Mund und pustete hinein, um sie aufzuwärmen.

»Und hier bin ich«, fuhr sie fort. »Wer hätte gedacht, dass eine große Kappe und ein paar Hosen ausreichen, um die Regeln zu brechen?«

Niemand war je darauf gekommen, dass Bianca ein Mädchen sein könnte. Und inzwischen stand sie in dem Ruf, der beste Fuhrjunge von ganz London zu sein – zum Verdruss der echten Jungen, die ebenfalls hier am Hafen arbeiteten.

»Sieh dir nur all die Leute an«, sagte sie zu Rudy und deutete mit dem Kopf in Richtung der Zuschauermenge. »Offenbar wird heute noch ein berühmtes Schiff anlegen. Der Kapitän soll ein berühmter Polarforscher sein und …«

»He, Stibitz!«

Bianca zuckte zusammen und fuhr herum. Die Stimme gehörte Knute, dem größten der Fuhrjungen, der gerade mit eiligen Schritten auf sie zukam.

Hastig tastete sie an ihrer Kappe nach verräterischen langen Haarsträhnen.

»Stiii-bitz!«, riefen jetzt auch Rübe und Sprosse, die Knute wie immer auf Schritt und Tritt folgten.

Stibitz war der Spitzname, den sie ihr verpasst hatten. Nach ihrem echten Namen hatte nie jemand gefragt.

»Wenn ihr auch nur einen Schritt näher kommt, jage ich euch Rudy an den Hals«, knurrte Bianca, schnappte sich einen Striegel und fuchtelte drohend damit herum. Rudy kaute derweil mit ihren wenigen verbliebenen Zähnen in aller Seelenruhe auf einem alten Tau herum.

Knute unterdrückte ein Grinsen. »Oh, bloß nicht, ich fürchte mich ja so vor deinem grauenerregenden Pferd! Ich wollte dir bloß ein Geschenk überreichen«, sagte er, drängte sich an Rudy vorbei und legte Bianca einen Arm um die Schultern.

»Ein Geschenk?«, wiederholte Bianca trocken. Das klang ausgesprochen unwahrscheinlich.

Doch obwohl die Fuhrjungen ihr gegenüber noch nie auch nur den leisesten Funken Freundlichkeit bewiesen hatten, wünschte sich ein winziger Teil von ihr nichts sehnlicher, als dass Knute die Wahrheit sagte. Sie hatte nur Rudy zum Reden, und das machte einsam.

Deswegen ließ sie sich von Knute zu der alten Steinhütte führen, in der die Fuhrjungen das Zaumzeug für ihre Pferde und ihre Stiefel aufbewahrten. Die Hütte war krumm und schief, die Steine waren übersät mit Schlammspritzern, und das geschindelte Dach bog sich. Bianca hatte sie noch nie betreten dürfen. Die Fuhrjungen schliefen auch darin. Alle bis auf sie. Sie nutzte immer noch ihr Geheimversteck unter der Brücke.

»Es ist da drin«, sagte Knute und schob sie in die Hütte. »Wetten, es wird dir gefallen?«

»Wo ist es?«, fragte sie und spähte in die Finsternis. »Ich kann nichts erkennen.«

»Na, gleich da drüben«, erklärte Knute. »Beim Kamin.«

Sie tat einen weiteren Schritt ins Innere. Ohne Kerze war es dunkel hier drinnen, und die Sattel an der Wand hingen über ihr wie schwebende Geister, die sich zum Angriff wappneten.

Ein Knarzen war zu hören, dann der Klang schneller Stiefel auf alten Holzdielen. Bianca fuhr herum, aber es war schon zu spät. Sie konnte nur noch einen kurzen Blick auf Knutes hämisches Grinsen werfen, dann fiel die Tür hinter ihm zu.

»NEIN!«, rief sie, rannte ihm hinterher und hämmerte mit aller Kraft gegen die Tür. Wie hatte sie nur auf diesen uralten Trick hereinfallen können? Sie hörte, wie der Schlüssel im Schloss herumgedreht wurde.

»LASSTMICHRAUS!«, brüllte sie. »LASSTMICHSOFORTWIEDERRAUS!«

Nichts geschah.

Sie ließ sich auf den Boden sinken und schob die Hand in die Tasche, um ihre rote Weihnachtskugel zu berühren.

Die Kugel hatte sie immer noch, genauso wie den Goldfadenring. Inzwischen passte er ihr nur noch auf dem kleinen Finger, aber sie nahm ihn niemals ab. Für den Fall, dass Rinki doch irgendwann zurückkehrte.

Bianca dachte an die Straßenecke, an der im Winter die Weihnachtsbäume verkauft wurden, und wie oft sie schon dorthin zurückgekehrt war. Obwohl Rinki niemals wieder aufgetaucht war, lagen dort Jahr für Jahr, ohne eine einzige Unterbrechung, ein Dutzend Pfeffernüsse. Frisch gebacken, köstlich und in ein Taschentuch gewickelt. Genau an der Stelle, wo Bianca mit Rinki ihr Pfeffernuss-Picknick abgehalten hatte.

Manchmal fragte sie sich, ob sie sich Rinki nur eingebildet hatte. Ob es Rinki vielleicht nie gegeben hatte.