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Eine Familie, die alles füreinander tut. Wirklich alles.
Dieser mitreißende und spannende Psychothriller ist nichts für schwache Nerven
Von außen betrachtet, scheint die vierköpfige Familie Walsh ein perfektes und idyllisches Leben zu führen. Mutter Lucy ist erfolgreiche Ärztin, Vater Aidan ist Tierarzt mit eigener Praxis, ihre Söhne Connor und Keiran sind ihr ganzer Stolz. Doch der 12-jährige Keiran leidet an einer Autoimmunkrankheit und wird früher oder später auf eine neue Niere angewiesen sein. Lucy, Aidan und sein älterer Bruder Connor suchen verzweifelt nach einer Rettung für ihren jüngsten Sohn und würden alles tun, um ihm zu helfen. Was diese Familie nicht ahnt – jeder von ihnen hat ein Geheimnis, das um keinen Preis ans Licht kommen darf. Denn eins davon ist tödlich.
Erste Leser:innenstimmen
„Die nervenaufreibende Spannung hat mich bis zur letzten Seite gefesselt!“
„Jede neue Wendung in der Geschichte der Walsh-Familie hat mich mehr in den Bann gezogen. Ein echter Pageturner, der nichts für schwache Nerven ist!“
„Es gab einen Twist nach dem anderen, ich habe selten so ein packendes und mitreißendes Buch gelesen.“
„Louise Jensen hat einen gnadenlos spannender Thriller geschrieben, der einen nicht mehr loslässt!“
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Seitenzahl: 476
Veröffentlichungsjahr: 2024
Von außen betrachtet, scheint die vierköpfige Familie Walsh ein perfektes und idyllisches Leben zu führen. Mutter Lucy ist erfolgreiche Ärztin, Vater Aidan ist Tierarzt mit eigener Praxis, ihre Söhne Connor und Keiran sind ihr ganzer Stolz. Doch der 12-jährige Keiran leidet an einer Autoimmunkrankheit und wird früher oder später auf eine neue Niere angewiesen sein. Lucy, Aidan und sein älterer Bruder Connor suchen verzweifelt nach einer Rettung für ihren jüngsten Sohn und würden alles tun, um ihm zu helfen. Was diese Familie nicht ahnt – jeder von ihnen hat ein Geheimnis, das um keinen Preis ans Licht kommen darf. Denn eins davon ist tödlich.
Deutsche Erstausgabe November 2024
Copyright © 2025 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten
E-Book-ISBN: 978-3-98998-306-9
Copyright © 2022, Louise Jensen Titel des englischen Originals: All for you
Louise Jensen asserts the moral right to be identified as the author of this work.
Louise Jensen beansprucht das Urheberrecht, als Autorin dieses Werkes genannt zu werden.
Übersetzt von: Johanna Ellsworth Covergestaltung: Nadine Most unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com: © IDAS DASUKI, © omarova Korrektorat: Stefanie Wenke
E-Book-Version 05.03.2025, 06:40:36.
Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.
Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
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Für Pete Simmons, der Teil unserer Familie ist
Irgendwas stimmt nicht.
Mein tiefer Urinstinkt schreit, dass ich unbedingt nach Hause zu Connor fahren muss. Nicht nur, weil wir uns gestritten haben. Nicht wegen der schrecklichen, verletzenden Dinge, die er zu mir gesagt hat. Es ist was anderes.
Es ist das Wissen, dass ich meinen Sohn, auch wenn er schon siebzehn ist, nie allein hätte lassen dürfen.
Beeil dich.
Verschwommene grellorangene Kegel blitzen vor der Windschutzscheibe auf, während ich Gas gebe, bis mich die Straßenarbeiten zum Anhalten zwingen. Am Rückspiegel baumelt der kerzenförmige Lufterfrischer und duftet süßlich nach Erdbeere.
Meine Fingerspitzen trommeln auf dem Lenkrad herum,alsich darauf warte, dass die provisorische Ampel auf Grün springt. Der Regen prasselt aufs Autodach, die Scheibenwischer ruckeln von einer Seite zur anderen.Es ist nicht der Blitzschlag, bei dem sich mein Magen schmerzhaft verkrampft, und auch nicht das Donnergrollen – obwohl Stürme mich immer in eine Zeit zurückversetzen, die ich lieber vergessen würde –, sondern mein Mutterinstinkt.
Ich habe sie schon einmal gespürt, diese Bowlingkugel der Angst, die auf mich zurast.
Mein Atem geht abgehacktund ichsage mir, dass alles in Ordnung ist. Es ist ganz natürlich, dass die Sorge mit scharfen Zähnen an mir nagt. Nach dem Verschwinden zweier Teenager ist jede Mutter in unserer Stadt in höchster Alarmbereitschaft. Doch ich habe mehr Grund als die meisten der anderen, nervös zu werden.
Nicht, dass ich denke, Connor sei entführt worden, doch obwohler bei mir manchmal nicht ans Handy geht, würde er Kierons Anrufe nie ignorieren.
Niemals.
Vor allem, weil er Kieron gebeten hatte, ihn nach seinem Krankenhaustermin anzurufen.
Warum ist er nicht rangegangen?
Vor meinem geistigen Auge sehe ich, wie erauf einem Stuhl balanciert, um an die Snacks heranzukommen, die er auf seinem Schrank versteckt, ohne zu ahnen, dass ich davon weiß.
Ein Unfall oder was anderes?
Etwas noch Schlimmeres?
Ich habe eine böse Vorahnung, bei der mir schlecht wird.
Ganz ruhig.
In letzter Zeit stehe ich so unter Druck, dass ich sofort nervös werde. Gereizt. Aber … ich tippe auf mein Handy und versuche noch einmal, Connor zu erreichen. Auf dem Display leuchtet mein Lieblingsfoto von ihm auf. Wir haben es vor fünf Jahren an Ostern aufgenommen, als es für die Jahreszeit ungewöhnlich heiß war. Bevor wir Kierons Diagnose erhielten. Und sich alles änderte. Wir sind am Strand; der Wind bläst ihm die dunklen Locken ins Gesicht. Er strahlt, während sein Mund mitRestenvon Schokoladeneis verschmiert ist.
Wir waren damalsalle sehr glücklich. Auch wenn ich nicht weiß, wie, muss ich daran glauben, dass wir es wieder sein können. Die Alternative ist unerträglich schmerzhaft.
Das Telefon klingelt und klingelt.Ich spüre, wie Angst mir den Nacken hinaufkriecht.
Verzweifelt versuche ich, ihn noch mal anzurufen, jetzt von Kierons Handy aus. Er antwortet immer noch nicht.
Die Ampel steht ewig auf Rot.
Neben mir schläft Kieron, den Kopf an die Fensterscheibe gelehnt, sein Atem beschlägt das Glas. Die dunklen, geschwungenen Wimpern spreizen sich wie ein Spinnennetz über seine blasse Haut. Der Termin im Krankenhaus hat ihn erschöpft. Die rote Schottendecke, die ich immer im Auto aufbewahre, ist ihm von den Knien gerutscht. Ich greife hinüber und ziehe sie über seine Beine. Der Beifahrersitz verschluckt schier seinen schmächtigen Körper. Mit dreizehn sollte er eigentlich wachsen, doch seine Krankheit lässt ihn schrumpfen. Sie schrumpft auch mich. Manchmal habe ich das Gefühl, als würde meine ganze Familie verschwinden. Aidan spricht kaum mehr mit mir und fasst mich nie an. Im Bett wird der Abstand zwischen uns immer größer. Wir balancieren beide auf der Matratzenkante, während ein Streifen des kalten Bettlakens eine unsichtbare Barriere zwischen uns bildet. Mein Kopf ruht nicht mehr auf seiner Brust, sein Bein schlingt sich nicht mehr um meines, seine Finger streichen mir nicht mehr durchs Haar.
Connor ist so einsilbig und launisch, wie es Siebzehnjährige oft sind, doch so war er früher nie…
Aber es ist nicht nur das; es ist auch diese Krankheit. Nicht nur Kieron hat sie, sondern wir alle.
Die Ampel wird grün.
Schnell, gib Gas.
Doch bevor ich losfahren kann, taucht ein gelber Streifen auf. Durch den Regen rollt ein Bagger auf mich zu und versperrt mir den Weg.
Kieron seufzt im Schlaf, so wie sein Bruder, wenn er wach ist. Manchmal scheint es, als würden die Jungs nur durch Geräusche und Achselzucken kommunizieren. Aber es ist nicht fair, das zu sagen. Es ist kaum überraschend, dass Connors Mund dauerhaft zu einem dünnen Strich geworden ist, als hätte er vergessen, wie man lächelt.Neben allem, was er vordemSommer durchgemacht hat,ist esnicht nur die Sorge um seinen Bruder, diemeinen fröhlichen Sohn inein schuldbewusstes Häufchen Elend verwandelt hat, sondern auch die bittere Wahrheit, dass die beiden anderen aus seiner Freundesclique verschwunden sind.
„Die Entführten“ nannte die Lokalzeitung sie und berichtete, dass von denen, die an jenem tragischen Tag dabei waren, Connor der Einzige ist, der noch da ist.
Connor ist sich dessen bewusst, denn seitdem versteckt er sich in seinem Zimmer und hat zu große Angst, um in die Schule zu gehen.
Das wissen wir alle.
Tyler und Ryan sind spurlos verschwunden, und die Polizei tappt völlig im Dunkeln.
Es liegt an mir, Connor zu beschützen.
Ich werfe einen Blick auf Kieron.
Ich werde alles für die Sicherheit meiner beiden Jungen tun.
Der Baggerfahrer hebt dankend die Hand, während er an mir vorbeirollt. Bevor ich losfahren kann, springt die Ampel wieder auf Rot. Frustriert schlage ich mit den Handflächen aufs Lenkrad.
Bleib ruhig.
Mein Kopf sagt mir, dass Connor nicht entführt wurde.
Er ist zu Hause.
Die Tür ist verschlossen.
Ihm geht es gut.
Und trotzdem …
Kierons Anrufe ignoriert er nie.
Niemals.
Beeil dich.
Obwohl die Ampel rot ist, fahre ich los. Es kommt kein Gegenverkehr. Ich schalte das Radio wieder ein. Der Nachrichtensprecher meldet in nüchternen, kurzen Worten, dass die vermissten Jungen noch nicht gefunden wurden, die Polizei jedoch in mehrere Richtungen ermittelt. Kein anderer Jugendlicher ist verschwunden. Das unausgesprochene „noch“ liegt in der Luft, und auch wenn ich weiß, dass Connor in Sicherheit ist, trete ich das Gaspedal durch. Nur zu Hause lässt meine Angst nach. Wenn wir uns alle unter einem Dach befinden und ich beinahe so tun kann, als wäre alles so wie vorher.
Wie früher.
Die Sicht ist schlecht. Gefrustet fahre ich langsamer und starre durch den strömenden Regen. Wenn ich einen Unfall habe, kann ich Kieron nicht helfen – niemandem. Mein Herz rast, als wieder ein Blitz irgendwo krachend einschlägt. Ich zähle die Sekunden, so wie früher mit den Jungs, als sie noch klein waren.
Eins.
Zwei.
Drei.
Donnergrollen. Der Sturm rückt näher. Alles kommt näher, stürzt ein. Mein Magen ist ein harter Ball, mein Puls schießt in die Höhe, als ich eine Gefahr spüre, die auf mich zu galoppiert.
Beeil dich.
Die Dringlichkeit, zu Hause zu sein, übertönt die Stimme der Vernunft, die mich drängt, langsamer zu fahren. Ich rase am alten Krankenhaus vorbei, das allmählich verfällt, lasse das weißblaue NHS-Schild, das von Efeu überwuchert ist, hinter mir, dann die Realschule. Ich nehme die in Schwarz gehüllte Gestalt, die den Zebrastreifen betritt, kaum wahr, doch irgendwie muss ich sie bemerkt haben, denn ich hupe, bis der Mann auf den Gehweg zurückspringt. Er reckt mir seine Faust entgegen, aber ich fahre weiter.
Beeil dich.
Meine Brust ist wie zugeschnürt, als ich in unsere Straße, dann in die Einfahrt abbiege. Ein angstvolles Wimmern entweicht meinen Lippen, als ich sehe, dass die Haustür offen steht.
Ohne Kieron aufzuwecken, falle ich halb aus dem Auto. Meine Füße schlittern über den nassen Asphalt, während ich zu unserem Haus laufe.
„Connor?“
Das Tischchen im Flur ist umgekippt. Die Scherben meiner grünen Lieblingsvase liegen über die Eichendielen verstreut. Die Lilien, die jemand anonym vor der Tür abgelegt hat, liegen im Flur.
Blumen für ein Begräbnis.
„Hallo?“ Meine Stimme klingt dünn und zittrig.
Die cremefarbene Wand neben der Haustür ist blutverschmiert. In einer Pfütze aus Wasser, das aus der Vase stammt, schwimmt Connors Handy. Das Display ist zertrümmert. Meine Beine rennen die Treppe hinauf zu seinem Zimmer. Eine Männerstimme dringt zu mir herüber. Ich stoße Connors Tür auf. Im selben Moment werden Schüsse abgefeuert.
Instinktiv halte ich schützend die Hände vors Gesicht, bevor ich merke, dass der Krach von dem Kriegsspiel kommt, das aus Connors Fernseher dröhnt. Sein Xbox-Controller und der Kopfhörer liegen mit verhedderten Kabeln auf dem Boden.
Das Zimmer ist leer.
Die Entführten.
Das kann nicht sein.
„Connor?“
Er war doch hier.
Er war in Sicherheit.
Die Haustür war abgeschlossen.
Hastig schaue ich in jedem Zimmer des Hauses nach, bis ich wieder im Flur stehe. Entsetzt starre ich das Blut an der Wand an und versuche verzweifelt, eine Erklärung zu finden.
Connor ist verschwunden.
Dreizehn Tage vor Connors Entführung
Es ist wieder da. Das Auto. Klein und weiß und fremd hier. Es parkt unter einer der Buchen, die über unsere Straße wachen und uns ein Gefühl der Sicherheit geben.
Wer ist das?
In dieser Gegend wohnen Familien. Die meisten unserer Nachbarn haben Geländewagen, Doppelgaragen und auf den ordentlich gepflasterten Einfahrten genug Stellfläche für die Autos ihrer Gäste. Niemand parkt auf der Straße.
„Warum steht der da einfach so?“, frage ich Aidan, während er aus unserer Einfahrt auf die Straße abbiegt. „Es ist diese Woche schon das dritte Mal.“ Wieder parkt der Wagen zu weit weg, als dass ich die schattenhafte Gestalt darin erkennen könnte, jedoch nah genug, dass der Fahrer unser Haus beobachten kann, und ich habe das Gefühl, dass sein Interesse unserem Zuhause gilt.
Meiner Familie.
Ich schirme mit der Hand die Augen vor den grellen Sonnenstrahlen ab, die schräg durch die Windschutzscheibe fallen.
„Findest du das nicht auch komisch?“
„Gibt es nicht Wichtigeres, worüber wir uns Sorgen machen müssen?“, fragt Aidan müde. Ich verkneife mir eine Antwort, als ich sein graues Gesicht wahrnehme und bemerke, wie verkrampft seine Hände das Lenkrad umklammern. Er macht sich zu Recht Sorgen. Wir beide tun es. Heute steht viel auf dem Spiel.
„Ist alles in Ordnung?“ Ich drehe mich auf meinem Sitz um.
„Ja.“ Kieron lächelt mich erschöpft an. Er ist schon so an die Aufenthalte im Krankenhaus gewöhnt, dass sie ihm nichts mehr ausmachen, obwohl ich ihm klargemacht habe, dass es diesmal was anderes ist. Ich habe ihm erklärt, worum ich beim heutigen Termin bitten werde, und er hat nur genickt. Er erwartete es schon.
Wir alle.
Aidan fährt zu schnell. Auf der Fahrt durch die Stadt herrscht unangenehmes Schweigen, das ich versuche, mit Unterhaltung zu füllen, wobei ich meine Worte sorgfältig wähle. Ich möchte die Aufmerksamkeit nicht auf Dinge lenken, die Kieron versäumt. Er wurde erst vor ein paar Tagen nach einer besonders ernsten Infektion aus dem Krankenhaus entlassen und wird morgen zu Beginn des Schuljahrs fehlen.
„Glaubst du, dass unser neuer Klassenlehrer mir auch Hausaufgaben schicken wird?“ Die Schule beschäftigt auch ihn.
„Das denke ich schon. Sie wollen nicht, dass du den Anschluss verlierst.“ Nicht nur seine Schulbildung bereitet mir Sorgen. Er hat wegen der häufigen bakteriellen Entzündungen, die mit seiner Krankheit einhergehen, schon früher Unterricht verpasst. Die Tatsache, dass er von so manchen gemeinschaftlichen Aktivitäten ausgeschlossen wird, macht mich traurig. Er kann nicht immer mit seinen Freunden draußen spielen. Manchmal hat er nicht die Kraft, um in den Schwimmverein zu gehen. Aidan und ich versuchen, ihn genau gleich zu behandeln wie Connor, doch in Wahrheit ist er anders als sein Bruder. Genauso unterscheidet er sich von anderen Dreizehnjährigen.
Seit bei ihm vor fünf Jahren PSC – Primäre Sklerosierende Cholangitis, eine chronische Lebererkrankung – festgestellt
wurde, wächst er nicht mehr so schnell wie andere Kinder seines Alters. Seitdem lebt er kaum mehr, auch wenn ich jetzt wieder übertreibe. Wenn Sie Kieron fragen, würde er sagen, dass er glücklich ist, und das stimmt auch. Er lebt wie die meisten Kinder von Tag zu Tag. Oft geht es ihm gut und zum Glück hat er nur selten Schmerzen. Die Nebenwirkungen seiner Medikamente sind größtenteils beherrschbar. Doch seine immer wieder aufflammenden Infektionen und Gelbsuchtanfälle sind erschreckend.
Ich bin erleichtert, als wir vor dem Eingang der Kinderstation halten. Aidan setzt uns ab, bevor er sein Glück versucht, indem er auf dem kleinen Parkplatz Runden dreht und nach jemandem Ausschau hält, der mit den Schlüsseln in der Hand zu seinem Auto zurückkehrt.
Früher, als wir noch zusammenhielten, hätte ich auf ihn gewartet.
Stattdessen gehen wir ohne ihn hinein.
Krankenhäuser haben ihren eigenen Geruch. Einen Geschmack, der im Rachen brennt. Viele Leute sagen, sie könnten ihn nicht ausstehen, aber ich bin wohl mehr an Krankenhausstationen gewöhnt als die meisten anderen Menschen. Ich fühle mich inmitten des geschäftigen Trubels wohl. In diesem roten Backsteingebäude werden Leben verändert. Gerettet.
„Da wären wir!“ Ich drücke mich durch die Schwingtüren und trage uns am TouchscreendesAnmeldesystems ein. Wir hocken auf harten, orangefarbenen Plastikstühlen im engen Wartezimmer. Es ist so heiß hier drin, dass meine Haut klebrig wird.
Ich wippe vor Nervosität mit dem Knie. Alle paar Sekunden schaue ich zur Tür und hoffe, dass Aidan kommt, bevor wir aufgerufen werden.
„Ich habe PSC“, höre ich Kieron zu dem kleinen Mädchen sagen, das mit seiner Lockenkopfpuppe auf dem Schoß neben ihm sitzt.
„Was ist das?“, fragt die Kleine.
„Früher hat meine Haut ständig gejuckt, aber jetzt nicht mehr“, erklärt Kieron kurz und knapp, aber es ist viel mehr als das.
PSC – drei Buchstaben mit einem Berg von Implikationen. Der eventuelle Gallengangkrebs ist die, die mir häufig durch den Kopf geht. Die Ursache ist unbekannt – das ist das Frustrierende daran. Die Krankheit kann durch eine Entzündung ausgelöst werden, eine Autoimmunerkrankung bedeuten oder genetisch bedingt sein. Sie kann auch durch etwas ganz anderes verursacht werden. Keiner weiß es genau. Sie ist nicht heilbar.
„Kieron?“, spricht die Krankenschwester, die uns abholt, ihn direkt an. Kieron steht auf und folgt ihr. Ich werfe einen letzten Blick über die Schulter, bevor ich Dr. Peters’ Sprechzimmer betrete.
„Wie geht es Ihnen heute, junger Mann?“, fragt der Arzt. „Gut.“ Kieron hebt die Hand und Dr. Peters gibt ihm ein High-Five.
„Das stimmt nicht“, unterbreche ich ihn in einem schärferen Ton, als beabsichtigt. „Es geht ihm nicht gut, meine ich. Er hat abgenommen. Er hat kaum Appetit und ist ständig erschöpft. Letzte Woche war er wieder stationär …“
„Ich schau es mir mal an, ja?“ Dr. Peters untersucht Kierons Augen und seine Haut. „Wir haben die Ergebnisse der Blutuntersuchung und des letzten Scans.“ Kieron wird alle drei bis sechs Monate untersucht. „Es gibt ein paar Veränderungen, aber insgesamt…“ Er verstummt, als ein atemloser Aidan mit geröteten Wangen und feuchten Haarsträhnen auf der Stirnin den Raum stürmt und uns entschuldigend ansieht.
„Ich denke, es ist an der Zeit“, sage ich leise. Dr. Peters kritzelt etwas in Kierons Unterlagen. Das Warten auf seine Antwort ist unerträglich. Mein Herz hämmert gegen den Brustkorb. Die Entscheidung, dass mein jüngster Sohn eine Lebertransplantation haben soll, ist keine, die ich leichtfertig getroffen habe. Wir wussten alle, dass sie wahrscheinlich notwendig würde, aber wir haben gebetet, dass es nicht so weit kommt. PSC ist normalerweise eine langsam fortschreitende Krankheit. Statistisch gesehen hätte Kieron nach fünf Jahren sein jetziges Stadium noch nicht erreichtund dennoch befindet er sich jetzt an diesem Punkt. Anscheinend ist Dr. Peters jedochanderer Meinungals ich.
„Ich werde Kierons Medikamente anpassen.“
„Er war in den letzten zwei Monaten dreimal im Krankenhaus. Er wird immer schwächer.“
„Sein Zustand ist nicht ideal, aber ich bin nicht übermäßig beunruhigt, Mrs Walsh. Sie wissen ja, dass dreißig Prozent der Kinder mit PSC etwa zehn Jahre nach der Diagnose eine neue Leber benötigen. Kieron ist nicht krank genug, um auf die Warteliste für eine Transplantation gesetzt zu werden. Mir ist klar, dass es für Sie beängstigend ist, doch sein Zustand dürfte sich nicht plötzlich so verschlechtern, dass …“
„Aber …“ Ich schlucke meinen Ärger hinunter. „Dr. Peters … Kieron sollte diese Krankheit überhaupt nicht haben. Punkt. Sie ist bei Kindern in seinem Alter ungewöhnlich, und man kann nicht vorhersagen … Sie können nicht garantieren …“
„Mrs Walsh, keiner kann versprechen …“
Aber ich will ein Versprechen. Das Versprechen, dass er eine Zukunft hat.
„Sehen Sie“, sage ich, „wenn wir noch lange warten, ist Kieron womöglich zu krank für eine größere Operation. Es zeigt sich immer mehr, dass seine Leber nur eine begrenzte Lebensdauer hat. Und nein, seine PSC hätte sich nicht so schnell verschlimmern dürfen, aber so selten ist das nicht, und jetzt ist es passiert. Wenn Kierons Leber am Anfang einer fortschreitenden Verschlechterung steht, ist es besser, jetzt etwas dagegen zu tun, als zu warten.“ Ich bemühe mich, ruhig und besonnen zu klingen, nicht wie eine hysterische Mutter, auch wenn ich mich so fühle. Hinter meinen Augäpfeln brennen heiße Tränen. Ich blinzele sie weg.
„Es ist ein schmaler Grat, Mrs Walsh. Natürlich wollen wir nicht warten, bis Kieron nicht mehr genug Kraft hat, um sich einer OP zu unterziehen, doch ich sehe hier nicht unbedingt den Beginn eines Leberversagens …“
„Aber ich weiß, wie …“
Eine Andeutung von Verärgerung schwingt in Dr. Peters’ Stimme mit, als er sagt: „Wenn die Zeit gekommen ist, werden wir es wissen, und dann …“
„Es gab einen Fall, bei dem sich der Zustand eines jungen Mädchens ohne Vorwarnung so schnell verschlechtert hat …“ Ich bin mir bewusst, dass Kieron im selben Raum ist, und daher beende ich den Satz nicht, aber das muss ich auch nicht.
„Das kommt extrem selten vor, Mrs Walsh.“
„Das weiß ich. Die Krankheit ist selten, aber es gibt sie.“ Ich rede zu schnell. „Bei uns kommt sie vor. Und ich will bloß … ich möchte nur, dass es Kieron gut geht und …“
„Ich bin okay, Mum.“ Kieron legt seine Hand in meine und drückt sie. Mein Junge ist so tapfer.
„Wir werden ihn noch engmaschiger im Auge behalten.“ Der Arzt tippt auf der Tastatur seines Computers herum. „Die Antibiotika behalten wir bei. Dann sehen wir uns in zwei Wochen wieder. Passt es Ihnen am 19.?“
„Aber …“
„Lucy, wenn Kieron keine Operation braucht, ist das gut.“
Aidan holt sein Handy heraus und öffnet die Kalender-App. „Ich habe am 19. eine Konferenz, aber Lucy kann …“
„Aber irgendwann wird er operiert werden müssen. Wir können nicht so tun, als wäre das nicht der Fall.“ Einen Moment lang starre ich Dr. Peters bewusst an, damit er mir in die Augen sieht. Um mit mir als Gleichgestellte zu sprechen nicht als Elternteil. Ich kann nicht glauben, dass Aidan alles hinnimmt, was man ihm sagt. Ich kann nicht einfach blind auf irgendjemanden im weißen Kittel mit Namensschild vertrauen, doch die Art, wie der Arzt die Kiefer aufeinander presst, zeigt mir, dass es sinnlos ist, mit ihm zu diskutieren. Ich kann sehen, dass er noch nie die Angst eines Vaters oder einer Mutter mit einem kranken Kind gespürt hat. Da ich Kieron nicht beunruhigen will, packe ich meine Tasche, meine Zweifel und meine Ängste zusammen. Dann gehen wir.
Auf dem Heimweg döst Kieron. Ich rede nicht mit Aidan. Ich kann nicht ausdrücken, was ich sagen will, weil ich schon alle Worte – all meine Hoffnung – im Krankenhaus zurückgelassen habe.
Ich unterdrücke wieder ein Gähnen, während wir schweigend in unsere Straße einbiegen. Der Platz unter der Buche ist leer. Das weiße Auto ist weg, doch das vermindert nicht mein Gefühl, dass unser Haus beobachtet wird.
Dass ich beobachtet werde.
„Lass mich die Tür aufschließen, bevor wir Kieron wecken“, sage ich zu Aidan und steige aus dem Auto.
Ich gehe zum Hauseingang, doch bevor ich den Schlüssel ins Schloss stecken kann, entdecke ich ihn.
Den toten Vogel auf unserer Türschwelle.
Seine schwarzen Federn glänzen und die Eingeweide ergießen sich über den Beton. Wie auf einer Achterbahn drückt es meinen Magen nach unten und mir wird schlecht, während ich das tote Tier voller Ekel und Entsetzen anstarre.
„Ich bringe ihn weg, bevor die Jungs ihn sehen können“, sagt Aidan hinter mir.
„Aber…“ Ich schlucke schwer. „Wie ist er hier hingekommen?“ Am liebsten würde ich fragen, wer ihn dort abgelegt hat, doch ich suche verzweifelt nach einer rationalen Erklärung, an der ich mich festhalten kann.
Jemand beobachtet mich.
„Wahrscheinlich das Geschenk einer Katze“, sagt Aidan.
Aber wir haben keine Katze.
Und unsere Nachbarn auch nicht.
Nicht nur die unbekannte Zukunft lastet auf meinen Schultern, sondern auch die Vergangenheit.
Undjetzt holt sie mich ein.
Schuld ist ein Seil, das sich abnutzt lautet ein altesSprichwort.
Ich kann fast spüren, wie es sich um meinen Hals zusammenzieht.
Aidan streift sich ein Paar blaue Latexhandschuhe aus seinem Transporterüber undhebtden leblosen Vogel mit den Händen hoch – als Tierarzt ist er es gewohnt, mit Tieren umzugehen.Obwohl der Vogel jetzt weg ist,sehe ichimmer noch seine glasigen Augen, die mich anstarren.
Ich kann mein Gefühl der Panik nicht unterdrücken.
Hat ihntatsächlicheine Katzeauf unserer Schwelleabgelegt? In unserer Straße gibt es keine, und außerdem dachte ich, Katzen würden nur ihren Besitzern erjagte Tiere bringen.
„Mum?“, ruft Kieron aus dem Auto und reibt sich den Schlaf aus den Augen.
„Komm, wir bringen dich rein.“ Während ich seinen Arm nehme undihn in den Flur führe, bleiben meine Augen an den dunklen Blutstropfen auf der Türschwelle hängen. Ein kalter Schauer läuft mir über den Rücken. Beim Schließen der Haustür werfe ich einen Blick über die Schulter.
Die Straße ist leer.
Drinnen hänge ich meinen Mantel auf undnehme Kieron seinen Anorak ab. „Willst du dich aufs Sofa kuscheln, während ich das Abendessen koche?“
Er schüttelt den Kopf.
„Ich geh schon nach oben.“ Er ist völlig erschöpft. Seine Schritte sind langsam und bleiern.Ich wünschte, ich könnte ihn mir auf die Hüfte setzen und hochtragen, so wie ich es getan habe, bevor er zu groß und zu schwer wurde. Nicht nur der Wunsch, ihn auf den Arm zu nehmen, überrollt mich, sondern auch der Wunsch, selbst festgehalten zu werden. Ich vermisse die Nähe, die ich früher zu Aidan hatte. Unser krankes Kind hat uns nicht einander näher, sondern auseinandergebracht.
Ich folge Kieron nach oben.Aus dem Badezimmer dröhnt Musik. Die Arctic Monkeys übertönen das Geräusch von fließendem Wasser mit ihrem Song „Do I Wanna Know“. Ich klopfe an die Tür.
„Connor, wir sind wieder da.“
Entweder hört er mich nicht oder er stellt sich taub.
Jahrelang führte er seinen persönlichen Krieg gegen die Sauberkeit, wollte sich weder die Haare waschen, noch die Zähne putzen. All das änderte sich, als er seine erste Freundin hatte. Wenn ich daran denke, wie das ausging, wie es ihn innerlich zerbrach, zieht sich mein Herz zusammen.
Es ist alles meine Schuld.
„Wenn du aufhörst, dir Vorwürfe zu machen, hört Connor vielleicht auch auf, dir welche zu machen“, sagt Aidan immer wieder. Aber wie soll das gehen?
„Willst du eine Partie Karten spielen oder so was?“, frage ich Kieron,als wir sein Zimmer erreichen.
„Nein. Ich lese ein bisschen.“
„Lass mich raten.“ Ich lege mir den Zeigefinger aufs Kinn, als würde ich überlegen. „Die Tribute von Panem?“ Kieron ist von der Trilogie besessen; seine Wände sind mit Postern des Films so vollgepflastert, dass die pastellblaue Farbe darunter kaum zu sehen ist.
„Ja.“
„Eines Tages wirst du sie satt haben.“
„Nie im Leben.“
Sein Bettbezugist mit dem Sonnensystem und seinen Planetenbedruckt. Ich schlage die Decke um, damit er sich hinlegen kann. Die Matratze senkt sich, als ich mich über ihn knie, um die sternförmigen Lichterketten einzuschalten, die sich um sein Bettgestell winden. Bevor ich ihn zudecke, ziehe ich ihm Schuhe und Socken aus. Beim Anblick seiner Füße, die schon fast so groß sind wie Aidans, spüre ich einen Kloß im Hals. Erinnerungen daran, wie ich ihn in die Babyzehen zwickte, als das kleine Schweinchen auf den Markt ging, kommen hoch, als wäre es erst gestern gewesen. Damals war seine einzige Sorge das kleine Schweinchen, das kein Roastbeef abbekam.
Jetzt könnte er sterben.
Ich drücke mir die geballte Faust auf den Mund und unterdrücke mein Schluchzen, indem ich huste. So darf ich gar nicht denken.
Das werde ich auch nicht.
Es ist eine Krankheit, die nur langsamvoranschreitet.
Aber nicht immer.
Halt den Mund, sage ich zu der Stimme in meinem Kopf.
„Kann ich dir was zu trinken holen? Einen Snack?“, frage ich, nachdem er sich hingelegt hat.
„Nein danke, Mum.“ Sein Gesicht entspannt sich, sobald er sich wieder sicher in seiner eigenen Privatsphäre fühlt, in der Xbox-Kriegsspiele einen Gegensatz zu den Star Wars-Lego-Modellen bilden, die auf den Regalen Staub ansetzen. Edward, sein Teddybär mit dem fantasievollen Namen, liegt ausgestreckt auf der Kommode neben einem Tiegel L’Oréal-Haarwachs, den Connor ihm zusammen mit einer halbleeren Flasche Nivea-Aftershave geschenkt hat. Mein Sohn balanciert langsam auf dem Seil zwischen Junge und Mann. Wird er jemals dessen Ende erreichen und sein neues Leben betreten oder wird er abstürzen?Ohne eine Lebertransplantation beträgt Kierons Lebenserwartung seit der Diagnose zwischen neun und achtzehn Jahren. Fünf dieser Jahre hat er schon hinter sich. Der Gedanke, dass er ohne chirurgischen Eingriff vielleicht nur noch vier Jahre leben wird, raubt mir den Atem. Kieron wird vielleicht nicht so alt wie Connor jetzt ist.
Ich blinzele die Tränen weg und lächle ihn strahlend an. „Shepherd’s Pie oder Brathähnchen?“
„Ein Sonntagsessen an einem Montag?“
„Warum nicht?“ Ich weiß doch nicht, wie viele Sonntage ihm noch bleiben. Liebe Güte, ich muss damit aufhören. Es geht ihm gut. In diesem Augenblick geht es ihm gut. Und das sollte es noch viele Jahre. „Mit extra Füllung und Yorkshire Pudding.“ „Danke, Mum.Kannst du Connor fragen, ob er mich besuchen kommt?“
„Ja, sobald er mit Duschen fertig ist.“
Connors Zimmer ist ein Chaos aus zusammengeknüllten Socken, zerknitterten T-Shirts, leeren Chipstüten und Dosen, die um den überquellenden Papierkorb herum verstreut sind. Die taubengrauen Wände sind fleckig und zerkratzt. Wir müssen das Zimmer renovieren.
Während ich darauf warte, dass er aus der Dusche kommt, hole ich seine Schuluniform aus dem Kleiderschrank. Heute war Lehrerfortbildung, doch morgen beginnt der Unterricht wieder. Wir hätten prüfen sollen, ob ihm der Blazer noch passt.Er hat ihn seit Ostern, als er mit dem Unterricht fertig war, nicht mehr getragen – Wochen, bevor die eigentlichen Studienferien begannen, weil er zu aufgewühlt war, um den anderen gegenüberzutreten.Zu beschämt.Und damit ist er nicht allein. Was passiert ist, hat mir den Boden unter den Füßen weggerissen und ich stolpere immer noch darüber. Ich versuche gerade, wieder Tritt zu fassen.
Ich hänge den Blazer an die Rückseite seiner Tür.Die Regel, dass Schüler der Oberstufe eine Uniform tragen müssen, könnte sich jetzt sowieso ändern. Der Schulleiter, Mr Marshall, hatte stetsdarauf bestanden. Er legte großen Wert auf das propere Äußere unddie Formalien, aber er wird morgen nicht mehrda sein;eine Mutter hat in der Facebook-Elterngruppe gepostet, dass er nach dem Vorfall gefeuert worden ist. Ich bin sicher, dass es für Connor das Richtige ist, wieder zur Schule zu gehen, mit seinen Freunden Ryan und Tyler zusammen zu sein und wieder ein bisschen Normalität zurückzugewinnen.
Vielleicht frage ich Melissa und Fergus, Ryans Eltern und unsere ältesten Freunde, ob sie in den Herbstferien im Oktoberwiedermit uns in die Center Parcs verreisen wollen. Dann haben wir alle etwas, worauf wir uns freuen können.
Ich bin in derselben Straße aufgewachsen wie Melissa. Ryan wurde nur wenige Monate nach Connor geboren und die Jungs standen sich immer nahe.Wir hatten letztes Jahr so viel Spaß miteinander.Mel hat mich zum Entspannen ins Spa entführt, während Fergus mit Kieron Pfannkuchen essen ging, damit Aidan mit Connor und Ryan denAdrenalinsport ausprobieren konnte. Mel und Fergus haben uns beide sehr unterstützt.
Durch diesen Tapetenwechsel wird Connor vielleicht wieder der alte. Der, der Witze gerissen und gelacht hat.
Ich vermisse ihn.
„Lucy?“, ruft Aidan die Treppe hinauf.
„Ich komm gleich runter.“
Hier riecht es nach einem Jugendlichen – nach Fußpuder und Schweißfüßen, vermischt mit einem Hauch von irgendwas Verfaultem.
Ich gehe ans Fenster, um es einen Spalt zu öffnen. Ungewollt lasse ich den Blick die Straße hinauf und hinunter schweifen und suche das weiße Auto. Dabei fällt mir die tote Krähe wieder ein. Die Welt ist voller Autos und Katzen. Vielleicht war es bloß ein Zufall, aber trotzdem bekomme ich eine Gänsehaut.
Nur weil ich das Gefühl habe, bestraft werden zu müssen, heißt das doch nicht, dass ich tatsächlich bestraft werde, oder?
Es ist niemand auf der Straße. Vor dem Haus an der Ecke, in das am Wochenende eine neue Familie eingezogen ist, steht ein Berg von Umzugskartons, der darauf wartet, entsorgt zu werden. Ich muss ihnen eine Flasche Wein vorbeibringen und sie in unserer Nachbarschaft willkommen heißen.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite bewegt sich etwas hinter den Vorhängen. Beobachtet mich jemand?
Das ist lächerlich. Es ist nur das Haus der alten Mrs Simpkin. Ich erledige ihre Wocheneinkäufe für sie und Aidan schippt jeden Winter den Schnee aus ihrer Einfahrt, und dennoch weiche ich jetzt hastig zurück und bleibe mit der Hüfte an Connors Schreibtisch hängen. Automatisch leuchtet der Monitor seines Laptops auf und lenkt meinen Blick auf das Display. Als ich die geöffnete Registerkarte sehe, fängt mein Herz an zu rasen. Flüchtig frage ich mich, ob Ryan und Tyler von dem, was geschehen ist, immer noch traumatisiert sind, so wie Connor es anscheinend ist.
Und ich.
Es war ein Unfall. Ein schrecklicher, furchtbarer Unfall, aber offensichtlich gibt er sich immer noch die Schuld daran, so wie auch ich.
Wir haben geliebte Menschen enttäuscht.
Hätten wir doch nur …
Während ich auf den Bildschirm starre, dreht sich mir der Magen um. Wie kann er weiterleben, wenn er sich täglich mit Selbstvorwürfen quält?
Aber es vergeht auch für mich kein Tag, an dem ich nicht daran denke.
Wie können wir so weiterleben?
Von draußen ertönt das gequälte Kreischen eines Vogels, das mich an die tote Krähe auf unserer Türschwelle erinnert, an das Blut, an die Angst, die sie in den letzten Augenblicken ihres Lebens gehabt haben muss.
Die Angst, die ich gerade fühle.
Connor presst seine Fingerspitzen in die Kopfhaut und wünscht sich, das Shampoo würde die wütenden Gedanken wegwaschen, die in seinem Kopf herumschwirren. Er drückt immer stärker zu, bis seine Knöchel schmerzen und sich die Knochen anfühlen, als würden sie gleich brechen. Dann nimmt er den Druck auf seinen Kopf weg, dreht am Temperaturregler und zwingt sich, still zu stehen, während Tausende glühend heißer Wassertropfen wie Rasierklingen in seine Haut schneiden. Seine Muskeln spannen sich an und er beißt die Zähne zusammen, um den Schmerzensschrei zu unterdrücken, der sich tief in seinem Bauch aufbaut. Schmerz ist das Einzige, womit er seine Gedanken stoppen kann. Schon bald fängt er an zu schwanken; schwarze Flecken tanzen vor seinen Augen. Kurz bevor er ohnmächtig wird, dreht er den Regler in die andere Richtung. Das eiskalte Wasser ist ein Schlag in die Magengrube, der ihm die Luft abdrückt. Statt seine Haut zu kühlen, schmerzt es, und das gefällt ihm. Es ist genau das, was er verdient hat.
Nun stellt er das Wasser wieder auf warm. Spotify streamt auf seinem Handy „AM“ in Dauerschleife und er weiß nicht, wie lange er schon unter der Dusche steht. Es fühlt sich an wie seine eigene Zeitmaschine. Er träumt davon, zum letzten Ostern zurückzukehren und alles ungeschehen zu machen. An manchen Tagen holt ihn das Klopfen seiner Mum oder seines Dads an der Tür wieder in die Gegenwart zurück. Dann wird ihm bewusst, dass er schon über eine halbe Stunde unter dem Wasserstrahl steht und das Minz-Duschgel um seine Füße schäumt.
„Weißt du eigentlich, wie hoch unsere Wasserrechnungen sind?“, beschwert sich sein Vater dann.
„Lass ihn in Ruhe, er holt die vielen Jahre nach, die er auf dem Badewannenrand saß und nur so tat, als würde er sich waschen.“ Seine Mum lächelt ihn an.
Früher war Dad witzig und gut drauf. Heute sind sie beide gestresst, nur kann Mum es besser verbergen. Sie denkt, Connor würde die dunklen Halbmonde nicht bemerken, die wie blaue Flecken unter ihren Augen hängen. Sie glaubt, ihr gekünsteltes Lächeln, bei dem sich ihre Lippen nicht kräuseln und ihr Mund so steif und starr bleibt wie der von Mr Potato Head, mit dem Kieron und er früher gespielt haben, könne Connor täuschen. Manchmal, wenn sie vorgibt zu grinsen, würde er am liebsten ihren Mund berühren und ihn wieder in die dünne, gerade Linie ziehen, die er heute immer ist. Du lieber Himmel, es ist kein Wunder, dass er nicht über seine Gefühle reden kann! Keiner in dieser Familie spricht über irgendetwas Wichtiges. Stattdessen fragt Ryans Vater Fergus Connor manchmal, ob es ihm gut geht und ob er darüber reden will. Aber Ryans Vater Fergus war an dem Tag auch dabei und hat aufgepasst, also fühlt sich Fergus vielleicht in gewisser Weise verantwortlich, auch wenn er es nicht war. Connors eigene Eltern tun hingegen so, als wäre es gar nicht passiert, aber das ist es, und wegen ihm ist alles noch tausend Mal schlimmer als vorher.
Unvorstellbar.
Nicht wiedergutzumachen.
Zögernd dreht er das Wasser ab und eine Dampfwolke steigt auf, als er die Tür der Duschkabine aufstößt. Er trocknet sich hastig ab, bevor er in sein Zimmer tapst, und verspürt Wut, als er sieht, dass sich seine Mum über seinen Computer beugt und mit der Maus scrollt.
„Was zum Teufel …“ Er geht mit großen Schritten zu seinem Schreibtisch und knallt den Laptopdeckel zu, wobei er sich fast die Finger einklemmt.
„Connor, ich …“ Ihre Wangen erröten. „Ich wollte nicht … herumspionieren. Ich bin gegen den Schreibtisch gestoßen, als ich das Fenster aufgemacht habe, und da ging dein Laptop an.“
„Ja, klar.“
„Bist du für morgen bereit?“ Kurz lässt sie ihr Mr-Potato-Head-Lächeln aufblitzen, bevor es wieder verschwindet. „Die Schule?“, fügt sie hinzu, als hätte er es vergessen.
Wie könnte er das?
„Ich möchte nicht hingehen.“
„Aber es ist das letzte Jahr. Dein Abitur.“
„Ich hab zu viel verpasst.“
„Aber …“
„Hör mir doch mal zu!“ Die Vorstellung, seinen Mitschülern, seinen Lehrern gegenüberzutreten, ruft glühende Panik in ihm hervor, die als Wut getarnt seinem Mund entschlüpft.
Seine Mum nickt kaum merklich und ringt nervös die Hände.
Connor senkt die Stimme. Seine Wut soll nicht den Treppenabsatz hinunter bis in Kierons Zimmer dringen. „Ich will weg. Eine Lehre machen.“
„Worin denn? Du hast doch einen Traum, Connor. Den kannst du jetzt nicht einfach aufgeben.“
Traurigkeit breitet sich in ihm aus, als er sich daran erinnert, wofür er so hart gearbeitet hat. Sie ist weg, die Leidenschaft, die er früher hatte. Er wollte Medizinwissenschaftler werden – kein Arzt, der Symptome wie die von Kieron behandelt, sondern jemand, der vielleicht ein Heilmittel für PSC und andere Krankheiten findet.
Jetzt kommt es ihm falsch vor, weiterhin seine Ziele erreichen zu wollen. Es fühlt sich an, als hätte er keinen Anspruch auf ein erfülltes und glückliches Leben mehr.
Seine Mutter spricht weiter. „Du willst doch zur Uni …“
„Will ich nicht.“ Er schreit nicht mehr.
„Kieron würde alles dafür geben, morgen wieder zur Schule gehen zu können.“ Sobald ihr die Wörter entschlüpft sind, hält sie sich den Mund zu. Connor starrt siewütendan, doch als er sieht, dass sie sich selbst genug für siebeide hasst, verfliegt seinÄrger.
Er würde sie so gern nicht ausstehen können – und zugleich liebt er sie. Er will, dass sie leidet, und auch wieder nicht. Am liebsten würde er sie wegstoßen, aber er braucht dringend eine Umarmung.
In den letzten Monaten kann sie sich immer weniger zusammenreißen, und egal, wie oft sie Connor sagt, dass es nicht seine Schuld war, kann er ihr nicht in die Augen sehen und ihr das Gleiche sagen, auch wenn er weiß, dass sie es verzweifelt von ihm hören will. Es von ihm hören muss. Trotzdem sticht er immer wieder – und heftiger als nötig – die spitze Nadel der Schuld in ihre Brust, so wie er einmal versucht hatte, den Schwanz an dem Papieresel zu befestigen, den sie so sorgfältig für seine Geburtstagsparty gezeichnet hatte.
Sie wirkt so klein. So müde.
„Wie lief es im Krankenhaus?“ Seine Worte sind eine Friedensfahne.
Ihre Glieder erschlaffen – wie ein Ballon, aus dem die Luft entwichen ist. Diesmal ist ihr kurzes Lächeln echt. Dankbar, dass Connor sich nicht mit ihr streiten will.
„Es war …“ Sie sieht ihn hilflos an.
„Mum, ich bin kein Kind mehr. Erzähl mir, was passiert ist.“
„Dr. Peters sagt, dass Kieron noch nicht das Stadium erreicht hat, in dem er eine Transplantation braucht.“
„Und du?“, fragt Connor. „Was denkst du?“ Er bemerkt die Überraschung auf ihrem Gesicht und das Zögern, bevor sie antwortet, so als würde siedas sagen, was von ihr erwartet wird, stattihre tatsächlichen Gedanken preizugeben.
„Vielleicht übertreibe ich und es ist wirklich noch ein bisschen früh.“
„Aber … nur noch vier Jahre, Mum.“ Die Bedeutung dieses Satzes schwebtwie ein Damoklesschwertüber ihnen.
„Vielleicht. Dazu wird es nicht kommen.Dr. Peters ist sich sicher und wir müssen ihm vertrauen.Er ist schließlich der Fachmann.“
„Aber du bist…“
„Ich mache jetzt das Abendessen. Kieron möchte, dass du zu ihm kommst, okay?“ Sie blickt aus dem Fenster und kaut nervös auf ihrer Lippe, bevor sie das Zimmer verlässt.
„Hey.“ Connor steckt den Kopf durch Kierons Tür.
„Connor!“ Die Freude in Kierons Stimme ist deutlich herauszuhören. Connor weiß, dass er in den Augen seines jüngeren Bruders der Weihnachtsmann, Luke Skywalker und James Bond in einer Person ist. Er nimmt seinem Bruder das Taschenbuch ab. „Ich lese dir ein bisschen vor.“ Er setzt sich auf die Bettkante und schwingt die Beine hoch. Dann räuspert er sich, um sich auf die verschiedenen Stimmen für jede der Romanfiguren vorzubereiten. Doch bevor er anfängt, fragt er nach: „Bist du sicher, dass ich dir aus diesem Buch vorlesen soll? Wir kennen die Geschichte schon beide auswendig.“
„Aber ich liebe das Buch.“
„Sicher, dass du nicht nur Jennifer Lawrence liebst?“ Connor zieht die Augenbrauen hoch und neigt den Kopf zum Poster, auf dem Katniss Everdeen mit einer Armbrust in der Hand abgebildet ist.
„Na ja, ein bisschen.“ Kieron wird rot. „Wie ist es so?“
„Wie ist was?“
„Du weißt schon …“ Kierons Blick huscht zur offenen Tür, um sich zu vergewissern, dass ihreMum nicht auf dem Treppenabsatz herumlungert, wie sie es manchmal tut. „Küssen und so.“ Er senkt die Stimme und flüstert: „Sex.“
„Boah!“ Connor streckt abwehrend die Hände hoch. „Nicht so schnell.“
„Sag’s mir.“
„Wie kommst du darauf, dass ich was über … Sex weiß?“
„Du weißt doch alles.“ Da ist wieder dieses unerschütterliche, fehlgeleitete Vertrauen in ihn.
„Das wirst du bald genug selber rausfinden, Kieron.“ „Vielleicht nicht.“ Kierons Optimismus gleitet mit der Bettdecke von ihm ab, als er sich aufsetzt. „Vielleicht lebe ich ja nicht so lange.“
„Sei nicht so melodramatisch, du Idiot“, entgegnetConnor und hofft, dass Kieron seine eigene Angst nicht heraushört. Er setzt an, die Worte zu wiederholen, die er immer wieder bei Google gelesen hat. „Deine Prognose ist …“
„Connor. Lass das. Hör auf damit.“
Connor nimmt die Hand seines Bruders und ihre Finger verschränken sich. Kieron ist immer voller Hoffnung und ohne Selbstmitleid. Connor fragt sich, ob das seine grundsätzliche Lebenseinstellung ist oder ob auch er eine Maske trägt. Ein tapferes Gesicht aufsetzt. Er sollte niemandem was vorspielen müssen.
Connor ist traurig und wütend und hilflos.
Schon wieder fühlt er sich so wie vor der Dusche.Er kann nicht anders, als zurückzuweichen und aufzustehen.
„Bitte geh nicht. Sag mir, wie es war … mit Hailey.“
Bei der Erwähnung ihres Namens kneift sich Connor in den Arm; gräbt seine Fingernägel in die Haut und akzeptiert den Schmerz.
Seine Strafe.
„Connor?“, hakt Kieron nach.
„Ich … ein anderes Mal?“
Blitzartig tauchen Bilder vor seinem geistigen Auge auf. Haileys blasses, besorgtes Gesicht. Ryan und Tyler, die sie weiter drängen. Der flehende Blick in ihren Augen, als sie sich zu ihm umdreht. Seine Unentschlossenheit – seine Freundin oder seine Freunde – dann nickt er. Alles wird gut.
Doch nichts wurde gut.
Nichts ist gut.
„Ich … ich muss gehen.“ Er dreht seinem Bruder den Rücken zu und geht mit steifen Schritten zum Treppenabsatz, doch die Erinnerungen kann er nicht hinter sich lassen.
Als er wieder in seinem Zimmer ist, klappt er noch einmal den Laptop auf und betrachtet ihre Facebook-Seite. Die Fotos von ihnen zusammen, auf denen er den Arm unbeholfen um ihre Schultern gelegt hat. In ihren Augen leuchtet die Unerfahrenheit und Hoffnung. Er klickt auf Messenger und schickt vier Worte ab:
Es tut mir leid
Wie alle seine Nachrichten bleibt auch diese ungelesen.
In der Küche schält Aidan Kartoffeln. Der Duft von Brathähnchen mit Kräutern strömt schon aus dem Ofen.
„Woher wusstest du, dass ich das kochen wollte?“
„Ich kenn dich doch.“ Er kratzt die Schalen aus der Schüssel und wirft sie in den Mülleimer. „Und weil ich gestern Bereitschaftsdienst hatte und wir deshalb keinen Sonntagsbraten bekamen.“
Ich sitze an der Frühstücksbar. Aus Alexa ertönt klassische Musik – beruhigende Streichinstrumente und die Klänge eines Klaviers.
Aidan schiebt mir eine Tasse Kaffee hin. Auf der einen Seite meines Lieblingsbechers prangt ein kleiner grüner Händeabdruck und auf der anderen ist ein Fußabdruck. Aidan hat sie am ersten Muttertag für mich anfertigen lassen, und ich musste weinen, als ich sie auspackte. Lange Zeit benutzte ich sie nicht, weil sie zu kostbar war und ich Angst hatte, sie zu zerbrechen, aber im Laufe der Jahre brauchte ich die greifbare Erinnerung daran, dass diese unglaublich kleinen Hände und Füße mal die meines Kindes waren. Der praktisch veranlagte Aidan versicherte mir, dass er einen Ersatzbecher hat, für den Fall, dass die Originaltasse zerbricht.
Manche Dinge sind so leicht ersetzbar, aber nicht alle. „Also.“ Ich nehme einen Schluck Kaffee, der mittlerweile lauwarm ist.
„Lucy …“ In diesem einen Wort schwingt so viel Erschöpfung mit. „Können wir es einfach … lassen. Bitte nicht heute.“
„Aber wir müssen reden.“
„Wir reden immer nur über Kieron und drehen uns im Kreis. Worte machen ihn nicht gesund, ganz egal, wie sehr wir es uns wünschen.“
Ich weiß zwar, dass das wahr ist, aber ich glaube, dass Worte uns heilen können. Zumindest die richtigen Worte, doch ich ringe mühsam um sie, pflücke sie aus meinem Kopf und versuche, sie in der richtigen Reihenfolge auf der Zunge zu formen. In letzter Zeit klingt fast alles, was ich sage, entweder anklagend oder streitsüchtig. Ich wünschte, ich könnte sagen, was mir auf dem Herzen liegt, nämlich: „Ich brauche dich. Ich liebe dich. Ich will, dass wir uns wieder wie eine Familie fühlen.“
„Aidan“, flüstere ich, während der Schmerz in meiner Brust pulsiert.
Er sieht mich mit seinen braun-grünen Augen traurig an, mit den Augen, in die ich damals blickte, als er mir den dünnen Goldring an den Finger steckte und mir die Ewigkeit versprach. Bereut er es, mich geheiratet zu haben? Ist für immer zu lang? Zu schwer? Zu viel von allem?
Eine Ehe bedeutet Arbeit.
Das hat mir meine Oma erklärt, als ich die Finger spreizte und ihr den funkelnden Verlobungsring hinhielt. Ich sagte ihr, sie solle sich keine Sorgen machen. Aidan und ich waren so verliebt, dass ich mir keinen Zeitpunkt vorstellen konnte, an dem wir nicht glücklich sein würden. Jetzt kann ich mich kaum mehr daran erinnern, wie sich Glück anfühlt. Es sucht uns nur flüchtig auf: Wenn wir uns am Samstagmittag eine Pizza mit Fergus und Melissa teilen; wenn wir vier zusammen Rommé spielen und dabei Kaffee trinken; wenn Aidan und ich auf dem Sofa kuscheln und uns eine Flasche Wein teilen. Neulich kam etwas Witziges im Fernsehen und wir haben laut gelacht. Dann machten wir beide schnell den Mund zu, als hätten wir kein Recht auf Freude.
Ich vermisse ihn.
Ich vermisse uns.
„Kann ich dir helfen?“ Früher hätte ich ihn nicht gefragt, sondern wir hätten nebeneinander gestanden und instinktiv gewusst, was der andere brauchte.
„Ich habe alles im Griff.“ Er zerdrückt Knoblauch für die Kartoffeln; die Rosmarinzweige aus dem Garten sind bereits gewaschen.
„Was hältst du davon, in den Herbstferien wieder zu den Center Parcs zu fahren? Mit Mel, Fergus und Ryan?“
„Wird das Kieron gerecht? Er kann dieses Jahr weniger machen als letztes.“
„Er liebt es, im Pool zu schwimmen. Und die Wildtiere. Es hat ihm so viel Spaß gemacht, den Rehen und Eichhörnchen beim Fressen des Futters zuzusehen, das er ihnen täglich vor unserer Hütte hinstellte. Mel ist süchtig nach dem Spa, den es dort gibt, und Fergus ist ganz verrückt auf jede Sportart, die irgendwie Adrenalin verspricht. Das ist einer der Gründe, warum er sich gemeldet hat, um ehrenamtlich ins Schullandheim mitzufahren und die Schüler zu beaufsichtigen. Oder hast du Angst, dass er dieses Jahr bei den Aktivitäten mitmachen will und du womöglich …“
„Fergus hat angeboten, bei Kieron zu bleiben …“
„Ich weiß. Ich hab nur Spaß gemacht.“
Aidan schneidet mit mehr Nachdruck als nötig in eine Karotte. Um das Thema zu wechseln, suche ich nach etwas, das ich sagen könnte, nach Dingen, über die wir vielleicht gesprochen hätten, bevor die Tragödie mit ihren schmutzigen Fingern nach uns griff und unsere Herzen schwärzte. Ich suche nach einer Gemeinsamkeit, die nichts mit den Jungs zu tun hat, doch mir fällt nichts ein. Normalerweise drehen sich unsere Gespräche um Kieron, und jetzt müssen wir uns auch um Connor Sorgen machen. Irgendwie dreht sich immer alles um die Kinder.
Das Klingeln meines Handys unterbricht die Stille. Auf dem Bildschirm leuchtet das Gesicht meiner besten Freundin auf.
„Hi, Melissa.“ Ich gehe davon aus, dass sie anruft, um zu erfahren, wie Kierons Termin heute gelaufen ist, aber stattdessen höre ich sie nur weinen.
„Mel? Stimmt was nicht?“
„Habt ihr Fergus gesehen?“
Ich wende mich Aidan zu und hebe fragend die Augenbrauen. „Weißt du, wo Fergus ist?“ Er schüttelt den Kopf.
„Was ist los? Ich kann vorbeikommen …“
„Nein“, sagt sie in scharfem Ton.
„Mel … Was ist los?“
„Er … Fergus …“, stammelt sie. „Fergus hat mich verlassen.“
Fergus liebt Mel und Ryan. Als Pilot ist er oft unterwegs und wenn sie zusammen sind, berühren sie sich ständig und halten Händchen.
„Dich verlassen?“, spreche ich ihr nach, doch ich begreife nicht, was sie mir sagen will.
Aidans Gesichtsausdruck schwankt zwischen Verwirrung und Besorgnis. „Was ist los?“, formt er mit den Lippen.
„Mel … Aus welchem Grund ist Fergus weggegangen? Wo ist er hin?“
Sie ignoriert meine Frage. „Er hat sich nicht bei dir gemeldet? Auch nicht bei Aidan?“
„Keiner von uns hat von ihm gehört, Mel. Du wirst die Sache doch klären können, oder?“
Es vergeht ein Augenblick, bevor sie erwidert: „Manche Dinge lassen sich nicht wiedergutmachen, Lucy.“
Ich schaue auf meinen Becher. Auf die winzigen Hände und Füße.
„Lasst ihr es mich wissen, falls Fergus sich bei einem von euch meldet?“
„Natürlich, aber ich komme jetzt vorbei. Gib mir eine halbe Stunde, dann …“
„Nein, bitte komm nicht!“ In ihrer Stimme liegt eine Dringlichkeit und noch etwas, das ich nicht ganz deuten kann. „Lass es sein. Und wenn Fergus bei euch auftaucht, macht nicht die Tür auf.“
„Aber …“
„Ich melde mich wieder.“
Das Freizeichen surrt in meinem Ohr.
„Was ist denn los?“, fragt Aidan.
„Er hat sie verlassen.“ Ich kann es kaum glauben. Fergus und Melissa wirkten immer wie ein Paar, das für die Ewigkeit gemacht ist. Seit jenem Schullandheim sahen wir die beiden jedoch nur noch selten. Als ich Fergus das erste Mal danach wiedersah, flüsterte er: „Ich schäme mich so. Ich habe einfach nicht …“
„Pssst.“ Ich umarmte ihn damals. „Keiner hat Schuld.“ Aber er machte sich Vorwürfe. Ist die Trennung von Melissa eine Folge seiner schwelenden Schuldgefühle?
„Hat Mel gesagt, warum er gegangen ist?“ Aidans Handy piept, um zu signalisieren, dass er eine Nachricht empfangen hat. Beim Lesen umklammert er das Telefon plötzlich so fest, dass sich seine Haut über den Muskeln spannt.
„Ist das Fergus?“
„Nein. Das Pferd der Thompsons ist krank. Wahrscheinlich hat es schon wieder eine Kolik. Ich muss los.“
Er geht zur Tür; dabei hinkt er stärker als sonst – ein Zeichen dafür, dass er müde oder gestresst ist. Ich wünschte, er müsste jetzt nicht weg. Ich bin zwar daran gewöhnt, dass er zu allen möglichen Uhrzeiten gerufen wird, Mahlzeiten und Wochenenden verpasst, aber heute Abend habe ich ein unheimliches Gefühl, dass etwas Schreckliches passieren wird.
Ich folge ihm zur Haustür. Das Nachtlicht wirft einen perfekten Kreis auf die vordere Veranda.
„Lucy, geh wieder rein.“ In seiner Stimme schwingt ein scharfer Unterton mit.
„Was ist los?“
„Schau nicht hin.“
Aber ich spähe automatisch über seine Schulter, um zu sehen, wovor er mich warnt.
Mein Magen verkrampft sich. Entsetzt presse ich mir die Hand vor den Mund, während ich auf den makabren Anblick auf der Treppe starre.
Zwei tote Vögel. Ihre Schnäbel sind weit geöffnet.
„Aidan?“ Ich fange an zu zittern. Ein Vogel kann Zufall sein – zwei jedoch fühlen sich an wie eine Warnung.
„Geh ins Haus. Ich kümmere mich darum.“
„Glaubst du …“ Ich schaffe es kaum, meine Befürchtungen auszusprechen. „Wer denkst du, hat sie da abgelegt?“
„Keiner“, entgegnet er scharf. „Niemand hat sie absichtlich hier hingelegt, Lucy. Warum auch? Es wird ein Fuchs oder eine Katze oder so was gewesen sein.“
Doch er weicht meinem Blick aus, während er spricht, und ich frage mich, ob er mich oder sich selbst überzeugen will.
„Aber …“
„Mum?“, ruft Connor die Treppe hinunter.
„Geh rein. Es ist alles in Ordnung. Wir sehen uns später.“ Aidan zieht die Tür von außen zu und zitternd drücke ich mit den Handflächen dagegen, um ihn daran zu erinnern, dass er mir keinen Abschiedskuss gegeben hat.
Die Tür bleibt zu.
„Mum! Ryan hat mir geschrieben, dass Fergus ausgezogen ist.“ „Ich komm ja schon.“
Ich gehe meinem Sohn entgegen, wohl wissend, dass ich keine Erklärung für ihn habe. In Gedanken gehe ich das Gespräch mit Mel noch einmal durch. Im Laufe der Jahre habe ich sie glücklich und traurig erlebt. Aufgeregt und erschöpft. Doch nie … Ich rufe mir ihre Stimme ins Gedächtnis und versuche, das Gefühl zu benennen, das ich darin gehört habe.
Nein, bittekommnicht! Lass es sein.
Und dann dämmert es mir.
Angst.
Sie hat Angst.
Undsie ist nicht die Einzige.
Ihr Sohn Ryan war an jenem Tag mit Connor dort. Hängt das alles miteinander zusammen? Ist heute irgendwas passiert, das einen Streit mit Fergus ausgelöst haben könnte?
In Gedanken sehe ich noch immer die beiden grausam zugerichteten Vögel auf der Türschwelle.
Auch ich habe Angst.
Aidan zögert einen Augenblick, bevor er die toten Vögel in die Tonne wirft. Lucy hat ein so weiches Herz für Tiere. Es sind Wildvögel, aber wahrscheinlich würde sie sie am liebsten unter dem Apfelbaum im Garten begraben, zusammen mit Connors Hamster und Kierons Goldfisch, die sie in Schuhkartons, die die Jungen mit bunten Filzstiften bemalt hatten, beerdigt haben.
Er klopft seine Taschen ab. Zu blöd, dass er vergessen hat, den Schlüssel für seinenTransportermitzunehmen, aber er hat noch die Autoschlüssel für den Audi, mit dem sie heute ins Krankenhaus gefahren sind. Lucy muss heute ja nicht noch einmal los.
Am besten bleibt sie zu Hause.
Seine Hüfte pocht, wie immer, wenn er gestresst oder erschöpft ist, oder bei kalten Temperaturen.
Heute ist es nicht kalt.
Ihm ist schrecklich zumute, weil er heute Abend seine Frau alleine lässt, während sie traurig und verängstigt ist, und seine Kinder, die ihn so sehr brauchen. Hat Fergus sich auch so gefühlt, als er Melissa verließ? War er traurig, als er seine Koffer packte? Oder wütend? Was ging ihm wohl durch den Kopf? Sie hatten nie wirklich über das, was im Schullandheim geschehen war, gesprochen, doch Fergus schien danach ganz der Alte zu sein, oder doch nicht? Natürlich nicht sofort, er hatte sich schuldig gefühlt, aber … es war alles in Ordnung mit ihm, oder nicht?
Aidan kann nicht glauben, dass Fergus sich von Mel getrennt hat, ohne mit ihm darüber zu reden. Er hat keine Ahnunggehabt, dass sein Freund so unglücklich war. Bei ihrem letzten Treffen hatten sie im Pub Darts gespielt und sich über die neuesten Neuigkeiten der NASA unterhalten. Er schien okay zu sein. Wie sonstauch.
Aber kann man je wirklich wissen, was im Kopf eines anderen Menschenvorgeht?
Auf der Fahrt denkt er an seine Frau – nicht an die Lucy von heute, die von Schuldgefühlen und Ängsten geplagt ist, sondern an die Lucy, in die er sich damals verliebt hat.
Er vermisst sie.
Manchmal bekommt er sie flüchtig zu sehen. So, wie sie vorhin Dr. Peters konfrontierte und darauf bestand, sie wisse, was das Beste für Kieron sei.Und vielleicht hat sie damit auch Recht. Manchmal erwischt er sie nachts dabei, wie sie vor ihrem Computer sitzt und sich über die neuesten Forschungsergebnisse auf dem Laufenden hält. Dann glättet das sanfte Licht des Monitors die Falten in ihrem Gesicht, die durch den Stress tiefer geworden sind. In solchen Augenblicken stockt ihm der Atem, während er wieder einmal daran erinnert wird, wie sehr er seine Frau geliebt hat.
Sie immer noch liebt.
Sie gibt nicht auf.
Zu Anfang seiner Karriere alsTierarzt, in den leidenschaftlichen ersten Jahre ihrer Beziehung, lagen sie mit verschlungenen Gliedern im Bett, ihr Kopf auf seiner Brust, während er ihr durchs Haar strich, bis er zu einem Notfall gerufen wurde.
„Tut mir leid.“ Zärtlich fuhr er mit einem Finger über ihr Schlüsselbein, bevor er widerstrebend seine Jeans anzog.
„Kann ich mitkommen?“, fragte sie dann.
„Es ist eiskalt draußen.“
„Du kannst mich ja hinterher aufwärmen.“ Dabeiwar sieschon im Begriff, sich anzuziehen, weil sie wusste, dass er genauso wenig von ihr getrennt sein wollte wie sie von ihm.
Er war schon öfters bei dem Pferd gewesen, dessen Gesundheitszustand sich seit Monaten verschlechterte.
„Die Zeit ist gekommen“, sagte die Besitzerin mit Tränen in den Augen.
Aidan hatte Lucy zwar gesagt, sie solle im Laster warten – er wollte nicht, dass sie zusah, wie er ein Tier einschläferte –, doch sie kam in den Stall, kniete sich neben das verängstigte Pferd, streichelte ihm immer wieder über die Nase und beruhigte es, indem sie ihm liebevoll zuredete, bis seine Nüstern aufhörten, sich aufzublähen, und seine Augen nicht mehr vor Angst aus ihren Höhlen quollen. Langsam und zögerlich stellte sich das Pferd auf seine wackeligen Beine.
„Das gibt es doch nicht“, sagte Aidandamals.
„Glaub mir, nichts ist unmöglich.“ Lucy gab ihm einen Kuss und er sagte der Besitzerin, sie sollten vierundzwanzig Stunden warten, bevor sie eine endgültige Entscheidung trafen. Am nächsten Tag ging, trabte und galoppierte das Pferd munter.
Es hatte sich wieder erholt.
Eine Woche später war Lucy dabei, während er sich um eine hochschwangere Stute mit endlosen Wehen kümmerte. Nichts lief so, wie es sollte.
„Das Fohlen wird tot geborenwerden“, sagte er zu Lucy. „Vielleicht willst du lieber gehen.“
Mit Tränen in den Augen schüttelte sie den Kopf. „Na, komm schon.“ Sie streichelte sanft das Pferd. „Es wird alles gut. Vertrau mir.“ Sie flüsterte immer wieder aufmunternde Worte, bis das Fohlen vollkommen gesund herausflutschte.
Aus diesen Gründenglaubt Aidan an Wunder. Er hat sie erlebt.
Und das wünscht er sich auch für Kieron.
Vertrau mir. Er kann Lucys geflüsterte Worte hören. Es scheint töricht, zu glauben, sie wüsste es besser als Dr. Peters, der dreißig Jahre Erfahrung auf seinem Gebiet hat, aber was ist, wenn sie Recht hat?
Sie ist immer die Starkegewesen. Der Kitt, der ihre kleine Familie zusammengehalten hat, doch jetzt löst sie sich langsam auf und er weiß nicht, wie er sie zusammenhalten soll.
Kieron ist krank. Lucy ist völlig durch den Wind. Connor ist mürrisch und verschlossen.
Immer wieder versucht er, seinen ältesten Sohn dazu zu bringen, sich ihm zu öffnen. Vor einigen Wochen saß er auf Connors Bettkante und erinnerte sich an die Abende, an denen er ihn zugedeckt und ihm Ein Tiger kommt zum Tee