Die Familie | Der Psychothriller mit einer unheimlichen Sekte - Louise Jensen - E-Book

Die Familie | Der Psychothriller mit einer unheimlichen Sekte E-Book

Louise Jensen

0,0
5,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Willkommen in der Familie. Hier bist du sicher. Oder?
Der spannende Psychothriller, der dich so schnell nicht mehr loslässt

Nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes hat Laura nicht nur mit ihrer Trauer zu kämpfen, auch finanzielle Probleme belasten sie. Es scheint daher wie ein Geschenk des Himmels, als die lokale Gemeinschaft Oak Leaf Organics ihr und ihrer 17-jährigen Tochter Tilly einen Zufluchtsort bietet. Doch während Mutter und Tochter sich bei ihrer neuen „Familie“ einleben, geschehen immer wieder unheimliche Dinge. Der mysteriöse Tod eines Gemeinschaftsmitglieds weckt endgültig Lauras Misstrauen und sie möchte nur noch weg. Aber Tilly ist fasziniert von dem charismatischen Anführer Alex und weigert sich mit ihr zu gehen. Verzweifelt versucht Laura ihre Tochter zu retten, und während sie auf ein schreckliches Geheimnis stößt, wird sie von ihrer Vergangenheit eingeholt. Schon bald erkennt sie den wahren Grund, warum sie und Tilly in die Gemeinschaft aufgenommen wurden – und warum sie niemals wieder gehen dürfen …

Erste Leser:innenstimmen
„Die packende Atmosphäre in Oak Leaf Organics ist wunderbar düster und unheimlich!“
„Sehr empfehlenswerter Psychothriller für alle, die Nervenkitzel lieben!“
„Laura und Tillys Kampf ums Überleben und die Enthüllung der dunklen Geheimnisse haben die Spannung bis zum Schluss aufrechterhalten!“
„Louise Jensen schafft es, die bedrohliche Stimmung in Oak Leaf Organics perfekt einzufangen!“

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 521

Veröffentlichungsjahr: 2024

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Über dieses E-Book

Nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes hat Laura nicht nur mit ihrer Trauer zu kämpfen, auch finanzielle Probleme belasten sie. Es scheint daher wie ein Geschenk des Himmels, als die lokale Gemeinschaft Oak Leaf Organics ihr und ihrer 17-jährigen Tochter Tilly einen Zufluchtsort bietet. Doch während Mutter und Tochter sich bei ihrer neuen „Familie“ einleben, geschehen immer wieder unheimliche Dinge. Der mysteriöse Tod eines Gemeinschaftsmitglieds weckt endgültig Lauras Misstrauen und sie möchte nur noch weg. Aber Tilly ist fasziniert von dem charismatischen Anführer Alex und weigert sich mit ihr zu gehen. Verzweifelt versucht Laura ihre Tochter zu retten, und während sie auf ein schreckliches Geheimnis stößt, wird sie von ihrer Vergangenheit eingeholt. Schon bald erkennt sie den wahren Grund, warum sie und Tilly in die Gemeinschaft aufgenommen wurden – und warum sie niemals wieder gehen dürfen …

Impressum

Deutsche Erstausgabe Oktober 2024

Copyright © 2025 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-98998-330-4 Hörbuch-ISBN: 978-3-98998-332-8

Copyright © 2019, Louise Jensen Titel des englischen Originals: The Family

Louise Jensen asserts the moral right to be identified as the author of this work.

Louise Jensen beansprucht das Urheberrecht, als Autorin dieses Werkes genannt zu werden.

Übersetzt von: Laetitia Wühler Covergestaltung: Nadine Most unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com: ©Stone36, ©Ivan Boryshchak Korrektorat: Marita Pfaff

E-Book-Version 21.03.2025, 09:50:33.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Unser gesamtes Verlagsprogramm findest du hier

Website

Folge uns, um immer als Erste:r informiert zu sein

Newsletter

Facebook

Instagram

TikTok

YouTube

Die Familie

Jetzt auch als Hörbuch verfügbar!

Die Familie
Louise Jensen
ISBN: 978-3-98998-332-8

Willkommen in der Familie. Hier bist du sicher. Oder?Der spannende Psychothriller, der dich so schnell nicht mehr loslässt

Das Hörbuch wird gesprochen von Simone Terbrack, Katja Pilaski und Benjamin Hansen.
Mehr erfahren

Für Tim, dieses musste für dich sein.

In Liebe x

Denn ich allein weiß, was ich mit euch vorhabe.

Jeremiah 29:11-14

Prolog

Laura

Jetzt

Alles entfaltet sich mit filmischer Deutlichkeit vor mir – der Schuss, der Schrei. Jedes Detail scharf und klar. Die Zeit verlangsamt sich, während sie mich mit ihrem Blick anfleht, sie zu retten. In meiner Vorstellung dränge ich sie hinter mich, schütze ihren Körper mit meinem, aber sie ist zu weit entfernt, und ich weiß, dass ich sie nicht rechtzeitig erreichen kann.

Ich versuche es trotzdem.

Das Grauen lässt meine Beine schwer wie Blei werden, als ich auf sie zu renne; eine Faust schließt sich um mein Herz.

Ein zweiter Schuss.

Ihre Knie geben nach und sie fällt in sich zusammen wie eine Marionette, deren Fäden durchtrennt wurden.

Der Boden verschwindet unter meinen Füßen und ich krieche auf sie zu wie das Tier, das ich geworden bin. Meine Hände kleben von dem Blut, das den Boden rot färbt. Sie sagen, dass Blut dicker als Wasser ist, aber ihres ist dünn und leuchtend hell. Adrenalin durchströmt mich und hinterlässt ein Gefühl der Taubheit, während ich gegen ihr Handgelenk drücke und verzweifelt versuche, einen Puls zu finden. Mit meiner anderen Hand verschränke ich die Finger mit ihren, so, wie wir es früher immer getan haben, bevor ich uns an diesen Ort brachte, der unser Untergang wurde. Ein Leben voller Erinnerungen blitzt in mir auf, wie ich sie in der Entbindungsstation fest an mich gedrückt habe; Ostereier in dem Weidenkorb, der an ihrem pummeligen Arm hing; ihr erster Schultag, Zöpfe mit leuchtenden Bändern, die auf ihrem Rücken schwangen, während sie über den Schulhof rannte.

Sie kann nicht fort sein.

Oder?

Finger der Angst umklammern fest meinen Schädel. Alle Farbe schwindet aus dem Raum. Schwarz und Weiß brechen über mich herein. Ich drücke ihre Hand noch fester, aus Angst, das Bewusstsein zu verlieren.

Angst, sie zu verlieren.

Aber dann … Ein Flackern der Augenlider. Ein Murmeln von ihren Lippen.

Ich lege mich neben sie und ziehe sie sanft näher an mich, um sie in meine Arme zu nehmen. Ich kann und werde sie nicht verlassen. Familien sollten zusammenhalten. Sich gegenseitig beschützen. Stattdessen habe ich uns hierhergebracht.

Es ist alles meine Schuld.

Das Trommeln in meinem Kopf wird lauter – das Geräusch von Schritten. Ich muss nicht aufblicken, um ihre Wut zu fühlen, hart und unerbittlich.

Der beißende Geruch von Schießpulver liegt in der Luft und neben ihm der meiner Angst.

Als ich den Kopf hebe, begegnet mein Blick dem des Schützen; er hat immer noch die Waffe in der Hand und Empfindungen kehren in meinen Körper zurück – plötzlich und heftig. Die Schmerzen in meinem Bauch sind schneidend und gehen tief. Ich bin mir nicht mehr sicher, ob das Blut, mit dem ich verschmiert bin, von ihr ist.

Oder von mir.

Ihr Oberteil ist mit dunkelrotem Blut getränkt, genau wie meins.

Die Schmerzen werden schlimmer.

Verängstigt zerre ich an ihrer Kleidung, meiner Kleidung. Ich bete: Lass es ihr gut gehen. Siebzehn ist viel zu jung. Lass es mich sein.

Endlich finde ich die Wunde, aber bevor ich Druck ausüben kann, um den Blutfluss zu stoppen, greifen Hände nach meinen Schultern. Meinen Ellenbogen. Ziehen.

Die Ränder meines Blickfeldes verdunkeln sich, aber ich kämpfe dagegen an. Kämpfe gegen sie.

Als meine Hände festgehalten werden, trete ich um mich, schlage meine Zähne in Fleisch, aber es ist zwecklos. Ich werde immer schwächer.

Ihre Finger zucken. Einmal. Zweimal.

Dann nichts.

„Tilly!“ Der Schrei zerreißt mich, als ich auf die Beine gezerrt werde. „Tilly!“ Ich kämpfe um Halt, versuche mit jeder Faser meines Seins, meine Tochter zu erreichen.

Ich schaffe es nicht.

Ich ringe trotzdem um meine Freiheit, während ich weggezogen werde und meine Füße über den Boden schleifen.

Ich weiß, dass sie uns jetzt nie mehr von hier gehen lassen werden.

Zumindest nicht lebendig.

Erster Teil

Die Ursache

Kapitel eins

Laura

Vorher

Ängste. Wir alle haben sie. Dieses schleichende Unbehagen. Eine Abneigung gegen etwas. Für mich sind es Spinnen. Diese Angst kam von einem Dokumentarfilm über Kellerspinnen, den ich vor vielen Jahren gesehen hatte. Diese matriphage Art weckt die kannibalischen Instinkte ihrer Kinder, indem sie diese dazu anregt, sie zu fressen. Ich hatte mich nicht losreißen können und durch gespreizte Finger zugeschaut, wie die Mutter ihren Unterschlupf umkreiste, am Netz zupfte und wackelte, um die Ur-Instinkte ihrer Nachkommen anzuregen, bis diese sie in einem rasenden Schwarm angriffen. Hunderte wuselnde Beine. Blitzende Reißzähne. Das Geräusch, wie das ausgewachsene Tier verschlungen wurde, nachdem Gift es von innen her aufgelöst hatte, hat mich nicht losgelassen. Was bewegte eine Mutter dazu, sich so zu opfern? Wie konnten ihre Kinder sich derart gegen sie wenden? Das war natürlich lange, bevor ich selbst Mutter wurde.

Von dem ersten Moment an, in dem ich Tilly sah, mit ihren winzigen Händen zu Fäusten geballt und die Augen gegen das ungewohnte Licht zusammengekniffen, wurde ich von einer Liebe verschlungen, die allumfassend war. Von einem heftigen mütterlichen Verlangen, sie, so gut ich es konnte, vor der Welt zu beschützen. Denn sie brauchte Schutz. Ich wusste, wie schädlich es da draußen sein konnte.

Ich war selbst beschädigt worden.

An diesem Morgen hatte ich aber keine Ahnung, wie ich sie vor dem Inhalt des Briefes beschützen sollte. Als ich in Richtung der Schule fuhr, schloss ich meine Finger enger um das Lenkrad, als könnte ich so das Gefühl aufhalten, dass mir alles entglitt. Konnte ich nicht.

Was sollte ich nur tun?

Ich parkte meinen rostigen Volvo zwischen zwei glänzenden Geländewagen. Horden von Kindern zogen trödelnd am Auto vorbei zu den schwarzen schmiedeeisernen Toren, die Rücken unter dem Gewicht ihrer Bücher gekrümmt. Ich rieb mir die Schläfen in dem Versuch, das Pochen hinter meinen Augen loszuwerden.

„Muss ich wirklich wieder in die Schule, Mama?“

Ich hörte die Traurigkeit in ihrer Stimme. Ich hörte sie auch in meiner eigenen, als ich sagte: „Es ist jetzt sechs Wochen her, Tilly.“ Als wäre das lange genug, um alles wieder in Ordnung zu bringen.

Das war es nicht.

Sie ging nicht gut damit um. Das tat ich auch nicht, aber ihr zuliebe gab ich mich so, als würden wir da durchkommen. Wir würden es schaffen, auch wenn ich nicht wusste, wie.

„Wir haben das doch besprochen“, sagte ich nicht ohne Wärme in der Stimme. „Es war deine Idee, an einem Freitag wieder hinzugehen, um den Einstieg leichter zu machen. Es ist nur ein Tag, Tilly.“

Sie schob sich ihre widerspenstigen dunklen Haare hinter die Ohren und blickte ängstlich aus dem Fenster. Ihr Gesicht sah kleiner aus, ihre Haut war aschfahl, dunkle Ringe lagen unter ihren blutunterlaufenen Augen. Sie hatte das Angebot einer Beratung abgelehnt und sich so lange in ihrem Zimmer verkrochen, dass es jetzt überwältigend für sie war, wieder in der Außenwelt zu sein.

„Du hast jetzt schon so viel Stoff nachzuholen. Aber wenn du es wirklich nicht schaffst, werde ich dich nicht zwingen. Du kannst stattdessen mit mir kommen und im Laden helfen. Es ist Zeit, sich wieder in die echte Welt zu begeben.“ Ich sprach langsam, bedacht, als wären die Worte rau und würden mir den Mund wundscheuern. Unser Opferschutzbeauftragter hatte gesagt, es wäre am besten, eine Routine zu formen, um wieder so etwas wie Normalität zu finden, aber stimmte das? Manchmal war das Elterndasein reine Folter. Ich drehte mich im Kreis wie ein Vogel mit einem gebrochenen Flügel. Aber Tilly lernte gerade für ihren Abschluss. Es war ein so wichtiges Jahr. Außerdem wäre sie in der Schule mit Rhianon zusammen. Und auch wenn ich wusste, dass die beiden Cousinen nicht mehr untrennbar waren, hoffte ich, dass sie, fernab von all dem Familiendrama, anfangen könnte, zu heilen.

Das hatten wir alle bitter nötig.

„Na gut.“

Es war schwindelerregend, wie schnell sie zwischen Traurigkeit und Wut hin und her wechselte, aber ich wusste, dass das zu der Trauer, die sie durchmachte, dazugehörte.

Sie stieß die Autotür auf. Ein langes Seufzen entwich den Lippen, die aufgehört hatten, zu lächeln.

„Warte“, rief ich und schnappte ihr Mittagessen vom Rücksitz. „Wenn es zu viel wird, kannst du mich jederzeit anrufen.“ Sie riss mir die Tupperwaredose aus den Händen, ihre Miene so hart wie das Plastik.

„Versuch, einen guten Tag …“, das Zuknallen der Autotür riss meinen Satz auseinander, „… zu haben.“ Ein Kloß in meinem Hals hinderte mich daran, sie zurückzurufen. Was hätte ich sagen können, um die Dinge wieder in Ordnung zu bringen? Sie stapfte davon, ohne sich noch einmal umzusehen, von ihrem schwarzen Wintermantel erdrückt, der sich beim Gehen um ihre Knöchel wickelte. Sie hatte an Gewicht verloren. Ich hatte ihr halb gegessenes Frühstück wieder im Mülleimer gefunden. Die braun anlaufende Bananenschale war mit Staub der Rice Krispies bedeckt, die sie mit dem Löffel zerdrückt hatte. Sie hatte Milch noch nie ausstehen können.

Sie ging gebeugt unter dem Gewicht ihres Rucksacks und der Welt auf ihren Schultern, als sie die Straße überquerte, ohne auf das Aufleuchten des grünen Mannes auf der Fußgängerampel zu warten. Ich überlegte, sie zurückzurufen, aber ich wusste, dass sie sich nicht für immer verstecken konnte. Sollte sie mich anrufen, konnte ich im Handumdrehen wieder da sein, aber ich wusste, dass sich manchmal selbst nur sechzig Sekunden wie eine ganze Ewigkeit anfühlen konnten. Der Wunsch, sie zu beschützen, wie ich in ihrem Alter nicht beschützt worden war, war heftig und stechend, schien aber nach dem Brief heute Morgen noch unerreichbarer als zuvor.

Tilly mischte sich in die Schar der Kinder, die über die orangefarbenen Herbstblätter auf dem Bürgersteig liefen. Ich musste an die Zeiten zurückdenken, in denen Gavan und ich auf der Suche nach schimmernden Kastanien durch den Wald streiften, Tilly mit ihren Gummistiefeln und kleinen Handschuhen an uns gekuschelt. Der Geruch von Moos und Erde. Es war noch immer alles ganz klar für mich, die Freude daran greifbar.

Eins, zwei, drei, hoch! Wir schaukelten sie vor und zurück und sie klammerte sich fest wie ein Baby-Affe. Ihr ansteckendes Kichern brachte Gavan und mich zum Lachen. Auch als sie irgendwann älter und zu schwer wurde, zog sie die Knie an die Brust, damit ihre Füße nicht auf dem Boden schleiften, als könnte sie selbst nicht ganz akzeptieren, wie groß sie geworden war. Ich sah ihr jetzt zu, wie sie die trostlose graue Treppe hinaufging, und hatte Mühe, dieses unbekümmerte, lachende Kind von vor scheinbar fünf Minuten mit dieser ernsthaften Siebzehnjährigen in Verbindung zu bringen. Sie war jetzt eine junge Frau, für mich fast verloren. Die Zeiten, in denen ich ihre Welt mit einer Tasse heißer Schokolade und einer Umarmung wieder heil machen konnte, waren lange vorbei, und ich sehnte mich nach ihnen zurück.

Der Schulpolizist mit dem ungleichmäßigen Bart und struppigen Pferdeschwanz, der vor der weiterführenden Schule jeden Tag um 8.45 Uhr und 15.15 Uhr mit einer Leidenschaftlichkeit patrouillierte, die selbst eine Löwenmutter in den Schatten stellte, rannte halb auf mich zu. Rational wusste ich, dass er mich nur zurechtweisen würde, weil ich im Halteverbot stand, aber trotzdem zitterten meine Hände, als ich die Handbremse löste. Eine Polizeiuniform zu sehen, löste in mir jedes Mal eine heftige körperliche Reaktion aus, wie eine Schlange stieg die Übelkeit in mir hoch. Ich raste davon, bevor er das Auto erreichte, und erst, als er im Rückspiegel nicht mehr zu sehen war, beruhigte sich mein Atem.

Polizisten würde ich immer mit schlechten Neuigkeiten verbinden.

Mit endlosen, endlosen Fragen.

Manchmal vermischte sich alles zu einer einzigen wirbelnden Masse. Die Vergangenheit. Die Gegenwart. Unmöglich voneinander zu trennen.

Die Angst hatte mich nie wirklich verlassen. Im Moment verbarg sie sich in der Schicht zwischen Haut und Fleisch und wartete geduldig auf den nächsten Auslöser. Auf die Gelegenheit, zuzuschlagen.

Ich weiß es nicht mehr.

Und manchmal konnte ich mich bewusst wirklich nicht mehr erinnern. Die Lüge wurde zu meiner Wahrheit und der Druck in meinem Kopf unerträglich.

Und dann, verborgen im Schatten der Nacht, zerrte mich die Vergangenheit mit knochigen Fingern zu sich und ich schrie und trat um mich, bevor ich aufwachte. Die Decke zerknüllt auf dem Boden. Der Schlafanzug nass geschwitzt. Und allein.

Immer allein.

Die Narbe auf meiner Stirn pochte als Erinnerung an meine Hilflosigkeit.

Auf dem Weg zur Arbeit war ich wieder erfüllt von Gedanken an den Brief.

Was sollte ich nur tun?

Kapitel zwei

Laura

Die Erkenntnis, dass ich die Tür nur noch wenige Male aufschließen würde, brannte wie Desinfektionsmittel auf einer offenen Wunde.

Ich saugte alles auf. Das Licht, das durch die Fenster hereinschien, als der Tag an Kraft gewann. Der Wind, der das Schild mit der Aufschrift „Lauras Blumen“ küsste und es vergnügt knarren ließ. Der Schlüssel, der sich perfekt in meine Hand schmiegte, als sollte er für immer mir gehören. Aber schon bald würde er der Schlüssel eines anderen sein. Das alles der Traum eines anderen.

Die Tür war mit trockenem Eigelb verschmiert. Ich beschloss, dass es von den Kindern stammen musste, die gestern für Süßes oder Saures durch die Straßen gewandert waren, gehüllt in schwarze Umhänge und mit Plastikzähnen, die gegen blutverschmierte Lippen drückten. Ich sollte wirklich aufhören, so viel in alles hineinzuinterpretieren.

Aber die Nervosität ließ mich nicht los, trotz des tröstenden Geruches nach Blumen, der mich nach dem Eintreten umgab wie eine Umarmung.

Ich konnte nicht glauben, dass es vorbei war.

Als ich den Laden vor zehn Jahren eröffnete, hatte ich geglaubt, dass ich ihn eines Tages an Tilly vererben würde oder vielleicht sogar an meine Nichte Rhianon, die so viel Zeit bei uns zu Hause verbrachte wie Tilly bei ihr. Sie liebten es, zu gärtnern, nebeneinander kniend, Dreck unter den Fingernägeln, den Spaten in der Hand. Sie hatten ein eigenes Blumenbeet in einer Ecke unseres Gartens, das sie stets umgruben. Sie pflanzten Löwenzahn und Primeln, weil sie so sonnengelb strahlten; rupften Anemonen und Astern aus, die noch nicht geblüht hatten; schenkten mir ein zahnlückiges Lächeln, wenn ich Kirsch-Eis verteilte. Als sie zu Teenagern heranwuchsen, verwilderte ihre Ecke des Gartens nach und nach, ihr Begeisterung für Blumen schien verloren. Zum ersten Mal war ich froh darüber, dass sie nicht in meine Fußstapfen folgen und den immerwährend sorgenvollen Weg eines Einzelhändlers gehen wollten – schleppende Geschäfte und zu viele Rechnungen.

Ich sammelte ein Bündel brauner Umschläge von der Fußmatte auf und bemerkte einen roten Stempel: Letzte Mahnung. Ich ließ alles auf die Theke fallen. Einst glänzend poliert, war sie jetzt von einer dünnen Staubschicht bedeckt. In den letzten sechs Wochen war ich mehr zu Hause gewesen als im Laden, ich wollte für Tilly da sein. Aber es war nicht leicht, zu wissen, wie ich das tun sollte, wenn sie sagte, dass sie ihre Ruhe brauchte. Ich war durch das Haus gewandert wie ein Geist. Hatte Gavans Dinge berührt wie einst sein Gesicht und mich gefragt, wer ich war, wenn nicht die Frau von jemandem. Jemandes Tochter war ich schon seit langer Zeit nicht mehr.

Seit Wochen war mir schlecht, als säße ich in einem schaukelnden Boot auf stürmischer See, aber als ich den Laden betrat, war es für einen kurzen Moment so, als hätte ich die Ruhe gefunden, die nach dem Sturm kommt. Der Laden gab mir den Raum, meine Tränen fließen zu lassen – ungefiltert und echt, ohne stark für Tilly sein zu müssen.

Hier konnte ich fühlen.

Wie jeden Morgen sah ich in den Terminkalender, obwohl ich wusste, dass nichts drinstand. Der Schmerz hinter meiner Stirn pulsierte heftiger. Es war nicht nur die Tatsache, dass ich in letzter Zeit öfter geschlossen als offen gehabt hatte, die dem Geschäft schadete. Vor zehn Monaten war der Skandal herausgekommen und die Lokalzeitungen hatten ihre sorgfältig formulierten Schmähungen gedruckt, voll mit „angeblich“ und „möglicherweise“, die meine Familie in die Knie zwangen. Sie druckten, dass Gavan zwar aus Wales war, meine Mutter aber aus England, als würde das etwas ausmachen. Sie wollten sagen, dass ich nicht nach Portgellech gehörte, diesen einst so belebten Fischerort, in dem Fischer heute ein so seltener Anblick waren wie die Rotmilane, die früher über der grauen, kargen Küste durch die Lüfte glitten. Die Menschen rückten enger zusammen, manche nannten mich sogar „die Engländerin“, obwohl ich mein ganzes Leben hier gewohnt hatte. Sie begannen, ihre Blumen im Supermarkt zu holen, an der Tankstelle – egal wo, schien es, nur nicht bei mir.

Aber das war nicht ganz fair. Wenn man die dicke Schicht Selbstmitleid abkratzte, die ich wie eine zweite Haut trug, musste ich anerkennen, dass ich mit den Preisen eines Supermarktes oder der Bequemlichkeit und Schnelligkeit von Online-Bestellungen einfach nicht mithalten konnte. Vielleicht war der Laden immer zum Scheitern verurteilt gewesen und die ganze Sache mit Gavan hatte alles nur beschleunigt. Aber wahrscheinlich interpretierte ich gerade wieder zu viel in alles hinein. Diese Zeit des Jahres war bekanntermaßen ruhig. Die Hochzeitssaison war vorbei und bis Dezember gab es immer eine Flaute.

Da werde ich aber nicht mehr hier sein.

Ich durchwühlte die mit Geschenkband und gepunktetem Zellophan vollgestopften Schubladen auf der Suche nach Tabletten gegen meine Kopfschmerzen. Dann bimmelte die Glocke, weil sich die Tür öffnete. Ich sah auf. Mein Optimismus verflog, als ich sah, dass es kein Kunde war, sondern zum dritten Mal diese Woche Saffron.

„Es tut mir sehr leid.“ Ich drückte zwei Paracetamol aus ihrer Verpackung. „Ich habe nicht viele verkauft.“ In Wahrheit hatte ich von den Oak-Leaf-Farm-Biogemüsebeuteln, die Saffron mir als Versuch mitgebracht und mir zwanzig Prozent des Gewinns versprochen hatte, noch keinen einzigen verkauft, aber wegen meines schlechten Gewissens hatte ich wieder zwei für mich selbst genommen. Die Gemüseschublade meines Kühlschranks war mit laschen Karotten und braun werdenden Pastinaken gefüllt.

„Nicht schlimm. Eine Floristin ist wohl nicht der erste Hafen, den man anläuft, wenn man Essen kaufen möchte.“ Ihre Mundwinkel hoben sich kurz zu einem angespannten Lächeln.

„Heutzutage ist es nicht einmal der erste Hafen, den man zum Blumenkaufen anläuft.“ Ich verzog das Gesicht, als ich die Tabletten trocken hinunterschluckte.

„Solange Amazon nicht anfängt, Bouquets zu verkaufen, kommst du schon klar.“

„Die verkaufen schon Blumen.“

„Dann bist du am Arsch.“ Ihr Haar, eine Masse dichter schwarzer Locken, wippte im Takt ihres hohlklingenden Lachens auf und ab. Sie sah so müde aus, wie ich mich fühlte, und ich wusste, dass sie trotz ihrer Witze genauso besorgt war wie ich. Es war schwer, ein kleines Unternehmen zu führen.

„Es gibt keine Hoffnung für unabhängige Geschäfte, oder? Nicht, wenn die Kunden wollen, dass alles rund um die Uhr verfügbar ist“, sagte ich.

„Ist es das denn nicht?“ Sie hob das Kinn und tat so, als würde sie ihre Augen gegen die Sonne abschirmen, um den Himmel nach etwas abzusuchen. „Ist es ein Vogel? Ist es ein Flugzeug? Nein, es ist eine Lieferdrohne.“

Ich lachte nicht.

„Danke für den Tipp, den du mir letzte Woche gegeben hast, Laura.“ Sie pflückte eine weiße Rose aus dem Eimer neben der Theke und atmete tief ein. „Das neue Café um die Ecke hat eine Dauerbestellung für Kartoffeln aufgegeben. Ich esse nur zu gerne eine gute gefüllte Ofenkartoffel.“ Sie tätschelte ihren unglaublich flachen Bauch. In zehn Jahren würden sich die Kohlenhydrate auf ihren Hüften bemerkbar machen, so wie sie es bei mir getan hatten, als ich dreißig wurde.

Saffron plapperte munter weiter und ich versuchte, meinen Teil des Gesprächs zu erfüllen. Normal. Ich konnte normal sein, aber meine Gedanken wanderten immer wieder zu dem Brief zurück. Adrenalin kochte in mir hoch und wieder herunter. Saffrons Sätze wurden bruchstückhaft. Ihre Worte entglitten mir.

„Laura?“ An der Art, wie sie meinen Namen sagte, wurde mir klar, dass sie mich etwas gefragt hatte. Ihre Stimme klang, als wäre sie sehr weit weg. Ich versuchte mich darauf zu konzentrieren, aber sie hatte eine seltsame Tönung. Trotzdem schrieb ich meine Desorientierung dem Stress zu. Meiner Trauer. Erst, als ein ekelhaft süßer Geruch meine Nase kitzelte, kam mir der Gedanke, dass es wieder passierte, aber die Vorstellung war unmöglich, das letzte Mal war so lang her. Aber ich wusste, dass ich recht hatte, als der Schwindel einsetzte, meine Arme und Beine wild um sich schlugen. Ich wusste nicht, wann die Dunkelheit mich verschlang und ich auf den Boden fiel, ich erfuhr erst später, dass es passiert war. Zeit wurde unwichtig. Es konnten Sekunden, Minuten, Stunden vergangen sein, bevor ich mir einer weit entfernten Stimme bewusst wurde. Ein seltsames Rasseln dröhnte mir in den Ohren – meine eigenen panischen Atemzüge. Ein Engel – ein verschwommenes strahlend weißes Licht. Ich dachte, ich würde sterben.

Ich dachte, ich würde schon wieder sterben.

Aber als sich mein Blick fokussierte, sah ich, dass es Saffron mit ihrer weißen Jeans und ihrem weißen Pullover war. Ihr besorgtes Gesicht schwebte über meinem.

„Geht es dir gut?“ Ihre Hand lag auf meiner Schulter.

Ich versuchte zu sprechen, aber mein Mund war voller metallischem Blut. Ich hatte mir auf die Zunge gebissen.

„Ich rufe einen Krankenwagen.“ Irgendwie beruhigte mich die Panik in ihrer Stimme.

„Nein.“ Ich setzte mich hin. „Bitte nicht.“ Behutsam betastete ich meinen Hinterkopf an der Stelle, an der ich auf den Boden aufgeschlagen war. Ich wusste aus Erfahrung, dass ich später Schmerzen und blaue Flecke haben würde, aber im Moment fühlte ich hauptsächlich Scham, als ich versuchte, wieder auf die Füße zu kommen. „Das war ein Krampfanfall. Die hatte ich früher schon.“ Aber das war Jahre her, noch bevor meine Eltern mich verstoßen hatten. Als hätte mein Körper mit einem umgekehrten Schock reagiert, statt weiter auseinanderzufallen, hatte er sich wieder repariert. Vielleicht war Gavans Tod der Grund dafür, dass die Anfälle zurückkamen. Er war der Grund für so viele Dinge gewesen. Ich musste wieder an den Brief denken und das brachte das Fass zum Überlaufen. Ich begann zu weinen.

„Es tut mir so leid.“ Saffron schaute mich betroffen an. „Das sah furchtbar aus. Ich wusste nicht, ob ich erst den Notruf wählen, oder dir helfen sollte. Es ging alles so schnell.“

Ich war benebelt und desorientiert. Es fühlte sich an, als wäre ich stundenlang bewusstlos gewesen, aber in Wirklichkeit war es wahrscheinlich weniger als eine Minute.

„Wie geht es dir?“, fragte sie zweifelnd. Sie hielt immer noch ihr Handy fest umklammert.

Krank. Erschöpft. Verängstigt.

„Gut. Ehrlich, im Krankenhaus können sie auch nichts für mich tun.“ Eine Pause entstand und ich fürchtete, sie würde auf einem Arzt bestehen, mit allen Konsequenzen, die das mit sich bringen würde. „Du könntest mir aber etwas Wasser bringen.“ Ich setzte mich auf den Hocker, die Ellenbogen auf die Theke gestützt, den Kopf in meinen Händen. Sekunden später stellte sie ein Glas vor mir ab und es fühlte sich an wie eine schwere Last, als ich es an meine trockenen Lippen hob und trank. Ich wischte das Rinnsal, das mir das Kinn hinunterlief, mit dem Ärmel weg. „Du kannst fahren. Ich schließe hier alles ab und mache mich auch auf den Weg nach Hause.“ Ich war vollkommen ausgelaugt, als wäre ich von Elektrizität angetrieben und mir hätte jemand den Stecker gezogen.

Saffron blieb unsicher stehen. „Ich könnte dich nach Hause bringen?“

Ich zögerte. Ich hatte Saffron erst ein paar Mal getroffen und wollte ihr keine Unannehmlichkeiten bereiten, wäre aber selbst eine Gefahr im Straßenverkehr. „Ich rufe eine Freundin an, dass sie mich abholt.“

Ich brauchte nicht lange, um durch meine Kontaktliste zu scrollen. Selbst wenn man über die aktuellen Ereignisse hinwegsah, Gavan und ich waren ein Paar gewesen, das all seine freie Zeit nur miteinander verbrachte, deshalb hatte ich nicht viele Freunde. Ich zögerte, als ich bei Anwyns Namen ankam. Meine Schwägerin und ich waren uns einst sehr nahe gewesen, aber mittlerweile sprach unsere zerbrochene Familie kaum noch miteinander. Trotzdem rief ich sie an, und es klingelte und klingelte, bevor ihr Anrufbeantworter ansprang. Ich stellte mir vor, wie sie meinen Namen auf dem Display aufleuchten sah und sich entschied, nicht ranzugehen.

Ich hinterließ keine Nachricht.

Die Ladenglocke bimmelte. Ich hob meinen schweren Kopf. Saffron hatte die Tür leicht geöffnet, ich hatte fast vergessen, dass sie noch hier war.

„Bist du sicher, dass es dir gut geht? Ich könnte mit deinem Auto fahren und meins später hier abholen. Es macht mir wirklich nichts aus.“

Es ging mir so schlecht, dass ich gar nicht darüber nachdenken wollte, den Bus zu nehmen, und ein Taxi konnte ich mir sicher nicht leisten.

„Ja, bitte“, sagte ich. „Das wäre gut.“

Aber es war überhaupt nicht gut.

Drei ist eine mächtige Zahl. Auch wenn ich es damals noch nicht wusste, lernte ich es später. Drei Männer mussten drei Dinge beobachten: eine Schöpfung, eine Zerstörung und einen Wiederaufbau – Noah, Daniel und Hiob. Das Römische Reich hatte drei Gründer. Es waren drei Entscheidungen, die mein Leben ruinierten.

Manchmal, wenn etwas Schreckliches passiert, durchforstet man seine Erinnerungen in dem verzweifelten Versuch, den einen Moment zu finden, in dem alles so fürchterlich, fürchterlich schiefging.

Dass ich Ja sagte, war der erste Fehler, den ich machte.

Zwei weitere sollten folgen.

Kapitel drei

Tilly

Sie hatten in den sechs Wochen, in denen ich nicht da gewesen war, die Klassenzimmer gewechselt. Als ich herausgefunden hatte, wo mein Englischkurs stattfand, war ich zu spät.

„Entschuldigung“, murmelte ich Mr Cranford zu.

Und statt mich wie sonst mit seinem Atem, der nach abgestandenem Kaffee roch, anzuschnauzen, sagte er: „Kein Problem, Tilly. Es ist schön, dich wieder hier zu haben.“ Seine Worte trieften vor Mitgefühl und irgendwie war das schwerer auszuhalten, als wenn er mich anschreien würde.

Alle guten Plätze waren schon weg. Rhianon saß mit Ashleigh, Katie und Kieron hinten. Katie und Kieron saßen aneinandergelehnt da, die Köpfe einander zugewandt, und ich wusste, dass sie mittlerweile mehr als nur Freunde waren. Der Gedanke an seine Lippen auf ihren brach mir das Herz von Neuem. Erst vor ein paar Monaten war ich es gewesen, der er sagte, dass er mich liebte, während seine Finger unter meine Bluse und in meinen BH wanderten.

Meine Güte, Tilly, reiß dich zusammen.

Ich ließ meinen Rucksack neben einem Tisch in der ersten Reihe fallen. Der Stuhl schrammte laut über den Boden, als ich ihn zu mir heranzog. Mr Cranford wartete mit dem Filzstift in der Hand, bis ich mich gesetzt hatte, bevor er weitermachte.

„In diesem Halbjahr werden wir uns mit Othello beschäftigen.“ Allgemeines Gemurre brach aus. „Aber, aber, das muss doch nicht sein. Theater ist eine der ältesten Formen von Unterhaltung.“ Sein Stift quietschte, als er „Shakespeare“ an die Tafel schrieb. „Nichts geht über eine gute Tragödie …“ Er hielt inne. Unsere Blicke begegneten sich. Seiner war entschuldigend. Ich merkte, wie meine Augen sich mit Tränen füllten. Schnell redete er weiter. „Theaterstücke waren für alle zugänglich und günstig …“

Ich hörte nicht mehr zu. Meine Gedanken wanderten zu dem „Theater“, das Papa mir und Rhianon gebaut hatte, indem er zwei große Stücke aus einem Pappkarton ausschnitt und sie rot anmalte. Mamma hatte zwei vergilbte Gardinen an einen Draht gehängt. Unser Publikum, bestehend aus Onkel Iwan, Tante Anwyn, Mama und Papa, stand an der Tür Schlange und Rhianon kassierte die glänzenden Fünzig-Cent-Stücke. Die Hauptdarsteller waren die Stoffaffen Dick und Doof – meiner war türkis-weiß gestreift, Rhianons rot gepunktet –, die wir von einer Seite zur anderen wandern ließen, während wir irgendwelchen Unsinn plapperten, den wir urkomisch fanden. Es gab nie ein Skript.

Ich warf einen Blick über meine Schulter, davon überzeugt, dass Rhianon gerade an dieselbe Erinnerung zurückdachte, aber ich sah nur ihren Hinterkopf. Ihr langes blondes Haar floss seidig über ihre Schultern. Sie hatte sich umgedreht, um Katie und Kieron in der letzten Reihe etwas zuzuflüstern. Mein Magen drehte sich um bei dem Gedanken, dass es etwas über mich sein könnte.

Es war schwer zu sagen, wann genau wir uns aus den Augen verloren hatten. In letzter Zeit war sie nicht mehr vorbeigekommen, aber schon die Male davor hatte sie mehr Zeit in der Küche mit Mama verbracht als mit mir. Wenn ich Mama beim Abendessen anblaffte, weil sie mich mit endlosen Fragen zu meinem Tag löcherte, rollte Rhianon mit ihren Augen. Einmal sagte sie sogar: „Sprich nicht so mit deiner Mutter.“ Sie hatte es schwer zu Hause, das wusste ich. Ihre Eltern stritten sich immer und bei uns war es ruhiger. Mama hörte Rhianon zu. Mama hörte immer allen geduldig zu. Manchmal dachte ich, dass Rhianon neidisch auf meine Beziehung zu Mama war, weil ihre eigene mit Tante Anwyn so angespannt und schwierig schien. Aber Teenager hatten eben nicht immer ein enges Verhältnis mit ihren Müttern, oder? Aber sogar ich konnte sehen, dass Tante Anwyn sich verändert hatte. Sie war wütender geworden, geradezu hasserfüllt. Ich glaube, es hatte mit dem Shitstorm wegen Papas und Onkel Iwans Baufirma angefangen. Irgendwie hing alles damit zusammen. Ich wusste nicht alle Einzelheiten, weil meine Eltern mir nur die Informationen gaben, von denen sie dachten, dass ich sie wissen musste, aber Ashleighs Eltern hatten eines ihrer Häuser auf einem neuen Anwesen gekauft. Das Problem war, dass es auf dem Gelände einer ehemaligen Müllhalde gebaut worden war. Ashleigh wurde krank. Sie hatte nicht eine einfache Erkältung, sondern sie wurde richtig krank. Leukämie. Das brachte alles ins Rollen. Es war Monate her, aber ich hatte die Erinnerung noch klar vor Augen: Katie, die auf einem Stuhl stand und sowohl ihre Stimme als auch ihre fein gezupften Augenbrauen hob.

„Hört alle mal zu. Ashleigh ist im Krankenhaus, weil Tillys Vater auf giftigem Land gebaut hat. Es ist seine Schuld, dass Ashleigh krank ist. Vielleicht stirbt sie. So richtig.“

Die anderen Kinder fingen an, mich zu beschimpfen. Ich hob die Hände.

„Es war doch kein giftiges Land. Also, es gibt doch diese ganzen Sicherheitschecks, bevor man anfangen kann zu bauen, oder, Rhianon?“ Ich drehte mich zu meiner Cousine, unsere Väter führten die Firma immerhin gemeinsam.

„Weiß nicht. Mein Vater hatte aber keine Ahnung von der Geschichte des Grundstückes. Er kümmert sich nur um die Finanzen.“ Ich glaube, ich war die Einzige, die die Angst in ihrer Stimme hören konnte, die Unsicherheit in ihren Worten, aber das war‘s. Ich wurde ausgeschlossen. Isoliert. Ignoriert, und das von allen, außer ironischerweise Ashleigh. Als die nach ihrer Behandlung zurückkam, war sie zwar nicht gerade freundlich, aber auch nicht unfreundlich zu mir. Mit ihrer Krankheit und der Tatsache, dass sie und ihre Eltern sich mit ihren Großeltern in ein Haus quetschen mussten, während der Neubau umfassend geprüft wurde, hatte sie bessere Gründe, mich zu hassen, als irgendjemand sonst, aber sie behandelte mich genau so wie davor auch schon. Wenn wir an den Spinden gelegentlich nebeneinander standen, grüßte sie mich und sie nickte mir zu, wenn wir uns in der Stadt begegneten. Es waren ihre Eltern, die wütend waren und einen Sündenbock suchten, das war mir klar. Dass die Lokalzeitungen etwas brauchten, über das sie berichten konnten, war mir auch klar. Meine Schulkameraden, die ich für meine Freunde gehalten hatte, und ihre Eltern zu verstehen, fiel mir schwerer. Die Gemeinde veranstaltete einen Sitzstreik auf der halbfertigen Baustelle und verteilte Petitionen. In Sozialkunde hatten wir einmal untersucht, was Menschen dazu bewegte, an Protesten teilzunehmen. Oft fühlten sich solche Leute durch irgendetwas benachteiligt oder ihnen war ein Unrecht geschehen. Es musste noch nicht einmal etwas mit dem Protest zu tun haben, an dem sie teilnahmen. Das Teilen von Gefühlen wie Mitleid und Empörung ließ sie zueinanderfinden. Gab ihnen den Eindruck, Teil von etwas Größerem zu sein, das vielleicht Dinge zum Guten verändern konnte. Vielleicht waren sie aber auch nur verdammt wütend. Oder, im Falle unserer Schule, sie hatten Angst vor Katie. Aber was ich einfach nicht verstehen konnte, war, was für eine Kluft sich in unserer Familie aufgetan hatte. Tante Anwyn und Onkel Iwan gaben Mama und Papa die Schuld daran, dass sie das Land gekauft hatten, als hätten die beiden gar kein Mitspracherecht gehabt.

„Ich bin nur für das Geld zuständig“, sagte Onkel Iwan. „Du suchst die Grundstücke aus und ich berechne die Kosten.“

Und je schlechter es dem Geschäft ging, desto schlechter ging es uns allen. Niemand wollte mehr von Papa kaufen oder an ihn verkaufen, und seine Bauprojekte blieben unfertig. Onkel Iwan nahm einen Job bei einer Firma der Konkurrenz an. Der Spalt zwischen uns wuchs, bis es schien, als wären Mama, Papa und ich allein gegen die Welt. Meine Achtung vor Papa war erschüttert, aber nicht gebrochen. Damals zumindest.

Der Gong läutete zur Mittagspause. Ich bemerkte, dass ich im Unterricht überhaupt nicht aufgepasst hatte. Um beschäftigt zu wirken, öffnete und schloss ich meinen Rucksack, bis Rhianon an meinem Tisch vorbeikam.

„Hi.“ Ich passte mich ihren Schritten an. Sie hatte mich nie vollkommen ignoriert und ich hoffte, dass sie nicht jetzt damit anfangen würde.

„Tilly.“ Mr Cranford winkte mich zu sich. „Ich möchte kurz mit dir darüber reden, was du alles nachzuholen hast.“

Ich ging zu seinem Schreibtisch, in der Hoffnung, dass Rhianon vielleicht auf mich warten würde. Aber stattdessen schlüpfte sie mit ihrer neuen Freundesgruppe aus dem Klassenzimmer. Katie grinste, als sie Kierons Hand ergriff. Mit der anderen Hand tat sie so, als würde sie sich mit dem Finger die Kehle durchschneiden, und ich wusste genau, wie ich dastand.

Allein.

Kapitel vier

Laura

Saffron und ich sprachen beide kein Wort, während sie mich nach Hause fuhr. Ich war zu erschöpft, um die Regeln der Höflichkeit zu beachten, also protestierte ich nicht, als sie sagte, dass sie uns einen Kaffee kochen würde und mir ins Haus folgte. Es hätte sich seltsam anfühlen sollen, jemanden in meiner Küche zu haben, der eilig hin und her eilte, Schubladen öffnete und den Deckel von der Kaffeedose schraubte. Aber wenn ich ehrlich war, war es tröstlich, einen anderen Erwachsenen die Führung übernehmen zu lassen. Sie erfüllte mein Haus mit betörendem Jasminduft und einem Gefühl der Normalität. Ich war noch nie gut alleine zurechtgekommen. Ich wünschte, ich könnte die Kontrolle einfach vollends abgeben.

Der Boden fühlte sich eher flüssig als stabil an, als ich, immer noch in Mantel und mit Schuhen, unsicher ins Wohnzimmer ging. Ich ließ mich auf das Sofa fallen, aber auch wenn ich mir der weichen Kissen unter mir vage bewusst war, fühlte ich mich dennoch nicht ganz anwesend – weder physisch noch psychisch. Ich hatte ganz vergessen, wie desorientierend die Zeit nach einem Anfall war. Wie lähmend.

„Ich wusste nicht, ob du Zucker willst.“ Saffron trug zwei Tassen und hatte sich eine Packung Ingwerplätzchen unter den Arm geklemmt. „Und ich habe keine Milch gefunden, aber ich trinke meinen sowieso schwarz. Willst du einen Keks? Ich bin mir nicht sicher, hilft essen? Ich weiß, dass das wahrscheinlich eher bei Diabetes gilt, aber … Geht es dir besser? Was ist passiert?“

„Ein Krampfanfall.“ Ich wollte es nicht Epilepsie nennen. Diesen Stempel war ich fast siebzehn Jahren los gewesen, seit zehn nahm ich keine Medikamente mehr. Mein Arzt hatte mich gewarnt, dass die Möglichkeit eines Rückfalls bestand. Einer von sechsundzwanzig Menschen wird in seinem Leben einmal einen Krampfanfall erleben, und bei über vierzig verschiedenen Arten ist es unmöglich, sie vorherzusagen.

„Was hat ihn ausgelöst?“ Die Sorge auf ihrem Gesicht ließ sie jünger aussehen als sonst und löste meinen mütterlichen Instinkt aus. Sie sollte nicht die sein, die sich um mich kümmerte.

Es war wahrscheinlich der Stress, der für den Anfall verantwortlich war, aber das sagte ich ihr nicht. Stattdessen schloss ich die Augen und zählte bis zehn – du bist mit Verstecken dran –, in der Hoffnung, dass ich, wenn ich sie öffnete, wieder das Ich von vor ein paar Wochen vorfinden würde, das fit und gesund war.

Und geliebt wurde.

Stattdessen erblickte ich nur einen einsamen Sonnenstrahl, der sich durch die Lamellen der Jalousie kämpfte und Gavans leeren orangefarbenen Sessel erleuchtete. Den Fleck auf der Armlehne des marokkanischen Polstermöbels, dort, wo er immer seinen Kaffee nach dem Abendessen abgestellt hatte, obwohl ich ihm jeden Abend einen Untersetzer über den Beistelltisch zuschob. Die Dinge, die mich früher geärgert hatten, hätte ich jetzt mit offenen Armen empfangen – die vergessene Tube Zahnpasta auf dem Fensterbrett, der hochgeklappte Toilettensitz, mein stumpfer und mit Haaren verstopfter Rasierer. Hatte ich zu viel an ihm herumgenörgelt? Ich versuchte mich zu erinnern, wann ich ihm das letzte Mal gesagt hatte, wie froh ich war, ihn zu haben. Fast jeden Tag zeigte er mir seine Liebe auf eine neue Weise: Die Satsuma, die er für mich schälte, weil der Saft auf der wunden Haut um meine Fingernägel brannte. Oder die gigantischen Schokoriegel, die er immer mitbrachte, wenn es Zeit für meine Tage war. Wie er meine Windschutzscheibe von Eis befreite, während ich noch die heiße Dusche genoss. Seine Geduld mit Tilly, nachdem die Pubertät sie schnippisch und mundfaul gemacht hatten.

Und das waren alles nur die Kleinigkeiten. Die große Sache, die Wahrheit, war, dass er mich gerettet hatte, damals, vor all den Jahren, als meine Eltern mich allein auf offener See ausgesetzt hatten. Es würde sein Herz brechen, zu wissen, dass ich wieder am Ertrinken war. Und dass es dieses Mal seine Schuld war. Mein Blick wurde von dem Brief auf der Anrichte angezogen. Ich musste mich retten, musste Tilly retten. Aber wie? Es waren so viele Dinge kaputt, ich wusste gar nicht, wo ich anfangen sollte.

„Laura?“ Saffrons Stimme war weich. Es war eine Aufforderung, eine Frage, eine Einladung, mich ihr anzuvertrauen. Es war all das und mehr. Dass Saffron mich im Laden in meinem verwundbarsten Moment gesehen hatte, befreite uns von dem gesellschaftlichen Zwang, nett und oberflächlich zu bleiben. Ich hätte am liebsten in meinen Kaffee geweint. Ich war kurz davor, mich ihr zu öffnen, aber als ich ihr einen Blick zuwarf, hatte ich für einen Moment Angst, was sie von mir denken könnte.

„Was ist los?“ Ihre Besorgnis gab mir den letzten Anstoß, und ehe ich es mich versah, stürzte ich mich kopfüber in die ungeschminkte Wahrheit.

„Ich bin pleite. Ich werde mein Haus verlieren. Meinen Laden auch. Und ich habe eine Tochter, um die ich mich kümmern muss. Tilly macht ihren Abschluss und sie musste dieses Jahr schon so viel bewältigen.“ Ich ging nicht näher darauf ein, was. Für einen Moment hatte ich die Hoffnung, mit den Worten auch die ständige Übelkeit loswerden zu können, die ich in letzter Zeit ohne Pause verspürte. Aber das war nicht möglich.

„O Laura, das tut mir so leid.“ Eine kurze Pause entstand. Ihre Augen wanderten zu der riesigen Collage in dem „Live Laugh Love“-Rahmen über dem Kamin. Eine himmelblaue Wand voller Bilder mit lächelnden Gesichtern. Gavan und ich, wie wir auf unseren fünfzehnten Jahrestag anstießen, die Köpfe aneinandergelehnt. Tilly und Rhianon an ihrem ersten Schultag, mit zueinander passenden Brotboxen und strahlenden Gesichtern. Gavan über Tillys Kinderbett gebeugt – ihre Haare waren damals schon ein Schopf dichter schwarzer Locken – mit einem Ausdruck voller Verwunderung. Mein Hochzeitskleid, das mir am Bauch zu eng war – siebzehn Jahre später und ich war immer noch mein Schwangerschaftsgewicht nicht losgeworden. Wir hatten vor der Geburt heiraten wollen, konnten es uns aber kaum leisten. Die Bilder zeigten uns durcheinander und in der falschen Reihenfolge, Erwachsene wurden zu Teenagern, Kleinkinder zu Babys und wieder zurück. „Es sieht aus, als hättest du eine liebevolle Familie? Ich bin sicher …“

„Mein Mann ist vor sechs Wochen gestorben.“ Fröstelnd zog ich den Mantel, den ich immer noch trug, fester um mich.

„O Gott, Laura, das tut mir so leid. Und ich habe von Obst- und Gemüsekisten geplappert.“

Eine weitere Pause entstand. Ihre Frage hing schwer in der Luft, noch bevor sie sie aussprach. „Wie ist er gestorben, wenn ich fragen darf?“

Ich suchte nach der einzigen Antwort, die für mich Sinn ergab, und bot sie ihr an.

„Es war ein Unfall.“

„Es tut mir so leid.“ Das Mitgefühl in ihrer Stimme war echt. Ich hatte sie noch nie so traurig gesehen. Es ermutigte mich, ihr mehr zu erzählen.

„Er ist bei der Arbeit von einem Gerüst gefallen. Der Untersuchungsrichter hat die Entscheidung bis zum Ende der Ermittlungen verschoben und in der Zwischenzeit eine vorläufige Sterbeurkunde ausgestellt, die ich an die Lebensversicherungsgesellschaft geschickt habe. Aber heute bekam ich einen Brief von denen, in dem steht, dass sie nicht zahlen werden, bis ich eine ordnungsgemäße Urkunde habe.“

„Warum? Wenn er doch …“ Ihre Stimme wurde leiser. „Wenn sie den Beweis haben, dass er tot ist.“

„Anscheinend brauchen sie eine Todesursache. Vollkommen lächerlich. Er ist gefallen. Es war ein Unfall.“

So war es. So musste es sein!

„Und wie lange wird es dauern, bis du die echte Urkunde erhältst?“

„Ich weiß es nicht. Der Untersuchungsrichter meinte, sie bemühen sich, die Ermittlungen innerhalb von sechs Monaten durchzuführen.“

Noch ein Gerichtsverfahren, und auch wenn ich wusste, dass ich mich nicht so fürchten sollte – dieses Mal war ich ja erwachsen –, tat ich es irgendwie dennoch.

Ich schwöre bei Gott dem Allmächtigen, dass ich die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit aussagen werde.

Aber Gott hatte mich damals nicht beschützt und heute beschützte er mich immer noch nicht.

„Ich brauche dieses Geld.“ Meine Stimme brach. „Ich kann meine Miete nicht bezahlen. Wir waren sowieso in Verzug und mein Vermieter droht damit, uns rauszuwerfen. Ich habe mein Überziehungslimit erreicht, bei meinem Konto und allen Kreditkarten. Der Blumenladen wirft kein Geld mehr ab. Es gab da vor ein paar Monaten diesen Vorfall …“ Ich unterdrückte ein Schluchzen. „Es ist alles so ein Durcheinander. Ich hatte auf das Geld von der Versicherung gezählt, um alles wieder in Ordnung zu bringen.“

„Du musst doch Einspruch einlegen können? Wenigstens für eine Übergangszahlung, damit du über die Runden kommst?“

Ich lehnte meinen Kopf zurück, den Blick auf ein Foto von Gavan gerichtet, und versuchte, meinen Kampfgeist wiederzufinden. Als Tilly klein war, war sie ganz verrückt nach dem Zauberer von Oz gewesen. Sie hatte ihre winzigen Hände zu Fäusten geballt und wie ein Boxer von einem Fuß auf den anderen gewippt – „Auf die Beine, zum Kampf!“. Der Löwe hatte am Ende seinen wahren Mut gefunden. Wo war meiner?

„Du hast recht. Das sollte ich. Ich habe es erst heute Morgen erfahren. Es ist so schwer, allein zu sein. Alles wirkt zehnmal so überwältigend wie sonst.“

„Vielleicht kann ich helfen? Der Mann, mit dem ich zusammenwohne, war einmal ein Rechtsanwalt …“

„Das ist sehr nett von dir, aber ich glaube nicht, dass dein Freund …“

„Es ist keine romantische Beziehung. Er ist …“ Dieses Mal war sie es, die zögerte, die Angst zu haben schien, dass ich sie verurteilen könnte. Sie spielte mit dem ausgefransten Saum ihres Pullovers herum. Ohne die Wand aus Witzen, hinter der sie sich normalerweise verbarg, sah sie ganz verletzlich aus. „Wir leben beide auf Gorphwysfa, dem Hof an der Oak Leaf Lane.“

„Natürlich.“ Oak Leaf Organics baute das Gemüse, das sie verkauften, selbst an, auf einer Farm außerhalb der Stadt. Dort lebte eine kleine Gemeinschaft – ein Haufen verdammter Hippies, wie manche der Einheimischen sie nannten –, aber ich wusste nicht viel über sie.

„Wie auch immer, Alex …“ Ihr Gesichtsausdruck wurde weich, als sie über ihn sprach. Ich fragte mich, ob sie mehr als nur Freunde waren oder ob sie sich das vielleicht wünschte. „Er könnte dir vielleicht mit der Versicherungsgesellschaft helfen. Sich um den Juristenjargon kümmern.“

„Ich kann mir keinen Anwalt leisten.“

„Er würde keine Bezahlung erwarten. Auf der Farm geht es nicht nur darum, zusammenzuleben, sondern auch … zusammenzuhalten, würde ich sagen. Wir teilen und handeln, was wir haben. Es gibt immer jemanden, der das kann, was gerade gebraucht wird. Man ist nie allein.“

Allein. Es war nur ein Wort, aber diese sechs Buchstaben lösten so ein heftiges Verlangen aus, dass mein Herz sich schmerzhaft zusammenzog.

„Aber ich wohne nicht dort.“

„Das ist egal. Du kannst es an uns zurückgeben, sobald du die Möglichkeit dazu hast. Beispielsweise beim Gemüseanbau helfen.“

Es war eine Chance, eine Möglichkeit. Ein strahlender Stern am dunklen Nachthimmel der Verzweiflung. Aber auch wenn ich den Mund öffnete, blieb mir das Ja im Hals stecken. Um Hilfe zu bitten, bedeutete, mich zu offenbaren, mich selbst verwundbar zu machen. Offen für Zurückweisung zu sein.

„Das Angebot steht. Hör mal, es ist fast Mittag, ich sollte besser gehen. Dich ausruhen lassen.“ Saffron stand auf und strich ihren Pullover glatt. Die Worte, die aus mir herausgeflossen waren, hatten meinen Hals und Mund trocken zurückgelassen. An die Stille, die jetzt wieder im Raum herrschte, war ich mehr gewöhnt. Ich stellte mir vor, wie Tilly in der Cafeteria den Deckel von ihrer Brotbox abnahm und fühlte Hitze in meiner Brust aufsteigen. Was heute Morgen um 6.30 Uhr eine gute Idee zu sein schien, fühlte sich jetzt wie ein furchtbarer Fehler an. Ich hatte das Gefühl, dass sie nach der Schule sauer auf mich sein würde. Mal wieder.

„Das wird schon alles werden“, sagte Saffron, als ich, in Gedanken versunken, keine Anstalten machte, sie hinauszubegleiten.

Aber ich konnte ihre Gewissheit nicht teilen. Ich hatte nur Ängste und Sorgen, die drohten, mich vollends untergehen zu lassen.

„Das kannst du nicht wissen, außer du kannst in die Zukunft sehen.“ Trotzdem flehte ich sie mit meinen Blicken an, wünschte mir, dass ihre Worte eine Prophezeiung wären. Ein Versprechen.

Für einen kurzen Moment sah ich etwas in ihren indigoblauen Augen, das ich nicht verstand. Ich suchte ihr Gesicht ab, fand aber nichts als Wohlwollen und Verständnis.

„Laura, mir ging es …“ Sie senkte den Blick. „Schlecht. Wenn ich Alex nicht gehabt hätte, weiß ich wirklich nicht, wo ich gelandet wäre.“ Sie zog ihren karmesinroten Mantel an. Die Farbe bildete einen Kontrast zu ihrem strahlend weißen Outfit, der mich an eine andere Zeit erinnerte, einen anderen Ort. An Blutschlieren auf frischem Schnee.

„Ich gebe dir meine Nummer.“ Sie begann, in ihrer Tasche zu kramen. „Wenn du es dir anders überlegst, frag einfach.“ Und für einen kurzen Moment war das kleine quadratische Stück Papier, das sie mir in die Hand drückte, genug, um die Hoffnungslosigkeit zurückzudrängen. Genug, um mich auf die Beine zu bringen.

Im Flur steckte ich den Zettel in meine Handtasche, während Saffron ihre Schuhe anzog. Die Schuhe sahen stabil und verlässlich aus, und ich sagte mir, dass ich ihr vertrauen konnte. Sie öffnete die Tür. Durch den Spalt fuhr ein eisiger Wind. Ein Schauer lief mir den Nacken hinunter. Jetzt weiß ich, dass es nicht die kalte Luft war, die mir die Haare zu Berge stehen ließ. Es war meine Intuition. Ein Bauchgefühl, das mir riet, mich von Gorphwysfa fernzuhalten.

Wenn ich es doch nur nicht ignoriert hätte.

Kapitel fünf

Tilly

Mr Cranford ließ sich eine Ewigkeit Zeit, um mich mit Hausaufgaben zu beladen. Als ich endlich in der Kantine ankam, war die Schlange an der Essenausgabe lang. Nicht, dass ich mich anstellen musste, schließlich hatte ich mein Mittagessen dabei. Mama hatte gesagt, dass wir uns kein gekauftes Mittagessen mehr leisten könnten, so als würden zwei Pfund fünfzig den Unterschied machen.

Der Geruch nach scharfer Salami und geschmolzenem Käse ließ meinen Magen knurren. Ich liebte die Pizza-Tage der Kantine. Ich setzte mich auf eine leere Bank und stellte meinen Rucksack zu meinen Füßen ab. Ich ließ den Blick durch den Raum schweifen. Rhianon bezahlte gerade ihr Essen. Unsere Blicke trafen sich. Die unsichtbaren Fäden einer jahrelangen Freundschaft hingen zwischen uns in der Luft, dünn und ausgefranst. Wir waren so viel mehr als nur Cousinen.

Ich hob meine Hand. Formte das Wort „Hi“ mit dem Mund.

Ihre Hand zuckte und ich wünschte, dass sie mir winken würde. Stattdessen wanderte ihr Blick zu Katie und sie schenkte mir danach nur ein schwaches Lächeln und ein kaum wahrnehmbares Nicken. Ich hatte seit Papas Tod erst einmal mit ihr geredet. Als Mama mir sagte, dass die Obduktion durchgeführt worden war und wir ihn jetzt beerdigen konnten.

„Ich kann den Gedanken, dass er so zerstückelt wurde, nicht ertragen“, hatte ich ins Telefon geschluchzt. Rhianon weinte auch und für einen kurzen Moment standen wir uns wieder nah.

Jetzt klopfte ich auf den Platz neben mir, um sie zum Hinsetzen einzuladen. Sie kaute auf ihrer Unterlippe herum, wie sie es immer tat, wenn sie nicht wusste, was sie tun sollte.

Katie stolzierte zu ihr und dann kamen sie plötzlich alle auf mich zu. Mein Magen zog sich zusammen, und um beschäftigt auszusehen, öffnete ich meine Brotbox und holte ein Sandwich heraus. Ich bemerkte meinen Fehler zu spät.

„Oh. Mein. Gott.“ Katie blieb auf der Stelle stehen. „Tilly!“ Sie hielt dramatisch inne, um sicherzugehen, dass auch alle hinsahen. „Hat Mami deine Sandwiches in kleine Herzchen geschnitten? Wie süß!“

Mein Körper brannte vor Scham. Was hatte Mama sich nur gedacht.

„Als wärst du sieben und nicht siebzehn. Kein Wunder, dass Kieron dich abserviert hat.“

Kieron betrachtete seine Schuhe. Früher hatte er mir immer gesagt, wie schön meine Augen seien, aber jetzt konnte er meinen Blick nicht erwidern.

Katie begann, dieses alte Lied zu singen, „Don’t go breaking my heart …“, verstummte aber wieder, als sie merkte, dass niemand mitmachte. Rhianon starrte mit einem seltsamen Ausdruck zu Boden und ich fragte mich, ob sie an dieselbe Erinnerung denken musste wie ich. Daran, dass ihre Mutter und meine dieses Lied immer sangen, während sie gemeinsam das Abendessen machten. Damals, als sich alle noch verstanden.

„Geh dich einfach begraben, Katie“, sagte ich.

„So wie dein Vater?“

Alle Luft wich aus meinen Lungen. Ich versuchte, den Gedanken an meinen Papa, wie er zerschmettert und blutend auf dem Boden lag, wegzuschieben, aber das Bild hatte sich in meinem Kopf tief eingebrannt.

„Katie, hör auf“, sage Rhianon leise.

„Du verteidigst sie?“ Katie zog die perfekt geformten Augenbrauen hoch.

„Er war immer noch mein Onkel.“

Meine Hand verkrampfte sich so fest um das Sandwich, dass die Thunfisch-Mayonnaise auf den Ärmel meines schwarzen Oberteils spritzte.

„Oh, nimm es nicht so schwer“, sagte Katie. „Ich bin sicher, Mami wird das für dich rauswaschen.“ Sie stolzierte davon, während ich versuchte, den Fleck mit den Fingern wegzukriegen, aber alles nur noch schlimmer verschmierte. Ich sah zu, wie Rhianon und Kieron Katie hinterherliefen und sich an einen fast vollen Tisch am anderen Ende des Raumes quetschten.

Wir hatten im Geschichtsunterricht einmal etwas über eine Kolonie Lepra-Kranker in Griechenland gelernt. Als ich alleine dasaß, von leeren Plätzen umgeben, wusste ich, dass ich nicht nur sozial ausgestoßen war, ich war diese ganze Insel.

Wütend schnipste ich ein Stück Mais auf den Boden und fühlte mich fast sofort schuldig. Mama gab sich solche Mühe und ich war in letzter Zeit eine solche Zicke gewesen. Ich wünschte, ich könnte ihr alles erzählen. Wie einsam ich war. Wie viel Angst ich hatte. Manchmal hörte ich sie nachts weinen. Ich versteckte dann immer meinen Kopf unter dem Kissen. Jeden Tag ging ich ihr aus dem Weg. Ich hatte Angst, dass die Wahrheit herauskommen würde, sobald ich mit ihr sprach. Ich wollte nichts sagen oder tun, das Mamas Erinnerungen an Papa verderben könnte, sie hatte schon genug Sorgen. Ich wollte nicht, dass sie schlecht über mich dachte, aber ich fragte mich: Wenn sie es doch wüsste, würde sie ihn hassen und weniger vermissen? Es war unmöglich, zu wissen, was ich tun sollte, was das Richtige war.

Als ich daran dachte, wie ich ihre Verabschiedung ignoriert und ihr die Tür vor der Nase zugeschlagen hatte, fühlte ich Panik in mir aufsteigen. Sie war alles, was ich noch hatte, und ich wusste nicht, was ich tun würde, wenn sie sich auch noch von mir abwandte. Ich ballte die Hände zu Fäusten und biss mir auf die Lippe, um die Tränen in meinen Augen zurückzuhalten. Ich war dabei zu schrumpfen so wie Alice, als sie im Wunderland den Zaubertrank zu sich nahm. Regen trommelte auf das gewellte Dach und das zusammen mit den Gesprächen, dem Lachen und dem Klappern des Geschirrs war plötzlich unerträglich.

We’re Off to See the Wizard. Ich stellte mir die Stimme meiner Mama vor, wie sie eins unserer gemeinsamen Lieblingslieder sang.

Der Druck auf meiner Brust ließ nach und ich hatte das Bedürfnis, mich mit Mama zu versöhnen. Ich holte mein Handy aus meiner Tasche. Sofort blinkte eine Nachricht von Rhianon darauf auf.

Ich schließe aus den süßen Sandwiches mal, dass du deiner Mutter IMMER NOCH NICHT die Wahrheit über deinen Vater erzählt hast?

Angst füllte meinen leeren Magen. Wie lange konnte ich es noch geheim halten?

Papas Hand an meiner Wange.

Versprich, dass du es nicht verrätst, Tilly.

Kapitel sechs

Laura

Ich umarmte das Kissen fester und fühlte, wie es sich an meine Kurven anschmiegte. Die Kurven, die Gavan früher jeden Samstagmorgen geküsst hatte, während ich mich tiefer unter der Decke versteckte, und mich beschwerte, dass es viel zu hell sei, mit der Sonne, die wie ein feuriger Scheinwerfer durch die dünnen Vorhänge fiel und jede Unreinheit und Delle beleuchtete.

„Laura, ich habe Marshmallows von deinem Bauch gegessen, dir Schokolade von den Schenkeln geschleckt, Sahne von überall gesogen.“ Er hielt meine Hände über dem Kopf fest. „Du bist wunderschön. Versteck dich nicht.“

Wäre er noch bei mir, würde ich in meiner glorreichen Nacktheit aufstehen und meine Cellulite und Dehnungsstreifen stolz zur Schau stellen. Ich würde ihm erlauben, mich zu lieben, wie er es wollte. Wie ich es brauchte. Ich drückte mein Gesicht in sein Kissen und sog die Luft ein, langsam und tief. Jede Nacht sprühte ich Boss Aftershave auf Gavans Bettseite. Die Laken rochen nach ihm, aber irgendwie taten sie es auch nicht. Das Parfüm war seins, eine Flasche, die ich ihm letztes Weihnachten geschenkt hatte. Aber es war nicht dasselbe. Der Unterton von Moschus fehlte. Sein ganz eigener Gavan-Geruch war weg und ich konnte ihn einfach nicht rekreieren.

Musik dröhnte aus Tillys Zimmer, mit einem so lauten Bass, dass die Wand zwischen unseren Zimmern wackelte, aber ich rief ihr nicht zu, dass sie leiser machen sollte. Der Lärm erinnerte mich daran, dass ich trotz des Lochs in meiner Brust nicht allein war. Sie war früh wach für einen Samstag. Ihre Tür wurde aufgeschlagen und ein paar Sekunden später knallte die Badezimmertür zu. Siebzehn Jahre und auf dem Weg zur Uni und sie wusste immer noch nicht, wie man eine Türklinke bediente. Ich riss mich von meinem Bett los, das zu groß für eine Person war, und schlüpfte in meine Hausschuhe und einen Morgenmantel. Es war kühl.

„Guten Morgen“, rief ich aus dem Flur. „Ich mache mir Toast. Willst du auch welchen?“

„Schneidest du ihn in Herzchenform?“, feuerte sie durch die Tür, die uns trennte, zurück. Ich zögerte. Es gab so viel, das ich sagen wollte, aber ich wusste nicht, wo ich anfangen sollte. Also schluckte ich meine Worte hinunter, stopfte die Hände in meine Taschen und ging die Treppe hinab, um die Heizung anzumachen.

Als mein Frühstück fertig war, erwachte der uralte Boiler langsam zum Leben. Ich aß am Tisch und ließ den Kaffee, der dick wie Sirup war, und den süßen Geschmack der Marmelade die letzten Reste des Schlafes vertreiben. Ich las den Brief der Versicherungsgesellschaft noch einmal:

Sehr geehrte Mrs Evans, nach sorgfältiger Überlegung müssen wir Ihnen leider mitteilen, dass wir ohne eine ...

Die Worte begannen hinter dem Tränenschleier hin und her zu springen, bis sie sich auf der Seite zu etwas Neuem zusammensetzten. Etwas Besserem. Einer Zukunft. Ich spähte noch einmal in den Umschlag, um vielleicht dort etwas Hoffnung zu finden – ein zweites Blatt billigen Papiers, auf dem stand, dass das alles ein Fehler wäre, dass sie natürlich bezahlen würden. Die Versprechen ihrer schicken Werbekampagne halten würden. Plakate voller wunderschöner Schauspieler mit genau der richtigen Menge an Ausdruck in ihren Gesichtern. Ihre zu perfekten Lächeln vertrieben ihr Stirnrunzeln, während Ironstone Versicherungen versprach: „Wir sorgen uns, damit Sie es nicht müssen.“

Verdammte scheiß Lügner!

Ich konnte nicht noch Wochen oder Monate warten, bis die Ermittlungen abgeschlossen war. Und was, wenn der Untersuchungsrichter beschloss, dass es kein Unfall gewesen war?

Die Wahrheit, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit.

Ich war schon einmal fast gebrochen worden. Das durfte nicht noch mal passieren. Ich musste mich um Tilly kümmern.

„Mama?“

Ich wischte mir mit dem Ärmel über die Wange, um meine Tränen zu trocknen, und versuchte ihr zuzulächeln. Tilly sah ohne die dicken schwarzen Linien, die sie sich normalerweise unter die Augen malte, so jung und unsicher aus, mit ihrem Eisbärenschlafanzug und ihren Pinguinhausschuhen.

„Mir geht‘s gut. Ich wollte heute Morgen bei Tante Anwyn und Onkel Iwan vorbeifahren. Kommst du mit?“

Gefühle flackerten über ihr Gesicht – sie war schon immer so einfach zu durchschauen gewesen. Überraschung, Zögern, der Wunsch, dass alles sich zum Guten wendete. Bald würde alles wieder so sein wie vorher – Übernachtungspartys mit Rhianon und gemeinsame Familienessen. Es bereitete mir Sorgen, dass sie den Kontakt verloren hatte. Ich konnte verstehen, dass Rhianon sich ihren Eltern verpflichtet fühlte und dass die Gavan zu Unrecht die Schuld für das ganze Chaos gaben. Aber ich hatte gehofft, dass sie nach Gavans Tod für Tilly da wäre. Kieron hatte mit ihr noch vor der Beerdigung Schluss gemacht. Ich war froh, dass sie nur ein paar Wochen zusammen gewesen waren, und ich glaubte nicht, dass es sie neben allem anderen zu sehr mitgenommen hatte. Aber es machte mich wütend, dass er sie so fallengelassen hatte. Ich wusste aus eigener Erfahrung, wie unbequem das Thema Tod selbst für Erwachsene war. Sie vermieden es, mir in die Augen zu sehen, sprachen Gavans Namen nicht mehr aus. Vielleicht war es nicht fair, von einem Siebzehnjährigen zu erwarten, jemand anderen zu unterstützen. Aber ich war sicher, dass jetzt, da Tilly wieder an der Schule war, Rhianon das Richtige tun würde. Sie hatte das Herz am rechten Fleck.

„Es würde mich freuen, wenn du mitkommst.“ Ich wischte die Krümel vom Tisch auf meinen leeren Teller. Wenn ich Tilly an meiner Seite hatte, würden sich die unschönen Ereignisse, als Anwyn und ich in einem Raum gewesen waren, sicher nicht wiederholen. Die messerscharfen Beleidigungen, beißende Wut, Vorwürfe, die wie Dolche durch den Raum geschleudert wurden. Zu meiner Überraschung und Erleichterung sagte Tilly Ja.

Ich hatte geduscht, mich angezogen, die Arbeitsplatten in der Küche mit Zitronenputzmittel gewischt und zu viele Weinflaschen für eine einzelne Person klirrend zum Glascontainer getragen. Und Tilly war immer noch nicht fertig. Ich klopfte oben an ihre Tür und drängte sie, sich zu beeilen, bevor ich die Nerven verlor. Es dauerte noch eine halbe Stunde, bis sie in einer überwältigenden Parfümwolke die Treppe herunter stampfte, mit einem Shirt und einer Hose, die nicht zueinander passten. Sie sah aus, als hätte sie sich die ersten Sachen übergezogen, die auf dem Boden herumgelegen hatten – was hatte sie da oben nur getrieben?