Alles oder nichts im Hier und Jetzt - Tom Növe - E-Book

Alles oder nichts im Hier und Jetzt E-Book

Tom Növe

4,9

Beschreibung

Ein Ferienhaus an der Ostsee, ein erloschener Leuchtturm, ein Retreatcenter und viele offene Fragen. Der Sommer ist schwül und launisch, die Atmosphäre elektrisch geladen. Paul steckt mitten in der schwersten Sinnkrise seines Lebens. Drauf und dran, seine Frau zu verlassen, erliegt er dem Zauber von Femme fatale Irene. Daniel will alte Rechnungen begleichen und bringt sich dabei in Schwierigkeiten. In seiner Verzweiflung nimmt er Streifenpolizistin Patricia als Geisel – und versucht, ihr Herz zu gewinnen. Nichts ist mehr so wie es einmal war, und der Showdown unabwendbar. Denn der korrupte Bulle Ben, ein schmieriger Privatdetektiv und ein charismatischer Guru verfolgen eigene Ziele und schießen quer. Die Zeit drängt, die Windsbraut tobt, die Hüllen fallen. Schließlich geht es um »Alles oder nichts im Hier und Jetzt« ... Eine fesselnde Geschichte um die Macht der Fantasie, um Wahrheit und Freiheit, Erleuchtung, Verwandlung und Neubeginn, Sex und große Gefühle. Mit Tempo und Tiefgang. Und einer Messerspitze Humor.

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Ein Ferienhaus an der Ostsee, ein erloschener Leuchtturm, ein Retreatcenter und viele offene Fragen. Der Sommer ist schwül und launisch, die Atmosphäre elektrisch geladen.

Paul steckt mitten in der schwersten Sinnkrise seines Lebens. Drauf und dran, seine Frau zu verlassen, erliegt er dem Zauber von Femme fatale Irene.

Daniel will alte Rechnungen begleichen und bringt sich dabei in Schwierigkeiten. In seiner Verzweiflung nimmt er Streifenpolizistin Patricia als Geisel – und versucht, ihr Herz zu gewinnen.

Nichts ist mehr so wie es einmal war, und der Showdown unabwendbar. Denn der korrupte Bulle Ben, ein schmieriger Privatdetektiv und ein charismatischer Guru verfolgen eigene Ziele und schießen quer.

Die Zeit drängt, die Windsbraut tobt, die Hüllen fallen. Schließlich geht es um »Alles oder nichts im Hier und Jetzt«…

Eine fesselnde Geschichte um die Macht der Fantasie, um Wahrheit und Freiheit, Erleuchtung, Verwandlung und Neubeginn, Sex und große Gefühle.

Mit Tempo und Tiefgang. Und einer Messerspitze Humor.

Tom Növe (Pseudonym), in Hannover geboren, arbeitet in der Werbebranche und gestaltet seit vielen Jahren Zeitschriften und Magazine, für die er auch journalistisch tätig ist. Über das Lesen und das Rezensieren von Büchern, hat er die Liebe zum Schreiben entdeckt.

Inhalt

Urknall

Kosmischer Orgasmus

Akt mit Mütze

Bedingungslose Hingabe

Schmetterlingsflügel

Abrechnung

Hauptsache Sex

Betrunken im Dienst

Outing

Geständnis

Wasser und Steg

Der Sturm

Erwachen

Erleuchtung mit Scherben

Geschmack der Freiheit

Nachspiel

Let things happenwhile making suresome things don’t.

Calvin Russell

Urknall

 

»Mein Leben ist ein Witz!«, stöhnte er. Anschließend versagte ihm die Stimme. Sein Lachen blieb ihm im Halse stecken, und das kristallene Gleichmaß, das zeitgleich zur Entfaltung gelangte, trug keine Kerbe, keinen Kratzer, nicht einen einzigen Makel davon. Das Leben samt und sonders: ein Witz! Diese schlichte Erkenntnis sprengte ein Ausrufezeichen in sein beschränktes Dasein. Stürzte ihn in einen unbegreiflichen Zustand: Er verschmolz mit dem Sessel, die Wände verschoben sich, und die in der Morgensonne funkelnden Blätter des Fächerahorns spreizten ihre Finger. Er war auf außergewöhnliche Weise ergriffen, bis ins Mark getroffen – und groteskerweise voller Frieden.

Begonnen hatte es keineswegs mit der Nachricht, er sei todkrank und die Planungen für den Winter hinfällig geworden, nein, sein Arzt stellte ihm ein befriedigendes Zeugnis aus. Es kursierte weder das Gerücht, die Zündung einer Atombombe stehe bevor, noch versetzte ihn eine der üblichen Schreckensmeldungen in Schockstarre. Auch die Auseinandersetzung mit Edith, auch ihre absurde Idee hatte er mit dem Schlafanzug abgestreift und in den Wäschesack gestopft. Paul hatte sich vor der Abfahrt hingesetzt und hinaus in den Garten gesehen – da war es passiert.

Sein sprachloser Geist widmete sich einer Bilderfolge, in der Federn auf überfrorenem Schnee landeten, da drängte Edith in sein Bewusstsein – von weit her, sehr weit her –, und er schüttelte die Verwunderung ab. Halbwegs.

»Fahre jetzt«, sagte er und hatte das Gefühl, jemand anderes hätte gesprochen.

Mit einem Mal erschien ihm nichts mehr absonderlich, Ediths Vorschlag, ihr Blick, der mehr als Pauls plötzliche Veränderung widerspiegelte, der schwarze Schwan, der in Zeitlupe wenige Meter vor der Windschutzscheibe kreuzte. Selbst als die Silberlinden, die über der Straße eine flirrende Kuppel bildeten, im Angesicht der tief stehenden Sonne in Flammen aufgingen, hielt sich sein Erstaunen in Grenzen.

Er verzichtete auf die Berieselung mit Hausfrauenpop, so nannte er das Musikprogramm, mit dem Edith am Wochenende das zermürbende Geratter der Waschmaschine, Röcheln und Pfeifen von Mixer und Staubsauger würzte. Er verzichtete auf Werbung, Nachrichten und Gute-Laune-Moderation. Brachte Drängler zur Weißglut, während er stoisch in seinem Kombi über den Asphalt segelte. Vermied jeden Seitenblick, ganz in das Wunder gehüllt, dessen Beschreibung, dessen Einordnung ein utopisches Unterfangen darstellte, ein Wunder, das ihm eine im Grunde erschreckende Einsicht beschert hatte.

Nach fünf Stunden auf der Autobahn kehrten die Gedanken zurück, und die Außenwelt verzahnte sich Stück für Stück zu einem dreidimensionalen Puzzle, in dem Paul wieder einen integrierten, wenn auch wackligen Baustein bildete.

Der letzte Teil der Strecke führte über staubige Landstraßen, entlang wogender Getreidefelder. Die Braut des Windes, die heißblütige Geliebte, von der alte Seeleute berichteten, war zärtlich gestimmt. Und warf heimlich ihre Netze aus.

»Es gibt keinen anderen Mann!«, hatte Edith ihm geschworen, anfangs mit versteinerter Miene und nachdrücklicher als erwartet, er wollte ihr ja lediglich einen Stich versetzen, wollte das Konto der gegenseitigen Verletzungen ausgleichen, nachdem sie sich von ihm abgewendet, seine ihrer Meinung nach provokative Annäherung zurückgewiesen hatte.

Ohne sich umzublicken, war er zur Garage gestolpert, von einem kühlen Fieber ergriffen.

»Es gibt keinen anderen Mann! Du willst dich nur drücken. Weißt du, was du bist? Gewöhnlich bist du… feige.« Edith hatte mächtig aufgedreht, sie pochte auf eine Geste der Versöhnung, sie pochte auf eine eindeutige Reaktion.

Ihre Worte fielen der Bedeutungslosigkeit anheim – Buchstaben, Silben, ein Klang unter Klängen in dem namenlosen Universum, in das eine höhere Macht den nichts ahnenden Paul katapultierte, als er an einem Samstagmorgen des angehenden 21. Jahrhunderts aus dem Fenster sah.

Ihr Vorschlag… absurd. Aber reizvoll. Woher hatte sie bloß die Idee?

Am Scheitelpunkt der Anhöhe bremste er und betrachtete das Ferienhäuser und Teile des Strands überragende Grün, betrachtete den Horizont, eine fein gebogene Linie, an die sich das Meer heftete, die den Himmel auf ihre Schultern nahm. Erhobenen Hauptes trugen ungestüme Wellen Kronen aus Schaum ans Ufer. Wolken, flüchtig in die Weite drapiert, traten auf der Stelle. Paul schaltete in den Leerlauf und trudelte im Passat den Weg hinunter.

Er wusste, dass er nicht zurückkehren würde. Egal was passierte. Vor einem Jahr hatte er gemeint, es zu wissen. Das Jahr davor war es mehr eine Ahnung gewesen.

Mit Sicherheit gab es eine vernünftige Lösung, zum Greifen nah, waren die Dinge nicht so kompliziert, wie sie sich darstellten.

Im Schlafzimmer, man betrat es direkt nach dem Öffnen der Eingangstür, Architekten, die so was verzapften, gehörten bestraft, im Schlafzimmer hing der Geruch der Verwesung – unter dem Bett siechten Teppiche dahin, verschnürt und vergessen. Er riss die Fenster auf, er schleppte naserümpfend Reisetasche und Malzeug ins Haus, er verstaute den Proviant. Das Weinangebot der umliegenden Supermärkte war, gelinde gesagt, bescheiden. Paul hatte vorgesorgt.

Vollgestopft mit Sperrmüll und kuriosen Auswüchsen – ein dicker Hund, was Heimwerker so fabrizierten –, schob die abgelebte Hütte jeglicher Herzlichkeit einen Riegel vor. Der aus einem Eichenstamm gefertigte und von Eisenfüßen getragene Tisch, an dem er ein ums andere Mal seine Schienbeine ramponiert hatte, war nur das i-Tüpfelchen der gestalterischen Irrungen, die fraglos krankhaftem Geiz entsprangen. Als Alfred, Ediths Onkel, der Vorzeigewichtel skandinavischer Weihnachtsmärchen, mit roten Bäckchen die Schlüssel überreichte, seinen Bart kraulte und stolz auf Renovierungsmaßnahmen hinwies, hatte Paul, kein Freund von Flohmärkten, ratlos zu Boden gesehen. Wo sein Blick an Alfreds Ledersandalen und nackten Füßen hängen blieb. Es war Mitte Dezember! Die Frage, ob er zu den Verrückten gehöre, die mit Spitzhacken Löcher ins Eis brachen, um schwimmen zu gehen und sich die Eier abzufrieren, hatte er sich verkniffen.

Alfred, der das Ferienhaus zur Entsorgung seines ausrangierten Mobiliars missbrauchte, einschließlich des Dachbodens, des Gartenhäuschens und der Bettunterseite, hatte die Veranda frisch gestrichen und ihnen einen Sonderpreis gemacht. Zehn, zwölf Jahre war das her, und Edith beharrte darauf, die gemeinsamen Urlaube ab sofort in diesem gemütlichen Häuschen zu verbringen. Und zwar ausschließlich hier. Im Oktober oder zur Jahreswende. Ungeachtet dessen, dass Paul nach Sonne lechzte, nach lauschigen Nächten unter dem südlichen Sternenhimmel. »Warum, in Gottes Namen, Reisekataloge wälzen? Wozu der Stress?«, wägte sie in seinem Beisein ab. »Sollen von mir aus andere in Indien an der Gelbsucht verrecken, vor Australiens Gold Coast als Haifutter enden oder in Ägypten in die Luft gesprengt werden.«

Sie liebte das Reizklima. Er wollte seine Ruhe und gab nach.

Um Abstand zu bekommen, damit sie wieder aufeinander zugehen konnten, hatten sie entschieden, ihre Ferien getrennt zu verbringen, er im Sommer, sie im Herbst. Was den Abstand vergrößerte. So flog Paul nicht in den Süden, er fuhr Richtung Norden und residierte in Onkel Alfreds stinkiger Hütte. Aus Angst, dreitausend Kilometer Luftlinie würden einen Graben aufreißen, der die maroden Grundmauern ihrer Beziehung zum Einsturz brachte. Dabei hatte die Talfahrt längst begonnen. Sie waren aneinandergekettete Häftlinge, sie sicherten sich gegenseitig beim Abstieg. Ein Erdrutsch – und peng! Sobald Paul ein Brecheisen in die Finger bekam… Ruhig Blut, dachte er, ruhig Blut. Eine Lösung war zum Greifen nah. Eine vernünftige.

Edith war gefeit gegen Kälte, gegen Hagel und Sturm. Zerschlissene Teppichböden der untersten Kategorie, braun lackierte Stühle, Radios mit Wurfantenne, Kuhglocken, all das Zeug, das die Raumluft verpestete, konnte ihr nichts anhaben. Ohne Skrupel servierte sie einen Gran Reserva in Plastikbechern. Oder einem der Senfgläser, aus denen jedes Getränk nach Regenwurm schmeckte. Sie fand Weine, die allenfalls zum Reinigen angebrannter Töpfe taugten, interessant.

Was durch die Tür passte, brachte er unters Carport. Bis auf Schaukelstuhl und Wandspiegel.

Dann stoppte er vor dem Eichenstamm. »Monstrum!«, zischte Paul durch die Zähne. Seine Schienbeine kribbelten. Ein Kran wäre vonnöten, viel besser: eine gut geschmierte Kettensäge. Doch er brauchte einen Tisch. Er zerrte die Matratzen vor den Kaminofen aus Stahlblech, den hatte Edith aus der eigenen Tasche bezahlt, besprühte sie mit Deo und bereitete sein Schlaflager. Kopfschüttelnd nahm er die Chose in Augenschein, der Anblick ließ seine Lendenwirbel aufjaulen, die Bandscheiben machten bereits Freudensprünge, auf Rosen war er nicht gebettet. Zu allem Überfluss kroch nachts ein kalter Luftzug durch die Hütte, tunnelte das Bettzeug und fuhr ihm ins Kreuz, er war im Bilde, was ihm drohte.

Nach dem Essen stattete Paul der Veranda einen Besuch ab. Sie fing den Duft von Blumen und Sträuchern ein und war verhältnismäßig einladend. Leider hatte Alfred die Dielen versaut, schwarz getüncht, dass nadelspitze Holzfasern strammstanden. Und den Garten ließ er schleifen, der Wicht, alles keimte, wucherte, rankte. Rasen, vorzeiten als solcher erkennbar, nun ein Gestrüpp vor dem Herrn, mauserte sich zum Paradies für Zecken.

Abermals bekam seine Wahrnehmung einen Knick: Über der Buddleja tanzten Schmetterlinge im Kreis, Birken leuchteten von innen heraus, sogar ansonsten sture Wacholder schienen beseelt zu sein. Aus den Stümpfen der von Alfred massakrierten Kiefern quoll bernsteinfarbiges Blut. Die Weide trauerte.

Paul kämpfte gegen eine diffuse Unruhe an. Wurde er krank? Schnappte er über?

Er klemmte Badetuch und Pullunder unter den Arm, wählte den Rioja, elegant und körperreich, nahm das von Zuhause mitgebrachte Weinglas und ging los.

Die Ostsee spuckte aus, was schwer verdaulich war. Und was Designer per Mausklick eliminierten. Leser von Reisemagazinen hatten eine Schwäche für blitzsaubere Strände.

Paul fand eine Stelle, an der er verschont blieb vom ernüchternden Zeugnis, wie es niedergeschmetterte Krabben und entkräftete Quallen der Willkür der Elemente ausstellten, er schob Algen oder was auch immer das für Meeresgemüse war zur Seite und entfaltete im Schutz der Heckenrosen das Badetuch.

Der Wein förderte seinen Zauber zutage, sorgte für Erdung und duselige Gelassenheit. Noch einmal stellte die Sonne ihre Strahlkraft zur Schau, bevor sie versank, hinter der Landzunge im Westen, dort, wo der Leuchtturm stand. Und der, der zeigte sich von seiner dunklen Seite.

Natürlich dachte er daran. An das, woran er schon lange dachte. Dass er etwas Neues, Erfüllendes anfangen wollte, dachte an seinen verwegenen Entschluss, Edith zu verlassen. Bereits die Vorstellung verlieh ihm Flügel.

Schenkte man Statistiken Glauben, hatten verheiratete Männer das große Los gezogen, die Lebenserwartung von Junggesellen war vergleichsweise deprimierend. Aber auch ein Tier in Gefangenschaft überlebte Artgenossen in freier Wildbahn, wer das vergaß, hatte selbst Schuld. Wenn Enge und Frustration der Preis waren, warum zögerte er noch?

Wie dem auch sei, der Begriff Leben hatte sich am Morgen seiner Abfahrt in neuen Dimensionen offenbart. Unfassbar, erst jetzt kam er dahinter. Obwohl er kein bisschen verstand… und auf unerklärliche Weise doch.

Langsam ging dem Wind die Puste aus, er lag ruhig da, der Strand, menschenleer. Beinahe, denn bei den Stegen, Treffpunkt geschwätziger Möwen, schlenderte sie mit Bedacht durchs Wasser, das Kleid bis zu den Hüften gerafft.

Sorgfältig faltete Paul sein Hemd und legte es aufs Badetuch, zog Hose, Socken, Unterhose und Armbanduhr aus. Und machte große Augen. Das Meer gebar eine Sichel aus Gold, sie stieg empor zu einem Himmel in allen erdenklichen Blautönen. Die Meeresoberfläche ähnelte Geschenkpapier aus glänzender Folie, die unsichtbare Hände in Schwingung versetzten, auf ihr schimmerte das Mondlicht, auf ihr hüpften Sterne bei der kleinsten Bewegung.

Neben einem Ruderboot, es schwebte wie ein Schiffchen aus Seidenpapier, tauchte Paul ein in die Kulisse aus Tausendundeiner Nacht. Seine Grenzen schwanden dahin, verflüssigten sich in einem Ozean aus Vertrauen und Geborgenheit. Paul war glücklich, so glücklich, dass er die Zeit vergaß, dass er für einen nicht enden wollenden Augenblick vergaß, wer er war und wo er sich befand.

Kosmischer Orgasmus

 

Am nächsten Morgen fühlte sich Paul wie eine Stahlsehne, auf die Vorschlaghämmer eindroschen, bis ein Wahnsinniger den Bolzenschneider zückte und sie aus der Verankerung trennte. Mit anderen Worten: Extreme Anspannung ging in splissige Verwindung über. Das Zittern im Innern wollte nicht ausklingen. Kurz und gut: Es ging ihm miserabel.

Dabei hatte er fabelhaft geschlafen. Wogen der Glückseligkeit trugen seinen Dreimaster zu einer Insel, seiner Insel. Einhelliger Jubel, ein Volk in Harmonie mit der Natur, prachtvoll geschmückt, hieß ihn willkommen, ihn, den zurückgekehrten Sohn. Sein Stamm, seine Brüder und Schwestern. Und seine Frau, die sich, herausgeputzt wie die Opfergabe für den Gott der Ekstase, nach ihm verzehrte.

Warum musste er die Flasche bis auf den Bodensatz leeren?! Wie lange hatte er als Treibgut zugebracht? Um welche Uhrzeit und vor allem wie war er zurück ins Ferienhaus gelangt?

Er sah den Tatsachen ins Gesicht. Der gestrige Tag war absonderlich gewesen, in jeglicher Hinsicht. Etwas war ausgehakt. Die Nachwirkungen trafen ihn mit voller Wucht, er bekam einen Denkzettel verpasst, einen Bumerang zwischen die Hörner.

Wenn er andere Paare betrachtete, was bei denen los war! Besaß er das Recht, die Taue zu kappen? Sprach irgendetwas gegen einen letzten Versuch?

Gedankenspiele waren kein Verbrechen. Doch gestern war er bereit, sie guten Gewissens in die Tat umzusetzen.

Wie gut kannte er sich? Wozu war er fähig? Er wäre nicht der Erste, der die Lunte ans Pulverfass legte und seine Vergangenheit unter Schutt und Asche begrub. Ganz zu schweigen von denen, die ein Gemetzel in der Innenstadt anrichteten. Und hinterher? Blackout. Zeitungen waren voll von solchen Tragödien. Neulich etwa: Der Altenpfleger mit der Planierraupe.

Was für ein Horror, die Beherrschung zu verlieren. Fehlleitungen im Gehirn, ausgelöst durch anarchische Synapsen, ein Tumor, der auf wichtige Schaltstellen drückte und falsche Befehle auslöste, davor hatte Paul Angst. Riesenangst. Richtig Schiss! Alzheimer war dagegen das kleinere Elend, man kriegte wenigstens nicht mit, was man anstellte.

Manchmal überspannte er den Bogen, hatte bedrohliche Fantasien, so ein beklemmendes Brainstorming war schwer zu unterbinden. Er musste wieder runterkommen! Er versuchte es. Erst vor vier Wochen war er durchgecheckt worden, mit EKG und allem Drum und Dran.

Schwarzer Tee, extrastark und mit Sahne und Honig, brachte ihn stets zur Ruhe. Bei der Suche nach der Teekanne wanderte sein Blick nach oben und verhedderte sich in den Auswüchsen von Alfreds Sammelleidenschaft. Spezialgebiet grüne Flaschen. Alfred spülte und entstaubte sie regelmäßig! In Reih und Glied standen sie auf den Schränken über der Küchenzeile. Bedauernswerter Ausdruck einer Verrücktheit, die (bisher) keine gewalttätige Form annahm, ungestraft blieb und im Großen und Ganzen nichts durcheinanderbrachte. Ein willkommenes Alibi für ungezügeltes Saufen, vermutete Paul. Einzelstücke von der Taschenflasche bis zur Magnum. Mal aufwendig mit Wappen verziert, mal schlicht, mal derb, gertenschlank oder kugelrund, unförmig und schief. Ihm kam die Idee zu einem Animationsfilm für einen protestantischen Getränkegroßhändler. Alfreds Flaschen-Kollektion als Gospelchor mit menschlichen Zügen. Er selbst vorneweg als sonorige Solostimme, die sich nach einem Halleluja mit Châteauneuf du Pape füllte. Alfred als vorlauter Flachmann mit glasigen Augen, der den Ton nicht halten konnte und sich vorzudrängeln versuchte.

Klarer Fall, er würde ausgezeichnete Werbefilme kreieren. Stattdessen demütigten sie ihn mit jeder Neueinstellung eines unverbrauchten Kreativen. Hauptsache, man kam von der Akademie. Hauptsache, man stieß Wortblasen aus wie Shop Development, Digital Workflow, Sales promotion competition. Unermüdlich wurde er in der Agenturhierarchie nach unten durchgereicht, und sie nötigten ihn zu Arbeiten, für die er nicht studiert hatte.

Nach dem Frühstück überwand Paul seinen Hangover, noch so ein Begriff, von den jungen Wilden in die Agentur eingeschleppt, entschied das Tauziehen gegen die labile Psyche zu seinen Gunsten, war von der Grenzlinie, hinter der er kapituliert hätte, weit genug entfernt, dass er vertrautes Terrain betrat.

Unter einer schmutzigen Himmelskugel spazierte er westwärts, während die Sonne sich durch die Schlieren fraß und mit flackernden Lichtkegeln den Strand nach wer weiß was absuchte. Die Brandung änderte zwanglos den Rhythmus, Kiesel wirbelten klackend und glucksend durcheinander.

Mit wachsender Faszination verfolgte Paul die auf- und abtauchende Flosse eines Schweinswals, der ihn dicht an der Küste begleitete, wanderte mechanisch weiter, ganz in die Beobachtung des kleinsten Wals unseres Planeten vertieft. Es fehlte nicht viel, und er wäre über Katharina gefallen. Die meditierte im Schneidersitz und hatte sich ihrer Umgebung angepasst, ein Chamäleon wäre vor Neid erblasst. Soviel zu Pauls Entschuldigung. Er beteuerte, das sei typisch für ihn, er sei nun mal ein Blindgänger.

Katharina fiel sofort auf: Sein drittes Auge war hochgradig blockiert.

»Ich bin neulich gegen eine Glastür gestiefelt«, tröstete sie ihn. »Im Prinzip läuft jeder mit Scheuklappen durch die Gegend.« Sie rückte ihren beigen Pulli zurecht, Pauls Fußspitze war in der Kängurutasche hängengeblieben. Sie ordnete die Haare, das waren Fäden aus Sand, die auf ihre Schultern rieselten. »Mangelnde Präsenz«, lautete ihr Resümee.

»Ich heiße Paul«, sagte Paul.

»Katharina.« Auf keinen Fall wollte sie Kathi genannt werden, wie ihre unbelehrbaren Eltern es taten. Und weil sie ständig auf ihr Alter angesprochen wurde, beugte sie den Schätzungen vor, zwischen sechzehn und achtundzwanzig schwankten die! »Ich werde demnächst vierundzwanzig.«

Die Diskrepanz zwischen ihrem sommersprossigen Gesicht einerseits und der Ernsthaftigkeit, die sie aus allen Poren verströmte, andererseits, erschwerte anscheinend ihre Einordnung ins Raster der Vorstellungen. In Wirklichkeit sehnte sie ihren zwanzigsten Geburtstag herbei. Gleichaltrige waren ihr zuwider, das alberne Gehabe peinlich. Daher der kleine mathematische Bonus, von dem sie sich ein gebührendes Maß an Akzeptanz erhoffte. Getratsche über Mode und Schönheit, pubertären Schwärmereien für Promis und deren hirnlose Ergüsse konnte sie rein gar nichts abgewinnen. Katharina hatte früh begriffen, dass es tiefere Einsichten gab als einen gepuderten Ausschnitt, dass es Zeitverschwendung war, ihre Energie mit so wichtigen Dingen wie Cellulite, Chatrooms und Smartphone-Tarifen zu vergeuden. Sie reichte Paul das Buch von S.O.T. Deshalb war sie hier. Deshalb hatte sie sich auf den Weg gemacht. Sie interessierten tiefgründige Themen. Offiziell ließ sie im Urlaub die Seele baumeln, ihre Eltern hielten Erleuchtung für ein physikalisches Phänomen, einen Blitz oder eine erstrahlende Glühbirne.

»Mein gefühltes Alter ist fünfundsechzig«, klagte Paul, »das tatsächliche liegt etwas über dem Durchschnitt der Gesamtbevölkerung.«

Er las den Titel laut vor: »source of truth«. Der Autor beschied sich mit dem Kürzel S.O.T.

»Quelle der Wahrheit«, übersetzte Katharina. »Sein Name.«

»Donnerwetter… «

»Kommst du auch zum Retreat?«

»Ri… was?«

»R, e, t, r, e, a, t. Mit S.O.T.« Sie zeigte auf den Leuchtturm, denn Paul sah sie an, als hätte sein limbisches System einen Aussetzer, als müsste er Babylonische Keilschrift von ihren Lippen ablesen.

»Ständig werden neue Vokabeln in Umlauf gebracht. Chill mal, Alter, ich hab gleich ein Meeting mit dem Key Account. Kümmer dich um den Usability Check vom Klickdummy, wir wollen beim Pitch on top sein.« Er schraubte den Hals in die Luft und schnitt Grimassen. »Da lob ich mir ZZ Top: Gimme all your lovin’ nana nana nanana.«

Katharina schmunzelte. Sisi Topp? Ein seltsamer Vogel, dieser Paul. »Retreat bedeutet Rückzug, eine Auszeit aus dem Alltag. S.O.T. ist ein spiritueller Meister, ein Erwachter.« Augenblicklich schwang Begeisterung in ihrer Stimme. »Stell dir vor, allein durch seine Gegenwart kannst du erleuchtet werden. Er gibt dir Antwort auf jede Frage. Von überall her reisen Leute an, um in seiner Nähe zu sein.«

»So einen Retreat mach ich gerade. Raus aus der Tretmühle. Zwei Wochen.« Ein Hinterwäldler war er nicht, er hatte schon einiges läuten hören. Esoterik war angesagt. In der Agentur standen Slogans wie Ich will ganz ich selbst sein oder Wellness für die Seele hoch im Kurs. Und neuerdings lotete Edith in einem Yogakurs achtsam ihre Grenzen aus und mäkelte an Pauls Ego herum. Selbstverwirklichung nannte sie das.

Beim Blättern in dem Buch, das Katharina die Augen geöffnet hatte, stieß er auf das Kapitel Kosmischer Orgasmus.

»Ein sexueller Höhepunkt reicht nicht im Entferntesten an die orgiastische Explosion heran, die dir die Erkenntnis der Wahrheit beschert«, zitierte Katharina, sie wählte den Tonfall eines Pharmareferenten, der sein Abführmittel seriös an den Mann bringen wollte. Um möglichst cool zu wirken. Ein weiterer Unterschied zu Gleichaltrigen – niemandem, wirklich niemandem würde sie das auf die Nase binden: Sie hatte bisher mit keinem Mann geschlafen, freiwillig, bewusst, und autoerotische Versuche vorerst eingestellt. Es gab da einen dumpfen, hartnäckigen Widerstand. Den überwinden, oje, das hieß hinabsteigen in ein unterirdischen Labyrinth mit Falltüren, angespitzten Pflöcken und Schlangengruben.

Paul stellte sich die Frage nach dem letzten Orgasmus. Wann hatten sie den Geschlechtsverkehr eingestellt, wann hatte Edith ihm den Hahn zugedreht? Vor zwei, drei oder vier Jahren? Die lässige Offenheit dieser jungen Frau beeindruckte ihn. Unter Garantie hatte Katharina Sex bis zum Abwinken und plauderte mit ihren Freundinnen über Intimrasuren, über Silikon und Gleitmittel, die Ortung des G-Punkts. Bei Chips und Cola. Was ihn betraf, er entwarf Kampagnen für Parfums aus der Serie Herbstblüte, er war am sexuellen Tiefpunkt angelangt.

»Verstehe«, nickte Paul. Bloßstellen wollte er sich nicht. Auf keinen Fall weiter über Orgasmen sprechen!

Er begleitete sie zum Leuchtturm. Sie überhäufte ihn mit ihrem Wissen über den ewigen Urgrund, aus dem alles entstand, verriet ihm ihre Sehnsucht, hinter die Dinge zu schauen, schilderte ihr Streben nach Reinheit, nach Sinn, die Abscheu gegen Oberflächlichkeit. Und immer wieder Liebe, leerer Raum, Befreiung.

»Wir sind ein Streichholz, das mit der Geburt entzündet wird. Wir starren auf die Flamme, wir starren und starren. Und nehmen den Raum nicht wahr, in uns, um uns herum, überall. Woher bekommt die Flamme den Sauerstoff, der sie am Leben hält? Was bleibt – Flamme oder Raum? Das Streicholz brennt und brennt, und was machen wir? Wir trödeln.«

Paul konnte nicht folgen, doch er fing auf der Stelle Feuer. Er hatte Dinge gesehen, die jedem den Atem verschlagen hätten. Er hatte seine Grenzenlosigkeit erfahren, sich beinahe aufgelöst. Der Morgen seiner Abfahrt, die Schmetterlinge, die Bäume, das Meer!

Eine innere Stimme rief ihn zur Ordnung, eine Stimme mit Einfluss. Warnte ihn davor, sich einlullen zu lassen von der Präsentation eines schwammigen Produkts aus dem Erleuchtungssektor, unsichtbar wie der angebliche Hauch Verwegenheit in Herbstblüte.

»Und?« Katharina konnte hartnäckig sein.

»Schätze, das ist nichts für mich«, blockte Paul ab.

»Das ist die Chance.«

»Ich will noch einen Freund besuchen.«

Katharina kramte einen Programmzettel hervor. »Täglich elf Uhr. Zusätzlich Montag und Dienstag fünfzehn Uhr. Offener Satsang.« Sie betonte jedes Wort, als wäre es heilig. »Zusammensein in Wahrheit. Dauert zwei Stunden, und was riskierst du dabei?«

»Tja…«

»Nichts!«

Pauls mentales Immunsystem kam in Bedrängnis. »Ich lass es mir durch den Kopf gehen.«

»Toll! Bis morgen.«

Sie war nervös. Ziemlich nervös. Hoffentlich machte Paul keinen Rückzieher. Immerhin einer, den sie bereits kannte und der weniger Ahnung hatte als sie. Sie würde auf die Cracks der spirituellen Szene treffen, die waren ihr meilenweit voraus.

An der Tür baumelte ein selbstgebasteltes Plakat mit dem Hinweis auf das Retreat. Sie folgte dem abknickenden Pfeil und Anweisungen eines Schildes, zog die Schuhe aus und betrat den Gruppenraum.

»Hi!« Manu flatterte in ihrem indischen Kleid auf Katharina zu und umarmte sie flüchtig. »Manu…«, hörten sie jemanden von irgendwoher rufen. »Sofooort! Herrschaft noch mal, um alles muss man sich selber kümmern. Nich’ so unschlüssig, such dir ’n Schlafplatz aus. Bist eine der ersten. Trag dich in die Anwesenheitsliste ein, liegt auf’m Tisch. Die anderen Räume zeig ich dir gleich. Der CD-Player spinnt schon wieder, hätt ich mir nur nich’ so ’n Schrottgerät andrehen lassen. Kennst du dich mit so was aus? Ich muss unbedingt ’n neuen kaufen.« Sie flog davon und beorderte den Bärtigen, der sich mit dem eingeklemmten Reißverschluss seines Rucksacks anlegte, an die Stereoanlage.

»Hui, da bin ich wieder. Nun geht’s aber los!«

Die Hausführung begann: »Unsere Gemeinschaftsküche. Das da sind Helga, Su, Jessica und Ananda, unser Dream- Team für super super geiles Abendessen.« Vierstimmiges Hallo! »Ayurvedisch, biologisch, vegan«, trällerte Manu. »Mmm, ich kann’s kaum erwarten. Tschau, ihr Süßen, bis nachher.«

Vom Gemeinschaftsflur ging die Gemeinschaftsdusche ab, das stille Örtchen ließ sich zum Glück abschließen. Manu hatte den Leuchtturm gekauft, ihr kleines, feines Eigenheim danebengesetzt und nach und nach um das Retreatcenter erweitert.

»Mein Traum«, schwärmte sie, »is’ in Erfüllung gegangen. Und ER is’ da. Wieder da. Gestern noch Goa – und heute… hier! Is’ das nich’ fantastisch!«

»Bin unheimlich gespannt. Und etwas aufgeregt«, räumte Katharina ein. Ganz wohl war ihr nicht, bei so viel Gemeinschaftssinn.

»Er is’ großartig, wie soll ich sagen, menschlich, wie du und ich. Beim ersten Mal is’ dieser wunderbare Platz noch ’ne Baustelle gewesen. Und wir? Vielleicht sechs, acht Leute. Ein wilder Haufen. Eine wilde Zeit. Heute füllt er ganze Hallen.«

»Ich hab einen leichten Schlaf. Gibt es keine Einzelzimmer?«

»Einzelzimmer? Hab ich ’n Hotel? S.O.T. kriegt natürlich eins, bei mir. Sonst würden alle über ihn herfallen.« Ihr entfuhr ein süffisantes Kichern. »Wirst schon niemand stören. Wir sind ’ne große Familie. Bist herzlich willkommen. Eine Bitte, da bin ich penibel: Räum deine Sachen nach’m Aufstehen in ’n Flur. Und nach’m Frühstück sammel ich das Geld ein. Der Satsang läuft extra.«

Manu fiel einer alten, ganz ganz lieben Freundin um den Hals, die seit geraumer Zeit in ihrem Windschatten lauerte. Katharina kam sich verloren vor.

Der Alte im Unterhemd hob die zusammengewachsenen Augenbrauen – eine auf seiner Stirn ruhende, wollige Raupe –, schmückte seine schiefen Zähne mit einem breiten Grinsen und verschwand im Haus, ein gedrungener Bau aus Natursteinen, Wellblech und von der Sonne gebleichtem Holz war das, auf dem Dach wuchsen Moose und von den Fenstern blätterten Schichten von Farbe ab. Als Paul es erreichte, kam Hans ihm mit zwei Flaschen Bier in der Hand entgegen.

Amüsiert prosteten sie den Kormoranen zu, die aufgebrachte Bande geriet in Streit, Sitzplätze waren rar gesät, und so turnten sie um die in einer Reihe ins Wasser stolzierenden, vor Pech triefenden Pfähle herum, schubsten und hackten aufeinander ein.

Paul klemmte sich hinter den Tisch, der, unermüdlich vom gesalzenen Wind bearbeitet, ebenso zerfurcht war wie Hans.

Die Bank war hart, aber das machte nichts, sie streckten die Füße aus, alles war perfekt.

Ein Seeadler schreckte die Raben des Meeres auf. Bald besetzten sie wieder ihre Stammplätze und lagen sich in den Federn.

»Bekommst du mit, was beim Leuchtturm los ist?«

Hans antwortete mit einem Achselzucken.

»Ich überlege, mich von Edith zu trennen, wir haben totale Schlagseite. Ich sag was, ich tu was, und sie geht in die Luft oder spricht tagelang nicht mit mir. Ich halte die Klappe, ich halt mich zurück, und sie ist beleidigt. Sie will was von mir, und ich frag mich, was will sie eigentlich von mir? Und was ich will, bekomme ich nicht. Zwischendurch läuft es, irgendwie. Ich hab ständig Bauchschmerzen. Soll man einen sinkenden Kahn verlassen? Soll man versuchen, ihn flottzukriegen?«

Sollte er einer verrückten Idee folgen oder zusehen, dass er das rettende Ufer erreichte?

»Manchmal beneide ich dich. Du brauchst dich nur um dich selbst zu kümmern. Andererseits würde ich alleine durchdrehen. Auf Dauer. Nur, mit Edith zusammen…«

Zwei schwere Wolkenbänder pressten eine Zitrone, sie spritzte gelbe Streifen über den Himmel. Hans tauschte die leeren Flaschen gegen volle aus. Er konnte nebenbei dies und das zurechtrücken, Fisch auf dem Grill wenden, die Hosenträger richten, es änderte nichts. Er redete ohnehin kaum ein Wort, und das spitzte sich extrem zu. Wenn er es nicht besser wüsste, er müsste davon ausgehen, dass Hans stumm war.

Beichtvater und Freund zugleich, beherrschte Hans wichtige Kleinigkeiten, die Edith vermissen ließ: Er hatte nie etwas auszusetzen, er verschonte ihn mit seinen Problemen, er strahlte eine schier beängstigende Gelassenheit aus. Paul lag auf der Couch und plapperte drauflos, während Hans ihn verstand. So einfach ging das!

Er machte es einem wahrlich leicht, Paul hatte ihn auf Anhieb ins Herz geschlossen, nur wer Genügsamkeit mit Verzicht verwechselte, wer in jeder Suppe ein Haar fand, brächte es fertig, an Hans etwas zu beanstanden. Bei einem dieser erschöpfenden Spaziergänge in Windjacken und Gummistiefeln, Gott sei Dank gehörte das der Vergangenheit an, Edith bestens gelaunt und er verschnupft und durchgefroren, wollte Paul gerade das Handtuch werfen, da winkte Hans sie zu sich herüber. Zu der Zeit brachte er noch ganze Sätze zustande und seine Netze waren gut gefüllt. Mittlerweile lag das Boot auf dem Trockenen, mit dem Kiel nach oben.

Keine zehn Minuten hatte es Edith bei ihm ausgehalten. »Was bitte findest du spannend an einem verschrobenen Einsiedlerkrebs? An der Flasche hängen und die Wellen zählen, ist es das, was du brauchst?« Außerdem mochte sie keinen Fisch.

Der arbeitslose Seemann und der degradierte Werbefachmann verstanden sich ohne Worte. Sie redeten nichts herbei, führten weder rechthaberische Diskussionen noch lamentierten sie stundenlang über ihr Los, im Großen und Ganzen nahmen sie die Dinge, wie sie waren. Wäre Paul gezwungen zu wählen, zwischen einem, der ohne Punkt und Komma seine Weltanschauung verkündete, und einem, der seine Zunge im Zaum hielt – nicht eine Sekunde würde er zögern.

Auch die Behausung, in der Hans weitab vom Treiben der Geschwätzigen lebte, verzichtete auf Schnörkel, war karg wie die Gesten seines Bewohners.

Unbeeindruckt von Blitz und Donner und zweischneidiger Flaute, bildete Hans den Fels in der Brandung, den Ankerplatz für Pauls wankelmütige Innenwelt. Und für Hans war Paul wie ein Sohn. Der selten zu Besuch kam. Aber Zeit war nicht das Maß aller Dinge. Hans hatte sich immer einen Sohn gewünscht.

»Morgen bin ich beim Satsang. Ein Erleuchteter. Beim Leuchtturm. Es geht um… um… heiliger Bimbam, das ist schwer zu erklären«, sagte Paul.

Der Abend senkte sich auf die Erde, Geräusche gewannen die Oberhand, es rauschte, gluckste, raschelte und knackte.

Im Retreatcenter wälzte sich Katharina in ihrem Schlafsack. Um sie herum setzte zufriedenes Schnarchen ein.

Als Paul sein Feriendomizil erreichte, verglühte ein interplanetarisches Materieteilchen beim Eintritt in die Erdatmosphäre. Er hätte gern der Finsternis einen Wunsch anvertraut, einen seiner geheimen Wünsche – aber, wie so oft, konnte er sich nicht entscheiden.

Akt mit Mütze

 

Lustlos kaute Paul auf einem Brötchen vom Vortag herum. Kramte in Prospekten, die sich neben dem erkalteten Kaminofen dreinschickten, verheizt zu werden. Erlag der schizophrenen Umarmung der Melancholie. Prospekte waren so was von megaout. Nimmersatter Zeitgeist raffte alles im Eiltempo dahin. Paul würde gern etwas Bleibendes schaffen.

Er versuchte vergeblich, kontroverse Gedanken zu zerstreuen. Sie kreisten um das Gespräch mit Katharina, um den Satsang, um kosmische Orgasmen, sie bohrten einen lästigen Stachel in Pauls Phlegma. Spontaneität und Eindeutigkeit zählten nicht zu seinen Stärken. Doch hatte er einmal sein Wort gegeben, war auf ihn Verlass, sein Wort war so sicher wie die Kombination aus Pille und Enthaltsamkeit. Er hasste Leute, die alles Mögliche versprachen und keins ihrer Versprechen hielten.

Genau genommen konnte von einer Zusage nicht die Rede sein. Lediglich vom Zugeständnis, dass er sich das Ganze durch den Kopf gehen ließ. Wer weiß, was ihn erwartete? Eine Sekte. Hippies. Weltfremde Spinner. Auf der Suche nach Wahrheit… Nach Wahrheit!

Er hatte gelernt, dass Wahrheit kreiert wurde. Er glaubte an nichts mehr. Herbstblüte war ein synthetischer Cocktail aus dem Labor der Bedürfnisforschung, ein kalkulierter Liebesschwur, ein künstlicher Kuss. »Edith, ach Edith«, seufzte Paul.

Er öffnete die Terrassentür, trat hinaus auf geteerte Dielen, ging die Stufen hinunter, dass es knarzte. Zum Unkraut konvertierter Rasen, ohne Schnitt und Kultur, baute sich flegelhaft vor ihm auf, unreine Birkenhaut hing in Fetzen herab, und heute fand er woanders statt, der Tanz der Schmetterlinge. Die Trauerweide trauerte sowieso.

Sie hatte gewusst, er werde kommen. Er müsse nichts tun, keine Sorge, ein Loch in den Socken, wen solle das stören? Auch nicht zwei, Äußerlichkeiten seien völlig nebensächlich.

Die Wirbelsäule durchgedrückt, versenkte Paul den Steiß knirschend im Meditationskissen und bog seine Knie zu den Ecken der Isomatte, die Katharina für ihn ausgebreitet hatte.

»Vor dem Frühstück vergriffen, sämtliche Decken…«, informierte sie ihn. »Pssst, sei leise.«

Katharina zwinkerte ihm aufmunternd zu, trotz der unruhigen Nacht, der Typ mit dem verklemmten Reißverschluss hatte hemmungslos geschnarcht, zwinkerte ihm zu, obwohl die anderen auf unzertrennlich machten und sie noch Anschluss suchte. Zum Glück war Paul da.

Ihr Nebenmann, der Designer mit den durchlöcherten Socken, verschaffte sich einen Überblick: Das Gros der Anwesenden – Frauen. Darunter exotische, beunruhigende Exemplare. Farbenfrohe Kleidung, saloppe Haltung dominierte auch bei den männlichen… Wahrheitssuchern, Schülern… Jüngern? Einige relaxten halb ausgestreckt, halb übereinander in Klappstühlchen ohne Beine, also, die Leute hatten schon welche, Beine, die Klappstühlchen nicht. Paul beschlich das Gefühl, dass er sich mit seiner übertrieben eifrigen Positur als steifer Neuling outete. Lange würde er das nicht durchstehen. Absolute Schwachstellen, sein Kreuz, Gelenke und Bänder. Zudem bildete er die Spitze der Alterspyramide.

Warten auf S.O.T. Das allgemeine Interesse galt der Tür zum Saal und dem Thron, einem mit Tüchern geschmückten, von Rosen und Kerzen gerahmten Sessel. Hier ein Räuspern, dort ein Kichern, Rangeleien um aussichtsreiche Sitzplätze, vorsorgliche Toilettengänge. Ständig nuckelte jemand an einer Wasserflasche, der Flüssigkeitsbedarf war enorm. Fenster auf, Fenster zu, die eine erstickte, der andere erfror.

Unversehens erklang ein monotones Lied. Eine Handvoll Insider stimmte ein, murmelte fremdartige Formeln. Die Kassenwartin, am Eingang mit freundlichem Nachdruck ums Einsammeln der freiwilligen Spende bemüht, gab am Keyboard den Ton an, war, Refrain auf Refrain, alleinige Herrscherin über den Schlussakkord einer musikalischen Endlosschleife.

Paul döste vor sich hin. Es wurde still und stiller. Ganz still…

Katharina stupste ihn mit dem Ellenbogen an. Auf dem Thron hatte ein Mann mit kurz geschorenem Haar Platz genommen. Er war schätzungsweise in Pauls Alter, trug einen eleganten Judoanzug, verströmte Unbeirrbarkeit und Seelenruhe. Er musterte die Satsang-Gemeinde (kollektive Erstarrung, Seufzen, Stöhnen). Erkannte lieb gewonnene Schülerinnen, ambitionierte Schüler. Schenkte seine Aufmerksamkeit auch dem aufgeregten Neuling. Der infolgedessen ein Déjà-vu der besonderen Art durchlebte – Architektur zeigte Auflösungserscheinungen, die Isomatte verwandelte sich in einen fliegenden Teppich, und sein Verstand zerbröselte, wurde atomisiert, in alle Himmelsrichtungen verstreut. Schärfer als eine funkelnde Klinge, dieser Blick mitten ins Herz. Seine Botschaft: »Ja, Paul, du kostest soeben die Wahrheit, süße, nährende Wahrheit.« Wie dem auch sei, Paul interpretierte es so, nachdem er die Besinnung wiedererlangt hatte.

Als Katharina an der Reihe war, fühlte sie sich ertappt. Ihre Schutzmechanismen? Außer Kraft gesetzt. Wertlos, schuldig, so fühlte sie sich. Sie senkte den Kopf und sackte zusammen. Sie hatte versagt, jämmerlich versagt.

S.O.T. erhob die Stimme. Seine Ausführungen unzweifelhaft und rein – »We are one« –, was zählte es schon, dass Paul mit der englischen Sprache auf Kriegsfuß stand, dass er der Übersetzung keine Aufmerksamkeit schenkte, er hatte verstanden! »Wir sind eins.« Du und ich. Du und ich und alle fühlenden Wesen. Mensch, Tier, Natur und Kosmos. War es nötig, mehr zu verstehen?

Nach seiner Verbeugung umstellten dankbare Verehrer, entzückte Verehrerinnen den Meister. Paul gesellte sich zu den Wartenden, er wollte ein persönliches Wort erhaschen. Und musste mit einem mildtätigen Schulterklopfen vorliebnehmen.

Dann vermisste er Katharina. Er ging sie suchen. Sie kauerte unter dem Leuchtturm.

»Was ist los?« Schweigend ließ er sich an ihrer Seite nieder und wartete ab.

»Ich pack meinen Kram«, sagte sie schließlich.

»Wie bitte?! Das ist die Chance! Hast du das vergessen?«

»Ich hab mich total blamiert. Bin eben nicht reif genug.«

»Was meinst du, wie oft ich mich schon blamiert hab. Erst gestern. Über dich gestolpert bin ich, über einen ausgewachsenen Menschen. Dumm gelaufen sozusagen. Kennst du wen, außer mir, dem so was passiert?«

»Nee, woher denn«, gab sie zu.

Der wiedererstarkte Paul, vor wenigen Stunden noch lustlos und niedergeschlagen, nahm die Entmutigte in den Arm. Wie gut das tat!

»Morgen ist ein neuer Tag. Morgen sieht alles ganz anders aus. Morgen um elf. Abgemacht?«, lag er ihr in den Ohren. »Abgemacht??«

»Okay.«

Leichten Schrittes ließ Paul sich treiben, war eins mit dem Meer, war eins mit dem Wind, eins mit den Wolken – und übersah die herzförmige Muschel. Übersah die Muschel, obwohl sein Herz offen war für die Schönheit der Existenz. Oder gerade deshalb, gerade deshalb, weil ein offenes Herz keinen Unterschied machte zwischen einer herzförmigen und einer gewöhnlichen Muschel? Nun, ein Herz war nicht wie das andere.

Schon bald setzte sein Verstand ein, übte Kritik, die schwer von der Hand zu weisen war. Paul hatte genug Sorgenfalten. Er würde S.O.T. fragen. Jede Frage war erlaubt. Jede!

Ein mildes Lüftchen wiegte blühenden Strandhafer, allenthalben raschelte und knisterte es. Das Wetter gelangte zu keinem Entschluss, variierte von zugezogen über leicht bewölkt bis sonnig.

Paul hatte lange nicht mehr gemalt und für alle Fälle Pinsel und Farben eingepackt. Er gliederte Himmel und Meer nach dem goldenen Schnitt. Er wies dem Ruderboot, das sein Gnadenbrot in seichtem Gewässer fristete, im unteren Drittel einen kompositorisch gewichtigen Platz zu. Ihm gelangen feinste Lasuren. Er war so bei der Sache, erst als er von seinem Malblock aufsah, erst als er Abbild und Wirklichkeit miteinander verglich, bemerkte er die Veränderung: Schräg links vom Boot war ein kaum zu übersehendes Detail hinzugekommen – eine Feuersäule, bei genauer Betrachtung eine Frau, knallrotes Oberteil, so rot, dass es weh tat in einem Landschaftsgemälde der Ostseeküste, so rot, es grenzte an Hexerei, dass ihr Haar nicht tatsächlich Feuer fing.

Zuerst der Versuch, sie zu ignorieren. Dass ihr Oberteil nicht nur knallrot, sondern auch knalleng war, ermunterte Paul, er integrierte ihren Rücken – ihren Rücken! – als Akt. Ein klassischer Kontrast zum dahinsiechenden Boot. Mit einem zarten Rosa – rötliches Neapelgelb und in den Schattenpartien Lichter Ocker und Grüne Erde – konnte er sich durchaus anfreunden.

Sie fegte den Sand von ihrem Rock, ihrem roten Rock, und schlenderte Richtung Malblock, hinter dem der Künstler die Hüften seiner Ostsee-Aphrodite modellierte und einen birnenförmigen Hintern schuf, einen Hintern, bei dessen Erwähnung Bildanalysen unweigerlich in erotische Fantasien abgleiten mussten.

»Sie schmeicheln mir« – amüsierter Seufzer der abgeklärten Frau, die der idealisierten Darstellung ihrer Problemzonen mit gespielter, gleichwohl dankbarer Verzückung begegnete.

»Oh!« – kleinlaute Erwiderung des enttarnten Voyeurs, der begriff: zu spät, um hinter den Heckenrosen abzutauchen.

»Zu viel rot… rot…«, stotterte Paul. »Darum ohne… die Sachen.«

»Ich habe kurz überlegt, ob ich es mir leisten kann, das enge Top, den knappen Rock. Bei meiner Figur. Was meinen Sie?«

»Es gibt gleich Regen«, meinte Paul, sortierte widerborstige Pinsel und stieß das Wasserglas um.

Sie lächelte. Herausfordernd. »In Anatomie kennen Sie sich gut aus.«

»Nicht mehr als jeder andere.«

»Ein nackter Mensch hat etwas Unschuldiges.«

Paul fiel keine schlaue Erwiderung ein. Zudem wurde ihr Gespräch, seiner Meinung nach, voreilig persönlich.

»Wenn er mit unschuldigen Augen betrachtet wird«, ergänzte sie.

Wer hatte schon unschuldige Augen, dachte Paul.

»Respekt, Sie haben die Fähigkeit, einen Körper in seiner Reinheit darzustellen, lassen ihm seine Würde.«

»Sie übertreiben.«

»Sie möchten mehr von mir malen«, behauptete sie. »Eine Frau will ja auch mehr sein… als nur Beiwerk.«

»Kommen Sie nachher zu mir.«

Besorgt euphorisch, dezent beschwingt frisierte Paul Alfreds griesgrämige Hütte um. Der Schaukelstuhl, in weißes Bettlaken gehüllt, erinnerte entfernt an ein Objekt von Christo. Unverschnürt, er wollte es nicht gleich übertreiben. Die Matratzen des Künstlers, stilecht auf dem Boden, erhielten ebenfalls ein frisches weißes Laken. Hinter dem Holzstapel neben dem Ofen versteckte er seinen Schlafanzug, mit dem ließ sich kein Staat mehr machen. Eine Tischdecke aus weißem Laken, davon gab es zuhauf, bewahrte den Eichenstamm vor ironischen Kommentaren. Alles erstrahlte in Weiß, unbefleckt wie die Leinwand vor dem ersten Klecks. Sah man von gelben Kanten ab, außerdem hing hier und dort ein Faden herunter und durch abgewetztes Gewebe schimmerte der Untergrund.

Er begutachtete sein Werk. Das Atelier des Aktmalers, die Wirkstätte eines verwegenen Freigeistes sah anders aus. Immerhin, Farbspritzer und Grundiermasse (ein Rest Quark) auf dem Tischlaken waren gelungen. Und unübersehbar glänzte auf der Arbeitsplatte in der offenen Küche neben der Weinflasche das bemüht seriöse Männermagazin, kurzentschlossen beim Kiosk erstanden. Paul demonstrierte zwanglosen Umgang mit blanker Haut. Die Titelseite, kompromisslos von einem Dekolleté halbiert, spiegelte sich im körperreichen Pinot Noir, der den Einstieg in Pauls gewagte Verabredung erleichtern sollte.

Er hatte gut eingeheizt und gönnte sich ein Glas vorab. Der Pfeife rauchende Kapitän, den er unbedingt noch abhängen musste, stierte unter seiner Regenkappe hindurch aus dem Bilderrahmen an ihm vorbei. Suchte er Alfreds Schiffsleuchte, von Paul als Plagiat enttarnt und aus dem Atelier verbannt? Sah er der letzten Fahrt entgegen, bevor sein durchgefaulter Kutter verschrottet wurde? Verschmähte die Tochter den Sohn des ersten Steuermannes und hatte sich stattdessen in einen orientalischen Tänzer verschossen? Die Leidensgeschichten sämtlicher Seefahrer dieser Welt verdichtet zu einem Ausdruck wie geschnitzt, ohne Rücksicht auf Klischees, auf ernsthafte Künstler.

»Du, mein Meer, mein stolzes Meer, wie oft hab ich dich bezwungen«, intonierte Paul voller Pathos. »Du, mein Meer, mein stolzes Meer, wirst auf immer und ewig unergründlich bleiben. Du, mein Meer, mein stolzes, steifes Meer, sag mir, wie bring ich meine Lütte wieder auf Kurs, wie kann ich verhindern, dass sie mit der tanzenden Schwuchtel in den Hafen der Ehe schippert?«

Er sperrte den engstirnigen Kapitän zur Schiffsleuchte in die Besenkammer.

Wäre ihm die Frage nach seinem Befinden gestellt worden, hätte er geantwortet, er fühle sich zu allem fähig und zu nichts bereit – oder umgekehrt.