Querverkehr - Tom Növe - E-Book

Querverkehr E-Book

Tom Növe

4,7

Beschreibung

Wie können wir erkennen, dass uns das Schicksal die Hand reicht? David hat Job und Wohnung gekündigt, das Flugticket in der Tasche und den Aktenkoffer voller Geld. Fünfzehn lange Jahre der Vorbereitung liegen hinter ihm. Da ruft die siebzehnjährige Nicole an und behauptet, er sei ihr Vater. Zähneknirschend und grübelnd erwartet David in der leeren Wohnung das Eintreffen der vermeintlichen Tochter. Davon unbeeindruckt zieht die attraktive Nachmieterin Angelina ein... Die desillusionierte, verheiratete Maria hat den alten Pietro bis zu dessen Tod gepflegt und sein heruntergekommenes Hotel geführt. Alessandro reist aus Italien an, um seinen Großvater zu beerdigen. Er ist von Maria fasziniert und macht ihr den Hof. Maria ist verwirrt. Sie begeht eine Dummheit, die beide in Gefahr bringt... Während sich die Geschichten der Protagonisten ineinander verstricken, funken ein eifersüchtiger Totengräber, ein Maskierter mit Waffe und ein durchgeknallter Weltverbesserer dazwischen – schließlich geht es um Liebe, Geld und durchkreuzte Pläne. Eine, nein, zwei außergewöhnliche Liebesgeschichten. Mit Tempo und Tiefgang. Und einer Messerspitze Humor.

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Wie können wir erkennen, dass uns das Schicksal die Hand reicht?

David hat Job und Wohnung gekündigt, das Flugticket in der Tasche und den Aktenkoffer voller Geld. Fünfzehn lange Jahre der Vorbereitung liegen hinter ihm. Da ruft die siebzehnjährige Nicole an und behauptet, er sei ihr Vater.

Zähneknirschend und grübelnd erwartet David in der leeren Wohnung das Eintreffen der vermeintlichen Tochter. Davon unbeeindruckt zieht die attraktive Nachmieterin Angelina ein…

Die desillusionierte, verheiratete Maria hat den alten Pietro bis zu dessen Tod gepflegt und sein heruntergekommenes Hotel geführt. Alessandro reist aus Italien an, um seinen Großvater zu beerdigen. Er ist von Maria fasziniert und macht ihr den Hof. Maria ist verwirrt. Sie begeht eine Dummheit, die beide in Gefahr bringt…

Während sich die Geschichten der Protagonisten ineinander verstricken, funken ein eifersüchtiger Totengräber, ein Maskierter mit Waffe und ein durchgeknallter Weltverbesserer dazwischen – schließlich geht es um Liebe, Geld und durchkreuzte Pläne. Eine, nein, zwei außergewöhnliche Liebesgeschichten. Mit Tempo und Tiefgang. Und einer Messerspitze Humor.

Tom Növe (Pseudonym), in Hannover geboren, arbeitet in der Werbebranche und gestaltet seit vielen Jahren Zeitschriften und Magazine, für die er auch journalistisch tätig ist. Über das Lesen und das Rezensieren von Büchern, hat er die Liebe zum Schreiben entdeckt.

Inhalt

David

Alessandro

David

Alessandro

Ernst

David

Alessandro

David

Ernst

Alessandro

David

Alessandro

David

Ernst

Querverkehr

Alessandro

Maria

Angelina

Ernst

Maria / Alessandro

Angelina / David

Von sehr weit her,

wie weit entfernt,

kamst du…

kamst du mir vor,

kamst du mir

kreuz und quer.

DAVID

Er hätte sich selbst erwürgen können. Geradezu unbarmherzig machte sie sich aus dem Staub. Regelrecht hochnäsig flog sie davon. Mit einer widerlichen Leichtigkeit, mit einer arroganten Selbstverständlichkeit. Gleichzeitig kehrte eine erdrückende Last in seinen Körper zurück, die alte, quälende Hypothek. Fünfzehn Jahre hatte er auf diesen Tag hingearbeitet. Fünfzehn Jahre! Er hatte nichts dem Zufall überlassen, die Vergangenheit restlos ausradiert. Sogar der Himmel tat sich auf an diesem Morgen, an dem endlich sein Leben beginnen sollte. Seit Wochen die gleiche rosafarbene Brühe, Tag und Nacht, und dann waren tatsächlich Löcher aufgebrochen.

Ein unwirkliches, türkises Licht verschluckte die Maschine. Die Wolken schoben sich wieder ineinander. Er zerfetzte das Ticket und ließ es wie Schneeflocken auf sich herabrieseln. Ging in die Hocke und vergrub sein Gesicht in den Händen. Wenn er doch nur den verdammten Anruf aus dem Kopf bekäme! Bis zum Flughafen hatte er sich eingeredet, dass es sich um einen schlechten Scherz handeln müsse.

David lag bäuchlings auf dem Boden und starrte auf das Telefon, das vor einer Ewigkeit verstummt war. Und nun das! Wieso hatte er sich einen Anrufbeantworter aufschwatzen lassen? Und wofür? Die Familie war ausgestorben, seine Freunde interessierten sich schon lange nicht mehr für ihn und mit den Kollegen – einer misstrauischer als der andere – verbrachte er mehr Zeit als nötig. Trotzdem hatte er jeden Abend, sobald er von der Arbeit nach Hause kam, auf das Display geschaut – anfangs voller Erwartung, später aus Gewohnheit.

Warum musste ausgerechnet gestern…?

Zunächst war es ihm gelungen, jedes einzelne Wort aus seinen Gedanken zu tilgen. Nichts und niemand hätte ihn zurückhalten können. Er war mit Reisetasche und Aktenkoffer ins Taxi gestiegen und zum Flughafen gefahren. Und dann, dann rief plötzlich ein kleines Kind nach seinem Vater. »Papa«, rief es. »Papa«, schrie es mit verquollenen Augen. Die riesige Halle, die rastlosen Menschen – und niemand nahm Notiz von dem verzweifelten, alleingelassenen Kind.

Er drückte die Wiedergabetaste und zuckte ein weiteres Mal zusammen, als die Nachricht abrupt endete. Am Abend vor der geplanten Abreise die erste Mitteilung überhaupt und die Scheißkiste blockierte! »Ich dachte mir, dass wir uns am…« Schluss. Aus. Sie wollte sich mit ihm treffen. Nur, wann und wo?

Völlig absurd: Unversehens war er Vater geworden. Ein Missverständnis. Was sonst? Theoretisch war es natürlich möglich.

»Hier ist Nicole. Deine Tochter. War ganz schön schwierig, dich zu finden. Hast nichts von mir gewusst, oder? Ich auch nicht von dir. Erst jetzt, wo Mutter tot ist… Dachte mir, dass wir uns am…«

Die Stimme einer jungen Frau. Älter als fünfzehn, jünger als zwanzig, schätzte er und suchte nach einem Anhaltspunkt. Doch das Archiv seiner sentimentalen Erinnerungen war ein einziger Trümmerhaufen – namenlose Gesichter, konturlose Körper – und verbarg sich hinter mühevoll errichteten Mauern, an denen er um keinen Preis rütteln wollte. Mauern, die zu bröckeln begannen, denn er dachte bereits an sie. Mauern, die jäh zusammenstürzten, denn wie hätte er sie vergessen können?! Ihr war alles zuzutrauen.

Die Briefe! Sie schrieb lange Briefe. Als sie noch nicht zusammenlebten. Er hatte fast alle aufgehoben. Auch den letzten. Vor allem den letzten!

Er kramte das Päckchen aus der Reisetasche, das sauber verschnürt all die Jahre im Banksafe zwischen den Wertpapieren gelegen hatte. Damit er nicht in Versuchung kam. Und um ihr möglicherweise irgendwann nachzugeben und weiter nach einem Hinweis zu suchen, der ihm entgangen war. Der Anruf warf ein neues Licht auf die Geschehnisse. Er zog den Brief aus dem Umschlag. Den letzten. Er sah sich in der leer geräumten Wohnung um. Wie damals.

Liebe macht verletzlich. Ich habe dich viel zu sehr geliebt. Was bekommst du eigentlich mit? Such nicht nach mir. Tu mir wenigstens den einen Gefallen. Ich muss gehen. Muss! Es gibt keinen anderen Weg. Veronika.

Wie lange hatte er sich das Hirn zermartert, um zu verstehen! Liebe macht verletzlich. Liebe macht blind und taub. Und manchmal stumm.

Wie sollte es nun weitergehen? Er konnte nicht zwischen den Zeilen lesen, er fand keinen Hinweis. Wenn sie schwanger war, warum hatte sie ihn dann verlassen?

Draußen unverändert rosarote Suppe. Ohne Uhr konnte man glatt das Zeitgefühl verlieren. Mit dem Brief in der Hand schlief David neben dem Telefon ein.

Henri, der eigentlich Heinrich hieß, konnte weder Spiegeleier braten noch brachte er einen ausgewachsenen Kaffee zustande.

»Einen strammen Max für Tisch drei und ein Pils für Tisch fünf.« Die Serviererin – dem Tonfall nach zu urteilen, seine Frau – hielt ihn auf Trab. Der arme Henri hetzte sich in der Küche ab.

David schob die wabbelige Masse zur Seite. Blätterte flüchtig in der Tageszeitung. Vor dem Café lauerten heruntergekommene, neidische Typen, drückten ihre Nasen an der Fensterscheibe platt und glotzten gierig auf seinen Teller.

Die Arbeitslosenquote betrug fünfunddreißig Prozent. Er dachte an seinen Aktenkoffer. Er hatte es sich hart erarbeitet. Ein neuer Anfang war alles, was er sich wünschte. Sein Aktenkoffer! Zu lange durfte er nicht unbeaufsichtigt bleiben.

Display auf null. Kein neues Lebenszeichen von ihr. Möglicherweise wartete sie irgendwo auf ihn. Ein Treffpunkt, den sie ihm vorgeschlagen hatte, ohne zu bemerken, dass der Anrufbeantworter das einseitige Gespräch bereits beendet hatte. Sie würde sich wieder melden.

Er wusch sich die Haare. Das Wasser wurde zusehends gelber und roch nach Desinfektionsmitteln. Der Dreck drehte sich im Kreis, war wie Freund und Feind gefangen unter der Dunstglocke, die sich über die Stadt gestülpt hatte.

Um die Zeit zu überbrücken, zählte er die Scheine. Rief sich das verblüffte Gesicht des Kassierers ins Gedächtnis, die ungläubigen Augen, die schiefe Nase mit der unansehnlichen Warze. »Das ist immerhin ein ziemlicher Batzen Geld. Sie können damit unmöglich allein nach Hause gehen. Ich begleite Sie gern. Sicher ist sicher.«

Was verstand der Junge in seinem Alter schon davon? Wieviel Tropfen Schweiß er gelassen, worauf er alles verzichtet hatte. Das schwarze Köfferchen war von diesem Augenblick an fest mit David verwachsen. Wer es ihm abnehmen wollte, der musste ihn töten.

Er hatte sie alle überrascht. Wer kündigte schon von selbst seinen Job? Wer konnte so dämlich sein?

Fünf Tage gab er ihr. Nein, vier. Das war großzügig genug in seiner Lage.

David hasste leere Räume.

Bereits der Anblick von kahlen Wänden kann alte Wunden aufreißen, Veronika… Ein Meisterstück, zugegeben. So was lässt sich nur von langer Hand planen. Die Wohnung innerhalb von zwölf Stunden leer zu räumen, völlig leer, das ist mehr als abgebrüht. Nichts als einen Brief auf dem Fußboden vorzufinden, das ist, das ist…

Er schlug mit der Faust gegen die Wand. Jede weitere Sekunde, die er festsaß, versetzte ihn mehr und mehr in Rage.

Bei dem Wetter war es fraglich, ob jemals wieder Flugzeuge starten würden. Violette Nebelwände. Es wurde immer bizarrer. Die kleinen Fluggesellschaften waren längst insolvent und die Preise kletterten unaufhörlich in die Höhe. Das nächste Ticket kostete das Doppelte oder das Vierfache, wer konnte das schon voraussagen?

Drei Tage maximal… Wozu brauche ich eine Tochter? Gerade jetzt. Es wird sich als Irrtum herausstellen, als eine Verwechslung.

Es klingelte! Das musste sie sein. Es klingelte nie an der Tür. Wie sah er überhaupt aus? Er fingerte das Hemd in die Hose, brachte die Frisur in Ordnung, drückte den Knopf, mit dem sich die Haustür öffnen ließ, zählte bis zehn und machte auf. Niemand da. Beim Versuch, den Lichtschalter zu finden, trat er auf einen Zettel, hob ihn auf und las, was darauf geschrieben stand: Jesu Christi ist auferstanden! Der Jüngste Tag ist nah!

Die angespannten Verhältnisse raubten immer mehr Leuten den Verstand. Er zerknüllte den Schrieb und pfefferte ihn das Treppenhaus hinunter.

David ging auf den Balkon und nahm sich eine Büchse aus dem Behelfskühlschrank, den er aus dem Karton vom Einkauf gebaut hatte. Mitte Juli und das Bier schmeckte nach Eiswürfeln. Die Sonne war da, wo er hinwollte.

Du brauchst niemandem Rechenschaft abzulegen. Du hast nie irgendwen um Hilfe gebeten. Du bist nichts schuldig geblieben. Vor allem Veronika. Drei Tage. Mehr nicht!

Ob sie Ähnlichkeit mit ihm hatte? Oder mehr mit ihr? Wenn er wenigstens ein Foto von Veronika aufgehoben hätte. Es war einfach zu lange her. Ihr Gesicht… Er hatte es gelöscht. Nein, er wünschte, es wäre so.

Angenommen, sie ist wirklich meine Tochter, überlegte er, angenommen, sie ist einigermaßen umgänglich, was spricht dagegen, sie mitzunehmen? Alles, einfach alles. Ich werde ihr Geld geben. Wenn sie sich ein Bild von ihrem Vater gemacht hat, wird sie zufrieden sein und wieder gehen.

Zu stickig in der Wohnung. Zu eng. Er zog etwas Warmes über, Anrufbeantworter auf Telefon, Zettel an die Tür: Bin gleich wieder da.

Was für eine Waschküche! Nur nicht die Orientierung verlieren! Nur nicht zu weit entfernen. Er hangelte sich, wie in einem Irrgarten, mit einer Hand an den Häusern entlang. Sollte es sich noch mehr verdichten, wird keiner mehr den Supermarkt finden.

Er lehnte sich an etwas Metallisches und verschnaufte. Tastete sich weiter voran. Die dünne Luft brannte ihm in der Kehle. Jemand rempelte ihn an und erschreckte ihn zu Tode. Er war zu unvorsichtig. Schnell zurück!

Wenn er zumindest ein Radio hätte. Die Stille, der Nebel, das Warten – alles war bedrückend. Vor allem die leere Wohnung!

Sobald es aufklart, versorge ich mich mit Vorräten. Für höchstens drei Tage. Der Aktenkoffer… Ist es besser, wenn ich ihn bei mir trage? Oder soll ihn zu Hause lassen? Ihm brummte der Schädel.

Du wolltest, dass wir uns nie wiedersehen. Es ist dir gelungen, Veronika. Absolut. Hast mich fast umgebracht. Hast mich totgeschwiegen, und nun vererbst du mir deine Tochter, meine Tochter… Späte Rache? Konntest du dein Geheimnis nicht mit ins Grab nehmen? Du bist so rigoros gegangen, ohne Vorwarnung – mit unserem Kind in deinem Bauch. Ab dem Zeitpunkt war es ganz allein deine Sache!

Nur Veronika brachte so etwas fertig. Zweifelsohne.

Er klappte beide Flügel der Balkontür auf. Verdammte Hitze. Nahezu tropisch. Eine Luftfeuchtigkeit wie in einem Schwimmbad. Vor wenigen Stunden noch Raureif auf der Bierbüchse und jetzt floss die Butter aus der provisorischen Kühlbox. Was sie wohl in den Nachrichten verkündeten? Sie konnten doch nicht regungslos zuschauen.

Trotz des Fahrverbots stank es nach Auspuffgasen. Krankenwagen bewegten sich wie kurzsichtige Schnecken vorwärts. Es war einfach nichts mehr zu sehen. Da konnte er lange warten. Bis Nicole…

Was für ein Geräusch? Jemand machte sich an der Eingangstür zu schaffen! Er nahm den Aktenkoffer, schloss sich im Badezimmer ein und lauschte. Eine Frau, die vor sich hin redete, spazierte durch seine Wohnung.

David versteckte das Geld in der Nische hinter der Wanne und wagte sich heraus.

Als erstes betrachtete er ihren Hintern. Sie kniete auf dem Boden und streckte ihm ihr Hinterteil entgegen.

»Darf ich fragen, wonach Sie suchen?«

Die Frau erschrak und kullerte auf die Seite.

»Wer sind Sie?«, erkundigte sich David in einem Tonfall, der nicht nur seinem Erstaunen Ausdruck verlieh, sondern sie gleichfalls, Missverständnissen von vornherein vorbeugend, zur unerwünschten Person erklärte.

»Das würde ich von Ihnen auch gern wissen.«

»Ich wohne hier«, sagte er entrüstet.

»Das kann nicht sein, hier wohne ich!«, behauptete sie unverfroren.

Sie schnellte in die Höhe und baute sich selbstbewusst vor ihm auf. Ihre Augen blitzten angriffslustig.

»Komisch, dass Sie mir bislang nicht aufgefallen sind, in meiner Wohnung.«

»Und wie erklären Sie sich, dass ich einen Schlüssel für diese Wohnung habe?«, fragte sie ihn herausfordernd.

»Und was sagen Sie dazu, dass ich mich bereits in dieser Wohnung befinde?«, konterte er.

»Sie könnten ein Einbrecher sein. Was weiß denn ich?«

David registrierte, dass sie so nicht weiterkamen. Sie hatte tatsächlich einen Schlüssel.

»Ich wohne in diesem Haus, in diesen Räumen, seit fünfzehn Jahren.«

»Etwas spartanisch eingerichtet. Finden Sie nicht auch?«

Sie deutete mit einem Nicken hinter sich.

»Ich ziehe aus. In gewissem Sinne.«

»Dann sind wir uns ja einig.«

Sie hob ihren Zollstock auf und vermaß die Fenster.

»Stellen Sie sich dumm? Ich wäre schon längst weg. Es ist etwas dazwischengekommen. Mein Mietvertrag läuft noch bis Ende des Monats. Wir haben den Dreizehnten.«

»Der Vermieter hat mir versichert: Am Zwölften ist der Kerl raus. Sie können dann sofort ihre Sachen reinräumen.«

»Mir hat er nichts davon gesagt. Und überhaupt, sie kommen hier einfach an ohne Voranmeldung. Ohne sich die Wohnung vorher anzusehen.«

»In einer Mansarde ist man den Sternen näher. So habe ich sofort zugeschlagen. Mit emotionalen Entscheidungen bin ich bislang gut gefahren. Außerdem drängte es. Nun, Sie haben Ihren Kram gepackt. Was mich angeht – ich muss noch einiges vorbereiten.«

»Sie nerven. Sie nerven!«

Schon rutschte sie wieder auf dem Boden herum, schmiss den Zollstock durch die Gegend und kritzelte wichtigtuerisch ihre Ergebnisse auf einen Block. Verlegte sie zum ersten Mal in ihrem Leben einen Teppich oder konstruierte sie eine Pyramide?

»Gut. Bleiben wir sachlich. In spätestens vier Tagen mache ich den Abflug. Bis dahin will ich Sie nicht mehr sehen. Danach können Sie hier schalten und walten wie Sie wollen.“

»Diese Hitze… «

Sie setzte sich auf und wischte den Schweiß von der Stirn. Bediente sich, weil ihr nichts Besseres einfiel, eines Reflexes, für den er durchaus empfänglich war, warf sich geschmeidig ins Hohlkreuz und ließ ihrem verschwitzten T-Shirt mithilfe ansehnlicher Brüste gewinnende Ausdruckskraft zuteil werden. War sie mit ihrem Latein am Ende? Hielt sie ihn für völlig bescheuert? Wie dem auch sei: Sie brachte ihn aus dem Konzept.

Nach einigen weiteren Verrenkungen, fuhr sie unbeirrt mit den Planungen fort.

»Wir sind uns also einig?«, hakte er betont freundlich nach.

»In weniger als vierundzwanzig Stunden kommen meine Möbel.«

»Das geht auf gar keinen Fall! Und überhaupt, haben Sie bemerkt, dass die Stadt lahmgelegt ist? Haben Sie mal versucht, auf dem Weg hierher ihre Füße zu sehen? Ist Ihnen aufgefallen, dass in dieser Milchtunke kein Auto mehr fährt? Kein normales Auto mehr fahren darf.«

»Umso besser. Dann gibt es wenigstens keinen Stau.«

»Sie sind nicht nur dreist, sondern auch…«

»Halten Sie endlich mal die Luft an«, fuhr sie ihm über den Mund. »Sagen Sie mir lieber, warum die Badezimmertür klemmt.« Nebenbei hebelte sie grob an der Klinke herum.

»Vielleicht ist die Badezimmertür abgeschlossen?!«

»Öffnen Sie sie, bitte!«

»Nein!«

»Morgen«, sie atmete tief ein, »wenn ich mit den Männern, die mit dem Transporter für mich durch diese ungemütliche Tunke da draußen fahren werden, meine neue Wohnung betrete, dann wünsche ich, dass das Bad frei zugänglich ist!«

»Dass ich nicht lache! Die Verrückten, die, sollten sie überhaupt ihr Auto finden, für ihr Gerümpel Kopf und Kragen riskieren, möchte ich sehen.«

Es waren vier. Ihre Klamotten qualmten, als wenn Räucherstäbchen in den Taschen und Knopflöchern steckten. Sie schleppten immer mehr Smog mit nach oben.

»Wer ist denn das?«, wollte einer von ihnen wissen.

»Das ist der Geist vom Vormieter, ignoriert ihn ganz einfach.«

Schlagfertigkeit gehörte zweifelsohne zu ihren hervorstechenden Fähigkeiten. Und während die anderen schufteten, gab sie Anweisungen, lobte und dankte und trieb die Männer an, wenn einer den Anschein machte, dass er aus den Latschen kippte.

Zuckerbrot und Peitsche. Das alte Spiel. Mach dich nur lustig über mich. Wer sich hier lächerlich macht, wird sich noch herausstellen, amüsierte sich David.

Im Treppenhaus quälten sie sich mit der Waschmaschine. Da baute sich das Biest in bekannter Manier vor ihm auf, warf die rostroten Locken in den Nacken und versuchte, sich bei ihm einzuschmeicheln.

»Haben Sie wirklich die Nacht auf dem harten Fußboden verbracht, Sie Ärmster?«

»Auf einem harten Boden ist man der Realität näher.«

»Ich weiß aus der Zeit, als man draußen noch was sehen konnte«, scherzte sie, »dass ein paar Straßen weiter eine nette Pension mit dem Namen… «

»Lassen Sie das Gewäsch!«, unterbrach er sie. »Ich habe wiederholt zum Ausdruck gebracht, dass ich beabsichtige, noch vier Tage zu bleiben. Höchstens. Dann verschwinde ich auf Nimmerwiedersehen.«

»Ich bezahle Ihnen das Zimmer. Mit Dusche und Farbfernseher, wenn es sein muss.«

»Hören Sie auf, mit den Augen zu klimpern. Ignorieren Sie mich einfach.«

»Angelina-Baby, macht der Fritze Schwierigkeiten?«

Einer der Möbelpacker hatte widerliche Koteletten, das hätte auch jeder andere gefunden, und seine Hände von hinten um ihre Hüften geschwungen. Er wühlte mit der Nase in ihren Haaren und sah David feindselig an.

»Vergiss es, Georg. Hilf mir, das Geschirr einzuräumen. Und nimm bitte deine Hände weg.«

Auf dem Weg in die Küche machte sie sich zaghaft los, doch er hing wie ein Klammeraffe an ihr.

Irgendwann waren sie fertig mit dem Geräume. David hatte seinen Platz am Telefon eingenommen, nicht unweit von einem dunkelroten Sofa. Sobald sie nicht aufpasste, würde er es sich darauf gemütlich machen.

»Willst du etwa die Nacht mit dem Fritzen unter einem Dach verbringen? Das finde ich nicht in Ordnung, ehrlich nicht. Ein Wort von dir, und ich schmeiße den raus! Scheiße, ich sollte besser hierbleiben.«

Sie brauchte eine halbe Stunde, um Georg, der sich echt Sorgen machte, aus der Tür zu schieben.

Endlich kehrte Ruhe ein. Fahles Licht, diffus und unwirklich kroch über den neu verlegten Teppich. David und Angelina-Baby saßen einander gegenüber im gedämpften, unwirklichen Licht – in einem Abstand von fünf Metern. Sie an der Wand auf dem Flur, den Kopf zur Seite geneigt, die Augen geschlossen, die Lippen leicht geöffnet. Er ans Sofa gelehnt, sie über die Schulter hinweg durch den Türrahmen hindurch betrachtend. Erschöpft am Boden war sie ihm wesentlich sympathischer als vorhin, wo sie sich drahtig in die Schlacht warf und ihn in eine Pension abschieben wollte. Ihre Gesichtszüge hatten sich entspannt, ließen sogar einen Hauch von Sinnlichkeit erkennen, der David trotz allem beeindruckte und mild stimmte.

Er nickte kurz ein. Als er die Augen aufschlug, war die Wand auf dem Flur kalt und uninteressant. Angelina-Baby war schlafen gegangen.

Ihre Anwesenheit war immer noch zu spüren. Die Wohnung hatte sich verändert, nicht nur äußerlich. Eine warme Schwingung, ein zartes Vibrieren – es war schwer zu benennen.