Alles über Alzheimer - Gabriela Stoppe - E-Book

Alles über Alzheimer E-Book

Gabriela Stoppe

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Beschreibung

Was bedeutet Demenz für mich? Ist Alzheimer eine Krankheit oder eine Alterserscheinung? Was sind Risikofaktoren und kann ich auf sie Einfluss nehmen und so vorbeugen? Wie und wie sicher kann man die Krankheit erkennen? Was kann ich selber tun? Wird es je die Pille gegen diese Krankheit geben? Was sind die erfolgreichsten Behandlungsansätze? Was tun, wenn Kranke wichtige Entscheidungen nicht mehr selber treffen können? Eine der kompetentesten Spezialistinnen gibt Antworten und nimmt uns so die Angst.

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Gabriela Stoppe

Alles über Alzheimer

Antworten auf die wichtigsten Fragen

KREUZ

© KREUZ VERLAG in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2010

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Christian Langohr

Umschlagfoto: © Bea Pfeiffer

Datenkonvertierung eBook: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (E-Book) 978-3-7831-8168-5

ISBN (Buch) 978-3-7831-3474-2

Vorwort

Vorwort

In den mehr als 20 Jahren, in denen ich mich jetzt mit Demenzerkrankungen beschäftige, ist die Alzheimer-Demenz in das Zentrum des öffentlichen Interesses gerückt. Nach den Befunden von Meinungsforschern ist eine der größten Ängste der Deutschen, im Alter an der Alzheimer-Demenz zu erkranken.

Ausdruck davon mag auch sein, dass sogar in den populären Harry-Potter-Bänden den lesenden Kindern die grausigen »Dementoren« vertraut gemacht werden. Sie bedrohen die ihnen anvertrauten Gefangenen durch Küsse, die fürchterliche Folgen haben:

»Was – sie töten – ? Viel schlimmer als das.

Du kannst ohne deine Seele existieren, solange dein Gehirn und dein Herz noch arbeiten. Aber du wirst kein Selbstgefühl mehr haben, keine Erinnerungen, nein … nichts. Du fristest nur dein elendes Dasein. Als leere Hülle. Und deine Seele hast du verloren … für immer.«1

Die Ängste sagen aber immer auch etwas darüber aus, was uns besonders wichtig ist. Der Begriff Alzheimer ist verbunden mit der Vorstellung von Gedächtnisverlust und Hilflosigkeit. Den Verlust von Kontrolle und damit der Möglichkeit, unabhängig und selbstständig zu leben, fürchten wir besonders. Die Hilfsbedürftigkeit führt nicht nur zu Abhängigkeit, sondern auch zur Belastung von Partnern und Familie. Viele wollen nicht in ein Pflegeheim, nicht nur, weil sie in der Regel teuer sind, sondern auch, weil immer wieder Berichte über Missbrauch, Gewalt und andere unhaltbare Zustände in Pflegeheimen an die Öffentlichkeit kommen.

Unsicherheit und Ängste haben ihren Ursprung oft in Ungewissheit und mangelnder Kenntnis. Wer mag sich schon gerne diesem Thema zuwenden, wer möchte es denn wirklich genauer wissen? Doch früher oder später wird sich wohl jeder mit Alzheimer befassen, sich informieren, seine Fragen stellen, Antworten suchen – sei es, um Orientierung für das eigene Leben zu finden, sei es aufgrund einer persönlichen Konfrontation mit der Krankheit.

Unendlich viele Fragen werden mir von Erkrankten und ihren Angehörigen gestellt, im direkten Gespräch oder bei Vorträgen:

»Was ist überhaupt Alzheimer?«

»Wie entsteht diese Krankheit?«

»Ist es eigentlich eine Krankheit oder werden wir alle daran leiden, wenn wir nur alt genug werden?«

»Was kann ich vorbeugend tun?«

»Welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es?«

»Wie verläuft die Erkrankung?«

»Kann die Erkrankung aufgehalten werden?«

»Worauf muss ich mich hinsichtlich einer Betreuung einstellen – ob als Erkrankter oder als Angehöriger?«

»Welche Hilfen gibt es?«

»Was muss ich wissen hinsichtlich Fahrtauglichkeit und überhaupt Geschäftsfähigkeit?«

»Wird es nicht bald ein Medikament geben?«

»Wo steht die Forschung? Stimmt es, dass es bald einen Impfstoff geben wird?«

»Mehr Alzheimer, mehr Kosten und mehr Personalmangel: Können auch zukünftig Erkrankte hinreichend behandelt und versorgt werden?«

Es ist gut, Antworten zu suchen, es ist der richtige Weg, den Ängsten zu begegnen. Die drängenden Fragen, die mir immer wieder gestellt werden, habe ich sieben Themenkreisen zugeordnet, um die Fragen im Einzelnen zu beantworten, dabei aber auch einen Überblick über die wichtigsten Aspekte zu geben. Abschließend gebe ich Gedanken Raum, die ich für die Gestaltung unserer Zukunft, auch bereits der nahen Zukunft, für wichtig erachte. Denn beim Thema Alzheimer führt das »Hoffentlich erwischt es mich nicht«-Spiel jedenfalls in die Sackgasse. Der aktive Umgang mit Alzheimer eröffnet uns dagegen sowohl persönlich als auch gesellschaftlich vielfältige Chancen.

Ich danke hier allen, die mir in diesen Jahren und bis heute das Verständnis von Demenzen ermöglicht haben. Dies sind vor allem die Patientinnen und Patienten selbst sowie ihre Angehörigen. Sie haben mir vermittelt, dass es nicht nur traurig ist, sondern auch Freude machen kann, das Leben mit den Kranken zu teilen.

Es ist eine schöne Erfahrung, das Größerwerden einer »Bewegung« miterleben und mitgestalten zu können. Ich war bei dem kleinen Kreis der ersten (deutschsprachigen) Treffen der Memory Clinics beziehungsweise Gedächtnissprechstunden dabei, habe immer größere Treffen erlebt und zuletzt die Gründung eines europäischen Vereins mitinitiieren dürfen. Ich habe erlebt, wie auch die Vertretung der Betroffenen in den Alzheimer-Gesellschaften immer »schlagkräftiger« wurde. Neue Medikamente wurden entdeckt und erprobt und neue Pflegekonzepte entwickelt. Es liegt noch viel Arbeit vor uns, aber es ist auch schon viel geschafft.

Ich danke den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die mit mir in den Jahren zusammengearbeitet und geforscht haben. Stellvertretend für alle möchte ich hier Frau Dr. Gerthild Stiens und Herrn Dr. Lienhard Maeck nennen.

Namentlich nicht genannt werden können alle die, die mit mir auf Kongressen und bei anderen Gelegenheiten diskutiert und nach dem »rechten Weg« gesucht haben.

Zuletzt danke ich Frau Dr. Walter vom Verlag, die mich zu diesem – meinem ersten – Sachbuch ermunterte, und Frau Imke Rötger, die dann das Lektorat geduldig versah. Und ich danke Regula Brand, meiner Sekretärin, die mich nach Kräften unterstützte.

Gabriela Stoppe

Was bedeutet Demenz für uns?

Was bedeutet Demenz

für uns?

»Wo kommt überhaupt diese Erkrankung auf einmal her? Früher hat man doch auch nicht darüber gesprochen?«

»Ist es eigentlich eine Krankheit? Oder werden wir alle daran leiden, wenn wir nur alt genug werden?«

»Lohnt es sich denn, so alt zu werden, wenn ich von anderen abhängig bin und denen zur Last falle?«

Alzheimer ist ein Thema, dem wir nicht ausweichen können, eines, das jeden etwas angeht und ebenso die Gemeinschaft, in der wir leben. Es ist ein persönliches und ein gesellschaftliches Thema. Doch wie kommt das? Wie hat sich dieses Thema in unser Leben geschlichen, in unser Denken? Und wieso steht es ganz oben auf der Liste unserer Ängste? Wieso steht ganz oben auf unserem großen Wunschzettel: »Hoffentlich bekomme ich keinen Alzheimer, hoffentlich bleibe ich gesund!«?

Jung und gesund, alt und Alzheimer?

Wie viele Menschen haben bei uns eigentlich Alzheimer?

In den Ländern Mitteleuropas leidet etwa 1 Prozent der Bevölkerung an einer Demenz. Ganz genau kann die Zahl nicht bestimmt werden, weil das Mitzählen eher leichter Fälle eine höhere Fehlerquote zur Folge hat. Andererseits würde der Einschluss nur schwerer Fälle die Zahl unterschätzen.

Die Häufigkeit ist dabei in den verschiedenen Altersdekaden unterschiedlich. Während bei den 65- bis 69- Jährigen knapp 2 Prozent betroffen sind, sind es bei zehn Jahre älteren Menschen schon etwa 6 Prozent und bei den 85- bis 89-Jährigen über 20 Prozent. Insgesamt sind etwa 8 Prozent der über 65-Jährigen betroffen. Wichtig ist, dass nicht nur die Häufigkeit in der Bevölkerung zunimmt, sondern dass auch die Neuerkrankungsrate mit zunehmendem Lebensalter ansteigt. Die weiterhin steigende Lebenserwartung führt zu Hochrechnungen, dass in Deutschland die Anzahl von im Jahre 2010 geschätzt 1,2 Millionen Betroffenen bis zum Jahre 2050 auf eine Zahl von 2,3 Millionen ansteigen wird.2

Diese Prognosen können insbesondere mit dem immer höheren Anteil über 80-Jähriger in der Bevölkerung erklärt werden. So liegt die Lebenserwartung von Mädchen, die heute geboren werden, bereits bei über 80 Jahren. Dies bedeutet einen Anstieg um etwa drei Jahre im Zeitraum von 1990 bis Anfang des Jahrtausends. Die Angaben für die Männer liegen etwa 5 Jahre niedriger. Man kann sagen, dass die heute 60-Jährigen etwa ein Viertel ihres Lebens noch vor sich haben.3

Häufigkeit der Demenzen insgesamt und der Alzheimer-Demenz in Europa nach Geschlecht und Alter (A)4

Häufigkeit von Demenzen insgesamt und der Alzheimer Demenz in Europa in der wahrscheinlichsten Entwicklung bis 20505

Diese nüchternen Zahlen haben nur beruflich mit Alzheimer befasste Menschen im Blick, anderen können sie kaum Anhaltspunkte geben zu der Frage, ob sie persönlich dieses Thema etwas angehen wird.

Ist Alzheimer ein Schicksal, mit dem ich rechnen muss, wenn ich alt werde?

Stattdessen wirken vor allem drei von einander unabhängige Trends in den letzten Jahrzehnten zusammen, prägen unsere Haltung gegenüber Alzheimer und erklären weitgehend unsere Ängste hinsichtlich dieser Erkrankung.

Der erste wichtige Trend ist – wie bereits erwähnt – die steigende Lebenserwartung. Immer wieder können wir lesen, dass die Lebenserwartung über frühere Annahmen hinaus steigt. Ein Junge, der heute geboren wird, hat eine Lebenserwartung von 77 Jahren, ein Mädchen eine von 82 Jahren. Wer 60 Jahre alt geworden ist, kann heute noch auf mindestens 20 weitere Jahre hoffen.

Durchschnittliche und fernere Lebenserwartung bei Geburt und im Alter von 60 Jahren für Frauen und Männerin Deutschland. Veränderungen der letzten Jahre6

Die steigende Lebenserwartung ist eine kulturelle Leistung! Ein sehr wichtiger Beitrag dazu ist die Verringerung der Sterblichkeit sowohl der Kinder als auch der Mütter im Zusammenhang mit der Geburt (perinatal). Dies hat auch zu einer Veränderung im Umgang mit dem Tod geführt. Denn noch im 19. Jahrhundert war beispielsweise die Erfahrung des Kindstodes eine alltägliche – schließlich starben mehr als ein Drittel der Menschen vor dem 15. Lebensjahr. Und das Erreichen höherer Lebensalter war damals ein Geschenk. Dies hat sich bis zum Ende des 20. Jahrhunderts massiv verändert. Kindersterblichkeit ist zum Glück selten geworden, das Erreichen des höheren Lebensalters nicht ungewöhnlich. Automatisch ist damit der Tod noch enger mit dem Alter verknüpft, als er es je war.

Weitere Ursachen für die Langlebigkeit sind die Fortschritte in der Ernährung, in den Wohnverhältnissen und der allgemeinen Hygiene. Und – nicht zuletzt – der medizinische Fortschritt. Viele Erkrankungen lassen sich besser bekämpfen. Und wenn Prävention (zum Beispiel durch Impfung) oder Heilung nicht möglich ist, so gelingt es inzwischen, auch für chronische Erkrankungen viele Verbesserungen der Lebensqualität zu erreichen. Aufgrund dieser Veränderung der Behandelbarkeit von Erkrankungen und der Veränderung von Erkrankungsrisiken können sich in den nächsten Jahren die Lebenserwartung und auch das Krankheitsspektrum im Alter abermals deutlich verändern. Dies zeigen auch die folgenden Beispiele der Entwicklung aus den letzten Jahren:

Die Veränderung von Ernährungsgewohnheiten, verringerte Bewegung und vermehrtes Gewicht führen zu einer zunehmenden Bedeutung von vermeidbaren häufigen Erkrankungen. In den USA hat sich in wenigen Jahren die Häufigkeit von Diabetes Mellitus, der Zuckerkrankheit, verdoppelt. Forscher um den Amerikaner Jay Olshansky mahnten an, dass »verhinderbare Erkrankungen« auch zu einer Veränderung der Lebenserwartung führen und insbesondere bereits jetzt den Trend zu immer längerer Lebenserwartung in den USA durchbrechen.

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Ähnlich führte Walter Willett zum Beispiel schon im Jahre 2002 in der Zeitschrift »Science« aus, dass mehr als 70 Prozent der häufigen Erkrankungen Darmkrebs, koronare Herzkrankheit, Schlaganfall und Typ-II-Diabetes potenziell vermeidbar seien.

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Die Menschen, die heute in Deutschland hochaltrig sind, haben einen Krieg und Notzeiten mitgemacht. Und auch schon in ihrer Kindheit gab es eine deutlich geringere Vorsorge für die Zahngesundheit, als es später üblich wurde. Dies führt dazu, dass bei den heute älteren Menschen Zahnprobleme und auch fehlende Zähne häufig sind. Dies ist nicht nur ein kosmetisches Problem, sondern beeinflusst auch die Möglichkeiten der Ernährung. Zudem ist ein angemessener – und immer besserer – Zahnersatz auch ein Kostenfaktor. Hält die derzeitige Entwicklung an, so können wir davon ausgehen, dass die nächste Generation, die in das höhere Alter kommt, deutlich weniger Zahn- und damit Ernährungsprobleme aus diesem Grund haben wird. Dies wird auch einen Einfluss auf die Gesamtgesundheit haben.

Eine Annahme, dass eine steigende durchschnittliche Lebenserwartung gleichzusetzen wäre mit einer höheren Wahrscheinlichkeit, im Alter Alzheimer zu bekommen, gilt für die Gesellschaft, aber nicht für den Einzelnen. Das Grundrisiko des Einzelnen, ab einem bestimmten Alter zu erkranken, ist stabil, zumindest nach den derzeit vorliegenden Daten. Insgesamt führt aber die zunehmende Lebenserwartung zu immer mehr Alzheimer-Kranken in der Bevölkerung, insbesondere wenn gleichzeitig der Anteil jüngerer Menschen abnimmt.

Der zweite wichtige Trend, der Alzheimer als beängstigendes Thema befördert, ist die Veränderung von Arbeitswelt und Familienstrukturen in der Gesellschaft. Während noch vor 100 Jahren der Wechsel von der landwirtschafts- und handwerksdominierten Gesellschaft zur Industriegesellschaft voranschritt, findet heute der Wechsel in die Informations- und Dienstleistungsgesellschaft statt beziehungsweise ist schon weitgehend vollzogen. Wie nie zuvor beansprucht insbesondere die Informationsgesellschaft vor allen Dingen die Hirnleistungsfähigkeit.

Ich habe den Eindruck, dass ich immer mehr Dinge vergesse – sie fallen mir dann zwar später wieder ein, aber mein Gedächtnis lässt mich im Stich – ist das eine beginnende Alzheimer-Erkrankung?

Während früher nach der Ausbildung ein Beruf bis zum Lebensende ausgeübt werden konnte, wird heute erwartet, dass man auch im mittleren und höheren Alter noch einmal in eine andere Tätigkeit wechselt. Umschulungen einerseits und lebenslanges Lernen andererseits sind moderne Anforderungen. Gleichzeitig bestimmen ständig neue Möglichkeiten der Nachrichten- und Informationsvermittlung das Berufs- und auch Alltagsleben – Möglichkeiten, die zum Teil nicht nur einfach strukturierten Menschen das Mitkommen erschweren. Unsicherheit über die Leistungsfähigkeit des Gehirns mündet dann sehr schnell in die Angst, dass sich bereits erste Anzeichen der Alzheimer-Erkrankung zeigen. Antwort finden können die Betreffenden nur, wenn sie sich den entsprechenden Untersuchungen unterziehen (siehe Seite 71).

Übrigens zeigt sich, dass allmählich auch die Älteren immer häufiger den Zugang zum Beispiel zum Internet finden. Dies hat auch gute Folgen für die Versorgung von kranken älteren Menschen, wie im Folgenden noch gezeigt werden wird.

Gleichzeitig mit diesen Entwicklungen haben sich die Familienstrukturen erheblich verändert. Der Wechsel von der Groß- zur Kleinfamilie einerseits, die geringere Geburtenrate, höhere Scheidungsraten und Lebensabschnittspartnerschaften führen dazu, dass immer mehr Menschen in kleinen oder auch Einzelhaushalten wohnen. Dies zeigt sich heute schon sehr deutlich in den großen Städten. Allein zu leben bedeutet auch, dass man seine individuellen Vorlieben vermehrt ausleben kann. Und es bedeutet keineswegs, einsam zu sein. Viele ältere Menschen haben zwar ihre eigenen vier Wände, pflegen aber ein enges Beziehungsnetz. Sie sind somit alleinstehend, aber nicht einsam. Im Falle der Demenz bedeutet dies jedoch, dass wir zukünftig mit immer mehr alleinstehenden Kranken rechnen müssen. Ansätze der individuellen Vorsorge für den Fall, in eine solche Situation zu kommen, können den notwendigen gesellschaftlichen Wandel im allgemeinen Umgang mit an Alzheimer erkrankten Menschen sicher nicht ersetzen. Wir müssen uns darauf in der Versorgung und Betreuung einstellen (siehe ab Seite 131, Behandlung im Pflegeheim, und ab Seite 187, Ausblick).

Wenn ich mir vorstelle, mit Alzheimer dahinzudämmern, in irgendeinem Altersheim ruhig gestellt zu sein, dann ist das nur furchtbar. Was können wir dagegen tun?

Für diese heutige Lebensform ist jedenfalls die hohe geistige Leistungsfähigkeit von enormer Wichtigkeit; sie gewinnt immer mehr an Bedeutung für die Teilhabe an der Gesellschaft. Auffassungsgabe, Konzentration, Gedächtnis sind die wichtigen Eigenschaften, die uns das Leben in der heutigen Welt überhaupt erst ermöglichen. Man könnte also soweit gehen zu sagen, dass die Alzheimer-Krankheit, deren wichtigstes Zeichen der Verlust des Gedächtnisses ist, die paradigmatische Erkrankung des Informationszeitalters ist.

Der dritte Trend, der unablässig zunehmende Aufmerksamkeit auf das Thema Alzheimer lenkt, ist der medizin-technologische Fortschritt. Noch zögerlich, aber sicherlich unaufhaltsam, haben sich in den letzten Jahrzehnten zudem die Gebiete der Alterswissenschaften, der Gerontologie, und der Altersmedizin, der Geriatrie, weiterentwickelt. Bezogen noch vor 30 Jahren viele Untersuchungen nur Patienten bis zum 65. Lebensjahr ein, werden heute bei vielen Studien überhaupt erst Patienten ab diesem Alter betrachtet. Dies ist eigentlich schon viel länger nötig gewesen, aber immerhin passiert es jetzt. Denn schon heute nehmen zum Beispiel die Menschen über 65 Jahre fast die Hälfte aller in Deutschland erhältlichen Arzneimittel ein. Wer würde da bestreiten, dass wir in der Folge auch Wirksamkeits- und Verträglichkeitsdaten für diese Altersgruppe brauchen?

Als ich ein Kind war, war es noch gang und gäbe, beim Tod eines alten Menschen als Ursache anzugeben, er sei an Altersschwäche verstorben. Das gibt es fast nicht mehr. In Todesanzeigen lese ich in letzter Zeit oft, jemand wurde von seinen »Altersleiden« erlöst. Auch wenn es ähnlich klingt, bedeutet »Leiden« mehr als »Schwäche« eine Ursache von Krankheit. Und das passt gut zu den veränderten Konzepten in der Medizin. In gewisser Weise hat man nämlich die Altersschwäche jetzt immer genauer angeschaut und bestimmte Problemfelder heute als eigene Krankheiten beziehungsweise Störungen definiert. Dies bringt den Vorteil, dass Behandlungen und Vorbeugungsmaßnahmen entwickelt und erprobt werden können. Als wesentliche Erkrankung des alternden Gehirns werden nun die Demenzerkrankungen beschrieben und untersucht. Bezüglich der Beweglichkeit spielt die Sturzkrankheit eine wichtige Rolle und auch die fehlende Kontrolle der Ausscheidung im Rahmen von Inkontinenzen ist ein weiteres wichtiges Problem. In der Altersmedizin gibt es eine sehr lebhafte Debatte um das Thema der so genannten Gebrechlichkeit beziehungsweise um das Frailty-Syndrom. Dieses Konzept erinnert meines Erachtens noch am ehesten an die »Altersschwäche«. Es beschreibt einen Beschwerdekomplex, der wohl mit dem Alter an sich, nicht aber mit dem absoluten Lebensalter zusammenhängt. Es finden sich Veränderungen der Belastbarkeit der Organe, und die betroffenen Personen verlieren Gewicht und Muskelmasse, die Kraft lässt nach. Sie werden unsicherer im Gang, schränken Ihre körperliche Aktivität ein und sind subjektiv erschöpft.

Schnell kommt man auf den Gedanken, dass damit ja vielleicht das Alter selbst zur Krankheit erklärt werden könnte, wie es auch schon in der Antike mit dem Satz »Senectus ipsa morbus est« gefasst wurde: »Alter an sich ist Krankheit.« Diese »Medikalisierungs«-These ist aber nicht zutreffend. Vielleicht erst durch die entsprechende Forschung wird und wurde inzwischen deutlich, dass keineswegs die Mehrheit der alten Menschen von diesen Erkrankungen betroffen ist. Es gibt Behandlungs- und Präventionsmöglichkeiten und der Mehrheit der alten Menschen ist es bis ins höhere Lebensalter möglich, allein einen selbstständigen Haushalt zu führen. Alle Untersuchungsergebnisse in Mitteleuropa zeigen, dass Menschen mit zunehmendem Alter nicht kontinuierlich kränker werden, wohl aber empfindlicher für Erkrankungen.

In den letzten Jahrzehnten ist es gelungen, die Lebensjahre erhöhter Krankheitsbelastung und gegebenenfalls Gebrechlichkeit immer weiter nach hinten zu verschieben, sozusagen auf eine auf die Gesamtlebenszeit bezogene immer kürzere Spanne vor dem Tod zu konzentrieren. Dies käme einem Zugewinn »gesunder Jahre« gleich. Vereinfacht und bildhaft formulierte der US-amerikanische Mediziner James Fried die Idee der »Kompression der Morbidität« mit dem Satz »Live longer, die faster«, übersetzt »Lebe länger, stirb schneller«. Er verfolgt sein Modell bis heute.9

Die Demenzerkrankungen und hier ja vor allem die Alzheimer-Demenz zeigen von ihrer Verteilung in der Bevölkerung einen ähnlichen Verlauf wie zum Beispiel Krebserkrankungen oder Gelenkerkrankungen.10 Mit zunehmendem Lebensalter kommt es zu einem Anstieg von Krankheitshäufigkeit und Neuerkrankungsraten.

Dies bedeutet, dass an der Krankheit möglicherweise Alterungsvorgänge an sich, aber auch die Kumulation von lebenslang erworbenen Schädigungen zur Häufigkeit der Krankheitsentstehung beitragen. Wie müssen wir uns das vorstellen?

Aus der Grundlagenforschung wissen wir, dass es unwahrscheinlich ist, dass ein bestimmtes Gen oder bestimmte Gene den Alterungsprozess steuern. Vielmehr ist es plausibler, dass die Steuerung der Reparaturvorgänge im Körper mit der Alterung zu tun hat.11Durch den Gebrauch und den Kontakt mit der Umwelt ist unser Körper ständig damit beschäftigt, neue Eindrücke und Einflüsse zu »verdauen« und sich den verschiedenen Bedingungen anzupassen. Auf der zellulären Ebene bedeutete dies, dass Auf- und Abbauvorgänge, die auch mit Abfallprozessen einhergehen, ablaufen müssen. Insbesondere die Reparaturmechanismen von Zellen verlaufen insofern suboptimal, als der Körper keine perfekte beziehungsweise 100-prozentige Lösung anstrebt. Wie auch in unserem Alltag ist der Schritt von einer 95-prozentigen und völlig ausreichenden Lösung bis zu einer 100-prozentigen Lösung häufig viel aufwendiger als all die vorhergehenden 5-Prozent-Schritte. Genau hier ökonomisiert auch der Körper. Durch die Kumulation von diesen vielen suboptimalen Lösungen kommt es – wenn man in diesem Bild weiterdenkt – dann irgendwann auch zu einem kritischen Punkt, an dem bestimmte Funktionen – vermeintlich plötzlich – zusammenbrechen. Hieran sind viele Faktoren beteiligt. In der Öffentlichkeit am bekanntesten sind die so genannten freien Radikale und Empfehlungen für eine Ernährung, die reich ist an Antioxidantien wie zum Beispiel in der so genannten Mittelmeerdiät.

Maßvoll leben bei gesunder Ernährung – das ist doch wohl immer noch das beste Rezept für ein langes, gesundes Leben, oder etwa nicht?

Nun könnte man die Ansicht vertreten, dass ein schonender Umgang mit den eigenen körperlichen Ressourcen zusammen mit einer maßvollen und ausgewogenen Ernährung zu einem möglichst langen Leben beiträgt. Dies ist nach derzeitiger Kenntnis sicher richtig. Es zeigt sich jedoch zumindest im Tierversuch, dass Belastungen, die der jeweilige Organismus bewältigen kann, ihn durchaus auch herausfordern und trainieren. So führten im Tierversuch zum Beispiel die vorübergehende Mangelernährung zur Aktivierung lebens- beziehungsweise überlebenswichtiger körperlicher Regulationsmechanismen.

Zusammengefasst bedeutet dies also: Die zunehmende Häufigkeit der Alzheimer-Demenz zeigt, dass die Krankheit viel mit den Alterungsvorgängen zu tun hat. Darauf deuten auch die bisherigen Erkenntnisse zu den Risikofaktoren hin, die im Folgenden (siehe ab Seite 47) noch beschrieben werden. Es ist deshalb auch nicht wahrscheinlich, dass eine einzige Ursache für die Alzheimer-Demenz vorliegt.

Alzheimer – immer noch stigmatisiert

Der Begriff Stigma kommt aus dem Griechischen und bezeichnet das Mal beziehungsweise die Narbe. Unter Stigmatisierung versteht man heute die Benachteiligung von Personen aufgrund einer Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Die Benachteiligung kann sozial oder auch ökonomisch sein, das heißt zum Beispiel Missachtung oder auch Verweigerung gleichen Gehalts oder gleicher Rechte. Stigmatisierung hat stets eine objektive, das heißt also auch von Dritten nachweisbare, und eine subjektive Seite. Jemand, der objektiv stigmatisiert ist, muss dies nicht unbedingt so wahrnehmen. Andersherum kann sich jemand stigmatisiert fühlen, ohne dass er dies aber, objektiv gesehen, ist. Grundsätzlich kann Stigmatisierung in einem gesellschaftlichen Kontext Sinn machen. Wenn bestimmte Merkmalsträger zum Beispiel eine ansteckende Erkrankung haben oder eine andere Gefahr verkörpern, sollte man sich vor ihnen schützen.

In der Regel wird heute von Stigmatisierung dann gesprochen, wenn bestimmte Bevölkerungs- oder Krankheitsgruppen betroffen sind. Intensiv wird das Thema bei psychischen Erkrankungen, insbesondere der Schizophrenie, diskutiert. Aber auch nichtpsychische Erkrankungen, wie zum Beispiel AIDS, haben ein Stigmaproblem.

Schon die Vorstellung, dass einmal frühe Anzeichen von Alzheimer bei mir erkannt werden könnten, finde ich schlimm: Dann wüsste ich, dass ich irgendwann abhängig sein werde von meinen Kindern. Und die wüssten das ja auch. Und die beobachten mich dann: Ist es schon soweit? Aber ich habe das auch schon mal bei einer entfernten Bekannten erlebt. Da weiß man gar nicht, wie man sich verhalten soll.