Alles wie immer, nichts wie sonst - Julia Hubinger - E-Book

Alles wie immer, nichts wie sonst E-Book

Julia Hubinger

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Beschreibung

Wegen eines Kribbelns und Taubheitsgefühlen im Körper lässt sich Julia Hubinger mit 30 im Krankenhaus untersuchen. Es folgt der Schock: Diagnose multiple Sklerose! Für die junge Frau bricht eine Welt zusammen. In »Alles wie immer, nichts wie sonst« erzählt die sympathische Autorin mit viel Feingefühl, was die Nervenkrankheit für sie verändert hat und wie sie trotz allem hoffnungsvoll ihre Zukunft anpackt. Dazu gehören auch ihr Mann und ihr Beruf und die Entscheidung, eine Familie zu gründen – trotz MS. Das Buch ist ein bewegender Erfahrungsbericht über den Verlauf einer Krankheit, die immer häufiger diagnostiziert wird. Betroffenen macht sie Mut für das alltägliche Leben mit MS. Interessierten und Angehörigen gibt sie einen Einblick in die Krankheit, Symptome und eine mögliche Therapie.

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Seitenzahl: 271

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Für F., H., C. & M. Ich liebe Euch Sternzahl hoch Sternzahl viel.

»DU HAST MULTIPLE SKLEROSE? DAS SIEHT MAN DIR ABER GAR NICHT AN.«

Diesen Satz habe ich schon oft gehört – und nahezu alle MS-Patienten, die ich kenne, ebenfalls. Es stimmt: Man sieht mir die MS nicht an. Noch nicht. Vielleicht auch nie. Es gibt viele Menschen, die von der Erkrankung stärker gezeichnet sind als ich, aber es gibt genauso viele, denen es besser geht als mir. Trotzdem ist die MS da. Und sie wird, Stand heute, auch nie wieder verschwinden, denn leider gibt es noch keine Medikamente, die diese Krankheit heilen.

Kurz nach der Diagnose drohte ich, in ein Loch zu fallen. Die MS machte mir große Angst. Ich hatte den Rollstuhl, Inkontinenz und alles, was da so kommen kann, vor Augen. Heute weiß ich, dass diese Einschränkungen nicht zwangsläufig auftreten müssen. Und ich habe erkannt: Wenn ich meine Zeit damit verbringe, darüber nachzudenken, welche Einschränkungen ich vielleicht irgendwann einmal haben werde, verliere ich wertvolle Stunden an die MS. Zu dieser Erkenntnis bin ich zugegebenermaßen nicht ganz alleine gekommen. Jeden Tag unterstützt mich mein Mann aufs Neue darin, zuversichtlich zu bleiben. Daneben lenken meine Kinder meinen Blick immer wieder weg von der Krankheit auf wichtigere Sachen wie Blumen, Bonbons und Brei. Und dafür bin ich unendlich dankbar.

Ich habe in den vergangenen Jahren, seit Erhalt der Diagnose, erlebt, wie wichtig und hilfreich die Unterstützung von Angehörigen ist, aber auch, wie verunsichernd und verletzend manch unbedachte Äußerung sein kann. Davon, und wie ich gelernt habe, mit der MS zu leben, möchte ich im Folgenden erzählen.

KAPITEL 1

»Hatten Sie schon einmal so ein Kribbeln und Taubheitsgefühl?«

Ich versinke in Gedanken. Hatte ich so etwas schon einmal? Was habe ich denn eigentlich gerade? Meine komplette rechte Körperhälfte ist taub und fühlt sich an wie in Watte gepackt. Von außen spüre ich alles, zum Beispiel, wenn mir jemand über die Hand oder den Arm streicht. Aber von innen fühlt es sich anders an. Anders als auf meiner linken Seite. Komisch ist das, und ich kann es kaum erklären. Oder bilde ich mir das nur ein? Ich bin verwirrt. Dazu kribbelt es an einigen Stellen meiner rechten Seite, mal stärker, mal schwächer. Angefangen hat es im rechten Daumen, und dann hat es sich ganz langsam ausgebreitet, von der Hand über das Handgelenk in den rechten Arm, hinauf in die Brust und so weiter bis zum Fuß.

»Das muss auch gar nicht an denselben Stellen gewesen sein. Hatten Sie schon einmal so unspezifische Gefühlsstörungen? Oder etwas anderes, mit dem Sie dann vielleicht beim Hausarzt oder Neurologen waren?«, fragt mich die Ärztin. Sie ist jung, vielleicht sogar jünger als ich. Sie erinnert mich an eine Freundin und ist mir sympathisch. Kurz vor dem Termin mit mir war sie noch schnell eine Zigarette rauchen, das kann ich riechen. Ich sitze mit ihr zusammen, um die MRT-Bilder von meinem Kopf zu besprechen.

»Ja, da war schon mal was«. Ich erinnere ich mich an eine leichte Gesichtslähmung, die mir mal zu schaffen gemacht hatte. »Vor sechs Jahren hatte ich schon mal ein Kribbeln am Trigeminusnerv. Das blieb etwa drei Wochen, dazu habe ich mich sehr schlapp gefühlt, und ich hatte eine Erkältung. Ich war in meinem ersten Praktikum in Hamburg, eine stressige Zeit. Der Neurologe meinte damals, wenn es wieder wegginge, bräuchte ich mir keine Sorgen zu machen. Er erwähnte mal im Nebensatz, dass ich natürlich auch darauf bestehen könne, mich intensiver checken zu lassen. Aber das sei seines Erachtens nach nicht nötig. Nach circa drei Wochen war alles wieder weg, und ich habe mir keine weiteren Gedanken gemacht. Meine Hausärztin meinte etwa einen Monat später, man könne im Blutbild sehen, dass da was nicht stimme. Aber wenn ich schon beim Neurologen gewesen sei, bräuchte ich mir keine Gedanken zu machen.«

Die junge Ärztin schaut mich jetzt mit einem Stirnrunzeln an. Ein Stirnrunzeln von Ärzten ist nie gut, denn das bedeutet, dass irgendetwas für sie keinen Sinn ergibt. Und ist das der Fall, hat das etwas mit einer Krankheit zu tun. Das habe ich in den letzten Tagen gelernt, denn ich habe mich auf Anraten befreundeter Ärztinnen selbst in die Uniklinik Frankfurt eingewiesen, um endlich herausfinden zu lassen, was es mit meinem Kribbeln auf sich hat. Vorher habe ich bereits mehrere Wochen auf einen Termin beim Orthopäden gewartet. Und ohne beim Orthopäden gewesen zu sein, habe ich keinen Termin bei einem Neurologen bekommen, um mich dort checken zu lassen. Aber ich habe gemerkt, dass irgendetwas nicht mit mir stimmt. Um nicht länger im deutschen Kassensystem mit seinen Überweisungen und Wartezeiten gefangen zu sein, packte ich also eine Reisetasche und wurde in der Uniklinik vorstellig, die mich aufgrund meiner Symptomatik direkt zur Abklärung dabehielt.

Jetzt bin ich Patientin der neurologischen Station. Denn irgendetwas ist mit meinen Nerven nicht in Ordnung. Eigentlich wollte ich mir mit meiner Einweisung nur die Bestätigung abholen, dass das Kribbeln und die Taubheit meiner rechten Körperhälfte »nichts Schlimmes« sind. Aber so langsam beginne ich, mir Sorgen zu machen. Die Ärzte runzeln zu oft ihre Stirn, und die Blutwerte sprechen eine deutliche Sprache. Auch die Lumbalpunktion, bei der Gehirnflüssigkeit aus dem Rückenmark entnommen wird, zeigt an, dass da »etwas« ist. Alles weise auf eine Autoimmunerkrankung hin, sagen die Ärzte, mit denen ich bisher gesprochen habe. Was das bedeutet, hat mir jedoch noch niemand erklärt.

Die junge Ärztin fragt mich weiter: »Gab es sonst noch ein Ereignis?«

Ich fange also erneut an, in meiner Erinnerung zu kramen. Bingo! Da war noch etwas.

»Vor zwei Jahren hatte ich ein Kribbeln in den Beinen. Das ging so wellenförmig durch die Beine. Immer mal wieder. Ungefähr wieder drei Wochen lang.«

»Waren Sie damit bei einem Neurologen?«

Ja, das war ich. Das war zu einer Zeit, in der ich viel Stress hatte. Mein Mann Paul und ich hatten gerade geheiratet, führten aber eine Wochenendehe. Er hatte einen Job als Vertriebsmitarbeiter in Stuttgart, ich eine mies bezahlte Stelle als PR-Beraterin in einer Agentur in Frankfurt mit noch mieseren Arbeitszeiten. Das war 2008, die Finanzkrise ließ viele der Agenturkunden aus dem Bankenbereich wegfallen, und der Druck auf uns Mitarbeiter stieg. Die ersten Kollegen wurden infolge der Krise entlassen, und auch ich als zuletzt eingestellte Mitarbeiterin zitterte um meinen miesen Job. Plötzlich war da wieder dieses Kribbeln. Diesmal in den Beinen. Der Hausarzt überwies mich an einen Neurologen. Und es kam dasselbe heraus wie vier Jahre zuvor: »Ruhen Sie sich aus, wenn das Kribbeln dann verschwindet, wird es nichts sein.«

Und nach insgesamt drei Wochen ging das Kribbeln weg, und ich vergaß die Angelegenheit. Bis heute.

Das erzähle ich der jungen Ärztin, und sie beginnt zu erklären: »Das passt zu den MRT-Bildern von Ihrem Kopf. Man sieht dort akute Läsionen, die sehr wahrscheinlich die Taubheit und das Kribbeln Ihrer rechten Körperhälfte verursachen. Und man kann auf den Bildern auch alte, vernarbte Läsionen sehen, die vermutlich die zwei Ereignisse der vergangenen sechs Jahre verursacht haben.«

BÄM! Läsionen? Bitte was? Irgendwie entwickelt sich das alles nicht in die Richtung, von der ich ausgegangen war. Läsionen? Was sind bitte schön Läsionen? Ist das Krebs? Aber nach dem ersten MRT hatte der Arzt doch gesagt, es sei kein Hirntumor! Von was redet die Frau dann jetzt?

Mein Mann Paul ist bei mir und streichelt meine Hand.

»Ich habe keinen blassen Schimmer, wovon Sie sprechen«, antworte ich der Ärztin. Sie lächelt mich an (was sie mir übrigens noch sympathischer macht, denn alle anderen Ärzte schauen mich eher betroffen an, und das macht mir noch mehr Angst) und erklärt: »Läsionen sind Entzündungen an den Nervenenden. Sie verhindern die ungestörte Reizübertragung von Nerv zu Nerv, und dadurch kann es zu Beeinträchtigungen, wie dem Kribbeln und der Taubheit in Ihrem Fall, kommen. Bei Ihnen sieht man akute Läsionen, aber auch ältere.«

»Und woher kommen diese Läsionen?«, frage ich.

»Das wissen wir noch nicht. Meist ist es autoimmun, und wir wissen nicht, woher es kommt. Bei manchen Patienten tritt das öfter auf, manchmal ist es nur einmalig.«

Sie schaut auf die Uhr und muss schon zum nächsten Termin eilen. Zum Glück hat mein Mann ein wenig medizinisches Vorwissen, da er eine Ausbildung zum Krankenpfleger gemacht hat. Darüber hinaus gibt es einige Ärzte in seiner Familie. Schließlich verstehe ich: Bei einer Autoimmunerkrankung greift sich das Immunsystem selbst an.

Panik macht sich in mir breit. Ich habe Angst! Diese Angst wird immer größer und nimmt plötzlich sehr viel Raum ein. Und ich habe hier auf der neurologischen Station der Uniklinik sehr viel Zeit, mich mit dieser Angst zu beschäftigen, denn ich habe ja nur meine Untersuchungstermine und dazwischen viel Leerlauf. In dieser Zeit beobachte ich andere Patienten der neurologischen Station oder befrage gegen den Rat der Ärzte Dr. Google. Diese Kombination verringert meine Angst nicht gerade. Zum einen sind die anderen Patienten zum Großteil sehr viel älter als ich und schleichen in Minischritten über die Flure. Wenn sie mich überhaupt registrieren, schauen sie mich – genau wie die Ärzte – betroffen und traurig an. »So jung und schon hier«, steht ihnen auf die Stirn geschrieben. Zum anderen kommen bei Dr. Google angsteinflößende Diagnosen heraus, sobald man »Körperhälfte taub« und »Autoimmunkrankheit« dort eingibt. Die Ergebnisse gehen von »Hirntumor«, »Rheuma«, »Schlaganfall« über »HIV« bis zu »ALS« (Amyotrophe Lateralsklerose – die Krankheit, die durch die »Ice Bucket Challenge« im Sommer 2014 weltweit Aufmerksamkeit erfuhr und unter der auch der berühmte Physiker Stephen Hawking leidet). Ein Schlaganfall ist es bei mir nicht, denn das haben sie schon getestet. Aber insbesondere die ALS macht mir Angst. Gegen die gibt es noch kein Medikament, und sie endet sicher mit dem Tod. Natürlich ist es bescheuert, Dr. Google um Rat zu fragen. Das weiß ich. Es macht mich verrückt und bringt mich auf Krankheiten, an die ich noch nie gedacht habe. Ich denke über Diagnosen und ihre Folgen nach, mit denen ich mich höchstwahrscheinlich gar nicht befassen muss. Aber da sitzt ein kleines Männchen auf meiner Schulter und fragt mich: »Und was, wenn doch? Was wird, falls es wirklich ALS ist? Oder HIV? Bei wem könntest du dich mit HIV angesteckt haben?«

Von den Ärzten hat niemand Zeit, um mit mir über meine Ängste und Gedanken zu reden und mir vielleicht etwas Last von den Schultern zu nehmen. Solange keine Diagnose auf dem Papier steht, ist dafür keine Zeit. Die ist für den Kassenpatienten einfach nicht vorgesehen.

Zum Glück habe ich zumindest ein Zimmer für mich allein, auf das ich mich zwischendurch zurückziehen kann. Dort weine ich viel. Denn ich habe Angst. Richtige, existenzielle Angst um mein Leben. Ich weine so viel wie noch nie. Zwischendurch kommt mein Paul in jeder freien Minute, die er sich von der Arbeit nehmen kann, bei mir vorbei. Er versucht, mich so gut es geht zu beruhigen und selbst Ruhe zu bewahren. Er glaubt wie immer an das Gute und beschwört mich, erst über die Folgen einer Krankheit nachzudenken, wenn die Diagnose gesichert ist. Er hat recht, aber das ist nicht so einfach. Außer ihm möchte ich keinen Besuch haben. Ich möchte nicht in die ängstlichen Gesichter meiner Eltern oder Freunde schauen, denn meine Angst ist selbst so groß, dass sie fast jeglichen Raum in meinem Gehirn einnimmt. Sie lässt keinen Platz zum Unterhalten oder Ablenken. Sie ist übermächtig.

KAPITEL 2

Morgens kommt eine Assistenzärztin, die mir Blut abnimmt und mich fragt, wie es mir geht. Sie erzählt mir, dass es die letzte Woche ihrer Assistenzzeit sei. Als ich sie frage, ob sie sich auf die Fachrichtung Neurologie spezialisieren möchte, antwortet sie: »Nein, auf der Neurologie möchte ich auf gar keinen Fall bleiben. Ich möchte eine Fachrichtung, mit der ich den Patienten noch helfen kann.«

BÄM!

Bevor ich richtig über diesen Satz nachdenken kann, ist sie schon beim nächsten Patienten. Weiß sie eigentlich, was so eine Aussage für mich, eine junge Frau Anfang dreißig mit Todesangst, bedeutet? Wahrscheinlich nicht. Dass Ärzte in ihrer Ausbildung fast nichts über die psychologische Komponente in der Vermittlung von Diagnosen lernen, bekomme ich mit aller Härte zu spüren. Besonders deutlich wird das am nächsten Tag bei der Visite. Der Oberarzt rauscht mit einem Gefolge von acht jungen Ärzten in mein Zimmer. Sie stellen sich um mein Bett und starren mich betreten an. Der Oberarzt fragt mich, ohne sich vorzustellen: »Wissen Sie, warum Sie hier sind?«

Ich erkläre meine Symptome. Darauf fragt er mich erneut: »Ja, aber wissen Sie, was Sie sehr wahrscheinlich haben?«

Ist das hier ein Quiz oder was?

»Bisher sprachen die Ärzte von einer Autoimmunkrankheit«, antworte ich leicht eingeschüchtert. Darauf der Oberarzt: »Also, ich spreche das jetzt mal deutlich aus: Das ist höchstwahrscheinlich multiple Sklerose bei Ihnen!«

Multiple Sklerose? Multiple Sklerose! Meine Welt versinkt in einem Nebel. Ich bekomme nicht mehr viel mit.

»Multiple Sklerose?«, frage ich schrill, panisch, ohne zu begreifen, was das bedeutet.

»Sind Ihre Angehörigen hier?«, fragt mich der Oberarzt. Zwei der jungen Assistenzärzte stecken raunend die Köpfe zusammen.

»Mein Mann ist gerade auf dem Weg«, antworte ich matt.

»Wir müssen noch ein paar Tests machen. Aber es ist sehr sicher MS. Da wird noch jemand zu Ihnen kommen und mit Ihnen sprechen.«

Mir ist kalt. Elendig kalt. Daher bitte ich die Ärzte im Rausgehen: »Können Sie mir bitte meine Decke geben?« Und dann sitze ich allein mit der Decke auf meinem Bett in meinem Zimmer auf der neurologischen Station der Uniklinik Frankfurt. Multiple Sklerose. Was bedeutet das eigentlich? Ich habe keinen blassen Schimmer! Ich versuche, das irgendwie zu begreifen. Aber kann man so eine Diagnose überhaupt in einem kurzen Moment begreifen? Multiple Sklerose, hatte das nicht ein alter Bekannter meiner Eltern? Sitzt der nicht im Rollstuhl? In diesem Moment ruft mein Vater an. Er merkt sofort, dass mit mir etwas nicht stimmt.

»Was ist los?«, fragt er mich.

»Gerade waren die Ärzte da. Sie sagen, es ist multiple Sklerose.«

Mein Vater sagt nichts. Ich höre ihn schlucken.

»Papa?«

»Ach was, multiple Sklerose, das kann doch gar nicht sein.« Ich spüre sofort, da wird in ihm der Kämpfer wach, der so eine Diagnose nicht einfach akzeptiert. »Multiple Sklerose? Das glaube ich nicht. Die haben doch sicher noch nicht alle Tests gemacht. Da holen wir aber noch eine zweite Meinung ein.«

Mein Gehirn liegt immer noch in dichtem Nebel. Ich spüre Panik in der Brust, aber ich bin nicht in der Lage nachzudenken, geschweige denn, mich klar zu äußern. Es klopft. Paul kommt ins Zimmer. »Was ist los?«, fragt er. Ich zeige auf das Telefon.

»Du, Papa, Paul ist gerade gekommen. Ich muss jetzt erst mal mit ihm sprechen. Lass uns später noch mal telefonieren, okay?«, stottere ich ins Telefon.

Mein Mann schaut mich fragend an. Ich lege das Handy zur Seite.

»Paul, gerade war der Oberarzt da. Er sagt, dass es höchstwahrscheinlich multiple Sklerose ist. Die machen jetzt noch ein paar Tests, aber sie gehen davon aus, dass es das ist und ich …«

Weiter komme ich nicht, denn ich fange an zu weinen. Ich versinke unter Tränen in Pauls Armen und möchte mich am liebsten so klein machen, dass ich von dieser Welt verschwinde. Multiple Sklerose – was bedeutet das? Es hört sich schlimm an. Das ist eine richtige Krankheit. Mit Rollstuhl! Am liebsten möchte ich nicht mehr da sein, mich mit der multiplen Sklerose nicht auseinandersetzen, mit ihr nichts zu tun haben, sondern mich einfach verstecken vor ihr. Vielleicht vergisst sie mich dann ja. Ich will nicht krank sein! Das bin doch nicht ich. Ich bin nicht Julia, Anfang dreißig und krank. Das ist eine andere Person. Aber nicht ich!

Paul hält mich fest im Arm und versucht, mich zu trösten und zu beruhigen. Ich weiß nicht, wie lange wir so dasitzen. Irgendwann sagt er: »Ich schaue mal, wo die Ärztin ist. Vielleicht kann sie uns mehr dazu erzählen«, und macht sich auf die Suche. Kurze Zeit später kommt er mit ihr zusammen zurück. Wir bombardieren sie mit Fragen – also eigentlich eher Paul als ich. Ich befinde mich immer noch im Nebel. Wir erfahren, dass multiple Sklerose wie Rheuma eine Autoimmunerkrankung ist. Dass sie schubförmig verläuft, noch unheilbar ist. Aber dass es mittlerweile Medikamente gibt, die den Verlauf verzögern können. Dass man daran nicht sterben muss. Und dass sie ganz unterschiedlich verläuft und nicht zwangsläufig im Rollstuhl enden muss.

Die Ärztin klärt uns auch über das weitere Vorgehen auf: Es werden nun noch weitere Tests gemacht, um die Diagnose multiple Sklerose zu sichern und eine ähnliche neurologische Erkrankung, die Neuromyelitis optica, auszuschließen. Außerdem sei in meinem Liquor, der Gehirnflüssigkeit, ein Marker für Rheuma sehr hoch gewesen. Daher müsse man schauen, ob es nicht doch Rheuma sei. Ich werde nun in den nächsten Tagen eine Stoßtherapie mit Kortison bekommen. Das bedeutet, dass ich drei Tage lang hochdosiertes Kortison intravenös verabreicht bekomme, um die Entzündungstätigkeit in meinem Körper zu stoppen. Das soll auch meine Symptome, das Kribbeln und Taubheitsgefühl, wieder verschwinden lassen. Am Nachmittag werde ich noch einen MRT-Termin zum Scannen meiner Wirbelsäule haben und einen Test, um die Leitfähigkeit meiner Nerven zu messen. Am nächsten Tag sollen die Tests, für die ich im Krankenhaus anwesend sein muss, abgeschlossen sein. Dann werde ich jeden Morgen das Kortison bekommen und kann das Krankenhaus danach bis zum Abend verlassen. Nur zum Schlafen muss ich in dieser Zeit ins Krankenhaus kommen. Nach den drei Tagen werde ich entlassen. Die Diagnose wird dann noch nicht zweifelsfrei feststehen, weil noch Ergebnisse von Bluttests erwartet werden, die noch eine Woche brauchen. Daher werde ich einen Termin zur Besprechung der Diagnose in der MS-Ambulanz der Uniklinik bekommen, wenn die Ergebnisse da sind. Aber es ist mit großer Wahrscheinlichkeit MS.

Die junge Ärztin schaut gehetzt auf ihre Uhr und muss zum nächsten Termin. Nun sind wir allein mit diesen ersten Informationen und schauen uns an. Ich bin nicht in der Lage, zu denken oder zu reden. Mein Kopf ist leer. Ich versuche, diese ganzen Informationen zu verstehen. Und bin mit einem Mal unglaublich müde. Das ist einfach alles zu viel. Doch eine Information setzt sich in meinem Gehirn sofort fest: Die multiple Sklerose ist nicht so schlimm. Es gibt Medikamente. Zwar keine Heilung, aber Medikamente. Ich werde nicht daran sterben!

Auch Paul ist in dieser Situation erleichtert. Er hat Tränen in den Augen. Tränen des Glücks. Denn natürlich hat sich mein lieber Mann, mit dem ich seit sieben Jahren durch dick und durch – wie in diesem Moment – extradünn gehe, Sorgen um mich gemacht. Er schaut mich an und sagt: »Oh Mann, ich habe echt große Angst gehabt. Angst, dass du etwas hast, an dem du bald sterben musst. Mit der MS kannst du leben. Das ist doch was! Um alles andere machen wir uns noch Gedanken. Aber jetzt freuen wir uns erst einmal!«

Er nimmt mein Gesicht in die Hände und küsst mich. Dann geht er hinaus, um in Ruhe mit meinen Eltern zu telefonieren, die zweihundert Kilometer weit entfernt vor dem Telefon sitzen und Angst um ihre einzige Tochter haben. Sie können nichts tun und müssen auf unsere Informationen warten. Das muss ein schreckliches Gefühl sein. Während ich darüber nachdenke, schlafe ich auf meinem Krankenhausbett ein.

Irgendwann weckt Paul mich, weil er gehen muss und sich noch von mir verabschieden will. Ich möchte ihn am liebsten gar nicht gehen lassen und beginne wieder zu weinen. Es fällt ihm sichtlich schwer, mich so zurückzulassen. Aber neben seiner kranken Frau muss er sich auch noch um seine Arbeit kümmern.

Obwohl ich ihm versprechen muss, die Zeit während seiner Abwesenheit nicht damit zu verbringen, mit meinem Smartphone im Internet nach der multiplen Sklerose zu recherchieren, mache ich natürlich sofort genau das. Ich kann einfach nicht anders. Ich muss nachlesen, was diese Krankheit eigentlich genau bedeutet. Schließlich hat sich bisher noch kein Arzt Zeit genommen, mir das einmal zu erklären. Und es sieht auch nicht so aus, als würde das in naher Zukunft passieren. Ich bin überrascht, wie viele Themenseiten, Diskussionsforen und Gruppen von Betroffenen es gibt, und klicke mich durch das vielfältige Informationsangebot. Ich erfahre, dass die MS eine chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems ist. Chronisch bedeutet, dass sie nicht heilbar ist und die Patienten dauerhaft begleitet. Das war mir vorher gar nicht richtig klar. Chronisch krank. Ich finde, das hört sich nach einer Oma-Krankheit an! Nach etwas, mit dem man sich altersbedingt abfinden muss. Nicht nach einer jungen Frau.

Es gibt Medikamente zur Behandlung der MS, aber weder heilen diese die MS, noch halten sie die Krankheit mit Sicherheit auf. Es gibt Patienten, bei denen die Mittel wirken, aber es gibt auch Patienten, die trotz Medikation zahlreiche Schübe bekommen und sie durchstehen müssen. Darüber hinaus haben die Präparate oft zahlreiche Nebenwirkungen und schädigen bei Langzeiteinnahme Niere und Leber. Die MS, so lese ich weiter, tritt meist im jungen Erwachsenenalter zwischen Anfang und Mitte dreißig auf, und es erkranken mehr Frauen als Männer an der MS. Warum das so ist, weiß die Forschung leider noch nicht. Sie äußert sich bei jedem Patienten anders und wird deswegen auch die Krankheit mit den tausend Gesichtern genannt. Sie kann zu schweren Behinderungen führen, aber auch ganz milde verlaufen. Ich lese Erfahrungsberichte von Menschen, die innerhalb eines Jahres nicht mehr laufen konnten und auf den Rollstuhl angewiesen sind. Oder von anderen, die durch die MS mit einer bleiernen Müdigkeit, »Fatigue« genannt, zu kämpfen haben, die offenbar so belastend ist, dass sie nicht mehr arbeiten können. Aber es gibt auch Betroffene, denen es auch nach Jahren noch gut geht und die die Erkrankung fast gar nicht spüren. Auch hier weiß die Forschung noch nicht, woran das liegt. Oh bitte, lass mich zu denjenigen gehören, bei denen die Krankheit milde verläuft, denke ich sofort. Und dann lese ich weiter: Bei der MS greift sich das Immunsystem selbst an und zerstört das Myelin, das die Nerven umhüllt und für die Übertragung der Signale von Nerv zu Nerv verantwortlich ist. Die Reize werden also irgendwann nicht mehr übertragen. Je nachdem, wo das Myelin in Hirn und Rückenmark zerstört wurde, kommt es für die Patienten zu Beeinträchtigungen. Diese können von Taubheit und Sensibilitätsstörungen, wie bei mir, bis zu Blindheit, Taubheit, Inkontinenz, Nervenschmerzen oder Lähmungen führen. Sogar die Merkfähigkeit des Gehirns kann aufgrund der MS nachlassen. Zusammengefasst können also sämtliche Körperfunktionen beeinträchtigt werden, für die die Nerven gebraucht werden. Und die Nerven braucht der Körper so ziemlich bei allem, was er tut. Scheiße! Das sind ja tolle Aussichten! Bei dieser Krankheit scheint alles möglich zu sein. Jetzt hätte ich gern Paul an meiner Seite, um diese Informationen zu verarbeiten. Mir war bewusst, dass die multiple Sklerose dafür sorgen kann, dass die Patienten nicht mehr laufen können, aber nicht, dass quasi der gesamte Körper betroffen sein kann und man dann zum totalen Pflegefall wird!

In mir macht sich eine unglaubliche Wut auf meinen Körper breit. Ich weine, ich schreie, ich haue mich selbst. Ich hasse meinen Körper dafür, was er mir gerade antut. Das darf doch alles nicht wahr sein! Warum muss mir so was passieren?

Irgendwann kommt eine Schwester nach mir schauen. Sie hat wohl mein Geschrei gehört. Sie ist schon etwas älter und arbeitet anscheinend schon lange auf der Neurologie. Sie spürt meine Wut und Verzweiflung, nimmt mich in den Arm und redet mit ruhiger Stimme auf mich ein: »Mein Mädchen, das wird schon. Irgendwie. Irgendwie geht es immer weiter! Ich habe schon so viele junge Frauen wie dich hier gehabt. Es gibt immer einen Weg, und es geht immer irgendwie weiter. Das ist dein Mann, der dich immer besuchen kommt, oder?«

Ich nicke verheult.

»Schau mal, du hast so einen tollen Mann an deiner Seite. Der lässt dich nicht allein. Und wenn man nicht allein ist, ist alles schon einfacher. Glaub mir, ich kenne so viele Patienten, die besucht niemand. Die sind ganz allein. Das ist so unglaublich traurig.«

Und dann hält sie mich noch eine Zeit lang im Arm, während ich weiter weine.

KAPITEL 3

Ich werde zum MRT meiner Wirbelsäule abgeholt. Es wird untersucht, ob in meinem Rückenmark weitere Läsionen sind. Das MRT, die Magnetresonanztomografie, macht die Läsionen sichtbar. Das Ganze wird etwas über eine Stunde dauern. So lange liege ich in einer beklemmend engen metallenen Röhre, die unter ohrenbetäubendem Lärm scheibchenweise Bilder von meinem Rückenmark macht. Dabei darf ich mich nicht bewegen, sonst verwackeln die Bilder, und alles war umsonst. Erst gibt es eine Runde Bilder ohne Kontrastmittel und dann eine Runde Bilder mit Kontrastmittel, das mir gespritzt wird, während ich in dieser Röhre liege. Ich habe Musik auf die Ohren bekommen, da der Lärm des MRTs wirklich immens ist. Bis zu hundert Dezibel laut sind die Klopfgeräusche, die bei einem MRT erzeugt werden. Leider so laut, dass ich die Musik, die ich zur Ablenkung bekommen habe, gar nicht richtig hören kann. Dafür wird mir in dieser Enge der Röhre gerade das ganze Dilemma meiner Situation bewusst: Ich liege hier drin, weil ich höchstwahrscheinlich an multipler Sklerose erkrankt bin. So eine verdammte Scheiße! Vor Wut beginne ich wieder zu weinen. Die Tränen laufen mir an meinen Wangen herab bis zum Hals und kitzeln mich dort. Aber ich darf sie nicht wegwischen, sonst verwackeln die Bilder. Und dann muss ich noch mal hier rein. Das will ich auf gar keinen Fall! Ich fühle mich elendig und tue mir selbst leid. Warum? Warum ich? Warum muss ich diese beschissene Krankheit haben? Warum muss ich überhaupt krank sein?

Die letzten fünf Jahre habe ich von meinem Herzensmann getrennt gelebt. Gezwungenermaßen, da uns unsere beruflichen Wege nach dem gemeinsamen Studium erst mal in verschiedene Städte führten. Minimum dreihundert Kilometer lagen in den vergangenen Jahren immer zwischen uns. So packten wir all unsere Liebe in die Wochenenden und pendelten stets zwischen zwei Städten. Sogar geheiratet hatten wir in dieser Zeit. So sicher waren wir uns, dass wir trotz Entfernung zusammenbleiben wollten. Erst vor acht Monaten hatten wir beschlossen, dass es so nicht mehr ging. Dass wir, wie im Studium, endlich wieder gemeinsam an einem Ort sein wollten. Paul hatte deswegen extra seinen Job gewechselt. Wir suchten uns ein schönes Nest in Frankfurt und kamen endlich zur Ruhe. Auch weil ich endlich nach langer Suche in einem guten Job angekommen war. Ein Job, der mir endlich eine Perspektive und nette Kollegen bot. Und jetzt, gerade mal fünf Monate nachdem sich endlich alles gefügt hatte, muss ich diese verdammte Scheiße bekommen? Warum nur? Warum passiert mir das jetzt? Das ist so ungerecht! Je mehr ich mich darüber aufrege, desto mehr bekomme ich Panik in dieser Röhre. Ich will hier auf der Stelle raus! Raus aus der Röhre, raus aus diesem Körper, raus aus diesem Scheißleben! Ich höre, wie die Krankenschwester mich durch die Klopfgeräusche fragt, ob alles in Ordnung sei. Sie kann mich über einen Bildschirm sehen und merkt, dass ich panisch werde.

Irgendwie muss ich mich beruhigen, sonst endet das hier in einer Panik- oder Wutattacke, die mich nicht weiterbringt. Diese verdammten Bilder müssen ja gemacht werden. Müssen sie? Was wäre die Alternative? Wegrennen! Genau, ich gehe einfach. Niemand zwingt mich schließlich, hier in der Uniklinik zu sein. Niemand zwingt mich, mich dieser Diagnose und dieser Krankheit zu stellen. Ich muss das nicht machen. Bisher habe ich doch auch gut gelebt. Das bisschen Kribbeln, damit komme ich doch klar! Damit lässt es sich leben. Dafür brauche ich keine Diagnose, keine Medikamente, keine Arztbesuche. Aber bringt das etwas? Was, wenn die Krankheit fortschreitet? Kann ich vor ihr weglaufen? Nein, das kann ich nicht. Denn ich habe sie ja. Also, zumindest höchstwahrscheinlich. Und Paul? Er wird es gar nicht gut finden, wenn ich mich der Situation verweigere. Wegrennen kommt für ihn nie infrage. Er stellt sich jedem Problem und kämpft. Ich weiß, dass er mit mir zusammen kämpfen wird. Er wird an meiner Seite stehen und jede Möglichkeit verfolgen, um mir zu helfen. Und ich liebe ihn sehr, meinen Paul. Von der ersten Sekunde an. Ich kann mir ein Leben ohne ihn nicht vorstellen. Ohne ihn geht es nicht. Also muss ich auch für ihn stark sein. Ich muss da jetzt durch. Keine Ahnung, wie ich das anstellen soll. Aber es muss einfach gehen.

Und so denke ich an unsere Hochzeit vor zwei Jahren zurück. An unser Fest mit allen unseren Freunden und unseren Familien. Ich gehe Schritt für Schritt den Tag im Kopf noch einmal durch. Denke an jeden Moment. An all die schönen Überraschungen und daran, wie viel Liebe an diesem Tag zu spüren war. Darüber komme ich in der metallenen Röhre mit ihrer furchtbaren Lautstärke zur Ruhe. Am Ende lullen mich die Klopfgeräusche richtig ein. Ich bin wie in Trance und schlafe fast. Plötzlich sind die Geräusche ganz fern, und ich komme zum ersten Mal in den vergangenen vier Tagen irgendwie runter.

Bis hierhin bin ich durch die Hölle gegangen. Ich habe eine existenzielle Angst gespürt, die ich in meinem Leben noch nicht kannte. Nun weiß ich, was ich sehr wahrscheinlich habe. Und ich weiß, wie sehr ich leben möchte und was ich auf jeden Fall noch erleben möchte, nämlich ganz viele schöne Momente mit meinem Mann. Dabei schweben mir keine großen Dinge vor. Keine fernen Reisen, teure Anschaffungen oder Ähnliches. Nein, ich möchte einfach noch Zeit mit ihm haben. Zeit, um das Uns zu genießen. Ich möchte mit ihm durch mein Leben tanzen. Und dafür möchte ich noch ganz viel Lebenszeit haben. So wie es ausschaut, werde ich die auch noch bekommen. Vielleicht mit ein paar Einschränkungen. Aber ich werde sie haben. Und mehr ist jetzt nicht wichtig.

KAPITEL 4

Am nächsten Morgen bekomme ich meine erste Kortisoninfusion. Ich habe mich erst gegen das Kortison gewehrt. Ich nehme eigentlich nicht häufig Medikamente. Sogar die Antibabypille habe ich vor über drei Jahren abgesetzt. Ständig hatte ich nicht definierbare Wassereinlagerungen in den Beinen und im Gesicht. Seitdem ich die Pille nicht mehr nehme und generell versuche, kleine Wehwehchen wie zum Beispiel Kopfschmerzen alternativ, also mit einem Kühlkissen oder mit Zitronensaft in Espresso, zu bekämpfen, geht es mir in Bezug auf die Wassereinlagerungen viel besser. Und jetzt soll ich so etwas Fieses wie Kortison gespritzt bekommen? Das muss doch Gift sein! Allerdings haben hier weder die Krankenschwestern noch die Ärzte Zeit und Muße, sich mit meinem – für sie nichtigen – Problem auseinanderzusetzen. Sie schauen mich verständnislos an, als ich sie frage, ob das Kortison wirklich sein muss.

Ich rufe meine Heilpraktikerin an und sie beruhigt mich. Klärt mich auf, dass ich das Kortison nun besser nehme, da es bei solchen Nervenentzündungen zur Standardtherapie gehört. Sie ist die erste Person, die mir zuhört, meine Bedenken ernst nimmt und mir Mut zuspricht. »Mach das jetzt!«, sagt sie. »Wenn du hinterher gesundheitliche Probleme haben solltest, kümmern wir uns dann darum. Aber wenn wir jetzt nicht mit Kortison behandeln, dann haben sie keine Alternative im Krankenhaus für dich. Deine Symptome können durch das Kortison gestoppt werden und möglicherweise wieder zurückgehen. Du hast eigentlich keine andere Wahl, als es zu nehmen.«

Also wehre ich mich nun nicht mehr und hänge am Tropf. Drei Stunden lang tropft das Kortison in meine Venen. Dabei breitet sich ein metallener Geschmack auf meiner Zunge aus. Mir ist etwas flau, und mein Magen schnürt sich zu. Nach einer halben Stunde am Tropf ist es schon so weit, dass mir beim Gedanken an Essen ganz schlecht wird. Aha, so sind also die ersten Anzeichen des Kortisons. Natürlich hatte ich vor der Infusion wieder Dr. Google zu möglichen Nebenwirkungen des Medikaments befragt. Aber so genau sind sie nicht vorauszusagen. Sie sind zu unterschiedlich. Manche Menschen bekommen Fressattacken, bei anderen sorgt es für eine Magenschleimhautentzündung oder aber auch für Schlaflosigkeit, sogar zu einer depressiven Stimmung kann es kommen. Wieder andere werden davon aufgedunsen, weil sie Ödeme, also Wassereinlagerungen, bekommen. Sehr häufig kommt es zu einer Lichtempfindlichkeit sowie zu schnellem Sonnenbrand. Der Strauß an Möglichkeiten ist also bunt, mal schauen, was bei mir eintreten wird. Fressattacken schließe ich in meinem momentanen Zustand erst einmal aus.

Nach drei Stunden bin ich fertig und kann das Krankenhaus bis zum Abend verlassen. Paul holt mich ab, um den Tag mit mir zu verbringen. Er fragt mich, was ich unternehmen möchte.

»Kaffee, ich möchte endlich mal wieder einen anständigen Kaffee trinken gehen«, ist meine Antwort. Also machen wir das erst einmal. Danach fahren wir in unsere Wohnung, wo es herrlich still ist. Es ist so schön, vom Krankenhausalltag mit seinem kontinuierlichen Lärm eine kleine Auszeit zu bekommen. Ich schaue mir die Fotos von unseren Freunden und der Familie an, die bunt zusammengewürfelt an der Wand über dem Sessel hängen. Dabei denke ich an die vielen Momente, die ich mit jeder einzelnen Person verbracht habe. Damals, als ich noch nicht krank war. Ich versuche, etwas zur Ruhe zu kommen. Und zu fühlen, wie das Leben mit Krankheit ab sofort wohl ist. Aber ich habe keine Ahnung.