Alma - Evelyne Quadrelli - E-Book

Alma E-Book

Evelyne Quadrelli

0,0

Beschreibung

Alma lebt mit ihrer Familie in dem kleinen Bündner Bergdorf Affeier. Das Leben in den 30er Jahren ist nicht immer einfach. Alma ist klein und schmächtig. Doch jeder der sie kennt, weiss was in ihr steckt. Sie ist ein Kind der Berge, wild und zäh wie die Natur, frei wie der Wind, stark und ausdauernd wie ein Wildbach, mit dem Kopf voller Flausen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 157

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Evelyne Quadrelli

Alma

 

 

 

Dieses eBook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

WIDMUNG

FAMILIE

RACHE IST SÜSS

SCHULE

LEICHT VERDIENTES GELD

WAS SEIN MUSS, MUSS SEIN

ALLTAG

DIE FERIEN STEHEN VOR DER TÜR

REISE NACH VRIN

DER ERSTE TAG

DER ZWEITE TAG IN DER FREMDE

SONNTAG

MARLIES UND DER DORFLADEN

EINE HARTE WOCHE

SONNTAG UND DIE HOSANGS KOMMEN

VORBEI, DIE ZEITEN DER SCHELTE

GEFAHR IM WALD

NUR NOCH DREI TAGE

REISE NACH HAUSE

BESUCH VON FRAU CADUFF

ZWEI, DIE SICH GEFUNDEN HABEN

WINTER IN DEN BERGEN

DIE HOCHZEIT

DIE AUTORIN

Impressum

WIDMUNG

FAMILIE

Es war Abend und die ganze Familie saß am Esstisch. Der Tisch war lang mit einer massiven Eichenplatte und massigen Tischbeinen. Schließlich mussten acht Leute an ihm Platz finden und mehr, wenn Besuch kam. In der Mitte dampfte eine Gemüsesuppe und verströmte einen leckeren Duft.

Ungeduldig saßen fünf der sechs Kinder da, den Löffel bereits in der Hand, und lautes Geplapper, manchmal auch Geschrei und Gezänk, erfüllte die geräumige Küche. Es war ein Spiel, dem Tischnachbarn den Holzlöffel auf den Kopf zu schlagen und dann unschuldig zu pfeifen oder sich gar unter dem Tisch gegenseitig zu treten.

Das Baby Lena hatte seinen Brei bereits erhalten und schlief friedlich in der Stube im Korb.

Die Mutter kümmerte sich nicht um den Lärm und schöpfte allen eine Kelle Suppe in die Teller, ehe sie sich wieder setzte und ihren Gedanken nachhing.

Der Vater stand oben am Ende des Tisches und nahm den Laib Brot an sich. Er war ein großer, starker Mann mit rabenschwarzen, nach hinten gekämmten Haaren. Bevor er von dem Laib abschnitt, ritzte er andächtig mit dem Messer ein Kreuz als Zeichen der Dankbarkeit in den Brotboden. Danach begann er, gleichmäßige Scheiben davon abzuschneiden und reichte all seinen Lieben je eine. Niemandem auf der ganzen Welt wäre es gelungen, solch gerade und immer gleich dicke Stücke zu schneiden wie Moritz. Hätte man mit einem Lineal nachgemessen, hätte man gestaunt über die Genauigkeit seiner Schnitte. Dem Vater gab es ein gutes Gefühl, jeden Abend das duftende Brot für die Familie zu schneiden. Denn in dieser Zeit war es nicht selbstverständlich, dass das Essen für alle reichte und auch noch schmeckte.

Als jeder eine Brotscheibe neben dem Teller liegen hatte, setzte sich Moritz hin, dann wurde es ganz still. Alle legten die Löffel beiseite und falteten die Hände zum Gebet. Der Vater sprach immer dasselbe kurze Dankgebet, und seine tiefe, wunderschöne Stimme durchdrang den Raum. Kaum hatte er fertig gesprochen, wurde wieder wild durcheinandergeplappert und die Suppe gelöffelt. Es gab genug, und oft wurde dazu auch noch ein Stück Wurst oder Speck gereicht.

»Ich habe heute mit einigen Buben meiner Klasse gekämpft und alle besiegt«, rief Bruno über den Tisch. Keiner hörte zu und zollte ihm den erhofften Respekt. Jeder wusste, dass er, der Zweitälteste der Kinder, nur ein Angeber war. In Wirklichkeit war Bruno ein Angsthase und versteckte sich jammernd hinter dem Rock der Mutter, wenn es ernst wurde. Er war groß für seine zwölf Jahre, aber weil er immer sehr vorsichtig und ängstlich war, konnte er niemanden beeindrucken.

Der Erstgeborene war der hochgewachsene und starke vierzehnjährige Peter. Beinahe sah er aus wie eine Miniaturausgabe des Familienoberhauptes. Selbst seine Haare trug er wie sein Vater, und im Armdrücken konnte es keines seiner Geschwister, auch keines der Nachbarskinder, mit ihm aufnehmen.

Und dann war da noch Alma, die Drittälteste. Vor Kurzem hatte sie ihren zehnten Geburtstag gefeiert. Es gab selbst gebackenen Kuchen mit extra vielen Eiern und als Geschenk einen neuen Mantel, den ihre Mutter aus Ilanz besorgt hatte. Alma besaß langes, braunes Haar, das sie, wie alle Mädchen zu jener Zeit, zu zwei dicken Zöpfen flocht. Ihre Haut war immer leicht gebräunt und verlor selbst im Winter die Farbe nicht. Sie war ein hageres, schmächtiges Kind. Überall zeichneten sich die Knochen ab, und die Kleider, die sie trug, wirkten immer viel zu groß.

Jeder, der sie kannte, wusste jedoch, dass es kaum ein zäheres Mädchen gab, und ihre Unerschrockenheit und ihr Mut beeindruckten alle. Keines der vielen Kinder im Dorf wollte Streit mit ihr anfangen, denn obwohl keine Muskeln am Körper von Alma zu sehen waren, verfügte sie über Kraft und Ausdauer.

Schon bei ihrer Geburt – zu einem solchen Anlass wurde immer die alte Hebamme aus dem Nachbardorf gerufen – staunten alle, was da für ein knochiges, kleines Bündel auf die Welt kam. Kaum ein Gramm Fett war an dem Babykörper zu entdecken, und es sah zunächst aus, als würde das Mädchen nicht überleben.

Die Hebamme, die viel Erfahrung hatte, sagte beim Anblick der kleinen Alma, dass man dieses unterentwickelte Kind am besten gleich über die Bettkante schlagen sollte, um das arme Ding nicht lange leiden zu lassen. Noch im gleichen Atemzug fügte sie in einem gleichgültigen Tonfall an: »Das Kind wird niemals die erste Nacht überstehen.«

Damit forderte sie aber nur den Beschützerinstinkt der Mutter heraus. »Nichts da, gib mir mein Kind. Wir werden es schon groß bekommen. Geh du nur nach Hause und lass mich machen«, war ihre Antwort auf die Ungeheuerlichkeit des alten Weibes. Sie legte Alma an ihre Brust, versuchte sie zum Saugen zu animieren und versäumte es trotzig, sich von der Hebamme zu verabschieden.

Und tatsächlich, das Mädchen war zäh und wuchs.

Es war nicht etwa so, dass Alma zu wenig aß. Im Gegenteil, sie konnte schwindelerregende Portionen verschlingen, nur wusste niemand, wo die gegessenen Kalorien hinkamen.

Als Alma zwei Jahre alt war, gebar die Mutter Zwillinge, Ursina und Hanna. Bis auf die braunen, dicken Zöpfe und die Nase unterschieden sich die beiden Mädchen stark von Alma, und so mancher schüttelte ungläubig den Kopf, wenn er hörte, dass die drei Schwestern sein sollten.

Hanna und Ursina waren kugelrund, und – wie der Vater sagte – richtige kleine Weiber. Sie fürchteten sich vor Spinnen und Mäusen, ekelten sich vor Fröschen und Blindschleichen und hatten Angst im Dunkeln. Die eitlen Zwillinge gingen sorgsam mit ihren Kleidern um und die Haarschleifen waren immer ordentlich gebunden. Jede von ihnen wollte die Schönere sein, was ein unmögliches Unterfangen war, wo sie sich doch glichen wie ein Ei dem anderen.

Baby Lena war ein richtiger Wonneproppen mit dicken Pausbacken und Windeln, die um den Bauch spannten. Sie war ein Nachzügler und wurde von allen mit Aufmerksamkeit verwöhnt.

RACHE IST SÜSS

Alle saßen satt am Tisch und legten die Löffel weg. Die Mutter, ihr Name war Maria, stand auf und wollte den Rest der Suppe wegstellen, damit sich keine Fliege daran laben konnte.

»Halt, ich möchte noch etwas«, protestierte Alma.

Die Mutter schöpfte ihrer Tochter kopfschüttelnd eine weitere Kelle Suppe in den Teller, und ohne dass Alma darum bat, schnitt der Vater eine weitere Scheibe Brot.

»Wo steckst du das alles bloß hin, Kind? Von deinen Portionen könnten andere Familien ihre ganze Kinderschar satt kriegen«, bemerkte der Vater, erwartete aber keine Antwort, weil es bei jedem Essen so war, dass Alma Nachschlag verlangte.

»Wer geht von euch nachher in den Keller und holt mir einen Korb Äpfel?«, fragte die Mutter.

»Ich muss noch kurz zu Paul, die Hausaufgaben bringen. Er ist krank«, erklärte Bruno und hatte damit eine gute Ausrede, um nicht in den dunklen Keller steigen zu müssen.

»Peter und ich müssen in die Werkstatt. Ich brauche seine Hilfe beim Zuschneiden einiger Bretter«, sagte der Vater, tippte seinem Ältesten an die Schulter und stand auf. Moritz besaß eine eigene kleine Schreinerei, und wenn viel Arbeit anstand, kam es vor, dass er nach dem Abendessen weiterarbeitete.

»Ich will nicht, Mama«, ließ Hanna verlauten.

»Wir beide holen Holz und helfen dir nachher beim Abwasch«, bestimmte Ursina, nahm schnell ihre Schwester bei der Hand und zog sie aus der Küche. Jede Hausarbeit war besser, als in den dunklen Keller zu gehen, der voller fetter Spinnen war und schon bedrohlich wirkte, wenn man die Falltür im Eingangsbereich des alten Hauses öffnete.

»Ich gehe, Mama. Brauchst du sonst noch etwas?«, wollte Alma wissen und ließ den letzten Bissen Brot in ihrem Mund verschwinden.

»Nein, nur die Äpfel«, gab die Mutter zur Antwort und begann den Tisch abzuräumen.

Der kleinen Alma machte es nichts aus, in den Keller zu steigen. Vor was sollte man sich dort schon fürchten? Es war spannend da unten, und es gab jede Menge Eingemachtes, von dem sich das Mädchen immer heimlich noch etwas in den Mund stopfte. Einmal hatte sie ein ganzes Glas Marmelade aufgeschleckt und das leere Glas hinter einem Regal versteckt. Weil Alma später zwischen den Zähnen Brombeerkernchen hatte, war die Mutter ihr auf die Schliche gekommen und hatte mit ihr geschimpft. Vor ihr musste man sich sowieso in Acht nehmen. Manchmal wurde ihr die viele Arbeit, die die Kinder mit sich brachten, und der große Haushalt zu viel. Die Streiche ihres Nachwuchses taten ihr Übriges und es setzte hin und wieder eine tüchtige Ohrfeige. Trotz ihrer massigen Fülle vermochte die Mutter ihren flinken Kindern über Stock und Stein nachzurennen, wenn sie die Wut packte.

Der Vater war ein ruhiger Mann mit Nerven wie Drahtseile. Niemals schlug er eines seiner Kinder. Er brauchte nur seine tiefe, schöne Stimme bedrohlich zu erheben und die Kinder wussten, was sie zu tun hatten.

Die Falltür knarrte beim Öffnen und übertönte das Geschepper des Geschirrs aus der Küche.

Alma hielt eine Petroleumlampe in der einen Hand und mit der anderen hob sie ihren Rock, der außer zu weit auch noch zu lang war. So ging sie die steile Holztreppe hinunter in den kühlen Keller. Es war ein Naturkeller und der Geruch von lehmiger Frische stieg empor. Unten angekommen, lief sie den unebenen Fußboden entlang zur hintersten Ecke. Dort befanden sich zwei Kisten, eine mit Äpfeln und eine mit Kartoffeln. Sie schnappte sich den Bastkorb, der daneben lag, und begann ihn mit Äpfeln zu füllen. Als sie fertig war, ließ Alma den Schein ihrer Lampe über die Regale wandern. Überall standen Gläser und Töpfe mit verschiedenen Inhalten, die die Mutter mit viel Arbeit zubereitet hatte. Da waren Kirschen vom letzten Sommer, eingemacht in einem süßen Sirup. Jede Menge Marmeladen- und Honigtöpfe, frische Hefe für den Zopf, den es am Sonntag immer gab, saure Gemüsestückchen, gedörrte Bohnen und noch vieles mehr. Alles fein säuberlich abgepackt, damit die eventuell vorhandenen Mäuse und Ratten keine Chance hatten, sich an all den leckeren Sachen zu vergreifen.

Alma wollte schon zurück zur Treppe laufen, als sie eine hübsche rote Pappkiste neben dem Honig entdeckte. Neugierig stellte sie die Lampe auf den lehmigen Fußboden und öffnete die Kiste vorsichtig. Es kamen sechs Tafeln dunkle Schokolade zum Vorschein.

Oh, genau danach gelüstete es das Mädchen im Moment. Ohne darüber nachzudenken, packte sie eine der Tafeln aus. Gab sich aber Mühe, das Papier nicht zu zerreißen. Sie brach ein großes Stück Schokolade ab und ließ es sich genüsslich auf der Zunge zergehen. Es war wundervoll, denn Schokolade gab es nicht alle Tage. Es war natürlich klar, dass die Mutter mit der Süßigkeit etwas vorhatte. Alma bekam ein schlechtes Gewissen und bereute, davon genascht zu haben. Schnell strich sie die Verpackung glatt und richtete die Tafel so her, dass das Fehlen der Riegel nicht auffiel. Zu guter Letzt legte sie die angebissene Schokolade ganz unten in die Kiste und stapelte die anderen Tafeln darauf. Deckel zu, und niemand würde etwas bemerken, so hoffte sie jedenfalls.

Schnell stieg sie die Treppe empor, und die Abendsonne, die zur offenen Haustüre hereinschien, blendete sie.

Ihre Schwestern kamen soeben mit jeweils beiden Armen voller Brennholz zur Türe hinein. Alma schloss die Falltür und wunderte sich, warum die Zwillinge sie so blöde anschauten.

»Du hast wieder irgendetwas im Keller gegessen!«, schrie Hanna, und Ursina stürzte bereits in die Küche und berichtete es ihrer Mutter, die gerade dabei war, die Lauge für den Abwasch zu richten.

Alma stand immer noch im Gang und konnte sich nicht erklären, wie die beiden sie so schnell durchschaut hatten. Schon kam die Mutter angelaufen. Sie schaute Alma prüfend an und entdeckte sofort die braune Spur um den Mund. Sogleich wusste sie, wovon ihre Tochter genascht hatte.

»Du hast von der Schokolade gegessen!«, schrie sie empört. Noch ehe Alma etwas sagen konnte, bekam sie eine saftige Ohrfeige und der Korb mit den Äpfeln glitt ihr aus den Händen.

Alma öffnete ihren Mund, um sich zu verteidigen, aber die Mutter wollte keine Erklärungen hören. Sie war wütend. »Diese Schokolade war für die alte Josefina!« Die Frau lebte am Dorfrand und konnte kaum mehr zu Fuß gehen. »Sie bat mich, ihr die Schokolade zu besorgen und hatte sie schon bezahlt. Morgen wollte ich sie ihr bringen, du dummes Ding!«, schnaubte die Mutter und musste sich zusammennehmen, um ihrer Tochter nicht noch auf die andere Backe zu schlagen.

»Das habe ich nicht gewusst«, sagte Alma kleinlaut.

Die Mutter schickte das Kind zur Strafe in die Küche, um den Abwasch alleine zu erledigen.

Die Zwillinge fanden das lustig, hatten sie doch jetzt mehr Zeit zum Spielen, bis sie ins Bett mussten.

Wütend wegen des Verrates ihrer Schwestern erledigte das Mädchen den Abwasch, und während sie die eingetrocknete Schokolade um ihren Mund ableckte, schmiedete sie einen Plan, um es den Zwillingen heimzuzahlen.

Alma brauchte nicht lange zu überlegen, und noch bevor sie mit dem Abtrocknen begann, wusste sie, wie sie sich rächen konnte.

Es war schon spät. Höchste Zeit für die Kinder, ins Bett zu gehen. Schließlich hatten sie morgen Schule, und der Weg dorthin war lang. Im Nachbardorf war die einzige Schule weit und breit, in die sämtliche Kinder der ganzen Gegend gingen.

Die Jungen teilten sich eine Kammer zum Schlafen. Jeder von ihnen hatte ein eigenes Bett mit einer dicken Federdecke und einem schweren Leintuch zur Verfügung. Die Mädchen schliefen nebenan. Ihre Kammer war etwas größer als die der Buben, enthielt aber trotzdem nur zwei Betten. Das eine teilten sich die Zwillinge, die sowieso unzertrennlich waren, während das andere ganz alleine Alma gehörte. Wenigstens solange, bis Baby Lena nicht mehr bei den Eltern im Kinderbettchen schlafen würde. Die Kammer bot Platz für eine Kommode, auf der eine Waschschüssel und ein Krug mit Wasser standen. Im Winter wurde das Zimmer so kalt, dass man am Morgen, bevor man sich waschen konnte, zuerst das Eis im Krug zerschlagen musste.

»Geht alle noch zum Brunnen und wascht euch. Danach komme ich, um euch eine gute Nacht zu wünschen«, verkündete die Mutter. Sofort liefen die Geschwister nach draußen, um sich die gröbsten Schmutzkrusten von Gesicht und Händen zu waschen. Das Wasser war sehr kalt, was allerdings nur im Winter ein Problem war.

Alma war als Erste fertig und verschwand bereits wieder im Haus, während die anderen sich noch eine kleine Wasserschlacht boten. Im Normalfall hätte das Mädchen bei diesem Spiel gerne mitgemacht. Heute führte sie jedoch etwas anderes im Schilde. Sie schlich heimlich in die Kammer der Eltern, in der Lena bereits schlief.

Mutter und Vater saßen in der Küche und tranken einen starken Kaffee.

Der schwere Holzschrank verursachte beim Öffnen knarrende Geräusche, aber Lena schlummerte weiter, schließlich war sie Lärm gewohnt. Schnell entnahm Alma aus dem untersten Fach ein altes Leintuch und verschwand damit in ihrer Kammer. Brav zog sie sich ihr steifes Nachthemd über, schlüpfte unter die Decke und las im Kerzenschein nochmals das Gedicht, das sie am nächsten Tag in der Schule auswendig können musste.

Das Getrampel der anderen, als sie die Holztreppe emporstiegen, verkündete der Mutter, dass sie nun die Gutenachtküsse verteilen konnte. Die Lichter wurden gelöscht, und die Kinder schliefen müde ein. Nicht sehr viel später gingen auch die Eltern schlafen, und es wurde ruhig im ganzen Haus.

Alma kämpfte gegen die Müdigkeit an. Immer, wenn ihr die Augenlieder schwer wurden, erinnerte sie sich selbst an das bevorstehende Spektakel und war sofort wieder hellwach.

Sie wartete an die drei Stunden, ehe sie sich leise von ihrem Bett erhob. Mit einem Kissen formte sie einen Körper, sodass es auf den ersten Blick aussah, als würde sie in ihrem Bett liegen. Vorsichtig, damit der Boden nicht knarrte, verließ sie das Zimmer. Sie stieg hinunter in die Küche, entzündete die kleine Lampe auf dem Tisch und entfaltete das alte Leintuch, das sie unter ihrem Arm trug. Mit der Schere, die im Küchenkasten lag, schnitt sie zwei Löcher in den Stoff und gleich noch ein Stück der Hanfschnur ab, die sie in der Schublade darunter fand. Rasch stülpte sich das Mädchen das Tuch über den Kopf, platzierte die ausgeschnittenen Augenöffnungen und band sich die Schnur um die Hüfte.

Die Lampe nahm sie unter das Gewand, um den Gruseleffekt zu verstärken. So leuchtend stieg sie die Treppe hoch zu ihrer Kammer, wo die Zwillinge abwechselnd schnarchten.

Leise trat Alma an das Bett der Schwestern und begann mit hoher Stimme zu jammern und johlen. Es dauerte eine Weile, bis Ursina genervt erwachte.

»Ah, Mama!«, schrie sie. Ihre Augen waren beinahe so groß wie die Äpfel, die Alma heute aus dem Keller geholt hatte. Mit ihrem Aufschrei riss sie Hanna aus dem Schlaf, die mit noch lauterem Gebrüll um Hilfe rief.

Jetzt war Alma zur Hochform angelaufen. Sie knurrte und gurrte mit wild um sich fuchtelnden Armen.

Irgendwie gelang es den Zwillingen, an dem Gespenst vorbei aus ihrem Nachtlager zu springen und mit angsterfülltem Geschrei in die Kammer der Eltern zu stürmen.

Dort weinte bereits Lena, die aus ihrem sonst so tiefen Schlaf gerissen wurde. Mutter und Vater saßen kerzengerade in ihrem Bett.

»Papa, da … da … da …«, stammelte Ursina. Ihr Herz klopfte hart gegen ihre Brust.

Die beiden Mädchen rangen nach Atem und brachten keinen zusammenhängenden Satz heraus. Ängstlich klammerten sie sich an die Eltern, die immer noch mit fragendem Gesichtsausdruck dasaßen. So hatte Alma genügend Zeit, die Gespensterverkleidung abzustreifen. Sie versteckte alles unter ihrem Bett und löschte die Lampe.

»Ein Gespenst in unserem Zimmer!«, hörte nun Alma die Schwestern zetern, während sie in ihr Bett schlüpfte und sich schlafend stellte.

»Was sagt ihr da? Es gibt überhaupt keine Geister«, ließ der Vater mit ruhiger Stimme verlauten und stand auf.

Die Mutter zweifelte an den Worten ihres Mannes, war sie doch zutiefst abergläubisch.

Die Zwillinge nahmen ihren Vater an der Hand und führten ihn in ihr Zimmer. Moritz spürte das Zittern ihrer Hände und stellte fest, dass seine Töchter kreidebleich waren.

Mit sicherem Abstand folgte die Mutter und ließ Lena einfach in ihrem Kinderbettchen weiter schreien. Die Kammertüre der Buben stand einen Spalt offen und Peter und Bruno streckten mit kleinen, verschlafenen Augen ihre Köpfe hinaus.

Als die ganze Familie in der Kammer der Mädchen versammelt war, richtete sich Alma unschuldig dreinblickend auf und tat so, als ob sie gerade erst wach wurde.

Der Vollmond schien und erhellte den Raum.

»Da ist nichts, ihr habt bloß geträumt«, sagte der Vater und löste sich von dem festen Griff der Zwillinge.

»Doch, doch, wir haben es mit unseren eigenen Augen gesehen. Es war grässlich und es hat geknurrt!«, rechtfertigte Ursina den nächtlichen Aufruhr.