Als die Welt ganz war - Varujan Vosganian - E-Book

Als die Welt ganz war E-Book

Varujan Vosganian

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Beschreibung

Petrache, der Kustos eines Museums, in dem nachts merkwürdige Dinge vor sich gehen, verführt seine Freundin in der Kabine eines rostigen Krans, inmitten eines Parks der „Monster von einst“. Die Chirurgin Cosmina zieht einen Mann, der sich aus dem fünften Stock gestürzt hat, zurück ins Leben. Vor Coltuc, ohne Beine auf einem Wägelchen am Straßenrand sitzend, defilieren Menschen wie Tiere: Gänse mit wiegenden Hüften, Pelikane mit klappernden Schnäbeln … Die Erzählungen von Varujan Vosganian, dessen armenische Familiensaga „Buch des Flüsterns“ für Furore sorgte, handeln auf den ersten Blick von einer märchenhaft-dunklen Gegenwart und wurzeln dabei im Trauma der Geschichte von Rumänien.

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Seitenzahl: 451

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Petrache, der Kustos eines Museums, in dem nachts merkwürdige Dinge vor sich gehen, verführt seine junge Freundin in der Kabine eines vor sich hin rostenden Krans, inmitten eines Parks der »Monster von einst«. Die junge Chirurgin Cosmina zieht einen Mann, der sich aus dem fünften Stock gestürzt hat, zurück ins Leben, während ihr in den Lagern gefolterter Großvater von den Dämonen nicht mehr loskommt. Vor Coltuc, ohne Beine auf einem Wägelchen mit Rädern am Straßenrand sitzend, defilieren Menschen wie Tiere: Gänse mit wiegenden Hüften, Kernbeißer mit gedrungener Nase, Pelikane mit klappernden Schnäbeln …

Die Erzählungen von Varujan Vosganian, dessen armenische Familiensaga Buch des Flüsterns für Furore sorgte, handeln auf den ersten Blick von einer märchenhaft-dunklen Gegenwart und wurzeln dabei im konkreten Trauma der rumänischen Vergangenheit, die nicht vergehen will.

Zsolnay E-Book

Varujan Vosganian

Als die Welt ganz war

Erzählungen

Aus dem Rumänischen von Ernest Wichner

Paul Zsolnay Verlag

Inhalt

Ein Bund Liebstöckel

Als die Welt ganz war

Jacob, Sohn des Zevedei

Beim letzten Gericht der Statuen

Ein Bund Liebstöckel

Während die Zeit verging, spürte sie, dass sie immer weniger sie selbst und zunehmend der Name war, den andere ihr gegeben hatten. Vor allem wenn ein Polizist ihre Papiere verlangte, diese genau anschaute, sie hin und her wendete, verkrampfte sich etwas in ihrer Brust und bildete ein Knäuel. Was mag darin so betrachtenswert sein, fragte sie sich, wenn Beamte lange über diesem bezogenen Karton brüteten, ihn mit ihren Blicken taxierten – dann legte sie sich eine neutrale Mimik zu, damit sie dem Foto auf dem Ausweis glich –, um anschließend wieder zu den Zahlen zurückzukehren, die ihr Wesen entschiedener erfassten und einzwängten als vier Sargbretter.

In der Dienststelle war es warm. Der Polizist hatte seine Uniformjacke aufgeknöpft, die Krawatte hing schief. Aber er hatte die Mütze aufbehalten, als wäre die Überprüfung ihrer Papiere ein Zeremoniell, das eine bestimmte Haltung vorschrieb. Und wie jedes Mal, wenn sie sich in solch eine lästige Situation gebracht sah, flüchtete sich Rada in Details. Es fiel ihr auf, dass der Tag auf dem Kalender an der Wand längst vorbei war. In der Ecke unter dem Plafond, wo die drei Kanten aufeinanderstießen, hatte sich Staub auf ein Spinnennetz gelegt, und es zitterte wie im Todeskrampf eines imaginären Insekts. Von den beiden Neonröhren funktionierte nur eine und spendete ein Licht, das zu dieser späten Vormittagsstunde vollkommen überflüssig war. Und auf der Mütze begann sich ein Schweißring abzuzeichnen wie eine unterdrückte Aura. Sie erschrak, als der Polizist seinen Blick hob und ihr schließlich die Papiere hinstreckte.

Nehmen Sie Platz und warten Sie, sagte er und wies nach hinten. Tatsächlich, das Warten. Der schwerste Teil.

Der Polizist erhob sich hinter seinem Pult, auf dem sich lediglich ein Register befand, in das er mit einem Kopierstift linkisch ein paar Großbuchstaben eingetragen hatte. Er knallte die Mütze auf seinen Schreibtisch, wischte die Schweißreste von seinem kahlen Schädel und legte sich eine feuchte Haarsträhne quer darüber. Er lächelte nicht, aber in seinem Gesicht war etwas Amüsiertes, das vielleicht von seinen eng beieinanderstehenden Augen im Kontrast zu den weit ausgebeulten Pausbacken herrührte. Und damit klar sei, dass Amüsement nur einer der beiden Seiten zustand, packte er seinen Gummiknüppel und rammte ihn dem Mädchen derart unerwartet an die Brust, dass sie das Gleichgewicht verlor. Hör mal, Häschen, zischte er und beugte sich zu dem auf dem Boden hockenden Mädchen hinab, die besten Freunde eines Polizisten sind Prügel und Warten. Was möchtest du zuerst kennenlernen?

Rada sah, wie er zu seinem Register zurückging, hineinschaute, ohne darin zu lesen, und dann ein verunglücktes Dankeschön hören ließ. Sein Kollege, den sie nur einen Augenblick gesehen hatte, streckte sich einmal und zog seinen Kopf gleich wieder zurück zwischen die Schultern der aufgeknöpften Uniformjacke. Rada presste ihre Handtasche an die Brust und setzte sich auf die an der Wand befestigte Bank. Neben ihr kauerte ein Säufer, der sich ab und zu mit dem Ärmel den Mund abwischte, immer mit dem rechten, denn der linke war mit Handschellen an das Heizungsrohr gefesselt. Als er sich beobachtet fühlte, hob er kurz die wässrigen Augen und hörte auf mit den murmelnden Selbstgesprächen. Er stützte den Kopf auf den in den Handschellen steckenden Arm, als gehörte dieser nicht mehr zu ihm.

Rada schaut einen Augenblick lang zu, und aufs Neue kommen ihr Details von früher in den Sinn. Das Blut entweicht aus ihrem Arm, er beginnt zu zittern. Sie zieht daran und hofft, die Kette würde reißen, ihr Arm zu ihr zurückkehren. Aber das passiert nicht; nur der stärkste Mann der Welt kann seine Fesseln sprengen, und dies auch nur, wenn sie angefeilt sind. In solchen Situationen ist nicht derjenige der Stärkste, der aufreißt und sprengt, das ist nicht möglich. Der stärkste Mann der Welt ist derjenige, der durchhält. Schließlich schläft der Arm ein, und sie hat das Gefühl, er gehöre nicht mehr zu ihr. Sie legt den Kopf auf die Schulter, und nun kommt alles, was sie noch spürt, von der Schläfe her, nicht vom Arm, der gefühllos ist wie eine Wand. Gäbe es da nicht das Blut, das ihr weiterhin aus den verklebten Strähnen tropft, sie wüsste nicht, wo sich der Rand ihres Körpers befindet und wo die Welt ringsum sich ihr zu widersetzen beginnt. Anfangs fiel ein Blutstropfen, wenn sie bis zwanzig gezählt hatte. Dann bis dreißig. Ein letzter Tropfen fiel, nachdem sie bis zu einer Minute gezählt hatte. Sie hatte den Eindruck, diese Dinge geschähen jemand anderem, als wären die Tropfen von einer Traufe gefallen. Die Seele löst sich leichter vom Leib ab als das Blut vom Blute.

Sie können ihn losmachen, sagte Rada, indem sie auf den Säufer wies und dabei die Worte eines anderen von vor langer Zeit wiederholte. Der kann sich nicht einmal mehr auf den Beinen halten, geschweige denn abhauen …

Der Polizist hob seinen Blick nicht vom Register, in dem sich die Menschen in nummerische Codes verwandelten, deutlicher oder blasser, je nachdem, wie gut der Kopierstift zwischen den Lippen angefeuchtet worden war. Und doch kam die Antwort sowohl von dem alten Polizisten als auch von dem neuen.

Lassen Sie es gut sein … Sie haben keine Ahnung, wozu die in der Lage sind.

Der Säufer neigte den Kopf; das war alles, was er tun konnte.

Hast du Durst, fragte ihn Rada.

Der alte Säufer rührte sich zuerst nicht. Dann schien es, als würde er jünger, und bejahte.

Er hat Durst, übersetzte Rada. Geben wir ihm etwas zu trinken.

Was der trinken will, haben wir hier nicht, grinste der Polizist.

Der Säufer hatte schon vergessen, was er wollte, neigte wieder die Stirn auf den Arm, schloss die Augen und begann zu murmeln; womit er zu verstehen gab, dass er niemandem etwas übelnahm. Starker Uringeruch machte deutlich, dass es sich dabei nicht um die erste Frage handelte, die ihm nicht gestellt worden war. Als das Telefon klingelte, schrak er keineswegs hoch, offenbar konnte ihn nichts mehr aus der Ruhe bringen. Rada hingegen spürte das Klingeln unmittelbar im Magen, wo sich das Knäuel noch nicht entwirrt hatte. Der Polizist nahm den Hörer ab und hörte nur zu; tatsächlich war das Gespräch für sie, der Uniformierte wies sie zur Tür nebenan. Sie stand auf. Schließlich, sagte sie zu sich selbst, hat mich niemand gezwungen zu kommen, diesmal hätte ich ablehnen können. Der Polizist war höflich gewesen am Telefon, alle waren sie höflich, sie aber hatte keine Zeit gehabt zu genesen. Das Zimmer war genauso leer wie das andere, nur ein Tisch und ein Stuhl, ein khakifarbener Metallschrank und noch ein Stuhl, der zu niemandem gehörte, und ganz gewiss hätte niemand an diesem Ort etwas beansprucht. Der, der hier an seinem Schreibtisch saß und sie gleichgültig anschaute, hatte das gleiche Gesicht wie der, an dem sie soeben vorbeigegangen war.

Der neue Polizist, der wie der andere aussah, wies auf den Stuhl. Rada verstand nicht, warum sie sich zum Fotografieren auf den Drehstuhl setzen musste. Das Gesicht geradeaus, die Hände auf die Knie. Das Kinn gereckt. Jetzt den Kopf zur Seite, Blick geradeaus, ich habe gesagt, geradeaus, Idiotin, schau nicht in den Apparat. Übrigens hatten sie nur damals verlangt, sie solle nach vorne schauen, und das Licht, das eine Art silbriger Regenschirm auffing und auf ihr Gesicht richtete, hatte sie ganz einfach geblendet. Ansonsten, Augen nach unten, ihr Lumpen, auf die Schuhspitzen, oder bestenfalls mit gespreizten Beinen und hochgereckten, an die Wand gelegten Händen. Rada hatte sich verstohlen umgesehen, da eine Gesichtshälfte und dort eine Miene, hatte sich aus zusammengeklaubten Einzelheiten ein kollektives Porträt geschaffen, aber das half ihr überhaupt nicht, irgendjemanden zu identifizieren. Schneller, schallte aus dem Versteck des starken Lichts heraus eine kräftige Stimme, eine, die sie geradezu anrempelte, der Nächste! Sie schaute sich um, jenseits ihres Stuhles war niemand mehr, auch hinter ihr wartete niemand. Und trotzdem war sie gefallen, vielleicht wegen des Lichts, das sie geblendet hatte, vielleicht auch wegen der sinnlosen Hast, mit der sie sich wie eine Schlafwandlerin jener Stimme unterworfen hatte. Der Schnürstiefel, der ihr in den Bauch trat, hätte nicht sprechen können. Dort aber war alles möglich, die Wände konnten auf dich einschlagen, die Worte, selbst das Blut konnte einen von innen her schlagen. Ebenso wie das blendende Licht einen anzublaffen vermochte, konnte der Gummiknüppel zwischen den Rippen oder über den Nieren stöhnen und der Schnürstiefel mit seinen kantigen Stahlkappen knirschen. Ebendeshalb hörte sie, als sie sich eingerollt hatte, die Arme über dem Bauch, und zu schützen versuchte, was nicht mehr zu ihr gehörte: Hast dich mit Drogen zugedröhnt, was? Ich habe keine Drogen genommen, seufzte sie und antwortete zum sie-wusste-auch-nicht-wievielten Male auf die Frage, die aus den Wänden kam, aus den Gittern, von den blendenden Lichtern, vom Rasseln der Handschellen oder den Schlägen aller Art, die von allen Seiten auf sie niedergingen. Dann sag mir, warum deine Augen glänzen und du dich nicht auf den Beinen halten kannst. Ich bin schläfrig, hatte sie gekeucht, schläfrig, und das hatte sie wiederholt, bis sie zu weinen begann.

Den Ausweis braucht es nicht mehr, meine Dame, sagte der Polizist.

Rada lächelte verwirrt, tatsächlich, er hatte ihn nicht verlangt, sie aber war darauf vorbereitet, hatte die Papiere in der Hand.

Außerdem, und dabei steckte sie den Ausweis mit einem Klicken in eines der Fächer ihrer Handtasche, wissen Sie, wer ich bin, schließlich haben Sie mich bestellt …

Wissen wir, nicht wahr, fragte der Mann und schob sich mit zwei Fingern den Schirm der Mütze über die Stirn. Dabei war kein Strähnchen zu sehen, wahrscheinlich waren alle seine Haare zum linken Ohr hin gebündelt, und nun würde er gleich die Mütze abnehmen und sie mit der Handfläche über dem Schädel verteilen. Oder aber, wir müssten es wissen, fügte er hinzu. Und doch brauchen wir noch eine Erklärung von irgendjemandem, der sagt, dass es wahr ist. Und weil Sie uns gerufen haben …

Eigentlich nicht ich … die Verwalterin, Madame Gavrilescu. Sie … sie passt auf alles auf, was ringsum geschieht, ihr entgeht nichts. Ich hätte Sie niemals aufgesucht, hätte sie noch hinzufügen können.

Frau Gavrilescu hat Sie angerufen, wiederholte sie. Ich habe ihr gesagt, es könne sich auch um einen Zufall handeln, ein alter Mann, der sich auf einer Bank ausruht, aber sie bestand darauf …

Es gab keine Bücher im Zimmer. Alles, was man hier liest, besteht nicht aus Subjekt und Prädikat. Auf das Subjekt folgt statt des Prädikats der Doppelpunkt. Name, Doppelpunkt. Vorname, Doppelpunkt. Geburtsort, ebenso. Vor allem gibt es keine attributiven Verben. Adjektive sind eine Weise, Dinge zu klären; hier aber sind die Dinge schon geklärt. Der gegenwärtige Polizist blätterte in einem alten Personalausweis mit mausgrauem Umschlag und bemühte weder Verben noch Adjektive, denn an dem, was einem mitgegeben ist, lässt sich nichts mehr zurechtrücken, und Vergleichsebenen gibt es keine, sobald man allein und abgeschnitten vom Rest der Welt auf diesem Stuhl sitzt, wie beim Verhör. Dieser Personalausweis alten Formats war tatsächlich schwerer zu lesen als der glänzende Pappkarton, den der vorherige Polizist um und um gewendet hatte. Und wie zum Beweis fragte er, nachdem er ihn schließlich mehrmals durchgeblättert hatte, um sich zu überzeugen, dass er alles bestens verstanden hatte:

Dieser Name, Avădanei Pavel, sagt der Ihnen etwas?

Als durchwühlte sie in aller Eile ein paar Schubladen, dachte Rada einige Augenblicke lang nach.

Ich habe noch nie von ihm gehört.

Er sagt, er kennt Sie …

Ich weiß nicht, was ich sagen soll, ich bin keine Person, die man so … Wie erklären Sie es sich?

Seltsam, tatsächlich, sie war es nicht gewohnt, Fragen zu stellen, vor allem nicht an einem Ort wie diesem, und der Polizist seinerseits war es nicht gewohnt, Rede und Antwort zu stehen. Darum zog er die Augenbraue hoch, wobei er lächelte, ein Zeichen dafür, dass er eher amüsiert denn aufgebracht war.

Sehen Sie, gnädige Frau, hier ist man es eher gewohnt, andere zu kennen, und nicht so sehr daran, dass diese uns kennen … Deshalb weiß ich nicht so recht, was ich Ihnen sagen soll. Vielleicht haben Sie es vergessen … Wann waren Sie zum letzten Mal im Schiltal?

Rada erstarrte, sie spürte, wie ihre rechte Hand, die an den Heizkörper gefesselte, sich von der Schulter her versteifte.

Warum fragen Sie mich nach dem Schiltal?

Der Polizist zuckte mit den Schultern. Zu viele Fragen. Er langweilte sich.

Nur so … Es ist ein Ort wie jeder andere.

Ich war noch nie im Schiltal.

Er wirkte nicht überrascht.

Viele waren noch niemals im Schiltal. Sie hätten dort auch nichts zu suchen.

Sie schwiegen. Sie schaute sich um, als erwartete sie, dass ein Nächster eintrete, dem sie ihren Platz hätte anbieten können. Es hätte auch wieder der böse Polizist hereinkommen und ihr den Gummiknüppel in die Brust rammen oder ihr über das Kreuz hauen können, wie damals, als sie beim Besteigen der Wanne gestolpert war. Aber das einzige Geräusch kam vom Ventilator in der Ecke, den sie nun erst bemerkte, wie er eher die Zeit denn die Luft bewegte.

Ich weiß nicht, was wir mit ihm tun sollen, fügte der Polizist noch hinzu. Er sagt nur, dass er mit Ihnen sprechen will. Ansonsten ist er stumm wie ein Fisch.

Der Alte will mit mir sprechen, wiederholte Rada, um sicherzugehen, dass sie verstanden hatte.

Der ist gar nicht so alt. Etwa fünfzig. Aber wollen Sie mit ihm reden?

Wenn es sein muss.

Das muss es nicht … Ich dachte, Sie wollen wissen, warum ein Mann eine ganze Nacht lang Ihr Apartmentfenster anstarrt … Wir werden ihn laufenlassen müssen, deswegen können wir ihn nicht hierbehalten, es ist nicht verboten, auf einer Bank vor einem Wohnblock zu sitzen. Dafür gibt es keinen Stundenplan, wie etwa für das Teppichklopfen. Nur dass … Er hatte das Herumblättern beendet. Legte den Ausweis auf den Tisch und bedeckte ihn mit der Hand.

Nur dass Sie den hoffentlich nicht gleich wieder dort vorfinden … Solche Fälle hatten wir schon.

Wie meinen Sie das, sagte Rada.

Er scheint nicht gefährlich zu sein. Wir haben uns seine Sachen angeschaut, haben seine Taschen geleert … gewöhnliche Dinge … Nur dass er so ziemlich ins Leere schaut, aber auch dessen kann man nicht sicher sein. Darum sag ich …

Was siehst du dort, wenn du so ins Leere schaust, hätte Berti gelacht und ihr zart wie eine Liebkosung mit der Hand die Wange getätschelt. Wo, hätte sie plötzlich erheitert zurückgefragt. Nicht wo, hätte Berti mit seiner schönen Stimme geantwortet. Vielmehr wann … Wenn sie allein blieb, hätte sie geantwortet, wenn sie in der Lage gewesen wäre, dies zuzugeben. Der Blick ins Leere gab vor, dass sie eigentlich niemals allein blieb.

Der Polizist stand auf, und sie folgte ihm zu einer anderen Tür. Da gab es kein Schildchen mit Namen, auch keine sichtbare Spur, dass es früher einmal eines gegeben hatte, denn dahinter befanden sich die Zellen, und Namen hatten hier keinerlei Bedeutung.

Möchten Sie, dass ich bei Ihnen bleibe, fragte der Polizist und hantierte an seinem Schlüsselbund.

Rada schaute durch die Gitterstäbe. Der Alte saß eingesunken da und murmelte etwas. Das ist der Säufer von vorhin, wollte sie sagen, aber das konnte nicht stimmen. Als er sie sah, erhob sich der Alte und wartete höflich. Die Frau empfand keinerlei Furcht.

Nicht nötig, sagte sie.

Ich bin hier, wenn Sie mich rufen. Ich höre Sie, fügte der Polizist noch hinzu. Und die vergitterte Tür aufschließend, erklärte er: Ich habe Sie nach dem Schiltal gefragt, weil dieser Mann aus Petrila ist. Dachte, vielleicht waren Sie mal dort.

Sie schauten einander an, aber neugierig war nur sie. Sie erinnerte sich an die Worte des Polizisten. Tatsächlich, aus der Nähe betrachtet wirkte er nicht so alt, nur äußerst erschöpft. Aber es war keine Erschöpfung, die beim Schlafen vergeht. Sein dichtes Haar war noch nicht weiß, sondern eingestaubt, es hatte die Farbe von Mehl und Kleie, man hätte es schütteln wollen. Er kämmte sich offenbar nur mit den gespreizten Fingern, denn die Strähnen wollten sich nicht fügen, folgten der Hand, mit der er darin seine Furchen zog, und der Eile, mit der dies geschah. Seine Brauen waren dicht und geschwungen wie ein Schnurrbart, der seinen Ort verfehlt hatte und seine Abwärtskrümmung nach oben reckte. Die Augen waren derart schwarz, dass sie das Licht nicht nur verschluckten, sondern geradezu verschlangen. Und damit man wisse, wo ihr Heißhunger herrührte, fächerten sich seine Augenwinkel in zahllosen Fältchen auf. Und seine Lider hingen wie von einem Nadelstich angeschwollen herab. Seine Gesichtszüge strebten spitz nach oben und hinterließen tiefe Linien, als hätte ihm jemand mit einer Siele ungeschickt die darunterliegende Haut zusammengenäht. Der seit etlichen Tagen nicht rasierte Bart vermochte die tiefen Furchen auf den Wangen nicht zu verdecken, ja, er ließ sie noch stärker hervortreten. Und das Blut, das sich durch die Engpässe jener an den Knochen klebenden Wangen zwängte, staute sich zur Nase hin und verstreute sich in roten Äderchen über die rundlich flache Spitze. Seine Kleider waren zerknittert, aber man sah, dass er sich bemüht hatte, sich möglichst sauber anzuziehen, nur dass sich die Kleider von der Müdigkeit des Körpers hatten anstecken lassen, den sie zu bedecken hatten. Die alten und eingerissenen Schuhe waren reichlich eingecremt worden, aber die Wärme hatte die Farbe ausgedünnt und entlang der Risse im Leder aufplatzen lassen. Er hob eine leicht zitternde Hand ans Kinn, um das Zittern zu beenden. Die Oberlippe war eingefallen, lag schmal über dem zahnlosen Kieferknochen, während die Unterlippe feucht war wie die eines Menschen, der nach Worten sucht. Und alles, was er zu sagen wusste, war:

Küss die Hand …

Rada grüßte ihn kurz, als hätte sie mehr erwartet.

Sie kennen mich nicht, fragte er zögerlich, als tastete er mit der Schuhsohle eine Eisfläche ab.

Rada schüttelte den Kopf; noch wusste sie nicht, wie sie ihn ansprechen sollte.

Hat es Ihnen der Herr Hauptmann nicht gesagt?

Ist er Hauptmann, fragte sie und geriet unmerklich ins Gespräch.

Ich kenne die Grade, erwiderte der Mann wie für sich. Ich habe in Caracal gedient, bei der motorisierten Truppe. Waren Sie schon mal in Caracal?

Und wo sonst noch, dachte die Frau.

Nein, da war ich noch nicht. Das heißt, ich bin einmal mit dem Zug vorbeigefahren, am Bahnhof …

Ja, genau dort ist es, freute er sich. Wenn Sie den Bahnhof verlassen, wenden Sie sich nach rechts. Man kann die Einheit vom Zug aus sehen … kann die Amphibienfahrzeuge zählen …

Dann drehte er sich auf den Absätzen um und suchte nach einem Stuhl, den er ihr hätte anbieten können. Sie saß eingesunken auf dem Boden. Sie waren aneinandergezwängt, nickten mit dem Kopf auf den Schultern der daneben Kauernden ein, wie ins Gatter gepferchte Schafe. Wie man eben zwischen zwei Runden Stiefeltritte und Hieben mit dem Gummiknüppel einnicken konnte. Jeweils zu acht wurden sie hinausgeführt … Vielleicht erschießen sie uns, sagte einer. Sie führen uns vor eine Wand und erschießen uns je acht … Sie erschießen uns nicht, sagte ein anderer, sie haben etliche ins Krankenhaus gebracht, welchen Sinn hätte es denn, wenn sie uns letztlich doch umbringen, uns vorher noch verbinden zu lassen? Vielleicht haben sie die gar nicht ins Krankenhaus gebracht. Doch, doch, sagte Rada wie im Traum, mich haben sie in der Wanne mit einem hergefahren, den sie im Krankenhaus abgesetzt haben. Sie sagte nicht, dass der Arme mehr tot als lebendig war, blau wie die Pest und mit klaffender Schädeldecke. Und dass es ein Wunder wäre, wenn er noch den Morgen erlebte. Jetzt ging es schon auf Mittag zu, durch die dicken Fensterscheiben drang ein gelbliches Licht herein, das sich wie eine Maisbreischmiere über das zerrupfte Haar des Mannes legte. Er zuckte mit den Schultern, es gab keinen Stuhl, dafür machte er ihr Platz auf der harten Pritsche aus ungehobelten Brettern, die ein Bett sein sollte. Sie setzen sich nebeneinander, schauten geradeaus, hatten die Hände auf den Knien liegen, die Blicke gingen durchs Zellengitter, jeder den eigenen Streifen vor Augen.

Ich war noch nie im Gefängnis, sagte er und rutschte auf der Bettkante herum.

Ich war schon mal, antwortete sie, als hätte er sie gefragt.

Wie ist das, fragte er, und weil diese Frage an solch einem Ort gestellt wurde, klang sie unangebracht.

Ihr Gefängnis war anders. Eigentlich war es der Hangar einer Militäreinheit. Es gab keine Zellen und auch kein Gitter. Wahrscheinlich wurden dort sonst Flugzeuge abgestellt. In jener Nacht hatte er sich mit Menschen gefüllt, ein paar hundert geschockte Leute, die nicht verstanden, was ihnen geschah. Man musste sie nicht einmal bewachen. Die Angst erstickte jedwede Form des Aufbegehrens. Die einander zugeflüsterten Geschichten derer, die an ihren Körpern die Spuren der gleichen Schläge und die gleiche Fassungslosigkeit in ihren Blicken feststellten, glichen sich. Jemand hatte mit dem Finger auf sie gewiesen und etwas geschrien, das offensichtlich war. Dass sie Mähnen trügen, Miniröcke oder Bluejeans, oder etwas, das niemals bewiesen werden sollte, etwa dass sie Drogen genommen hätten, Legionäre seien oder eben wunders was mit Falschgeld gekauft hätten. Und das hatte genügt, um über ihnen einen Regen von Schlägen, Stöcken, mit Schrauben gefüllten Fahrradschläuchen oder Faustschläge und Fußtritte niedergehen zu lassen. Mitunter besänftigte ein etwas Mitleidigerer seine Gefährten, ansonsten erbarmte sich bloß Gott, und sie hielten ein, oder aber sie ermüdeten schlicht und einfach und langweilten sich beim Anblick ihrer wie Lumpen daliegenden Opfer, die weder ihre Unschuld beweisen noch sich schützen konnten. Dann wurde der zu Boden Gesunkene von starken Händen hochgehoben, sodass er nicht einmal mehr mit den Fußspitzen den Boden berühren konnte. Der eine oder andere kam dann von hinten, befand, es reiche noch nicht, und verpasste ihm noch einen Stockhieb oder Fußtritt. Die Fotos und Filmbilder von damals zeigen, dass der Geschlagene oftmals keinerlei Reaktion mehr zeigte, die ersten Hiebe müssen so wirkungsvoll gewesen sein, dass die Leute die Besinnung verloren und die nachfolgenden Schläge nicht mehr spürten. Der Schläger jedoch empfand das Bedürfnis, es weiterhin zu tun, als hätte er eine Pflicht zu erfüllen gehabt. Dann wurden die Geschlagenen der Polizei übergeben, die, um das volle Vertrauen der Angreifer zu erhalten, mit den Schlägen fortfuhr, bis die Gefangenen, einer über dem anderen liegend, zu den einzelnen Polizeistationen gebracht wurden.

Es ist schlimm, antwortete Rada, schloss die Augen und ballte die Finger zur Faust, wie sie es damals gemacht hatte, als man ihr den Tuschekasten zugeschoben hatte, damit sie ihre Fingerspitzen darin zur Abnahme der Fingerabdrücke einfärbte, und das Licht blitzte, um sie regelkonform zu fotografieren, beide Ohren sichtbar. Vor allem wenn man nicht weiß, ob man jemals wieder daraus entlassen wird. Aber für Sie ist es einfacher, Sie haben nichts getan, haben keinen Grund, sich zu ängstigen …

Sie sagen, Sie wissen nicht, wer ich bin, wiederholte der Mann, als beschäftigte ihn jetzt sein Schicksal hier im Gefängnis kaum. Ich meine ja, es ist gut, wenn Sie sich nicht mehr erinnern. Aber ich bin trotzdem gekommen …

Rada war mit ihrer Antwort hinsichtlich des Gefängnisses noch nicht zu Ende. Sie erinnerte sich, wie sie allmählich unter Schmerzen wieder aufgewacht war. Um die Hüfte hatte sie ein Eisenring umfasst, sie wäre gerne auf die Toilette gegangen, aber ein Mann nebenan hatte ihr geraten, dies zu unterlassen, denn diejenigen, die hinausgelassen worden waren, sich an einer Bodenwelle hinter dem Hangar zu erleichtern, hatte man bei ihrer Rückkehr mit Stockschlägen auf den Rücken und Eisenstangen auf die Schienbeine begleitet. Diese Eisenstangen ließen die Blutgefäße platzen, und die Beine wurden blau und hart wie Stein. Außerdem bellten die ganze Nacht über die Wolfshunde vor den Türen, man hatte sie mit rohem Fleisch angefüttert, es war zu wenig, als dass sie sich daran gesättigt hätten, es reichte eben, sie auf den Geruch von Blut und Schweiß scharf zu machen. Gegen Morgen gingen die Türen auf, und wer sich noch auf den Beinen halten konnte, begann sich aufzurappeln. Aber auch die taten einen Schritt zur Seite, drückten sich an die Wände und traten fassungslos auf die Körper der anderen. In den weit geöffneten Türen standen die gleichen mit Knüppeln bewaffneten Männer in Arbeitsmontur und schauten, die Menschen in der Halle rudelweise abschätzend, über ihre Köpfe hinweg. Sie fielen nicht wieder über sie her, mussten nicht noch einmal zuschlagen, die Wunden begannen von allein wieder zu bluten und zu schmerzen. Den Sonnenaufgang im Rücken, warfen sie lange Schatten und zerschnitten damit den Hallenboden zu Küstenstreifen, auf denen die zerschlagenen, blut- und urinverschmierten Leiber sich kaum aufrecht halten konnten. Sie werden wiederkommen, stammelten einige, als sich die Türen schlossen, und stellten entsetzt fest, dass, wiewohl die Männer gegangen, ihre Schatten wie dunkle Grenzlinien zurückgeblieben waren. Grau war jene Fläche voller Körper. Die einen lagen stöhnend auf dem Boden, andere versuchten, sich auf die weniger in Mitleidenschaft gezogenen Gliedmaßen zu stützen, und wieder andere drückten sich schutzsuchend an die Wände. An den Rändern gab es einige Bewegung, aber das Ganze wirkte reglos. Es bedurfte keiner Riegel, denn man konnte nirgendwohin fliehen, Schrecken und Angst herrschten hier wie dort. Und die Gitter erhoben sich im Inneren, ungebremst, wie emporschießende Zähne, die die Gesichtsknochen durchstoßen und ins Hirn dringen.

Rada wandte sich ihm zu und schaute ihn an. Der Mann hatte darauf gewartet, denn er senkte seinen Blick und schaute auf seine Hände. Für diesen schmächtigen Körper waren sie sehr groß.

Wenn der Herr Hauptmann es Ihnen nicht gesagt hat, warum sind Sie dann gekommen?

Er hatte eine trockene Stimme, die aus einer trockenen und staubigen Kehle hervorkam. Ebenso der Husten, der ihn schier erstickte.

Weil sie mich zur Polizei bestellt haben, damit ich jemanden identifiziere. Offenbar Sie. Zum Glück hat es mir die Hauswartsfrau gesagt, Madame Gavrilescu. Sie war ziemlich erschrocken.

Ich habe ihr nichts getan. Habe niemandem etwas Böses getan.

So ist sie eben, sie erschrickt schnell. Oder, mag sein, dass sie sich auch nur vorstellt, erschrocken zu sein.

Wieder schwiegen sie. Er begann rasselnd zu atmen, als habe er eine Pfeife verschluckt, und das pfeifenartige Geräusch war bei jeder Luftbewegung zu hören, beim Aus- wie beim Einatmen.

Ich müsste Sie anschauen, wenn Sie sprechen, sagte der Mann leise. Ich höre nicht mehr so gut. Ich habe von den Lippen lesen gelernt.

Warum schaust du mich dann nicht an?

Vielleicht hatte er nicht gehört, was sie gesagt hatte, denn er war weiterhin mit seinen Händen beschäftigt. Schließlich griff er mit einer Hand in seine Brusttasche.

Ich bin gekommen, Ihnen das zu geben …

In der Handhöhlung hatte er, eingerollt wie eine kleine Schlange, ein Goldkettchen mit einem Medaillon liegen. Rada griff sich unwillkürlich an den Hals. Erst auf der Wache hatte sie gemerkt, dass sie es nicht mehr hatte. Es war das einzige Mal, dass sie alle ihre Kräfte zusammengenommen hatte. Gebt es her, schrie sie und packte einen Polizisten an der Jacke. Der zog sie seitlich weg und schlug ihr ins Gesicht, sie aber hielt ihn verzweifelt fest: Mein Medaillon, es gehört mir!, hatte sie geweint, während die ihre Hände losrissen und sie ans Heizungsrohr fesselten. Das haben sie euch dort bei der Bauernpartei gegeben, drang ihr in die von den Ohrfeigen pfeifenden Ohren, Gold und Valuta? Haben sie euch das gegeben, damit ihr Feuer legt und Bomben werft? Ich habe nichts geworfen … Wer denn sonst, dein Väterchen, der Legionär? Aber sie antwortete nicht mehr, sie schwieg lange, denn sie hatte sich den Ehering in den Mund gesteckt, um ihn zu hüten. Sie nahm das Kettchen und entwirrte es. Sie öffnete das Medaillon, das sie extra dafür gekauft hatte, das winzig kleine Bild dessen zu bergen, das unterwegs war. Das Medaillon war leer und würde es auch bleiben.

Woher hast du das, fragte sie ihn barsch, allein deshalb hörte er sie. Vielleicht hatte er sie auch nicht gehört, diese Frage aber erwartet.

Von Ihnen, antwortete er. Ich habe es dir vom Hals gerissen …

Und was hast du sonst noch getan?

Ich war der Erste, der auf Sie eingeschlagen hat …

Du lügst mich an, nicht wahr? Mehr wusste sie nicht zu sagen.

Denn es war nicht bloß ein Schlag, es waren mehrere gleichzeitig, zu viele für die zwei Arme, mit denen sie sich zu schützen suchte. Die einzige Art, in der sich der Körper zu schützen entschieden hatte, war, mit über dem Bauch gekreuzten Armen niederzuknien. Die mit Drogen Zugedröhnte in den Jeans!, hatte jemand gerufen, aber sie hatte ihre Schritte nicht beschleunigt, jemand anderes konnte gemeint sein, wie auch immer, davonzurennen bedeutete, unweigerlich verurteilt zu werden, nur sie hatten das Recht zu rennen, sie waren die Richter, alle anderen, die rannten, waren schuldig, ihr Davonrennen wurde gestoppt, als wären sie beim Versuch, davonzukommen, stets an eine Glastür gestoßen. So schnell man auch gerannt wäre, es fand sich auch für dich ein Knüppel, der dir die Knie zerschmetterte oder das Kreuz brach. Vielleicht wirkte sie so, als habe sie Drogen genommen, sie hatte die ganze Nacht nicht geschlafen, war in der Architektur-Fakultät und hatte Barrikaden errichtet. Das bringt nichts, hatte Alexandru gesagt, als sie beide aus dem Fenster schauten und die in geordneten Kolonnen vom Boulevard herkommenden Einheiten sahen, die etwas von Arbeit und Ordnung grölten. Noch war es nicht hell geworden, man hatte die Arbeiter aus der Nachtschicht geholt, schlafwandlerisch und wütend waren sie, aufgehetzt von den am Rande Stehenden, die die Kolonnen anleiteten. Wie kurz das nur gewährt hat!, fügte Rada hinzu und schaute verloren auf die Kolonne, die wie Lava vorrückte. Vielleicht hat es dies ja gar nicht gegeben. Und noch immer hatte sie nicht alles gesehen, der Vulkan sollte etwas später ausbrechen, mit dem Anbruch des Morgens.

Berti kann beunruhigt sein, sagte Alexandru zu ihr, der sie weiterhin für beide liebte. Er ist mit Hilfstransporten für ein paar Dörfer in der Moldau unterwegs. Du bist immer noch verärgert über ihn. Wer übrig bleibt, liebt am meisten, dachte er, aber er sagte: Lass uns abhauen! Einige waren noch geblieben, um die Barrikade mit ein paar Tischen und Stützen zu verstärken, aber auch sie wussten, dass es vergeblich sein würde, und wenn die Barrikade standgehalten hätte, wäre das Übel noch größer ausgefallen, denn die Angreifer hätten, wenn die Türen blockiert geblieben wären, die schaufenstergroßen Fensterscheiben im Erdgeschoss eingeschlagen. Alexandru kannte die Fakultät gut, in letzter Zeit hatte er unter dem Vorwand, bis spätnachts arbeiten zu müssen, in einer Kammer übernachtet. Seine Eltern stammten aus einem Dorf am Salzufer des Pruth, er war von dort abgehauen, einfach in einen Nachtzug gestiegen und hatte in den Depots von Griviţa gearbeitet, bis er es auf einen Studienplatz in Architektur schaffte. Er zeichnete für andere und lebte davon. Er kannte das Gebäude am besten, die Ateliers, die Fluchttreppen und Kellerräume, auch wusste er, wie man ungesehen in das Gebäude hinein- und wieder hinauskam.

Und so hielten sie es auch diesmal, nur dass sie sich auf dem Bürgersteig inmitten eines beängstigenden Gewusels wiederfanden. Es waren nicht mehr die zu Kolonnen geordneten Arbeiter von vorhin, die hier trugen eine andere Art Arbeitsmontur, hatten Bergarbeiterhelme auf, und in ihren Gesichtern vermengten sich Kohlespuren und Bartstoppeln, aber vor allem waren sie mit Knüppeln bewaffnet, mit einer Art Gummischlauch, allerlei Werkzeugen, die man ansonsten in Haus und Garten benutzte, und die jetzt drohend über den Köpfen geschwungen wurden. Bewaffnet. Gegen wen, Alexandru, wollte sie fragen, aber er war nicht mehr an ihrer Seite, es hielten ihn einige an den Armen fest und zerrten an ihm, während andere von hinten mit Knüppeln auf ihn einschlugen. Sie sah nur noch, wie er in die Knie ging, aber sie zerrten weiterhin an ihm, und man konnte nicht wissen, warum sein Kinn auf die Brust herabgesunken war, im verzweifelten Versuch, sich zu schützen, oder aber weil er nicht mehr in der Lage war, den Kopf aufrecht zu halten. Sie rief nach ihm, gleichzeitig aber spürte sie die ersten Schläge auf den Rücken. Die zugeschlagen hatten, meinten, ihr Ruf sei ein Schmerzensschrei, also fühlten sie sich ermutigt weiterzumachen. Einen Augenblick lang hatte sie Bruegels Bild vom Kindermord vor Augen. Immer gibt es jemanden, der davonkommt, war ihr letzter Gedanke, bevor sie die Besinnung verlor.

Aber was frag ich denn, ob Sie mich noch kennen, sagte der Mann, schaute weiter auf seine leere Hand und versuchte, seinen Gesichten zu entkommen. Sie konnten mich nicht kennen, schließlich war ich von hinten gekommen. Und habe auch von hinten zugeschlagen …

Warum?

Heute weiß ich das nicht mehr … So war es damals …

Rada war nicht darauf vorbereitet, das Gespräch fortzusetzen. Sie spürte, dass es besser war, sich zu beherrschen. Sie stand auf. Der Mann schaute immer noch in seine leere Hand, auch er wusste nicht, wonach er in den tiefen Schicksalslinien suchte.

Gut, dass du immerhin daran gedacht hast, mir das Medaillon zu bringen, sagte Rada, und dabei konnte sie nicht einmal selbst glauben, was sie da von sich gab. Jetzt aber nützt es mir nichts mehr.

Ich meine, Sie haben keinen Grund, mir zu danken, sagte er zwischen zwei Hustenanfällen. Ich hatte daran gedacht, es meiner Tochter zu schenken, als sie achtzehn Jahre alt wurde. Aber dann dachte ich, dass sie keine Schuld hat.

Was hättest du zu ihr gesagt, dass du es für sie gekauft hast?

Tja, eben …

Rada schloss ihre Handtasche. In ein Fach hatte sie die Medaillonkette verstaut. Sie ging zwei Schritte zur Seite, das Zellengitter war nicht verschlossen, sie ging hinaus, schaute über den dunklen Flur, und weil sie niemanden dort sah, entfernte sie sich, ohne sich noch einmal umzusehen. Der Mann wollte noch etwas sagen, aber der Husten kam seinen Worten zuvor.

Der zweite Raum war leer, also kehrte sie ratlos in den ersten Raum zurück, wo der Polizist, als er sie sah, seine Haarsträhne glattstrich und die Dienstmütze wieder aufsetzte. Der Säufer döste, den Kopf in eine Hand gestützt, vor sich hin. Laut strömte ihm die Atemluft durch die Lippen. Rada wartete geduldig, bis der Polizist, den Kopierstift im Mund anfeuchtend, die Zeile darüber abgeschrieben hatte. Er schaute auf die Uhr und fügte schließlich die Uhrzeit hinzu.

Muss ich etwas unterschreiben, fragte die Frau, darauf vorbereitet, wiederum ihre Papiere vorweisen zu müssen.

Müssen Sie nicht, antworteten die Polizisten, die wieder einer geworden waren. Ich habe das hier aufgeschrieben.

Muss ich nichts erklären?

Sie müssen nichts erklären, schließlich ist es Ihre Angelegenheit.

Wieder spürte sie den Knüppel, der ihr auf das Brustbein stach. Der Alte sprang durch den gedrungenen Hals des Mannes hier und beugte sich über sie. Du wirst nichts sagen, denn die werden dich wieder holen kommen! Wenn du gefragt wirst, sagst du, dass wir dich aus Versehen verhaftet haben und gut mit dir umgegangen sind. Los, wasch dir in dem Waschbecken dort das Gesicht, ordne deine Kleider, und ab mit dir! Sag, Glück gehabt. Freu dich, dass du diesmal noch mit einer Geldstrafe davonkommst! Glück gehabt, hatte sie wie schlaftrunken wiederholt, hatte gemeint, das gehörte sich so. Für ihre Unterwürfigkeit hatte sie jedoch eine Ohrfeige gefangen, die sie umkippte, und schnell folgte zudem der Schlag mit dem Handrücken, der sie wieder aufrichtete. Mach dich nicht lustig über mich, Flittchen, fauchte er. Und tatsächlich, nach einem Monat kam die Mitteilung, dass sie ein Bußgeld in Höhe von tausend Lei zu bezahlen habe. Dann schlich sich der alte Polizist zurück, wurde kleiner und dünner, als schlüpfte er durch einen Trichter.

Was glauben Sie, fragte er und schaukelte auf den Hinterbeinen des Stuhls. Was sollen wir mit ihm tun?

Na, laufenlassen, antwortete Rada überrascht von der Frage. Was könnten Sie denn sonst tun?

Der Polizist hörte mit dem Stuhlschaukeln nicht auf, schob sich mit zwei Fingern die Mütze auf den Hinterkopf und wiederholte, damit die Frage nicht von einer anderen Seite gestellt werde:

Was wir sonst tun könnten? Alles, gnädige Frau … was auch immer … Aber wenn Sie die Verantwortung übernehmen, lassen wir ihn laufen …

Rada legte die Stirn in Falten, sie war mit diesen Dingen nicht vertraut:

Wenn ich die Verantwortung übernehme …

Also wenn Sie uns nicht mehr anrufen, weil er wieder bei Ihnen dort auf der Bank sitzt oder sich vor Ihrem Treppenhaus aufgepflanzt hat, denn wir kommen ihn nicht mehr hopsnehmen. Er mag verrückt sein, aber dann ist er Ihr Verrückter …

Vielleicht haben Sie recht.

Wie Sie meinen. Ich schreibe hier hin, dass Sie ihre Beschwerde zurückgezogen haben …

Ich habe mich nirgendwo beschwert …

Wie man so sagt, meinte der Polizist froh, zu einem Ergebnis gekommen zu sein.

Der Säufer wachte auf, und als er sah, dass sie an ihm vorüberging, begleitete er sie mit einem langen Blick.

Sie kennen sich aus?, rief der Polizist, ohne sich vom Stuhl zu erheben. Auf den Flur, nach rechts und dann über jene schmale Treppe. Waren Sie schon mal bei uns?

Bei der Tür bog das Heizungsrohr nach oben ab und folgte dem Türrahmen.

Ja, ich war schon mal hier, vor langer Zeit …

Dann ist’s in Ordnung, hier hat sich nichts verändert, wir haben nur mit ein bisschen Kalk geweißelt … Warum waren Sie damals hier, mit dem Ausweis, nicht? Zur Änderung Ihres Ausweises?

Rada wandte sich in der Tür noch einmal um und grüßte, aber es antwortete ihr niemand mehr. Auf dem Flur blieb sie stehen, dort gab es ein Waschbecken. Sie drehte den dünnen Strahl auf, wartete, bis sich die Handhöhlungen mit Wasser gefüllt hatten, und wusch sich dann ausgiebig das Gesicht.

Erst als sie den bewölkten Himmel sah und die ersten Tropfen spürte, merkte sie, wie lange sie sich dort aufgehalten hatte. Sie blieb ein paar Augenblicke auf dem Gehsteig stehen, die Straße war leer, das Leben ging ruhig weiter. Die Polizeidienststelle hatte ein kleines Firmenschild aus Glas, das wahrscheinlich nachts beleuchtet war, ein Firmenschild wie jedes andere, ein kleines Lebensmittelgeschäft oder eine Patisserie.

Rada kramte in der Handtasche nach dem Autoschlüssel und zuckte zusammen, als sie auf das Medaillon stieß. Sie ließ den Motor an, dachte ein paar Augenblicke nach, dann kreuzte sie die Arme über dem Lenkrad, lehnte die Stirn auf die Arme, schloss die Augen und wartete. Sie hatte den Eindruck, alle wüssten, was mit ihr los war, vielleicht aufgrund ihres unsicheren Ganges, bei dem sie sich an den Wänden abstützte, und man weiche ihr deshalb aus und vermeide es, sie anzusehen. Heller Sonnenschein nach dem diffusen Licht im Hangar, die Welt war wie mit Goldfäden durchwirkt. Und dieser ungewöhnliche Glanz verlieh ihr etwas Unwirkliches. In den paar Tagen, da sie geschlagen, zur Polizei gebracht und dann zusammen mit Hunderten anderen ihresgleichen in den Hangar verbracht worden war, wo sie auf dem Betonboden kauerten, hatte sie das Gefühl, diese Welt, die drohte, schlug, schrie, Blut fließen ließ und zerschmetterte, sei zwar unverrückbar wirklich, aber dies alles geschehe nicht ihr, sondern jemand anderem, durch dessen Augen sie schlangengleich schaue, wie in der Kindheit im Kino. Dann, auf den von Goldstaub überzogenen Straßen mit Taxis, die nicht anhielten, wenn man ihnen winkte, und den Menschen, die wegschauten, hatte sie das klare Bewusstsein der eigenen Realität, während die Welt um sie herum ihr wie eine Halluzination vorkam. Unter all dem, was ihr geschehen war, war die Unstimmigkeit zwischen ihr und der sie umgebenden Welt der Zustand, dem sie noch nicht ganz entronnen war.

Diese Nichtsynchronisation, in der das Porträt und der Hintergrund sich nacheinander belebten, ließ sie hochfahren. Sie hob das Gesicht und starrte reglos in den Rückspiegel. Bis sie den Uniformierten, der dem alten Mann Anweisungen gab, aus der Polizeiwache heraustreten sah. Er schien streng mit ihm zu sprechen, denn der Mann nickte bei jedem Satz zustimmend und zerknautschte den Tragebeutel in den Händen. Der Polizist wies zum Boulevard Lascăr Cartagiu und dann nach rechts. Der Mann dankte, aber da war keiner mehr, der ihm darauf hätte antworten können. Er schien eine kurze Weile nachzudenken und ging dann mit kleinen Schritten los, den Kopf gesenkt, sodass er die Autotür, die sich vor ihm öffnete, nicht sah.

Wo gehst du jetzt hin, fragte Rada.

Zum Bahnhof. Er hat gesagt, wenn ich die Straße da runtergehe und dann nochmal frage, ist es nicht weit. Ich habe Zeit, muss erst zum Nachtzug.

Und was tust du bis dahin?

Nichts, warten. Am Bahnhof ist es besser, man wartet, denn der Zug wartet nicht auf einen.

Rada hatte sich am Lenkrad vorbei hinausgebeugt, um mit ihm zu reden. Selbst so, von unten her betrachtet, wirkte er schmächtig.

Hast du Hunger? Komm, iss etwas …

Wo?

Bei mir zu Hause. Der Mann zögerte. Rada lächelte und wies auf den Beifahrersitz: Du kennst es schließlich, warst doch schon mal da …

Ich schäme mich, zu Ihnen nach Hause zu kommen …

Warum hast du mich dann ausgerechnet bei mir zu Hause gesucht?

Ebenfalls aus Scham …

Er stieg unbeholfen ein, setzte sich zuerst, richtete sich dann auf und zog die Beine nach. Legte den Sicherheitsgurt nicht um, rutschte unruhig hin und her, da er nicht wusste, woher der Ton stammte, der dies anzeigte. Rada wollte ihm zeigen, was zu tun war, überlegte es sich aber anders. Sie fuhr langsam los, aber nach ein paar Metern, kurz vor der Einfahrt auf den Boulevard, bremste sie und wandte sich ihm zu:

Woher wusstest du, wer ich bin?

Ich wusste es nicht. Da waren andere, die das wussten. Ich kannte sie nicht, aber sie sagten, wir sollten uns nach ihnen richten. Einige von unseren Leuten haben sie an Orte geführt, wo Falschgeld gedruckt wurde und Drogen lagerten. Andere, und zu denen gehörte ich, schickten sie los, den Platz vor der Universität zu räumen. Sie fuhren uns mit Lastwagen und hatten uns gesagt, wir sollten unterwegs die Knüppel über unseren Köpfen schwingen und viel Krach machen. Ich habe gesehen, dass dies den Leuten auf den Bürgersteigen gefallen hat. Aber die, die uns gefahren haben, habe ich nicht gekannt, der eine oder andere von denen rief, los, auf den da, und wir legten los. Schauen Sie, um die Wahrheit zu sagen, einige von unseren Leuten schlugen begeistert zu, sie hatten sich im Zug schon einiges genehmigt.

Nicht danach hab ich gefragt.

Der Alte zuckte mit den Schultern, als wüsste er nicht, was er sonst sagen sollte.

Wie du mich gefunden hast, fragte sie nun noch einmal. Wie ich heiße, wo ich wohne …

Anfangs habe ich das nicht gewusst, das war ein Zufall. Aber ich hab mich an Sie erinnert, wegen des Medaillons. Es hat mir dann leidgetan, dass ich es genommen hatte, aber ich wusste nicht mehr, wie ich es zurückgeben könnte. Ich habe Sie vor zwei Wochen im Fernsehen gesehen … Sie haben ein paar Häuser vorgeführt, von denen Sie sagten, die würden sich im Winter aufwärmen. Aber ich hab Sie sofort erkannt, wissen Sie, selbst wenn ich Sie damals eher von hinten gesehen habe und seitdem zwanzig Jahre vergangen sind. Ich weiß nicht, woran genau, aber ich hab Sie erkannt. Sagte, sie ist es!

Zu wem hast du das gesagt?

Zu niemandem, wem sollte ich das sagen … Sagt man halt so. Anfangs freuten wir uns, dass Iliescu uns allen gedankt hat, dass die Arbeiter das Land vor den Legionären gerettet hatten. Aber nachher war es nicht grad so, und selbst Iliescu hat einen Rückzieher gemacht. Wir haben damals angefangen, nicht mehr davon zu erzählen, und wenn man heute ins Tal geht und davon erzählt, wird man schief angeschaut. Aber ich hab es niemandem gesagt, hab nur mit mir selbst geredet, weil ich hin und wieder grad so mit mir rede, dass eben nur ich das weiß. Und da war auch unten im Fernseher Ihr Name hingeschrieben. Ich bin zur Post gegangen und hab im Telefonbuch nachgeschaut. Diesen Namen hat es nur einmal gegeben, ein zweiter war da nicht.

Er hatte recht. Maroni. Berti hielt viel auf seinen Namen, Steinmetze aus Kalabrien, die vor mehr als hundert Jahren gekommen waren und sich in den Dörfern um Târgoviște niedergelassen hatten. Roberto Maroni, sanft und stets unterwegs in der Welt, wie ein Apostel. Rada fädelte das Auto auf dem Boulevard in den Verkehr ein und wendete zur Piaţa Romană hin. Der Regen hatte zugenommen, an der Ampel fuhren die Autos eng auf. Dem Mann war vom vielen Reden der Rachen trocken geworden, und er begann neuerlich zu husten.

Du hast dich erkältet … Und da wolltest du bei diesem Regen noch zu Fuß bis zum Bahnhof gehen.

Ich habe mich nicht erkältet … Aber so ist diese Krankheit, sie sammelt sich und tut mir in der Brust weh. Wenn ich gehustet hab, scheint sie sich ein klein wenig aufzulösen, und es vergeht mir. Dann packt es mich wieder … Ich glaube, ich hab zu viel geredet.

Sie hatten die Piaţa Romană überquert und waren in den Boulevard Magheru eingebogen. Die Passanten hatten Mut gefasst, der Regen hatte nachgelassen, über die Autofenster rannen die Tropfen wie Körner. Die Scheibenwischer bewegten sich träge im Halbkreis und hinterließen konzentrische Streifen auf der Windschutzscheibe.

Warst du seitdem nochmal in Bukarest, fragte Rada, während sie das Fenster herunterkurbelte, um den Rückspiegel abzuwischen.

Zwei Mal, sagte er. Einmal, als ich mit der Tochter zur Prüfung gekommen bin, und das zweite Mal, als ich sie zur Fakultät gebracht hab, denn sie hat es aufgrund ihrer Note geschafft, da wollte ich im Heim vorsprechen. Jetzt ist es das dritte Mal. Ihre Mutter hat dünnere Kleider für sie eingepackt, für den Sommer. Aber hier im Zentrum war ich seit damals nicht mehr. Sie haben mich absichtlich hierher gebracht, nicht?

Hätte ich dies tun müssen, fragte Rada und schaute aus den Augenwinkeln auf die Reihe Autos, die Stoßstange an Stoßstange fuhren. Hattest du Angst, ich schreie dich an? Ich schlage auf dich ein?

Vielleicht, wäre möglich gewesen, sagte er leise.

Ich wohne hier in der Nähe, fügte sie hinzu, um die Dinge zu klären. Am Universitätsplatz werden wir links abbiegen. Es ist eine kleine Straße mit alten Wohnblocks. Aber warum sag ich dir das, als wüsstest du es nicht selbst …

Das Taxi hat mich auf einer anderen Strecke hergebracht.

Du bist mit dem Taxi zu mir gekommen?, wunderte sie sich.

Ich hatte Angst, nicht herzufinden.

Und wie viel hast du gezahlt?

Vom Bahnhof bis hierher fünfzig Lei. So viel stand auf dem Apparat …

Der hat dich übers Ohr gehauen … hat dich absichtlich in der Gegend herumgefahren, um dir mehr Geld abzunehmen.

Er hat gemerkt, dass ich von weither komme, gab der Mann zu, der nun zunehmend älter wirkte.

Dann war er still, schaute nur durch die Windschutzscheibe.

Ich bin nicht absichtlich mit dir hier herumgefahren, sagte Rada, wiewohl er ihr nicht mehr zuhörte. Wozu sollte das gut sein? Wir haben nicht die gleichen Erinnerungen.

Bei alledem aber schauten sie, in die nach dem Regen gestaute Autoschlange eingereiht, auf die gleiche Stelle. Jetzt gab es dort einen kleinen Kiosk, in dem ein Mann, nachdem er sich vergewissert hatte, dass der Himmel aufklarte, begonnen hatte, seine Waren für den Verkauf zu arrangieren. Damals war Rada vor allem überrascht, als sie in die Knie ging und die Hände auf den Bauch presste. Wie konnte so etwas geschehen, sie wollte ihnen Einhalt gebieten und es ihnen erklären, aber das ging nicht. Und auch sie erwarteten keinerlei Aufklärung, zumal ihre Hiebe die Dinge außerordentlich klar erscheinen ließen, und ihr Stöhnen vermochte sie nur zu bestärken. Schluss jetzt, denn sonst bringst du sie um!, hörte sie noch, bevor sie ohnmächtig wurde. Vielleicht hatten sie geglaubt, die Aufforderung, mit den Schlägen aufzuhören, sei zu spät erfolgt, denn als sie merkten, wie zugerichtet sie war, zerrten sie sie an den Armen bis zum nahe gelegenen Springbrunnen, in dessen Becken lediglich noch eine versumpfte Wasserhaut an dessen Sinn und Zweck erinnerte. Und nicht die anderen Körper, die man über sie geworfen hatte, ließen sie wieder zu sich kommen, sondern die fortdauernde Berührung mit dem Wasser, dessen grün-samtige Oberfläche aus Krötenseide ihr seinen sturen Beharrungswillen gegen das Licht mitteilte. Einige Augenblicke meinte sie, es sei Nacht, und die weichen öligen Spuren auf ihren Fingern gehörten zum Gewebe einer feuchten Finsternis. Erst als sie zählte und merkte, dass es zu viele Finger waren, als dass sie alle zu ihr gehören könnten, stellte sie fest, dass sie lebend begraben worden war. Aber sie hatten keine Erde über sie geworfen, sondern weitere Körper. Manch einer wog schwer und hatte steife Glieder. Andere wiederum hatten, wie sie selbst, noch weiche Gelenke, und zwischen denen konnte sie sich Platz schaffen. Wo auch immer sie sich hinwandte, stieß sie an Brustkörbe, Hände und Füße, Köpfe, die auf ungewöhnlich verdrehten Hälsen saßen, und Augen, die es kaum glauben konnten, dass sie fortan nach hinten schauen mussten. Sie stützte sich auf, um sich zu erheben, und dachte dabei, dass sich unter ihren Sohlen möglicherweise nicht der Brunnenrand, sondern das Gesicht oder die Brust von jemandem befinde, und bei diesem Gedanken wurden ihr die Knie weich. Als es ihr gelungen war herauszukriechen, atmete sie tief ein, verschlang die Luft geradezu wie nach überstandener Ertrinkenspanik. Auf die Ellbogen gestützt, schleppte sie sich ganz heraus und schaute anschließend lange mit starr trockenem Blick in den Himmel. Als sie die Kraft gefunden hatte, auf das zu schauen, was sie zurückgelassen hatte, fand sie sich in einem stumpfen Lichtspektrum wieder, von dem man bestenfalls die Ränder sehen konnte, rot und violett. Unter der zerfetzten Kleidung hatten die Schläge das Fleisch anschwellen lassen und blau verfärbt. Die Haut war zu einer dunklen Kruste angeschwollen, und die Kleider waren vom darauf getrockneten Blut steif geworden. Sie kroch zur Seite, als erlebte sie einen Albtraum, und wollte sich schützen, indem sie nur noch auf eine Wand schaute. Wenn es denn bloß eine Wand gegeben hätte, sie zu beherbergen, dort jedenfalls suchte sie diese vergebens. Der junge Mann erinnerte an die Apostelbilder der Fresken, Haare und Bart hatten die Farbe von Maisseide, sein Gesicht war länglich, und die Augen lagen in tiefen Höhlen. Das Gesicht war von einer Blässe, als hätte es gar keine Farbe abbekommen, und um die Backenknochen, die sich blau verfärbt hatten, war das Blut anscheinend schon lange gewichen. Es war ihm dickflüssig aus dem aufgeplatzten Schädel geflossen und hatte seine Haare verklebt. Der Kontrast zwischen dem reinen und blassen Gesicht, wie frisch mit einem eingeseiften Waschtuch gewaschen, und dem wie Morast auf seinem Schädel klebenden Blut, das ihm auch hinter den Ohren bis auf die Schultern hinabgeflossen war, verlieh ihm das Aussehen eines Märtyrers, denn er wirkte hinsichtlich seiner selbst ganz und gar unbekümmert.

Rada sah alles entstellt, und ihr Gehör war dumpf, als befände sie sich mit dem Kopf unter Wasser. Gern hätte sie um Hilfe gerufen, aber ihre Brust fühlte sich von den Schlägen wie zerquetscht an, und in ihrem Bauch brannte eine andere Art von Tod und machte sich darin breit. Die Hilfe kam jedoch nicht so, wie sie es erwartet hatte. Packt sie je zwei in einen Rettungswagen, hörte sie eine Stimme. Die da, die zu sich gekommen ist, schafft ihr auf die Wache, damit die sie dort richtig wachrütteln. Und den anderen dort, ich muss euch nicht mehr sagen, wer er ist, bringt ihr in die Leichenschau. Sie sollen gleich die Papiere ausstellen, sollen schreiben, was sie wollen. Wahrscheinlich war sie noch einmal ohnmächtig geworden, denn sie kam erst im Auto wieder zu sich. Der Rettungswagen war durch ein paar Schlaglöcher geholpert, und dabei hatte der auf die Bahre geworfene Blonde gestöhnt, dessen Arme kreuzartig abstanden. Ein Fluch war zu hören, und Rada sah den schlagbereit erhobenen Gummiknüppel. Dann schauten sie sich an, der Mann in Uniform und sie, den erstarrten Schrei in der Kehle. Sie hatte nie begriffen, welche Macht ihr Blick plötzlich bekommen hatte, denn der über der Bahre erhobene Knüppel sank gemächlich herab, und der Polizist rief durch die Fensterluke in die Fahrerkabine: Kehr um, wir fahren nicht mehr ins Leichenschauhaus! Fahr zur Notaufnahme, der Tote ist auferstanden. Und dann zur Wache auf der Ana Ipătescu mit der Verrückten da. Als man sie nach ein paar Tagen aus der Kaserne in Măgurele entließ, man hatte sie einzeln freigelassen, damit sie sich auf der Straße verstreuten und nicht wieder versammelten, schaute Rada sich in einem Schaufenster an und versuchte, ihren festen und entschlossenen Blick zurückzuerlangen. Das Gesicht, das sie da sah, war jedoch verwirrt und fremd. Sie zählte dreiundzwanzig Jahre und war gealtert.

Wir haben nicht die gleichen Erinnerungen, wiederholte Rada, durchfuhr den Kreisverkehr und bog in den Boulevard Carol ein.

Der Mann schaute durch das Fenster, erkannte die Örtlichkeiten wieder und hätte ihr dies gerne gesagt, aber er begriff, dass es ein Fehler wäre, und schwieg. Er schüttelte den Kopf, als hätte er zugleich gefragt und geantwortet.

Wenn Sie mich fragen – und wahrscheinlich waren dies die imaginären Fragen, auf die er sich selbst geantwortet hatte –, ich erinnerte mich damals auf eine bestimmte Weise und nun, nachdem ich Sie im Fernseher gesehen habe, wieder anders. Früher war alles ein großes Durcheinander, wer auch immer erzählte, es war immer das Gleiche. Wir wussten nicht, wen wir verprügelt hatten, als hätten wir niemanden verprügelt, man konnte die Schuld auf einen anderen schieben oder auf gar keinen von uns. Aber seitdem ich Sie gesehen habe und weiß, wie Sie heißen … ist es so, als sprächen Sie mit mir, und ich kann dem nicht ausweichen … Und darum bin ich gekommen, Ihnen das persönlich zu sagen, und nicht auf Umwegen.

Jetzt weiß auch ich, wie du heißt, sagte Rada und mühte sich, das Auto einzuparken. Pavel Avădanei oder wie man bei der Polizei sagt: Avădanei Pavel. Das ist kein Name aus dem Schiltal, nicht wahr?

Bei uns in der Moldau heißen viele so, nach dem Namen der Mutter, denn die Männer sind immer weggegangen. Aelenei, Adomniţei, Afierăriţei, Avădanei. Wenn wir in der Schule aufgerufen wurden, begann die Hälfte der Namen mit A1