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Vom geliebten Mittelmeer in Kalabrien dramatisch verschlungen, findet der Gerettete sich in Paris im Goldenen Käfig eines Mannes wieder, der in ihm den Sohn wiedererkennen will, den er meinte hinrichten zu müssen und der mit Hilfe der heiligen Mutter Gottes Maria wunderbarerweise gerettet wurde. Die Zwillingstöchter des weltweit unversteuerte Geschäfte betreibenden falschen Vaters spielen ein gegensätzliches Spiel mit dem von ihnen durchschauten Bruderersatzmann. Der Gerettete bricht immer wieder joggend in die Straßen und Plätze von Paris aus, in der Hoffnung dort von seiner Frau, einer bekannten Pariser Regisseurin, entdeckt und gerettet zu werden, ähnlich wie sie ihn zur Zeit des Algerienkrieges schon einmal in Paris aus räuberischer Versklavung befreien konnte. Aus seinem Leben als ein sich selbst fremder Anderer entflieht er ins heimliche Schriftstellern des nachts im Bad seiner von Bodyguards permanent abgesicherten Wohnung und erinnert sich zunehmend an seinen bereits zurückgelegten Lebensweg und seinen Versuch, mit seiner geliebten Frau in ein vollständig menschenfreies Leben in der Natur des Cap de Creus zu entkommen.
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Seitenzahl: 638
Veröffentlichungsjahr: 2021
© 2021 Hans Jürgen Kolvenbach
Coverbild: Anne Kolvenbach, Circus France II, 2004, Acryl a.
Lwd., Ausschnitt aus 100 x 200 cm
Homepage: http://www.annekolvenbach.de
Verlag und Druck:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN
Paperback:
978-3-347-30987-6
Hardcover:
978-3-347-30988-3
e-Book:
978-3-347-30989-0
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichkeit.
Hans Jürgen Kolvenbach
Als ein Anderer leben
Paris auf der Straße und im GOLDENEN KÄFIG
Roman
Inhalt
Ein Wort vorweg
Kalabresische Gastfreundschaft ohne Eile
Untergang
Wiedergeburt
Sohn unverhofft
Im Wechselbad der Weiblichkeit
Blick durchs Schlüsselloch – bestraft
Zwillingsschwestern entzweit
Unter der Bettdecke – Verschwiegenes
Einen Lügendetektor belügen?
Väterlicher Gewalt unterworfen
In gesegneter Zwangsjacke
Die Wand hochrasen
Bußgang zur Heiligen Catherine Labouré erste Hoffnung auf Befreiung durch Catherine
Joggen zum Atelier von Camille Claudel zweite Hoffnung auf Befreiung durch Catherine
Barmherzige Ausflüge zum Kurier der Hoffnung
Offerte und Drohung
Erster Schreibversuch – Abbruch
In Paris am falschen Ort
Joggen mit falschem Vater zur Place Dauphin dritte Hoffnung auf Befreiung durch Catherine
Joggen mit Bodyguard im Park Buttes-Chaumont vierte Hoffnung auf Befreiung durch Catherine
Verstohlenes Schreiben
Gemischter Beifall für den Autor
Beistand leisten oder schreiben?
Superbia – Buße tun in Italien – die Flucht wird vorbereitet
Kontakt herstellen zur Fluchthelferin in Italien
Speisen auf Leben und Tod im Dunkelrestaurant
Alle Fluchtwege versperrt
Unverdeckt schreiben mit Unterbrechungen
Natur pur – ein Paar riskiert sich jenseits aller Zivilisation am Cap de Creus, das in Katalonien wie eine Hand ins Mittelmeer eintaucht
Worte danach von Luigi
Namen der handelnden Personen
Handlung
Als ein Anderer leben
Roman
für Anne und ihre Malkunst
Ein Wort vorweg
Tröstlich. Dieses Verschwinden. Das Verschwinden Charlie Chaplins, wenn er als Rückenfigur groß uns verlassend, zum Horizont hin wegschreitet, weg von uns auf eine unendliche Weite zutrippelnd und latschend zugleich. Immer kleiner werdend, am ENDE zu einem Punkt gerinnend. Charlie Chaplin, am Ende seines Films Punktum entschwindend, entlässt uns in grenzenlose Weiten
Mein Verschwinden, trostlos dagegen. Unvermittelt war ich weg. Kein Indiz zurücklassend, kein Zeichen, keinen Abschied. So kränkend das für Dich gewesen sein mag, so wenig trage ich Schuld daran.
Selbst wenn ich Dich auch nie mehr erreichen könnte, erklären muss ich mich Dir. Ich muss.
Stellt Dir mein Bekennerschreiben nicht als Spaß vor, als Laune. Hinterrücks schreibe ich. Nur noch mein Schreiben bestimme ich, nicht mein tägliches Leben. Man lässt mir die Zeit, nicht ahnend, was ich damit anstelle mit der überflüssigen Zeit, nicht ahnend, dass ich schreibe, schon gar nicht ahnend, was ich schreibe. Wüsste man das, ich dürfte nicht. Nicht so verquält wie Kafka schreibe ich, ich schreibe nur notfalls in der Nacht, meist am Tag, immer, wenn ich mich am stärksten fühle, nicht wie Kafka verquält von zehn Uhr abends bis sechs Uhr früh in einem Zug: »Kein Wort fast, das ich schreibe, passt zum anderen. Meine Zweifel stehen um jedes Wort im Kreis herum, ich sehe sie früher als das Wort.« So viele Zweifel, wie Kafka sie in diesen Sätzen an seiner Niederschrift äußert, habe ich nicht, wenn ich auf mein Geschriebenes blicke. Bin ja auch nur ein Schrift-Steller in allerersten Versuchen. Dennoch habe ich Zweifel, aber am Leben, das ich jetzt zu führen gezwungen werde. Zwitschernd im Goldenen Käfig? Hinterrücks schreibe ich. Wozu? Vielleicht, weil das mein letzter Zipfel Freiheit ist? Vielleicht um zu kaschieren, wie feige ich gehandelt habe, als ich mutig hätte sein können und auch sein müssen? Vielleicht weil ich Dir, Catherine Steinreich, meiner lieben Frau, meiner einzig geliebten Frau, eine Flaschenpost zukommen lassen möchte? Denn wie oft sichtest Du in Deinem Lieblingsbuchladen die Neuerscheinungen, stößt vielleicht auf meinen Roman, wenn er mir denn gelingt und unerwartet publiziert wird. Ein von mir so sehr erhoffter Zufall, der sich aber nicht wirklich ereignen wird. In einem guten Licht werde ich Dir nicht erscheinen - leider!
Und du, Leonora, meine zweite Leserin, verzeihe mir nicht, nimm Dein Verzeihen zurück, welches Du mir in Deiner allerersten geheimen Post vor einiger Zeit viel zu großmütig geschenkt hast. Ihr beiden, die ich, wenn ein glücklicher Zufall es will, mit dieser Flaschenpost erreichen kann, nehmt erst diese Lektüre auf Euch. Urteilt nach dem letzten Wort. Klappt bitte das Buch nicht zu, bevor der letzte Satz verklingt. Chaplin gerinnt am Ende seine Films zum Punkt. Im Entschwinden überlässt der kleine schwarze Fleck dem Zuschauer die Horizonte. Wie nur wird mein Text enden?
Nicht auszudenken, wie mir geschah. Ich habe es nicht zu verantworten. Das Leben verrückter als die Phantasie. Nicht ich bin verrückt, wie Ihr vielleicht mutmaßt, nein, das Leben hat mich verrückt.
Wenigstens zwei Augenblicke allerdings gab es in meinem Leben, die alleine ich zu verantworten hatte. Auf den jungen Mann, verstrickt in den nach Paris getragenen Algerienkrieg, kann ich stolz zurückblicken, der hat sich gestellt und seinen Augenblick genutzt, Widerstand zu leisten der Militärmaschinerie, ohne abzuwägen. Der erwachsene Mann aber hat im Angesicht väterlicher Großmannssucht und Gewalt sich gedrückt, hat seinen Auftritt nicht einmal sekundenlang erwogen. Da hätte ich erneut ich sein können, da hatte ich die Chance, mich zu riskieren, doch da erstarrte ich, als wäre ich nur Zuschauer in einem Spektakel. »Die ganze Welt ist Bühne. Und alle Frauen und Männer bloße Spieler. Sie treten auf und gehen wieder ab.« Als ich endlich nach vielen Jahren wieder meine Chance hatte, ich trat erst gar nicht auf. Vielleicht schreibe ich nur, mein Versagen zu kaschieren, meine Scham zu übertönen.
Nein, ich muss ehrlich sein. Den Anstoß zum Schreiben habe ich nicht aus meinem Inneren, habe ich alleine von Dir bekommen, von Dir Leonora.
Beim Lesen Deines ersten Briefes an mich. Beim Lesen des Briefes, den der alte Salvatore mir aushändigte und sogleich für immer, nachdem ich ihn gelesen hatte, in Asche verwandelte und natürlich beim Lesen Deines allerersten gedruckten Textes, der ungeschützt immer noch offen herumliegt. Vielleicht erinnerst Du Dich, dass Du in einem Zug davon sprachst, leben und schreiben zu wollen, Schriftstellerin werden zu wollen. Im gleichen Augenblick, als ich das las, verfestigte sich in mir mehr und mehr eine Gewissheit. Könnte doch sein, auch ich dafür geboren zu schreiben! Beinahe noch nie hatte ich daran gedacht. Plötzlich aber, als ich mich herausgefordert fühlte, mich mit Dir zu vergleichen, da dachte ich, dass es nicht nur Dein, sondern genauso gut auch mein Schicksal sein könnte, Schrift-Steller zu werden. Mein Leben kraus, wirr, sich überschlagend, ein Puzzle aus auseinanderdriftenden Inseln, die sich nicht zu einander fügen wollen - Fragmente. Hatte ich vielleicht den Auftrag zu schreiben, mich neugierig über mich selbst zu beugen und das Geschehene, das Passierte, die Ereignisse, das Zufällige wenigstens in Sätze zu fügen? Verzeih` mir Leonora, sollte ich Dir eine Idee gestohlen haben, die nur für Dich bestimmt war, verzeih` mir, wie ich inzwischen auch Dir verzeihen will. Du ahnst, worauf ich anspiele. Ich füge nichts Erfundenes hinzu, wenn ich schreibe, nach Sätzen suchend und greifend, die mein Leben in eine Ordnung bringen sollen. Satzgebilde, die Geschehnisse einfangen zwischen Komma und Punkt.
Bitte lest erst diesen Suchtext. Schiebt meine Verurteilung noch hinaus. Verachtet mich erst, wenn ihr nach der Lektüre das noch für gerechtfertigt halten müsst. Als Roman muss ich verkleiden, was zu erinnern ist, obwohl dieser Text, den Ihr hoffentlich lesen werdet, frei ist von Phantasie. Denn nicht ich habe mein Leben gelebt, sondern mir hat das Leben mitgespielt, wie ich selbst es mir nicht hätte ausdenken können, auch nicht hätte ausdenken wollen. Die Menschen, die mir jetzt meine Lebenswege vorschreiben, die lesen nicht, keine Romane jedenfalls, Bilanzen bestenfalls oder hochgeheime Polizeidossiers oder einschüchternde Verdächtigungen der Steuerbehörden. Der Pater, der mich so gütig begleitet hat, liest ausschließlich in der Heiligen Schrift.
Also kann ich es riskieren, alles niederzuschreiben, was mir einfällt auf der Suche nach den verlorenen Erinnerungen, ohne befürchten zu müssen, von meinen eigenen Texten verraten zu werden und ausgeliefert an die Rache meines Retters. Vielleicht lässt Euch ein glücklicher Zufall greifen in einer Buchhandlung nach meinem Roman, der kein Roman ist. Einen anderen Weg, mich Euch zu erklären, wüsste ich nicht. Wo beginnen? Wer von Euch beiden soll mich zuerst wiedererkennen? Beim Versuch, dem ersten Satz aufzulauern und ihn niederzuschreiben, merke ich, dass sich mir am meisten aufdrängen die endlosen Augenblicke des Ausgeliefertseins ohne jede Chance auf Hoffnung.
Ins Ausgeliefertsein eingesperrt hatte mich kein Kriegsgeschehnis. Meine Nichtigkeit demonstriert hatte mir kein Verkehrsunfall, kein Mensch, nichts von Menschen Konstruiertes. Hellwach, aber verzweifelt ohnmächtig um und um geschleudert zu werden, ohne den Hauch einer Möglichkeit, die Geschehnisse beeinflussen oder gestalten zu können nach eigenem Willen mit den eigenen Kräften, das ist mir nur einmal zugestoßen in meinem Leben, unglaublicherweise machte das Meer mich so nieder, nicht irgendein Meer, das von mir so geliebte Mittelmeer zermalmte mich.
Weil ich zu meiner eigenen, nach Jahren immer noch anhaltenden ungläubigen Verwunderung die Katastrophe überlebte, wird mein erinnerndes Schreiben mit diesem Erlebnis - ein viel zu positiv klingendes Wort - beginnen müssen. Ein treffenderes Wort als »Erlebnis« fällt mir nicht ein, denn so grenzenlos lähmend die Ohnmacht, so heftig und intensiv war das innerste Empfinden totalen Ausgeliefertseins an tosende Gewalten. Allerdings wäre mir dies Ungeheuerliche niemals zugestoßen, hätte nicht ein Automobil mir seine Beweglichkeit verweigert. Beschreibe ich also erst einmal, wie unser Citroën ungehorsam bockte, alles andere formuliert sich dann, so hoffe ich, wie von selbst.
Kalabresische Gastfreundschaft ohne Eile
Wenn die kalabresischen Freunde uns im Übergang von Freitag auf Samstag in vollmondheller Mitternacht nach einem endlosen Abschiedsessen, einem Gastmahl, das Auge und Mund überwältigte mit dem Wohlgeruch und paradiesischen Geschmack panierter Zucchiniblüten, verlockte mit der Zungenfragilität der zartest duftenden Wickelnudel, in der Nacht zuvor um Ginsterholzstäbchen gedreht zur Pasta Fileja, der antikesten Makkaroni-Nudel Kalabriens, einem Gastmahl, das entzückte mit der hingebungsvollen Unterwürfigkeit violetter Auberginenscheiben, gedünstet in selbst geerntetem Olivenöl und Cipolla rossa aus Tropea, einem Gastmahl, das sättigte mit zartgebräunten Kaninchenschenkeln knoblauchberieben aus dem Backofen und zum krönenden Abschluss verführte mit den kleinen Nachspeisekreuzchen der Crocette aus getrockneten Feigen, Zimt, Zucker und Nüssen, alles begleitet von Gesprächen ohne deutsche oder französische oder englische Einschübe im herzlichsten Freundschaftsitalienisch und natürlich dem Rotwein, den Salvatore im eigenen Weinhang ein Jahr zuvor erzeugt hatte, wenn also nach dieser Bewirtung Rosa und Salvatore uns in die allerletzte Nacht in unsere Ferienwohnung am Capo Vaticano mit so überbordender Herzlichkeit verabschiedet hatten, konnten wir dann nur zwölf Stunden später samstags erneut in der Via IV. Novembre in San Costantino Calabro, einem Dorf ohne Bürgersteig, stehen und um Unterkunft bitten, obwohl die Macrís uns längst auf der Autobahn Richtung Paris wähnten?
Über die Strada Provinciale 17 hatte unser übervoll bepackter Citroën uns vom Meer aufwärts gerade noch befördert bis zu der Kreuzung, an der es nach rechts über drei Straßenkilometer zu unseren Freunden nach San Costantino Calabro, dem Dorf ohne Bürgersteig, führt oder nach links über sechs Kilometer in den Hauptort der Provinz Vibo Valentia, der den gleichen Namen trägt und unser Durchfahrtsort zur nahegelegenen süditalienischen Autobahn hätte sein sollen. Das erneute Anlassen des Motors verweigernd, war unser Citroën ausgerollt neben einem Eislieferwagen, aus dessen Führerhaus die Beine des schlafenden Fahrers hingen. Vor einem verriegelten und verrammelten Haus bockte unser Wagen, immerhin nicht im Straßengraben, sondern auf einem gleichgültig dahindümpelnden, überhitzten, erdig staubigen Parkplatz. Wir mussten die Frage beantworten, ob wir, obgleich das am Samstagmittag gewiss aussichtslos war, zur Citroën Werkstatt ins sechs Kilometer entfernte Vibo Valentia trampen oder als reuige Bittsteller drei Kilometer zu Fuß zu unseren Freunden in San Costantino Calabro pilgern sollten. Aus dem Handschuhfach zog ich unsere doppelte Absicherung: die Reiseversicherung des Automobile-Club de l`Ouest, die versprach, einschließlich der Übernachtungskosten alle Reparaturkosten, die eine Reise mit sich bringen konnte, zu erstatten, und zu allem Überfluss zusätzlich noch die Mobilitätsgarantie, die Citroën unserem Gebrauchtwagen angeheftet hatte, mit noch einmal den gleichen Sicherheitsversprechungen. Wir hätten uns wirklich keine Sorgen zu machen brauchen. Schon bald würde die Gelassenheit der Sommerferien sich hinter uns im verblauenden Horizont verlieren, bedrängen würden uns aus dem Autoradio am frühen Morgen die Staumeldungen, die uns an jedem Alltag gleich schon auf dem Umgehungsring, mit dem die Autobahnen Paris umschließen, am Erreichen unserer Arbeitsplätze zu hindern versuchen.
Gleichwohl diskutierten wir hin und her, ob wir uns auf ein Wochenende ins Hotel in Vibo Valentia Richtung Citroën Werkstatt begeben sollten oder lieber doch in die familiäre Sicherheit unserer Freunde.
Noch ehe Catherine und ich, beide gleich unschlüssig, eine Entscheidung zwischen nach links trampen oder nach rechts laufen getroffen hatten, erwachte der Fahrer des Eislieferwagens, zog seine Füße in die Fahrerkabine und ließ sein fragendes Gesicht im geöffneten Seitenfenster aufscheinen, erkannte unser Nummernschild, trat an unser Auto und erzählte uns in selbstgebasteltem Französisch, wie sehr es ihm in der Picardie gefallen hatte und dass er wegen seiner kranken Mama, wirklich einzig und allein wegen seiner kranken Mama, nach Kalabrien zurückgekehrt sei, fragte zu unserem Glück, wohin wir unterwegs seien. Wir berichteten von unserer Autopanne, beichteten, dass unser Wagen nicht nur deshalb überladen hinten abwärts hing, weil unsere kalabresischen Freunde uns versorgt hatten mit selbstgefertigter Tagliatelle, noch ungekocht, 7 Flaschen Rotwein aus eigenem Anbau, mindestens 5 Kilo blauer Trauben von der hausnahen Pergola frisch geerntet, ganz zu schweigen von den fünf Corona di Cipolla, den magentarot verflochtenen schwergewichtigen Zwiebelkränzen, denen ein von der Kommune Tropea gesponserter Kongress in diesem Jahr hohe Abwehrkräfte gegen den Herzinfarkt bescheinigt hatte. Wir betonten, dass unser armes Auto keineswegs deshalb überfordert wirkte, weil Catherine ihr aufblasbares Schlauchboot Kajak Tahiti mit allem Zubehör über die Koffer im Laderaum des Break hochgestapelt hatte, nein, den Todesstoß musste unser treues Auto bekommen haben, weil ich, einer nicht zu bändigenden Leidenschaft folgend, jeden Tag an der Granitküste zwischen Coccorino-Strand und Nicotera Marina kugelrunde und straußeneiglatte grau-weiß schimmernde Granitsteine, die dort von den Wellen seit Jahrhunderten, Jahrtausenden oder Jahrmillionen auf dem Meeresgrund hin- und herschleudernd geschliffen worden waren, ertaucht und voller Stolz gegen Catherines Warnungen unter die Koffer über den gesamten Gepäckboden hinweg eingelagert hatte. Der Fahrer des Lieferwagens kannte keine Gnade. Diese Steine mussten raus. Sein Gesicht verriet, dass er nicht einmal den Hauch einer Ahnung empfand, was mir Steine bedeuten. Für ihn eine Störung, die in Personenwagen nichts, aber wirklich gar nichts zu suchen hatte. Unter den kontrollfreudigen Augen von Catherine und diesem hilfsbereiten Fahrer warf ich eine Menge meiner geliebten und vom ewigen Wellenschlag so unendlich perfekt geformten Graniteier in den Straßengraben, eine langgezogene Erdvertiefung, nie gepflegt, eingestaubt und eingemüllt. Entschuldigte mich bei jedem Wurf unhörbar für die beiden Kontrolleure bei jedem der so barbarisch verstoßenen Steine. Trotz der zwei gnadenlos kontrollierenden Augenpaare gelang es mir mit der Schulter, den Kofferraum verdeckt zu halten und wenigstens zwanzig der schwergewichtigsten Steine unter dem letzten Koffer verborgen zu halten.
Der Fahrer des Eislieferwagens rieb sich die Hände, als hätte er zu lange schon auf die Beerdigung meiner unter so viel Mühen ertauchten Granitplastiken gewartet, öffnete unsere Motorhaube, befahl mich hinter das Lenkrad, griff, wie ich es auf unseren keineswegs reparaturarmen Italienreisen schon häufig erlebt hatte, für mich unsichtbar in den Motorraum, löste etwas, verband etwas und - wie oft hatte ich die Geschicklichkeit der Hände italienischer Automechaniker bewundert -, obwohl er vielleicht nie zum Mechaniker ausgebildet worden war, lief der Motor sofort, als ich auf seine Weisung hin den Schlüssel im Lenkradschloss drehte. Er warnte mich, nicht anzuhalten, denn dies sei die allerletzte Fahrt für diesen Motor, käme er noch einmal zum Stehen, wäre es aus mit unserer Beweglichkeit. Kaum vermochte ich zu danken. Ängstlich versuchte ich das Gaspedal zu bedienen, möglichst gefühlvoll, bemühte mich, jedes Bremsen zu vermeiden und mich, natürlich einen weiten Bogen auf dem Parkplatz drehend, auf die nur drei Kilometer lange Strecke zu unseren Freunden in San Costantino Calabro mit dem Auto einzufädeln, ohne den in beide Richtungen dichten Autofließverkehr in einen Unfall zu verwickeln oder aber schlimmer noch, auf dem Parkplatz den Motor erneut verenden zu lassen. Ich weiß nicht mehr wie, aber in größter Bangigkeit gelang mir diese Fahrt zu den Freunden, obwohl Catherine und ich gar keinen Beschluss in der lange diskutierten Frage hatten fassen können, ob Vibo Valentia oder San Costantino Calabro anzusteuern sei. Da standen wir endlich vor dem Haus ohne Bürgersteig. Sein Vorgarten, von unzähligen Rosenbüschen überrankt, die vom eigenen Duft berauscht um ihre Eisenstützen schwankten und tanzten, hielt unseren kaputten Wagen auf Distanz.
Ich klingelte zaghaft am Haus Nummer 18 in der Via IV. Novembre, überlegte mir die ersten Sätze und hatte schon das Citroën Mobilitäts Garantieheft in der Linken und obendrauf das nicht gerade dünne Begleitbuch, in dem alle Citroën Werkstätten Europas mit Telefonnummer und präziser Anschrift aufgeführt waren. Spätestens Montag, wenn nicht schon an diesem Samstagnachmittag, würde ich mich dank dieser Mobilitätsgarantie nach Vibo Valentia in die Werkstatt abschleppen lassen und unseren Freunden auf keinen Fall länger zur Last fallen.
So dachte ich, während ich eine Weile warten musste, ehe Salvatore, von Rosa neugierig verfolgt, die Haustüre öffnete. Mein erster Satz war mir der Wichtigste, habe ihn aber vergessen. Auf jeden Fall stammelte ich in meinem Italienisch irgendwas von Entschuldigung und ob es irgendwie denkbar wäre, dass unsere Freunde uns wegen der Autopanne für ein oder zwei Nächte beherbergen könnten. Kaum im Gesicht der Freunde das nur in Kalabrien denkbare sonnige und freudige Willkommen erblickend, stürzte ich, in meinem Werkstattbuch nach der Telefonnummer von Citroën Vibo Valentia blätternd, zum Telefon der Macrís, das ich oft genutzt hatte in diesen Sommerferien und am Ende des Flurs im Übergang zur Küche wusste. Doch Salvatore in seiner edlen Ruhe stoppte mich mit einem gelassen gesprochenen: »Calma, Giovanni!« Giovanni, so mein Name in Italien.
Zwar versuchte ich noch, etwas von meiner doppelten Mobilitätsgarantie zu berichten und davon, dass die Citroën Werkstatt in Vibo Valentia schon Montagabend uns den Wagen wieder startbereit vor die Füße stellen würde, nachdem der ACI heute oder morgen auf Kosten des Automobile-Club de l`Ouest unseren Wagen die neun Kilometer nach Vibo Valentia abgeschleppt haben würde. Konnte ich wirklich übersehen, dass wir Salvatores Haus betreten hatten? Mein Schwung, mit dem ich die Reparatur unseres Wagens hatte vorantreiben wollen, verlor sich. Ich vergaß die beiden Mobilitätsgarantien in meinen Händen, merkte nicht einmal, wo ich sie und das Citroën Reparaturadressbuch ablegte, als Salvatore uns, als wären wir nie abgereist, ins Wohn- und Esszimmer neben der Küche lotste und uns bedeutete, dass wir genau richtig zur Mittagszeit gekommen seien. Wir hatten zur Begrüßung zu kosten von dem nur bei Rosa so flüchtig zitronig gelbsüßlich schmeckenden Limoncello, den sie an diesem Morgen auf Flaschen gefüllt hatte. Wir wurden wieder zu routinierten Mitspielern bei dem Essen, als hätten wir diesen Mittagstisch nie verlassen: alles hausgemacht, angefangen bei der handgemachten Pasta bis zum Nachtisch mit tiefgekühlten Scheiben aus rosiger Wassermelone. Wie üblich aß unser Freund Salvatore seine Sonderportion Nachtisch, ohne dass er mir übel nahm, dass ich wie immer schon sein Angebot ablehnte, als allerletzten Nachtisch noch seine selbst gezogene und eigenhändig geschälte Gurke zu verkosten.
Dann ordnete er unseren Einzug in sein Haus. Unsere nicht endenden Gepäckmassen durften wir in sein Tierarztamtszimmer schleppen und auf dem edlen hellen Granitboden abstellen, der unsere Gepäckstücke um so ärmer aussehen ließ, weil auch die Wände, lückenlos aus feinstem braunen Marmor mit unendlichen Äderungen, in ihrer edlen Haltung kaum auf die Schäbigkeit unseres abgenutzten Gepäckes hinabblicken mochten. Noch nie hatten wir dieses Amtszimmer betreten dürfen, noch nie aufblicken dürfen zu den prachtvollen Goldrahmen, die das Büttenpapier veredelten, auf dem Salvatores erfolgreiche Veterinario Laufbahn amtlich beurkundet wurde. Salvatore nutzte diesen beeindruckenden Raum seit über zwanzig Jahren nicht mehr, weil er für die Gemeinde Tropea die Lokale der Umgebung visitieren und kontrollieren musste. Hinter der einfach verputzten und eher grauen Hausfassade in einem Dorf ohne jeden Bürgersteig hätte man solch eine Pracht in edelstem Naturstein, von höchster Steinmetzkunst für die Zivilisation glattgeschliffen, nicht vermutet. Auch das Zimmer in der ersten Etage, das Rosa uns als Schlafzimmer öffnete, hatten wir nie zuvor gesehen. Ein Grand Lit aus der Toskana, ganz in Jugendstil geschmiedet, wogte durch das Zimmer mit Ausblick zur Straße. Ungesehen von Rosa tauschten Catherine und ich einen Blick, der hätte verraten können, dass wir uns ohne jede Absprache einig waren, wie sehr uns dieses Zimmer gefiel und in unüberlegte Annäherungen verlocken würde, trotz des Ärgers über die Autopanne.
Wie hätten wir in den folgenden Tagen und Nächten diesen ungeplanten neuen Ferienauftakt genießen können, hätte ich nicht weiterhin die Beschleunigung der Reparaturabläufe in meiner Phantasie immer und immer neu durchgespielt. Vermutlich hatte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht wirklich begriffen, welche Folgen es haben musste, dass wir uns zwei Stunden zuvor freiwillig in Salvatores Haus und Hand begeben hatten.
Beim Entladen unseres Gepäcks hatte ich nicht mehr vermeiden können, dass Catherine, aber auch Rosa und Salvatore, die von mir trotz aller Unbilden geretteten Graniteier und Granitkugeln entdeckten. Meine Gefährtin Catherine verkniff sich mit einiger Anstrengung den Tadel, den ich verdient hatte. Unerwartet begeistert reagierte Rosa. Obwohl an dieser Küste groß geworden, hatte sie solch schöngeformten Granitsteine aus den Tiefen des nahen Mittelmeeres nie erblickt. Ganz im Gegensatz zu dem ignoranten Eislieferwagenfahrer ließ Rosa sich von meiner Steinliebe offensichtlich so anstecken, dass ich sie bat, sich die schönsten für ihren Garten auszusuchen. Den verbleibenden klitzekleinen Teil hoffte ich auf irgendeine Weise an Catherine vorbei in unseren Citroën, wenn er denn repariert sein würde, schmuggeln zu können.
Am Sonntagmorgen lockte Salvatore mich sehr früh aus dem Haus. Vom Fenster in der ersten Etage schaute Catherine uns fragend hinterher, als wir in Salvatores Auto entschwanden. Immer noch oder erneut stand sie am geöffneten Fenster, als wir eine halbe Stunde später mit dem Cousin einer entfernten Cousine von Rosa zurückkehrten, fragte mich von oben herab in dem nur uns verständlichen Französisch, ob nun endlich die Reparatur in Gang gesetzt würde. Ich antwortete stumm mit einem Weiß-Nicht Zucken meiner Schultern, bat sie mimisch um Geduld. Der Cousin einer entfernten Cousine von Rosa betrieb an der Strada Provinciale 17 hinter einem großen Werbeschild eine Schiffsmotor-Reparaturwerkstatt. Salvatore führte ihn in seinem mir vertrauten Calabresich-Italienisch in die lange Geschichte unserer Freundschaft ein und in das vielleicht sogar selbst verschuldete Dilemma, in dem die Deutschfranzosen nun mit ihrem streikenden Citroën steckten. Der Cousin hatte zunächst einige unerhörte Nachrichten aus dem weiteren Familienkreis zu berichten. Immer neu gab ich Catherine, wenn sie mit fragendem Gesicht am Fenster in der ersten Etage erschien, mit unauffälligen Handzeichen zu verstehen, dass sie sich doch bitte gedulden solle.
Irgendwann endlich forderte der Fachmann für Schiffsmotoren aller Art mich auf, die Motorhaube zu öffnen. Er holte sein Arbeitsbesteck aus einem Reparaturköfferchen aus Blech. Die in seinen Bewegungen sichtbar werdende souveräne Kompetenz steigerte meine Hoffnung, vielleicht schon an diesem Sonntagmorgen Richtung Autobahn aufbrechen zu können. Enttäuschung. An dem Fachmann lag es nicht, dass er nach halbstündiger Bemühung feststellen musste, die beschmutzten Hände mit einem Tuch sauberreibend, dass diesem Auto nur ein Automechaniker weiterhelfen könne. Während ich Catherine, die wieder am Fenster im ersten Stockwerk erschienen war, leise zurief, dass wir auf die Reparatur am nächsten Tag in der Citroën Werkstatt würden warten müssen, wollte ich von Salvatore wissen, zu welcher Uhrzeit am Montagmorgen wohl die Citroën Werkstatt in Vibo Valentia die Arbeit aufnehmen könnte und ob Salvatore mich noch diesen Nachmittag mit seinem Fiat dorthin abschleppen würde oder ob ich doch lieber den kostenlosen ACI Abschleppdienst in Anspruch nehmen sollte. Aber Salvatore stellte mich mit seinem gelassen gesprochenen »Calma Giovanni!« unbeeindruckt ins Abseits und widmete sich, wie die Höflichkeit es verlangte, dem Cousin der entfernten Cousine von Rosa, entließ ihn nicht, ohne ihn mit berauschend duftenden hochgewachsenen Basilikobüschen, frisch im eigenen Garten hinter dem Haus geschnitten, beschenkt zu haben. Zur Rückfahrt mit dem Fachmann für Schiffsmotoren aller Art lud Salvatore mich nicht ein, so dass ich hocheilen konnte zu Catherine, um ihr meinen Reparaturplan für den nächsten Tag zu erläutern. Trotz des verlockenden Jugendstilbettes wollte keine Lust uns von der Panne ablenken.
Nicht Mimmo, nicht Maria, nicht Isabella, nicht Alessandra, nicht Elio, weder die Enkel noch die erwachsenen Kinder, noch Schwiegertöchter und Schwiegersöhne wunderten sich, dass wir deutschen Franzosen auch in der fünften Woche noch im großen Familiensonntag der Macrís weilten und schläfrig verteilt unter den Schatten der Olivenbäume im Garten hinter dem Haus in San Costantino mit allen anderen Eistorte vom Plastikteller löffelten und paradiessüßen Cinzano Asti Spumante aus transparenten Plastikbechern tranken und wie von selbst in der großen Familie uns auflösten, ehe wir uns am Abend mit unseren Sorgen in unser Jugendstilzimmer zurückzogen.
»Sag Salvatore, dass wir zu Hause einen Termin haben, damit er die Reparatur beschleunigt!«, rief Catherine uns vom Fenster in der ersten Etage hinterher, als Salvatore mich überfrüh am Montagmorgen zu seinem Fiat abführte. Mir Frühaufsteher machte das gute Laune. Endlich, denn Salvatore äußerte sich in Sachen Reparatur nie, so als halte er dies entweder für ungehörig oder aber überflüssig, endlich hatte ich ein sicheres Zeichen, dass wir nun sehr entschieden im neun Kilometer entfernten Vibo Valentia mit Hilfe von Salvatores Autorität die Reparatur zum Abschluss bringen würden. Vorsichtshalber steckte ich unauffällig meine Automobile-Club de l`Ouest Urlaubsversicherung und meine Citroën Mobilitätsgarantie und das Adressverzeichnis mit den europäischen Citroën Werkstätten in meine kleine Umhängetasche. In die rechte Hand drückte mir Salvatore eine große Kühltasche, in der sich, wie ich noch erfahren sollte, von Frischeis gekühlte orangenrote Thunfischfilets befanden, einen Tag zuvor von der Insel Favignana an der Westküste Siziliens in ein sich verengendes Netzsystem gelockt und mit Holzstöcken blutig zu Tode geschlagen. Diese Delikatesse brachte Salvatore nun keineswegs mit mir in das nur neun Kilometer entfernte Vibo Valentia, sondern über kurvige Straßen immer weiter bergauf, bis wir nach stundenlanger Fahrt durch kühl atmende Waldungen, immer wieder ausgebremst von Ochsen- und Eselsgespannen kalabresischer Olivenbauern, wenige Kilometer vor Gambarie hundert Kilometer von Salvatores Zuhause entfernt im wildesten Teil des rauen Aspromonte Bergmassivs inmitten des schönsten Esskastanienwaldes vor einem Granitgebäude mit ausgedehnten Ziegenstallungen Halt machten. Salvatore bedeutete mir, vorerst den Beifahrersitz nicht zu verlassen. Ich hatte gute Sicht, sog begierig in mich hinein die durch den weit geöffneten Wagen strömenden Duftmischungen, die ein freundlicher Wind komponiert aus Baumwipfeln, Waldböden, Ziegenstallungen und zudringlicher Ziegendünstung an mir vorbeiwehen ließ, und folgerte aus den Gesten, dass Salvatore dem Mann, der auf die Treppe getreten war, die außen an der Wand zweiflügelig aufwärts in die erste Etage des Bauernhauses führte, die Geschichte seiner französischdeutschen Freunde zu vermitteln versuchte, vielleicht sogar vom Pech mit dem Pannenauto erzählte. Irgendwann, die beiden schienen sich lange nicht gesprochen zu haben, winkte Salvatore mich zum Haus, andeutend, dass ich die schwere Kühltasche mit den Thunfischfilets mitbringen solle. Der Fremde begrüßte mich, als wäre ich der jüngste und liebste Bruder von Salvatore. Ihn stellte Salvatore vor als den Onkel der Schwester seiner Patentante. Nachdem die Vorstellung in bestem Italienisch gelaufen war, sprachen die beiden nur noch in ungewöhnlich harten Lauten, vermutlich dem aus der Zeit Großgriechenlands im südlichsten Italien verbliebenen Dialekt Grekaniko oder irgendeinem Dialekt, von dem sie wussten, dass der Fremde, obwohl fließend Italienisch sprechend, mit Sicherheit kein einziges Wort verstehen würde. Ich musste ihnen helfen, die großen Thunfischstücke aus der Kühltasche in ein nicht kleinlich angelegtes Kühlzimmer im Parterre des Hauses zu tragen, durfte anschließend den beiden in eine Grotte folgen, feucht und kühl, in der von Hand geformter Ziegenkäse trotz kalter Luft mit seinem Duft lockte. Erklärt wurde mir nichts. Ich vermutete wohl zutreffend, dass ich Zeuge einer Tauschaktion war: Thunfisch aus Sizilien zum Berg, vom Berg abwärts Richtung Meer der Ziegenkäse. Was dies alles mit unserer Citroën Reparatur zu tun haben könnte, konnte ich nicht erahnen, erschloss sich mir erst am nächsten Tag.
Als wir an diesem Montagabend endlich wieder in der Via IV. Novembre anhielten, leider ohne im wilden Aspromonte die dunkle Nacht, den Vollmond und das nicht selten zu hörende Wolfsgeheul erlebt zu haben, stand Catherine vermutlich zu lange schon im geöffneten Fenster in der ersten Etage, fragte besonders spitz und übertrieben ironisch: »Das ist also deine doppelte Mobilitätsgarantie?«
Ich fand die Frage ungerecht und begleitete Salvatore am nächsten Morgen, im Kalender war wohl leider schon der Dienstag angebrochen, ohne mich irgendwie tröstend von Catherine zu verabschieden, denn sie hatte nach meinem Gefühl meine Ausdauer, meine Geduld und mein unermüdliches Bemühen um die Reparatur nicht angemessen gewürdigt, war mir mit der Ironie von oben herab sogar in den Rücken gefallen. Die Fahrt ging zu meiner Freude nicht weit, lediglich auf eine nahegelegene Hochebene, auf der sich modernste Kuhställe in Wellblech dehnten. Wie schon gewohnt, hatte ich mit der Kühltasche im Hintergrund auf dem Beifahrersitz auf ein Zeichen Salvatores zu warten. Diesmal allerdings verschwand Salvatore in dem unübersichtlichen Gehöft und kehrte erst nach sehr langer Zeit mit einem Herrn zurück, der mich in großer Selbstzufriedenheit auf Deutsch ansprach. Er hatte als Kind auf dieser Anhöhe dem deutschen Luftwaffenpersonal während des Zweiten Weltkrieges kleine Dienste geleistet und war noch immer von deutscher Zucht und Ordnung begeistert: »Hätten wir in Kalabrien nur zehn Prozent davon, längst im Staub hinter uns zurückgeblieben wären die Mailänder«, ließ er mich in einem etwas holprigen Deutsch wissen. Dann setzten Salvatore und der Unbekannte ihr Gespräch in einem mir nicht verständlichen Italienisch fort. Ich bekam einen Wink, dass ich die Kühltasche an den Herrn zu übergeben und den beiden zu folgen hatte. Zu meinem Glück ließ Salvatore mich nicht hinter den beiden herlaufen, ohne in einem äußerst verknappten Hinweis angedeutet zu haben, dass die Reparatur meines Citroën von jetzt ab ausschließlich Sache dieses Herrn sei. Der führte uns zu seinem ausschweifenden Lancia, setzte sich hinter das Steuer, bat Salvatore auf den Beifahrersitz. Ich durfte auf die Rücksitze. Zu meiner Freude erkannte ich die Fahrtrichtung. Es ging über das Capo Vaticano, von dem wir am Samstagmorgen noch so wohlgemut nach Deutschland aufgebrochen waren, Richtung Tropea. Von dort, so hoffte ich, während ich ungeduldig die Kilometer zählte, würde es weiter gehen nach Vibo Valentia in die Citroën Werkstatt, so meine irrige Vermutung. Die Fahrt endete jedoch bereits an der kurvigen Bergstraße, die aus Tropea bergauf Richtung Vibo Valentia und Südautobahn führt. Nicht neben der Fiat-Werkstatt, aber etwa hundert Meter unterhalb hielt der Mann, von dem ich erst viel später erfahren sollte, dass er einer der einflussreichsten unter den Nobili aus Tropea war und ist, vermutlich mit einem Adelsstammbaum zurückreichend bis zu Ferdinand de Aquino senior. An diesem Dienstag, der schon wieder der Mittagszeit zuneigte, sah ich, als würde es mir auf einer viel zu weit entfernten Leinwand in übermächtigend gleißendem Licht projiziert, dass nach lange still stehender Leere neben der Fiatwerkstatt, lediglich unterbrochen von den nur spärlich bergauf oder bergab fahrenden Liefer- und Personenwagen, drei Männer endlich die Werkstatt verließen, die Straße überquerten und auf dem breiten Parkstreifen stehen blieben, offensichtlich um angestrengt in meine Richtung zu blicken. Dann verabschiedeten sich Salvatore und der erkennbar wichtige Mann, den ich als Besitzer der Kuhmastbetriebe kennen gelernt hatte, von dem mir unbekannten dritten, der seiner legeren Kleidung nach zu urteilen nur der Besitzer der Fiatwerkstatt sein konnte, und kehrten zum Lancia zurück.
Der, wie ich nun besser weiß, hochgestellte Nobile aus Tropea, ließ mich in Deutsch wissen, dass ich Deutschland grüßen solle, denn vorrangig und umgehend werde nun mein Citroën in dieser Fiatwerkstatt am Ausgang Tropeas repariert.
Ich freute mich schon, der ungeduldig in der ersten Etage in der Via IV. Novembre wartenden Catherine noch aus dem Auto entgegenrufen zu können, dass die Reparatur lediglich eine Frage von Stunden sei, aber sie stand nicht am Fenster. Ich fand sie auch nicht in unserem Zimmer, nicht in der Küche, nicht im Esszimmer, erst im Garten neben dem Pizzaofen erblickte ich sie vom Qualm eines offenen Feuers umweht. Auf der einen Seite eines unförmig riesigen runden Bottiches sie, Rosa auf der anderen, beide mit langstieligen Holzlöffeln rührend in einer dampfenden Suppe, zu der das Holzfeuer ungeduldig emporzüngelte und qualmte. Catherine schien die Eilbedürftigkeit unserer Reparatur vergessen zu haben. Statt meinen triumphalen Erfolgsbericht abzufragen, musste zuerst sie reden und mir berichten, dass in diesem Moment ein stundenlanges Rühren zu Ende ging. Das Ergebnis würde aber nicht eine Suppe sein, wie mich der gelbbräunlichgrüne Anschein vermuten machte. Gemischt hatte Rosa Olivenöl, ungezählte Liter aus eigenem Anbau, destilliertes Wasser und Natronlauge (NaOH). Catherine war nun eingeweiht in das Geheimnis der Herstellung der fraglos weltbesten Seife, der Olivenkernseife von Rosa aus San Costantino Calabro. Wir beide wurden nachdrücklich ermahnt, uns nie mehr mit industrieller Seife, sondern nur noch mit dieser im Garten hinter dem Haus von Rosa hergestellten Seife zu waschen, als Rosa uns zur Bekräftigung einen unförmigen Plastiksack gefüllt mit unzähligen Seifenstücken aushändigte. Stücke, die nicht aus dem Kochvorgang stammten, an dem Catherine hatte mitwirken dürfen, sondern aus einer sechs Monate zurückliegenden Produktion. Solange nämlich muss diese Seife reifen.
Ich gestehe meine Ignoranz. In diesem Augenblick war mir der Reifegrad der Seife vollkommen schnuppe. Ich hatte nur noch Blicke für die Straße, auf der endlich ein Abschleppwagen erscheinen musste. Aber leider unbewegt stand unser kaputter Wagen weiterhin vor dem Haus. Vorerst galt es, als guter Gast stillzusitzen beim Mittagessen, vor ausgeklügelt gebackenen Auberginenspeisen, die Rosa mit Triumph in den Augenwinkeln uns schon auf die Teller gehebelt reichte, damit wir keine Chance hatten, in unserem Schlankheitswahn eigenmächtig die bei Rosa immer viel zu üppige Portionierung zu bestimmen und zu reduzieren. Endlich, ich fiel vor ungeduldiger Erwartung nicht einmal in den üblichen Mittagsschlaf des italienischen Südens, kam kurz vor der früh einbrechenden Dunkelheit ein Abschleppwagen der Fiatwerkstatt. Ich war das kaputte Auto und meinen Autoschlüssel los. Meine Mobilitätsgarantien vom Automobile-Club de l`Ouest und von Citroën wollte niemand sehen. Ungenutzt blieben sie bei uns zurück.
Immerhin hatte ich gelernt, innezuhalten. Ich hatte gelernt, dass Salvatore und seine Verwandten und Freunde und Bekannten offensichtlich niemals Geld in die Hände nahmen, sondern nur die schönsten und besten Früchte aus Garten, Feld, Meer und Gebirge.
Darüber hinaus hatte ich gelernt, dass ich Salvatore nicht nach Einzelheiten zu der laufenden Reparatur befragen konnte und auch niemals die Frage hätte stellen dürfen, was das alles wohl kosten würde. Meine auch für mich neue Ergebenheit in die nicht von mir zu beeinflussenden Geschehnisse wurde schon am Mittwochmorgen gegen Mittag belohnt. Salvatore, ob aus Mitleid mit mir oder nur um der Sache willen, weihte mich in nie da gewesener Differenziertheit in den Stand der Reparatur ein. Sie war ungewöhnlich aufwendig. Wollte ich noch diese Woche Freitag meinen Wagen fahrbereit haben, dann mussten wir beide sofort in das achtzig Kilometer entfernte Catanzaro fahren, weil nur in dieser Stadt das benötigte Citroën Ersatzteil vorrätig war. Ich wusste Salvatore kaum angemessen zu danken. Er winkte ab und forderte mich auf, in fünf Minuten an seinem Fiat zu erscheinen.
Das Happy End näherte sich nun dramatisch schnell. Schon gegen zehn Uhr am Freitagvormittag dirigierte Salvatore Catherine und mich in seinen Fiat mit dem Ziel, in Tropea den fahrbereiten Citroën aus der Fiat Werkstatt abzuholen. Während meine Gefährtin und er noch ein letztes Eis auf dem Corso Vittorio Emanuele II zu sich nehmen würden, sollte ich Geld von der Bank holen, so dass wir uns gegen 11 Uhr 30 in der Fiat-Werkstatt treffen könnten, um den reparierten Citroën in Empfang zu nehmen.
Was sich für Catherine und Salvatore wie eine einfach einzuhaltende Vereinbarung anhörte, verwickelte mich in meine unglaublichste, aber vollkommen wahre italienische Geschichte. Natürlich hatte Salvatore mir nicht verraten, was die Reparatur kosten würde, natürlich hatte ich ihn nach so etwas Schnödem nicht fragen können. Er konnte nicht wissen, dass wir lediglich im Portemonnaie hatten das Bargeld in Lire für die Rückfahrt; Autobahngebühren und eine Übernachtung in Italien eingerechnet. Die paar Lire und Franc waren abgezählt, ausreichend für zwei Tage Rückfahrt, übernachtend bei Mailand, dann bis Paris durchfahrend mit drei Tankfüllungen insgesamt. Niemals hätte ich Salvatore fragen können, ob er mir das Geld für die Reparatur leihen könnte. Mag sein, dass ich zu skrupulös war. Mein Bauchgefühl sagt mir noch heute, dass unsere große Freundschaft solch eine Anfrage nicht vertragen hätte.
Zu meinem Glück hatte ich mein Eurochequeheft während des gesamten Meeraufenthaltes nicht angetastet. Alle zehn Cheques lagen unbeschriftet in dem Pappmäppchen und warteten darauf, eingelöst zu werden. Allerdings meinte ich, und das ließ meine Schritte auf die Bank zu, es war glaube ich eine Landwirtschaftsbank mitten in Tropea, sehr zögerlich und ängstlich werden, allerdings meinte ich mich zu erinnern, dass man nur zwei oder drei Cheques am Tag oder pro Woche einlösen konnte. Je Cheque gab es als Höchstsumme nur italienische Lire im Wert von 1.000 französischen Franc oder 300,00 DM.
Ich wusste nicht, was die Reparatur kosten würde, aber ein kaputter Motor, eine in Salvatores Worten »aufwendige Reparatur«, die würde kosten. Nicht nur aus diesem Grund betrat ich die italienische Bank durch die mit Panzerglas und Eintrittssperre mehrfach gesicherte Drehtüre in lauter Unwohlsein schreitend. Bei vielen italienischen Reisen hatten die überaus adretten italienischen Bankangestellten hinter den unterschiedlichsten Banktresen mich spüren lassen, dass ich höchst unwillkommen war, lediglich großzügig geduldet. Der italienische Banker das Gegenteil des Caprisängers bei Sonnenuntergang, schlimmer und bürokratischer agierend als der hoheitlichste preußische Staatsbeamte. Nicht gerne äußere ich solche globalen Vorurteile, aber das ist nun mal meine leidvolle Erfahrung, bis zu diesem Freitag ohne Ausnahme leidvoll. Kaum war ich an dem Sicherheitsbeamten, der die Passagiere der Panzerdrehtüre durchdringend kritisch beäugte, vorbei, erblickte ich, erstmals in einer italienischen Bank keine Kundenschlange, in die ich mich einzureihen hatte, sondern hinter dem mir am nächsten liegenden Bankschalter eine hübsche junge blonde Frau, die mich animierend auf ihren Tresen zulockte und sofort aufstand, als ich voller Verwunderung bis zu ihrem Bankschalter durchschritt, durchaus eine unerwartete Ermutigung verspürend.
Mein ungläubiges Staunen wollte nicht enden, als diese junge Frau mich, ohne auch nur einen Wimpernschlag zu zögern, trotz meines ziemlich perfekten Italienisch als Deutschen erkannte und in tadellosem Deutsch nach meinen Wünschen fragte. Da ich immer einen Rest von Misstrauen mir selbst und aller Welt gegenüber behalte, ließ ich mich nicht gänzlich von meinen Glücksgefühlen überschwemmen. Alle mir wichtig erscheinenden Details ausleuchtend, berichtete ich der jungen Bankbeamtin von unserem Pannenpech, davon, dass unser italienischer Freund, der stadtbekannte Veterinario Salvatore Macrí freundlicherweise die Reparatur in der Fiat-Werkstatt von Tropea organisiert habe, wodurch meine Mobilitätsgarantien leider nicht greifen könnten, ich nun die Kosten für die Reparatur nicht einzuschätzen wisse und mangels Bargeld heute möglichst viele meiner zehn Eurocheques einzulösen wünsche, da meine Frau und ich unbedingt noch heute die Heimfahrt antreten müssten, weil wir beide schon am nächsten Montag wieder zu arbeiten hätten. An der Reaktion der äußerst verständigen hübschen blonden Bankbeamtin merkte ich, dass ich mich auch weit kürzer hätte fassen können, denn auf meinen äußerst differenzierten Vortrag reagierte sie nicht wie befürchtet mit Skepsis, nicht mit Abwehr. »Dann tauschen Sie doch einfach Ihre zehn Eurocheques heute bei uns ein. Damit ist Ihnen wohl am besten geholfen.« Im Nachhinein beglückwünsche ich mich, dass ich selbst in diesem für italienische Banken unfassbaren Augenblick größtmöglichen Entgegenkommens und trotz der schwebend zarten Schönheit dieser Bankbeamtin skeptisch und zögerlich blieb. Dreimal fragte ich die junge Frau ausdrücklich: »Löst Ihre Bank wirklich zehn Eurocheques á 1.000 FRF, französische Franc, heute auf einen Schlag ein?« Die hübsche Frau zögerte nicht, meine Frage ohne jede Ungeduld drei Mal zu bestätigen. Als ich zum dritten Mal diese Frage stellte, schämte ich mich vor mir selbst, obwohl die Bankbeamtin vollendet geduldig blieb.
So schnell wie nie zuvor hatte ich alle zehn Eurocheques mit dem Höchstbetrag ausgezeichnet und zügig unterschrieben. Die junge Frau füllte ein Bankformular größeren Umfangs aus, hüllte meine 10 Eurocheques in das gefaltete Formular, legte es in die Warteschleife des Bankkassierer und entließ mich in die Kundenschlange, die sich vor dem Panzerglashaus des Bankkassierers geduldig in die Abläufe fügte, die der Kassierer zuzulassen bereit war. Schon nach ungefähr dreißig Minuten stand ich vor dem Kassiererhäuschen Auge in Auge mit dem im unerträglich gleichförmigen Dienst gealterten Kassierer erwartungsvoll in Bereitschaft, die vielen Lirenoten in aller Ruhe nachzuzählen und diebessicher zu verstauen. Der Kassenhüter jedoch hatte für mich keine Lirenoten, sondern nur sein verächtlichstes Lächeln, dem unbedarften Fremden gewidmet. Er schob mir meine zehn Eurocheques mitsamt dem langen Bankformular auf die Kundenseite seines Schalters hinüber und ließ sich, was er erkennbar für überflüssig hielt, zu der Information herab, dass niemals mehr als drei Eurocheques pro Tag oder Woche eingewechselt würden. Entgegen seiner Erwartung trat ich nicht vom Schalter zurück, nahm auch nicht meine Cheques, die jetzt seine sein sollten, an mich, sondern trat, bis meine Brust schmerzte, überdicht an seine Kassentheke heran und informierte ihn in meinem auch für ihn erstaunlich guten Italienisch, dass seine Kollegin, lediglich zehn Meter von ihm entfernt residierend, mir ausdrücklich und sogar drei Mal ausdrücklich bestätigt habe, dass ich an diesem Tag alle zehn Eurocheques einlösen könne. Der Kassierer, widerborstig, wollte mir nicht glauben. Ich forderte ihn eindringlich auf, seine Kollegin zu befragen. Er bewegte sich nicht zu ihr, die mein Problem verursacht hatte, sondern fragte mich in deutscher Sprache: »Wollen Sie dies Mädchen nach Auschwitz? Krematorium? verbrennen?« Auf diese Attacke war ich in keiner Weise vorbereitet, zögerte einzuwenden, dass ich auch Franzose sei. Als er die Frage, ob ich die KZ-Vernichtung seiner Kollegin verantworten wolle, noch einmal wiederholte, schleuderte ich ihm die zehn Eurocheques mit aller Wucht in seinen Kassenraum zurück, tat so, als halte ich die Klinge eines Klappmessers an meinen Hals, und schrie so laut und dramatisch, dass alle Kunden mich hören mussten: »Io mi ha tagliato la gola con il coltello!« Ich habe nie geprüft, ob dies Italienisch in jedem Punkt korrekt ist. Bedeuten wollte ich dem Bankbeamten damit, dass er sofort eine riesige Blutlache vor und in seinem Kassenschalter würde aufwischen müssen, wenn er nicht das mir zustehende Geld rausrückte. Die Erregung meines Körpers überzeugte den Kassierer, dass ich wie angedroht, mir unverzüglich die Kehle aufschlitzen würde. Er machte beschwichtigende Bewegungen, während er sich rückwärts aus seinem Kassenhäuschen entfernte und mir versprach, den leitenden Bankdirektor zu informieren. Ich befürchtete Tricks, blieb in erregter Haltung dicht an den Schalter gepresst, bis ein gesetzter netter Süditaliener, klein rund und glatzköpfig in perfekter Kleidung sich meinem Rücken näherte und mir auf Englisch bedeutete, ich möge doch keinerlei Sorge haben, alles werde sich finden, zu meiner Zufriedenheit, wenn ich ihm nur in sein Dienstzimmer folgen wolle.
Der leitende Bankdirektor ließ sich erst von der hübschen blonden Bankbeamtin, die viel zu entgegenkommend agiert hatte, dann von dem abweisenden und beleidigenden Kassierer, schließlich noch von einem Zeugen aus dem Kassenraum, den er persönlich zu kennen schien, über den Vorfall informieren, dann setzte er selbst einen Stuhl dicht an seinen überriesigen Direktorentisch und bat mich, dort ihm unmittelbar gegenüber Platz zu nehmen. Er drängte nicht zur Eile, ließ mich in aller Ausführlichkeit berichten, von meinem wiederholten Urlaub am Capo Vaticano, von dem Unglück mit der Autopanne, von der kalabresischen Hilfsbereitschaft des Veterinarios Macrí, von meinen Geldschwierigkeiten und dem bedrängenden Zwang, noch bis zum Abend dieses Tages den reparierten Wagen aus der Fiatwerkstatt auslösen zu müssen, schließlich von dem großzügigen Angebot seiner Bankbeamtin und der ungeheuerlichen Frage seines Kassierers, die mich als Nazi abstempeln wollte. Der leitende Bankdirektor wusste zuzuhören. Meine Erregung hatte sich schon erheblich gelegt, als er mir erklärte, dass die junge Frau, die so perfekt Deutsch sprach, erst den fünften Tag als Praktikantin tätig sei, eine Lettin, die von ihrer Bank in Riga das Praktikum zur Belohnung für irgendeine besonders gut abgelegte Prüfung geschenkt bekommen habe.
Auf seinen Kassierer ging der leitende Bankdirektor gar nicht erst ein, offerierte mir äußerst konziliant, dass er sogleich in meiner Anwesenheit in Brüssel anrufen werde. Dort sei die Zentrale, die alle Bestimmungen zum Eurocheque koordiniere. Ich glaube nicht, dass der leitende Bankbeamte mich mit einem täuschenden Telefonat austrickste, während er für mich und sich einen Espresso kommen ließ. Er sprach in gut verständlichem Englisch mit den Zuständigen in Brüssel und konnte mir als Ergebnis zu seinem größten Bedauern nur mitteilen, dass es nur eine Einlösung von drei Cheques geben könne wegen der Möglichkeit, dass gestohlene Eurocheques eingelöst würden zum Schaden ihrer eigentlichen Besitzer. So die unumstößliche Gesetzeslage, gegen die auch der Bankdirektor, obwohl so verständnisvoll meine schwierige Lage mitempfindend, nicht verstoßen durfte. Aufgrund der unumstößlichen Geltung dieser Sicherheitsmaßnahmen konnten die Bestohlenen die von den Dieben noch nicht eingelösten Eurocheques Tag und Nacht telefonisch sperren lassen. Ich legte dem leitenden Bankdirektor noch einmal dar, dass ja letztlich die Praktikantin Ursache dafür war, dass ich die Cheques alle zehn gegen mein natürliches Misstrauen unterschrieben hatte und sie nun nie mehr bei einer anderen Bank würde einlösen können und dass ja letztlich er dafür die Verantwortung trage, dass eine so unerfahrene Kraft mich trotz meiner dreimaligen Nachfrage zum Ausfüllen überredet habe.
Der leitende Bankdirektor schlug mir eine kurze Bedenkpause und den Genuss eines zweiten Espresso vor. Ich willigte ein. Noch lieber willigte ich ein in den Vorschlag, den der leitende Bankdirektor mir nach dieser ich weiß nicht mehr wie lange andauernden Denkanstrengung vortrug. »Erklären Sie sich damit einverstanden, dass ich Ihre Cheques in den nächsten Tagen Stück für Stück nachdatiere, Sie aber heute schon alle Lire für Ihre zehn Eurocheques, also Lire im Gegenwert von zehntausend französischen Franc, ausgehändigt bekommen?«
Diese Frage beantwortete sich von selbst. Meinen Körper in vollem Triumph streckend, zählte ich die vielen Lirescheine nach, überhastet wie ein Bankräuber in Fluchtbewegung, die nahezu unzähligen Lirescheine, die der Kassierer mir für meine 10.000,00 Franc in unauffälliger Anwesenheit des leitenden Bankdirektors auszuzahlen hatte. Dann aber durch die Drehtür hindurch eilend hielt mich nichts mehr ab von meinem Lauf bergauf zur Fiatwerkstatt, in der Catherine und Salvatore schon längere Zeit ungeduldig auf mich warteten. Ich zahlte die Reparaturkosten im Gegenwert von 6.700 Franc, locker die unzähligen Lirescheine aus meiner Hosentasche ziehend und zügig zu einem Papierberg auf dem Schreibtisch des Werkstattinhabers übereinander blätternd, Trinkgeld großzügig seitwärts daneben und verkniff mir nur mit Mühe, vor all diesen Zeugen hinauszuschreien, dass mir etwas gelungen war, was noch kein Mensch erreicht hatte und nie mehr in italienischen Banken von Süd nach Nord und von Mailand nach Rom oder Neapel jemandem gelingen würde, nämlich an einem einzigen Tag zehn Eurocheques einzulösen, in einer italienischen Bank.
Untergang
Wer ist das in uns, der uns über den arglos schlafenden Hund stolpern lässt? Wer war das in mir, der mich nach diesem grandiosen Erfolg zum Abschied von diesen Sommerferien noch einmal das Meer suchen ließ? »Fahr Du schon mit Salvatore nach Hause. Ich komme gleich nach. Nur noch einmal kurz ins Meer springen. Dann bin ich da. Noch heute fahren wir los.« Catherine nicht und auch Salvatore nicht, keiner fiel mir ins Wort. Leider. Sie gönnten mir dies letzte Vergnügen. Eben mal die Serpentinenstraßen abwärts fahren am Hafen vorbei zu den goldweißen körnigen Sandstränden Tropeas, die den ganzen Sommer über das grünviolette Meer auf kurze Distanz halten zu den schroff aufragenden Pressfelsen, die in großer Höhe herrschaftlich als Fundament dienen den über das Meer blickenden Palästen und Wohnhäusern Tropeas.
Ich hätte zu meinem Erstaunen bemerken sollen, dass zur besten Mittagszeit unter den haltlos dahinrasenden Wolken nicht ein Badender in den sich um Tropea sanft dahin windenden Badebuchten zu erblicken war. Ich hätte zu meinem Erstaunen bemerken sollen, dass das Meer seine Transparenz verloren hatte, dass die violettgrüne Färbung von wütend anbrandenden Wogen und Wellen, die in heftiger Folge sich überboten, den Strand zu überfluten, in ein ungewohntes Schmutziggrau verquirlt wurde. Mir aber erschien, immer noch erfüllt vom ungezügelten Triumphgeheul über meinen unglaublich und einmalig erfolgreichen Bankraub, das Meer wie ein kameradschaftlicher Sympathisant, der mir entgegeneilt und der es eilig hat, mir seine Übereinstimmung mit meinem innersten Empfinden zu demonstrieren, seine Verbundenheit, ja seine Unterwürfigkeit. Während die bis zu sechs Stockwerke hoch auf dem sand-, kalk- und granitfarben schroff aus dem Meer aufsteigenden Felsen ruhenden Paläste Tropeas unbeteiligt und gleichgültig die zerrissenen Wolkenschleier über sich hinwegrasen ließen und keinen Blick zu mir hinunterwarfen, dem winzig kleinen und über die langen Strandverläufe hin einzigen bewegten Lebewesen, genoss ich erregt mein Kraftgefühl und beschloss, zum Abschied noch einmal vollkommen nackt von meinem Meer mich zu verabschieden. Mit jedem Kleidungsstück, beginnend mit dem Oberhemd, warf ich eine Sklavenkette nach der anderen ab, durch die ich mich beinahe freiwillig von unserer zivilisierten Stadt- und Bürowelt hatte fesseln und domestizieren lassen. Achtlos ließ ich erst das halbärmelige Hemd, weiße Palmen auf schwarzem Grund, hinter mich fliegen, ließ die Jeans so auf den Strandsand rutschen, dass ich, ohne mich zu bücken und ohne einen Handgriff tun zu müssen, hinaussteigen konnte, ließ im immer lauter antosenden Meeresbrausen und im Duft des fischigen Salzwassers jeden Gedanken dahinsausen, der mich in die Sicherung von Portemonnaie, Ausweisen und Autoschlüsseln hätte verstricken können, hatte die Sandaletten schon längst in den weichen Sand gedrückt, als ich nur noch mit beiden Händen den schwarzen Slip die Beine abwärts streifen musste. Übermütig warf ich meinen Slip zur Nimmerwiederkehr Richtung Flutwelle. Mit ihm auch wegschleudernd alle Beklemmungen, Verklemmtheiten, Verschwitztheiten einer in Gehorsamsritualen erstarrten Bürozivilisation.
Alleine die Taucheruhr durfte mich nackten Mann schmücken. Sie würde mir helfen, diesen letzten Ausflug ins Meer nicht selbstvergessen auszudehnen. In mir tobte Freiheitslust, nur kurz gemindert, weil ich für einen Moment in einen unsinnigen Zweifel verfiel. Absurderweise machte der Anblick an mir abwärts mich unfroh, obwohl er mir bewies, dass ich in diesen achtundzwanzig Tagen tatsächlich von 80 Kilo auf 74,8 Kilo Gewicht hatte abmagern können, was bei einer Größe von einmetervierundsiebzig kein schlechter Erfolg war. Irritiert bemerkte ich, dass mich dieser Anblick nicht wie zu erwarten fröhlich stimmte, sondern eher melancholisch. Statt mich selbst zu beglückwünschen, welchen Erfolg das jeden Morgen absolvierte kilometerlange Jogging mir eingetragen hatte, das disziplinierte Essen am Abend ohne Pane, ohne Pasta, ohne Pizza, lediglich mit einem Stück Hartkäse und einem minikleinen Gläschen Rotwein von Salvatore, morgens ohne Croissants, ohne Butter, ohne Margarine, wohl aber mit Aprikosen, süß und weichfleischig von der Südsonne und orangefarben duftend auf dem Brötchen oder Ciabatta. Kein wirkliches Hungern in den zurückliegenden achtundzwanzig Tagen, damit der arglistige Jojo-Effekt, der mich jedes Jahr nach Sommerfastenferien bis zum Dezember wieder dickfütterte, in diesem Jahr nicht würde wirksam werden können. Statt mich über dies Abnehmen zu freuen und den so selbstbefriedigenden Anblick brustabwärts, überfiel mich für einen Augenblick der übellaunige Gedanke, ob denn das früher einmal, früher beim Aufbruch in mein Leben während der Pubertät, ob denn das mein Lebensziel gewesen war, mich zum Liebediener meines Leibes zu machen, oder ob ich nicht zu ganz anderen Zielen und hochglitzerndem Sternenleuchten mich hatte aufschwingen wollen. Hatte ich meine Gedanken nicht vor langer Zeit hoch zum Firmament aufgeworfen, zum höchsten und hellsten Stern des Weltenraumes? War es wirklich mein Ziel gewesen, mich darüber zu freuen, dass ein gelbes Zentimetermaß um Hüfte und Bauchnabel geschlungen irgendeinen Wert unter 100 Zentimetern zeigte? Etwas zögerlich auf die ungewohnt herantobenden und grollenden Wellenstürme mich zubewegend, ließ ich diese kleinkarierten Mäkeleien, ließ alle Selbstkritik hinter mir zurück, drehte mich nicht mehr um nach den hoch über mir wachenden Bürgerpalästen, genoss, dass ich an diesem Tag endlich wieder einmal alleine war mit dem so geliebten und an anderen Tagen auch silberglitzernd sanften Mittelmeer, »der unendlich sanft bergenden Mutter«, so die Worte, mit denen ich Catherine jedes Misstrauen gegenüber den Gefahren dieses Meeres immer neu zu nehmen versuchte. Ohne Erfolg bisher, denn Catherine wollte kein blindes Vertrauen zu diesem Gewässer fassen. Trotz all meiner Überzeugungsarbeit hielt Catherine beim Schwimmen demonstrativ ihre Lippen drei Finger breit über dem Meereswasserspiegel himmelwärts, um dem Meer ihre Eigenständigkeit zu demonstrieren, nicht anders, als schwimme sie im Chlorwasser eines rechteckigen Stadtschwimmbades, obgleich der Mund nach meiner Überzeugung, wie ich zu demonstrieren noch nie müde geworden war, im zärtlichen Wechselspiel mit dem Salzwasser tauchen und Wasser ausprustend wieder auftauchen sollte. »Nur so und nicht anders wirst Du wirklich eins mit dem Meer!« Das hatte ich Catherine immer neu gepredigt, natürlich immer erfolglos. Meine Füße näherten sich nur verhalten zögerlich den blasig auslaufenden und im weißen Sand dunkelnd versickernden Wellen. Ungezügelt dahinstürmend war mir mein Triumphgefühl schon weit voraus in die mit meinem innersten Gefühl so harmonisch wild sympathisierenden Fluten geeilt. Als tiefe innere Bestätigung erlebte ich in diesem Augenblick mir meiner noch sehr bewusst, dass genau in dem Augenblick, als meine Zehen sich vom Wasser benetzen ließen, der Stromboli, als wollte auch er mir seine Hochachtung für meine kühne Tat darbringen, unerwartbar plötzlich seinen göttlichen Vulkankegel aus den zum Horizont hin verschwindenden Meeresweiten aufsteigen ließ, natürlich mit dem nach rechts wegtreibenden weißen Rauchfähnchen über sich wie immer freundlich friedlich wedelnd.
Von diesem Augenblick an aber war alles unbekannt, neu und anders, als ich es je zuvor in diesem Meer erlebt hatte. Das nie Gekannte überwältigte mich, als ich gerade noch mit dem Gedanken beschäftigt war, dass die ungewöhnliche Tobsucht von Himmel und Meer mich etwas vorsichtiger hineinschreiten lassen sollte in das vertraute Wasser, so dass ich noch hätte zurückkehren können zum Strand, falls das Hinausschwimmen sich zu gefährlich anfühlen würde. Das war das Ende meines selbstbestimmten Denkens. Noch ehe ich mich hatte entscheiden können, ob ich waden-, knie- oder hüfttief mich hineinbegeben sollte in das unerwartet kühle tobsüchtige Gewässer, riss eine erst über mich landeinwärts hinwegschießende, dann aber meerwärts zurückrasende hochaufgetürmte Folge von Monsterwellen meinen Körper wie ein jämmerlich kleines Sandkorn, nein, wie lauter Nichts mit sich, mich tief hinein schleudernd in ein einziges Meerestosen. Noch ehe ich mir über das Unerwartete hätte Gedanken machen können, wurde mein Körper rundgeschleudert wie im schlimmsten Schleudergang einer überdimensionierten Waschmaschine. Ich, der ich mir auf mein Schwimmen weit hinaus ins Meer immer so viel eingebildet hatte, ich, der ich immer geschmunzelt hatte über alteingesessene Italiener, die, wenn sie mich vom Horizont zurückkehren sahen, von ihrer »Pa-ura« stotterten und meinen Wagemut kaum zu fassen wussten, ich vermochte mit keiner Schwimmbewegung mehr mich selbst in irgendeine Richtung zu bewegen. Wohl erahnte ich noch die Gefahren, wenn der Wellenschwung mich nah über den Meeresboden zu schleifen drohte, wohl gelang es mir noch, den Kopf zwischen den ausgestreckten Armen schützend zu verstecken, weil ich lieber aufgerissen bekommen wollte die Brust als mein Gesicht von den schrundigen Felsmatten, die ich verstreut aus dem Sandboden herausragen wusste. Auf keinen Fall sollten meine Nase, mein Mund, meine Wangen, meine Stirn abgeschabt werden. Ohne es im Geringsten schützen zu können, dachte ich kurz an die Gefährdung meines Gliedes, über dessen Befreiung aus allen Beklemmungen der Bürozivilisationskleidung ich mich wenige Minuten zuvor noch so freudig erregt hatte. Nahezu alle Gedanken vergingen, weil ich, der ich so ausgiebig trainiert hatte, lange und tief zu tauchen, schwere rundgescheuerte Granitformen aus der Tiefe an die Oberfläche zu bergen, weil ich entsetzt erleben musste, dass die in diesem Augenblick alles beherrschenden Meeresverwirbelungen meine Tauchkünste zunichte machten. Denn kaum warf eine Schleuderwelle mich zu meinem Glück durch die Wasseroberfläche hindurch ins Luftige, schon stürzten die Wassermassen der pausenlos heranrollenden Wellenkronen über meinem Kopf zusammen. Mir blieb nicht die Zeit, ausreichend Luft einzuatmen, war schon wieder hinabgezerrt in irgendeine rotierende Schleuderbewegung vermutlich weit unterhalb der Wasseroberfläche, in eine Tiefe, die aber aufgrund des chaotischen Hin- und Herwogens, Anbrandens und Zurückflutens überhaupt nicht einzuschätzen war. Nie vorher geahnt, an was ich plötzlich mich hilflos ausgeliefert fand, an Wassermassen in uneingeschränkter Gewalt tobend. Wasserbewegungen, die mir nicht eine einzige Sekunde ließen, in der mein Mund souverän sich hätte über die Wasseroberfläche erheben können. Gerade mal für Bruchteile einer Sekunde ergab sich unvorhersehbar, dass die Wasserkräfte mich ins Luftige aus sich hinaushoben, dann aber wieder Absturz in Erstickungsangst und das Umhergeschleudert-Werden in Wasserverwirbelungen, die sich ihrem Krafttaumel hingaben in immer neuen Übersteigerungen. Eingeschüchtert und verängstigt, ersticken zu müssen oder zermalmt zu werden im Schleuderschub über irgendwelche schartigen Bodenfelsen hinweg, gab es noch einen allerletzten Gedanken in mir, dass ich vielleicht versuchen könnte, statt mich ans Ufer retten zu wollen, hinauszuschwimmen in die Weite des Meeres, weil ich dort mit viel Glück ein wenig Überblick in einem weniger chaotischen Wogen und in gleichförmigeren Wellen würde mir erschwimmen können. Sicher schien mir das aber nicht, vielleicht tobte irgendwo da draußen zum Horizont hin das Meer ja noch blindwütiger. Als wollte es mich verspotten, hielt das Meer für Sekunden meine Uhr, durch die Wasserturbulenzen von meinem linken Arm gerissen, mir ganz dicht vor die Augen, in einem Schwebezustand, der auf meinen Sturz durch das Wasser abgestimmt zu sein schien, als sollte ich eine letzte Chance bekommen, meine Zeit mir wieder aufzugreifen. Aber selbst so ein nahes Ding vermochte ich nicht zu fassen, und so entschwand dann auch diese Uhr, die als allerletztes Zivilisationsstück an meinem nackten Körper mir hatte anzeigen sollen, wann ich dies kurze Abschiedsschwimmen beenden musste, damit wir endlich mit unserem runderneuerten Citroën Richtung Mailand und dann Paris starten konnten. Dann das Ende aller Ängste, allen Vorstellens, ein endloser Baumstamm näherte sich mächtig tänzelnd, wieder abtreibend, erneut unausweichlich auf mich zurasend. Ich fühlte ihn, umklammerte ihn immer neu, rutschte ab, musste ihn fahren lassen. Schlug er mich, aus hoher Welle abwärtsstürzend, bewusstlos? Ich spürte jedenfalls als allerletztes noch einen heftigen Schlag gegen den Kopf.
Wiedergeburt
Erwischt. Gerade mich. Warum gerade mich? Warum hatte es gerade mich erwischt? Nach dem Sturz, unvorhersehbar, das erste Zu-sich-Kommen. Musste es gerade mich treffen? Hinter verschlossenem Gesicht erwachen. Zu kurz für einen Augen Blick. Rückfall in die weiche Wärme der Ohnmacht. Die Wiederholung eines Gedankens: Musste es gerade mich erwischen? Kurz nur auftauchend aus der Bewusstlosigkeit, haltlos absinkend. Wortloser Rückzug. Den Körper bewegungslos liegenlassen. Flachgestreckt. Ein leichtes Schweben oberhalb, einen Atemhauch breit über mir selbst. Verstecktes Kauern in undurchdringlicher Wärme. Mich zurückfallen lassen in den vom Zahnarzt so oft schon angeordneten Tod. Aus den weißen Ledersesseln des Wartezimmers in ein Behandlungszimmer gerufen werden. Mich wie selbstverständlich aus dem Sessel erheben, den Körper durch zwei Türen bewegen. Den Zahnarztstuhl besteigen. Rückwärts mich nach hinten aushebeln lassen, den Blick aus dem Fenster fahren lassen, die Füße fahren lassen, den Raum fortstürzen lassen. Die Hände an den Haltegriffen erstarrt zurücklassen. Die dahintreibende Decke aus dem Blick verlieren. Die Augen unbewegt in ein konzentriertes Licht halten. Den eigenen Zustand im bestürzten Blick des Zahnarztes suchen. Zusammenkauern mich unter dem Atem der Zahnarzthelferin. Mir vom geübten Griff der Zahnarzthelferin den Kopf in ihrer Umarmung zurechtlegen lassen. Mich unerkannt in die undosierte Zärtlichkeit dienstlich gemeinter Routinegriffe flüchten. Den Mund überdehnt geöffnet halten. Die Sanftheit der Haut einsaugen, durch nichts zurückzuhalten von der Zahnarzthelferin bei ihrem dienstlichen Fingergriff hinein in mein Gebiss. Meinen berstenden Schädel in die weiche Körperwärme der Zahnarzthelferin hinüberschmuggeln, Bruchstücke wenigstens, Splitter. Meinen Körper unter den Händen eines routinierten Teams unbesorgt zurücklassen.
Hinterhereilen den Atembewegungen der Zahnarzthelferin, die ihrem dienstlichen Blick weit vorausgeeilt ist in die Abendfreiheit. Mir ihre Körpertemperatur aneignen, in der wiegenden Wärme einer nie vereinbarten Begegnung den Blick verschließen, alle Erinnerung in der Vergangenheit lassen, keinen Gedanken in die Zukunft richten, keine Zukunft erinnern, alle Pläne ungeöffnet in der Zukunft liegen lassen, mich zwischen dem Ein- und Ausatmen der Zahnarzthelferin einpendeln und ihrem Zugriff ergeben. Immer wieder der Rückzug in das versteckte Kauern im Dunkeln des kranken Zimmers. Atemlosigkeit voller Ergebenheit. Versunken über meinem verlassenen Körper schweben, zurückgezogen in die Leere meines eigenen Phantasierens.
Immer wieder das Eintauchen in die weiche Umarmung einer Frau. Den geschwollenen Mund mit der Zunge nicht austasten können. Kein Blutgeschmack, nur verstummte Trockenheit, die Zunge festgeklebt am Gaumen, ausgetrocknet. Den Versuch aufzustehen abbrechen, den Körper nicht herausfordern, Rückzug der Gedanken hinter die Undurchlässigkeit meines erstarrten Gesichts. Die Gedanken spielen lassen. Hatte ich nicht aufbrechen wollen, aufbrechen von Tropea nach Paris? Der Zahnarzt, besorgt hinter seiner Lupenbrille, muss meine Frage, die ich nicht zu sprechen vermag, Zunge verdorrt im verwüsteten Mund, er muss meine Frage vernommen haben. Der Zahnarzt, sich immer tiefer auf mich zubeugend, bleibt nicht dienstlich, hinter dem Trösten seiner Augen, hinter dem ermunternden Lächeln seiner Wangen steckt niemand anderes als mein Opa. Mein Beschützer, den ich viel zu lange schon vergessen habe. »Du musst mich nur an Land ziehen, dann bin ich wieder bei dir«, flüstert er mir so leise ins Ohr, dass uns die neugierig sich ins Bild schiebende Zahnarzthelferin nicht belauschen kann. »Du musst ziehen! Mit beiden Händen.« Er überreicht mir ein nasses Hanfseil, für mich beinahe zu schwer. Wie von ihm gefordert, ziehe ich das ungeheure Gewicht auf mich zu, muss mich nahezu nach hinten fallen lassen, damit Bewegung in dies Seil kommt. Dann aber schlangenlebendig gleitet es durch meine Hände. Endlich erblicke ich weit draußen auf dem Meer das Todesfloß, einst von mir für meinen armen erschlagenen Opa zusammengebaut.