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Als Grace verschwand E-Book

Kathryn Croft

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Beschreibung

Bist du meine Tochter?

Simone Porter musste mit einem schweren Schicksalsschlag fertigwerden. Vor achtzehn Jahren wurde ihre sechs Monate alte Tochter entführt. Als ein Mädchen mit Namen Grace sich bei ihr meldet und erklärt, ihre Tochter zu sein, glaubt Simone ihr nicht. Doch das Stofftier, das Grace bei sich hat, lässt sie zweifeln. Genau so einen Plüschhasen hat ihre Tochter besessen. Grace aber behauptet noch etwas anderes: dass sie aus Notwehr einen Mord begangen hat und dass sie dringend Hilfe braucht. Simone ist hin und her gerissen – und dann verschwindet Grace wie ihre Tochter damals ...

Atemberaubend! Die Geschichte eines Verschwindens. Von der Bestsellerautorin aus Großbritannien.

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Über Kathryn Croft

Kathryn Croft hat einen Abschluss in Medienwissenschaften und Englischer Literatur. Sie lebt mit ihrer Familie und zwei Katzen in Guildford, Surrey.

Bei Rütten & Loening erschien bisher von ihr: »Während du schläfst«.

Mehr Informationen zur Autorin unter www.kathryncroft.com.

Eva Riekert ist seit vielen Jahren als freie Übersetzerin tätig und lebt in der Nähe von Husum.

Informationen zum Buch

Bist du meine Tochter?

Simone Porter musste mit einem schweren Schicksalsschlag fertigwerden. Vor achtzehn Jahren wurde ihre sechs Monate alte Tochter entführt. Als ein Mädchen mit Namen Grace sich bei ihr meldet und erklärt, ihre Tochter zu sein, glaubt Simone ihr nicht. Doch das Stofftier, das Grace bei sich hat, lässt sie zweifeln. Genauso einen Plüschhasen hat ihre Tochter besessen. Grace aber behauptet noch etwas anderes: dass sie aus Notwehr einen Mord begangen hat und dass sie dringend Hilfe braucht. Simone ist hin und her gerissen – und dann verschwindet Grace wie ihre Tochter damals.

Atemberaubend! Die Geschichte eines Verschwindens. Von einer Bestsellerautorin aus Großbritannien.

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Kathryn Croft

Als Grace verschwand

Thriller

Aus dem Englischen von Eva Riekert

Inhaltsübersicht

Über Kathryn Croft

Informationen zum Buch

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Prolog

Kapitel Eins

Kapitel Zwei

Kapitel Drei

Kapitel Vier

Kapitel Fünf

Kapitel Sechs

Kapitel Sieben

Kapitel Acht

Kapitel Neun

Kapitel Zehn

Kapitel Elf

Kapitel Zwölf

Kapitel Dreizehn

Kapitel Vierzehn

Kapitel Fünfzehn

Kapitel Sechzehn

Kapitel Siebzehn

Kapitel Achtzehn

Kapitel Neunzehn

Kapitel Zwanzig

Kapitel Einundzwanzig

Kapitel Zweiundzwanzig

Kapitel Dreiundzwanzig

Kapitel Vierundzwanzig

Kapitel Fünfundzwanzig

Kapitel Sechsundzwanzig

Kapitel Siebenundzwanzig

Kapitel Achtundzwanzig

Kapitel Neunundzwanzig

Kapitel Dreißig

Kapitel Einunddreißig

Kapitel Zweiunddreißig

Kapitel Dreiunddreißig

Kapitel Vierunddreißig

Kapitel Fünfunddreißig

Kapitel Sechsunddreißig

Kapitel Siebenunddreißig

Kapitel Achtunddreißig

Kapitel Neununddreißig

Epilog

Danksagungen

Impressum

Für Oliver,

unseren Regenbogen

Prolog

Es war leichtes Spiel gewesen, ihn wegzulocken. Er hatte ihr praktisch in die Hand gespielt, und sie hatte ihn nur anstrahlen müssen. Über seine Witze lachen. So tun müssen, als interessiere sie das, was er erzählte.

Aber jetzt waren sie in seiner Wohnung, in einem Stadtteil, den sie kaum kannte, und wenn sie nicht aufpasste, würde ihr die Sache entgleiten.

»Hier wohnst du?«, fragte sie und sah sich mit einem Blick auf die spärlichen Möbel und die leeren weißen Wände um. Das war doch eine Musterwohnung, in der offensichtlich keiner wohnte.

Er nickte, zog sie an sich und ließ die Hand über ihr Hinterteil gleiten. Seine Haut war kalt, und er roch nach Whisky, als er sich zu ihr beugte und seine Lippen ungeschickt ihren Mund suchten.

Einen raschen Kuss ließ sie zu; ein kleines Zugeständnis, um der Wahrheit auf den Grund zu kommen. Und die würde sie heute Nacht erfahren, egal, was sie dafür geben musste. Sie hatte sich geschworen, eine Antwort zu erhalten, ehe der Tag endete.

»Sag mir, was du kürzlich gemeint hast«, sagte sie und drückte ihren Körper an seinen. Sie spürte, wie er hart wurde unter seiner Jeans.

»Hmm? Was?« Er war verwirrt. Und betrunken. Keine gute Kombination.

»Du hast doch angefangen, mir was zu erzählen. Weißt du nicht mehr?«

Er nahm die Hand von ihrem Rock, steckte sie unter ihre Bluse und streichelte ihre Brust. Sie bemühte sich, nicht zurückzuzucken. Sie hatte absichtlich eine ausgeschnittene Jeansbluse angezogen, viel zu weit aufgeknöpft, so dass der Rand ihres BHs aufblitzte. Aber das wäre nicht einmal nötig gewesen; ihm wäre es sogar egal gewesen, wenn sie in einem Müllsack gekommen wäre.

»Nicht jetzt«, lallte er. »Komm ins Schlafzimmer.«

Sie musste seiner Aufforderung nachkommen. Sie folgte ihm und betete stumm, dass die Sache nicht zu weit gehen würde. Die Vorstellung seines nackten Körpers auf ihrem war ihr unerträglich. Nein, das durfte nicht passieren.

Die Vorhänge im Schlafzimmer waren zugezogen, nur ein schmaler Lichtstreifen von der Straßenbeleuchtung drang durch den engen Spalt in der Mitte. Er kramte in seiner Hosentasche nach etwas, zog schließlich sein Handy heraus und tippte etwas ein.

»Verdammt, Akku ist leer. Scheiße. Kannst du mir dein Handy geben?«

»Warum?«, fragte sie. »Wen willst du anrufen?«

»Keinen. Will nur was nachsehen.«

Widerstrebend reichte sie ihm ihr Handy, gespannt darauf, was er damit machen wollte.

»Ich möchte dich filmen«, sagte er und richtete das Handy auf sie.

Sie wich zur Tür zurück. »Was? Nein. Warum? Hör auf! Gib mir mein Handy wieder.« Sie holte aus und versuchte, es ihm zu entreißen, aber er zog schnell den Arm zurück.

Sein Lächeln erlosch. »Zieh dich aus!«

Er saß auf der Bettkante und hatte das Handy auf sie gerichtet. »Es wird nicht so gut wie mit meiner Kamera, aber du siehst so großartig aus, dass ich das einfangen muss. Ich kann es nachher auf mein Handy weiterleiten.«

Der Gedanke, dass er irgendwas von ihr besaß, wenn auch nur als Aufnahme, erfüllte sie mit Abscheu. »Halt. Sag es erst. Sag mir, was du gemeint hast. Und hör auf, mich zu filmen.« Wenigstens war es ihr Handy; sie würde dafür sorgen, die Aufnahme zu löschen, sobald sie es wieder in Händen hatte.

Er stieß einen tiefen Seufzer aus, als ob er genau wusste, was sie von ihm wollte. »Man könnte ja glatt annehmen, dass du mich nur ausnutzen willst. Das ist nicht nett, oder? Ich will eine Gegenleistung. Komm schon, ehrliches Spiel.«

Seine Worte klangen gut gelaunt, aber sein Ausdruck, seine tief gerunzelte Stirn, verriet etwas anderes. Eine Abfuhr würde nicht gut bei ihm ankommen. Vielleicht konnte sie ihm noch ein bisschen entgegenkommen, ihn glauben lassen, dass sie mitspielte.

Langsam knöpfte sie die letzten Knöpfe ihrer Bluse auf und versuchte auszublenden, dass er sie noch filmte und sich dabei den Schwanz rieb. Sein Blick blieb starr auf das Display gerichtet; er war eindeutig mehr an dem interessiert, was er filmte, als an ihr persönlich.

»Schluss«, sagte sie, zog die Bluse aus, stemmte die Hände in die Hüften und gab vor, immer noch alles im Griff zu haben. »Mehr kriegst du nicht, bis du redest.«

Er überging ihre Worte und ließ den Arm sinken. »Zieh alles aus. Und bleib dort. Los, du verplemperst nur Zeit. Ich verliere die Geduld.« Er schüttelte den Kopf, und sein Blick wurde kalt, hart und unfreundlich.

Jetzt erst merkte sie, was für einen schrecklichen Fehler sie gemacht hatte. Sie hatte ihn unterschätzt. Er würde sie keinesfalls gehen lassen, ehe er bekommen hatte, was er wollte.

»Es reicht, ich verschwinde«, sagte sie. Es musste einen besseren Weg geben, um die Wahrheit aus ihm herauszubekommen. So funktionierte es eindeutig nicht. Sie wollte die Bluse schon wieder anziehen, aber in Sekundenschnelle war er aufgesprungen, zwang sie aufs Bett und riss an ihrem Rock herum.

»Seit einer Ewigkeit bin ich schon hinter dir her«, sagte er. Schwer presste er seinen Körper auf sie, so dass sie sich nicht mehr rühren konnte.

Sie versuchte, sich unter ihm zu wehren, aber vergebens. Sie drehte den Kopf zur Seite, um zu schreien, aber der Schrei blieb ihr im Hals stecken. In dem Moment sah sie die schwere Glaslampe auf dem Nachttisch. Sie konnte jetzt doch nicht aufgeben, nachdem sie schon so weit gegangen war. »Sag mir einfach, was du kürzlich hast erzählen wollen.«

Ein süffisantes Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus, aber er erwiderte nichts.

Sie versuchte es mit einem verführerischen Lächeln, war jedoch unsicher, ob ihr das gelang. »Es muss doch nicht so laufen. Fändest du es nicht besser, wenn ich auch meinen Spaß dabei hätte? Wenn ich dich machen lasse, zu was du Lust hast? Ist das nicht schöner?« Ein riskanter Schritt. Ihm bereitete es offensichtlich einen Kick, ein bisschen gewalttätig zu werden.

Aber er machte kaum Anstalten. »Dann komm schon. Worauf wartest du?«

Sie schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter, griff nach seinem Penis, rieb ihn und musste gegen Übelkeit ankämpfen. »Das ist doch gut, oder?«

Sein Blick wurde glasig, er hob den Kopf und starrte zur Decke. »Ja, das ist gut so.«

»Sagst du es mir jetzt?«

Er blickte sie an und lachte, und sie merkte, dass sie wohl doch nichts aus ihm herausbekommen würde. Sie musste sich anscheinend eine neue Strategie ausdenken, eine, die mehr mit ihrem Zuhause zu tun hatte.

Doch dann öffnete er den Mund und stieß einen völlig unbekannten Namen aus, Sekunden, ehe er ihr den Rock hochriss und sich über sie hermachte.

Und da griff sie nach der Lampe und schlug sie ihm auf den Kopf, so lange, bis sich sein Griff um sie allmählich lockerte.

Kapitel Eins

Achtzehn Jahre zuvor

Gebannt blicke ich mein Baby an, das ich in den Armen halte, und kann einfach nicht glauben, dass wir etwas so Schönes hervorgebracht haben. Wir haben die Kleine vielleicht ein paar Jahre zu früh bekommen, aber ich würde es nicht anders haben wollen. Ich hoffe nur, dass Matt ebenso fühlt. Er wirkt etwas verunsichert, doch das geht mir schließlich auch so. Manchmal beobachte ich ihn, wie er sie übervorsichtig hält, als ob sie aus Porzellan ist und ihm in der Hand zerbrechen könnte, aber sein Lächeln spricht Bände. All seine Zweifel sind jetzt verschwunden, weggewischt von unserer schönen Helena.

Kaum habe ich sie in ihr Bettchen zurückgelegt, fängt sie wieder zu weinen an, aber ich soll sie schreien lassen, so hat es die Hebamme befohlen. Ich kann nicht ständig bei jedem Piepser angerannt kommen. Daher verlasse ich das Zimmer und schließe die Tür. Das Babyfon habe ich dabei, und Helenas Weinen folgt mir hinaus.

Matt ist auf dem Sofa, umgeben von einem Stapel Lehrbücher, die Stirn vor Konzentration gerunzelt. Ich beobachte ihn kurz, und mein Herz schwillt an vor Stolz. Eines Tages wird er Arzt sein, und wir wohnen irgendwo mit mehr als drei Zimmern. Helena hat ihr eigenes Zimmer und er einen Raum, wo er in Ruhe arbeiten kann.

Er blickt auf und lächelt. »Hey.« Sein Blick gleitet kurz zu dem kreischenden Babyfon.

Ich sehe mich um, aber es gibt keinen Platz, wo ich es ablegen kann. Küche und Wohnzimmer gehen ineinander über, und Helena liegt in unserem Schlafzimmer, dem einzigen anderen Zimmer, abgesehen von dem engen Badezimmer.

»Tut mir leid«, sage ich. »Bestimmt hört sie gleich auf.«

Er spürt wohl, wie nervös ich bin, denn er schiebt die Bücher beiseite, steht auf, kommt herüber und zieht mich an sich. »Hey, ist doch okay, sie muss sich nur einleben. Sich an uns gewöhnen. Das muss doch so ungewohnt für sie sein. Also, eben noch liegt sie gemütlich hier drin«, er streichelt meinen Bauch, der noch dick ist von der Schwangerschaft, »und auf einmal muss sie mit all dem hier zurechtkommen. Mit uns. Zwei Eltern, die keine Ahnung von dem allen haben!« Er sieht sich in der Wohnung um. »Und schau dir nur das Drumherum an. Mann, es ist schlimm genug für uns, ganz zu schweigen für ein Baby.«

»So schlecht ist es doch nicht«, sage ich und blicke mich in dem kleinen Zimmer um. Die vergilbte Tapete schält sich von den Wänden, der Teppich ist abgewetzt, aber immerhin haben wir ein eigenes Zuhause. Die meisten unserer Freunde wohnen noch bei ihren Eltern, wir haben also Glück, für uns zu sein. Und South Ealing ist kein so schlechter Stadtteil.

Matt seufzt. »Wenn ich mir doch nur was Besseres für uns leisten könnte! Aber bald, versprochen. Sobald ich mit dem Medizinstudium fertig bin und eine Stelle habe, geht es aufwärts. Dann lachen wir über das hier.«

»Ach, es ist doch besser, als wenn wir getrennt bei den Eltern wohnen würden«, erinnere ich ihn. »Wenigstens sind wir zusammen. Eine Familie.«

Matt beißt sich auf die Unterlippe. Das ist mir in letzter Zeit häufig an ihm aufgefallen. »Klingt schon abartig, oder? Eine Familie! In unserem Alter.«

Er muss nicht betonen, wie seltsam das ist. Ich bin neunzehn, und er ist zweiundzwanzig, beide viel zu jung, um von einer Familie zu sprechen. Aber mit Helena ist alles anders geworden.

Ich löse mich von ihm. »Du bereust es doch nicht, oder?«

Er nimmt meine Hände und drückt sie sanft. »Nein, keine Minute. Ja, ich weiß, zuerst war ich in Panik, aber … ich habe nur … ich weiß nicht. Angst gehabt? Doch jetzt, wo sie hier ist, möchte ich es nicht anders haben.«

»Selbst wenn sie dich beim Lernen stört?«, sage ich und halte das Babyfon hoch. Helena weint immer noch, aber irgendwie komme ich damit klar, es ist nur ein harmloses und beruhigendes Hintergrundgeräusch, nichts Schlimmes.

Matt beugt sich zu mir. »Hör mal, ich könnte doch Mum anrufen? Sie fragen, ob sie ein bisschen mit Helena im Park spazieren geht? Ein bisschen frische Luft tut ihr vielleicht gut.«

»Meinst du, das würde ihr nichts ausmachen?« Ich weiß jedoch schon, was sie sagen wird. Obwohl sie Vorbehalte hatte, als wir Helena erwartet haben, ist Miriam ganz vernarrt in ihre Enkelin. Ohne ihre Unterstützung wären wir verloren.

Matts Blick signalisiert: Was meinst du? Dann greift er nach dem Telefon.

In weniger als einer Stunde liegt Helena in ihrem Kinderwagen, an ihr Plüschhäschen gekuschelt, um in den Park gefahren zu werden. Sie hat sich schon etwas beruhigt, als ob sie weiß, dass gleich was Schönes kommt.

»Ich freue mich so, dass ihr angerufen habt«, sagt Miriam. Sie kann den Blick kaum von dem Baby lösen. »Wisst ihr, auch wenn ich ziemlich beschäftigt bin, könnte ich öfters aushelfen. Fragt ruhig immer. Ihr seid beide jung, ihr braucht auch Zeit für euch. Und ein Baby sollte kein Störfaktor sein für ein Paar, es sollte euch stärker aneinanderbinden.«

»Na ja, Mum, ich muss einfach lernen«, sagt Matt, aber seine Mutter geht nicht weiter auf ihn ein, sondern verschwindet mit einem geträllerten Tschüss durch die Tür.

»Hast du das mit dem Lernen ernst gemeint?«, frage ich, sobald die Tür zugefallen ist.

»Wieso, was hättest du denn vor?« Matts Lächeln blitzt auf, das sexy Lächeln, das ich jetzt schon länger nicht mehr gesehen habe, und ich merke, wie ich dahinschmelze. Zum ersten Mal, seit unser Baby geboren wurde, brauche ich ihn, auf der Stelle, es bleibt keine Zeit, ins Schlafzimmer zu gehen.

* * *

Wir liegen beieinander, nackt auf dem Sofa, die Kleider auf dem Boden verstreut. Ich lausche Matts Atemzügen und merke, dass ich mich nicht bewegen will. Nie mehr. Ich möchte diesen Augenblick bewahren, dehnen, so lang es geht, wie ein Gummiband, auch wenn ich weiß, dass es irgendwann zurückschnellen wird.

Ich küsse seine Brust. »Das hat sich doch nicht anders angefühlt, oder?« Ich muss es fragen, ich habe nämlich Geschichten gehört, dass sich da unten was ändert nach einer Geburt.

»Nein, nein. Natürlich nicht. Alles bestens. Alles in Ordnung.«

Und das stimmt.

Bis das Telefon klingelt und unsere Welt für immer in Scherben zerspringt.

* * *

»Was? Nicht so schnell. Sag das noch mal. Ich kann dich nicht verstehen.«

Ich umklammere Matts Arm, während er in den Hörer spricht. Ich muss nicht fragen, wer da anruft, ich weiß es bereits. Und ich weiß auch, dass irgendwas passiert ist.

»Ach du Scheiße. Hast du überall gesucht? Bist du sicher? Ruf die Polizei. Sofort. Ich komme hin.«

Er knallt den Hörer auf und schnappt sich seine Jeans. »Keine Panik, Simone, das war Mum. Sie sagt, sie kann Helena nicht finden. Ich gehe jetzt rüber in den Park, aber bleib du hier, falls die Polizei kommt. Sie ruft jetzt dort an, aber es muss vielleicht jemand hier sein, ich weiß auch nicht. Fuck!«

»Was … was meinst du, sie kann Helena nicht finden? Was ist passiert?« Ich bin noch nackt und friere auf einmal entsetzlich, aber ich kann mich nicht rühren.

Matts Worte verschwimmen und klingen wie eine fremde Sprache. Ich verstehe nur, dass Helena verschwunden ist. Und etwas mit der öffentlichen Toilette im Park. Und dass Miriam schlecht geworden ist. Nichts ergibt einen Sinn. Das stimmt doch alles nicht. Sie kann nicht verschwunden sein. Das ist unmöglich.

Langsam fange ich jedoch an zu begreifen und falle auf den Boden, mit den Knien auf den Teppich. Ich spüre keinen Schmerz; er wird überdeckt von meiner Unfähigkeit zu atmen. Ich drücke die Fäuste vor die Brust und kann nur eines denken: Ich habe Helena im Stich gelassen. Schließlich bin ich doch ihre Mutter, die sie beschützen soll, selbst wenn sie nicht vor mir liegt.

Ich schreie diese Gedanken heraus. Matt zieht mich hoch und umschließt mein Gesicht mit den Händen.

»Wir finden sie«, sagt er. »Du musst ruhig bleiben.«

Ich bin zu betäubt, um zu antworten. Ich kann nur stumm zuhören, während er auf mich einschreit, was ich tun soll, und aus der Wohnung rennt.

Und jetzt erst begreife ich, dass es wahr ist.

Kapitel Zwei

Jetzt

Ein komisches Gefühl, wenn man sicher ist, dass einem jemand folgt. Ich habe das zwar bis heute noch nie erlebt, doch es ist eindeutig; man spürt den bohrenden Blick, das Bohren löst sich allerdings sofort auf, wenn man sich umsieht. Und man trotzdem weiß, dass einen jemand beobachtet.

Vor fünf Minuten habe ich das Warenhaus John Lewis betreten, obwohl ich gar nichts kaufen will. Ich will nur sicher sein. Es ist Mittagszeit, und ich muss in einer halben Stunde wieder bei der Arbeit sein und habe noch nicht gegessen. Ich wollte nur ein bisschen frische Luft schnappen und dem stickigen Studio entkommen, trotzdem wünschte ich inzwischen, ich wäre dort geblieben.

Ich drehe mich um, und da ist sie. Dieselbe junge Frau, die mir auffiel, als ich von der Arbeit kam. Dieselbe Frau, die ich hinter mir in der Oxford Street entdeckt hatte. Das könnte Zufall sein, aber ich habe sie auch schon heute Morgen an der U-Bahnstation Tottenham Court Road bemerkt.

Sie verfolgt mich.

Kenne ich sie? In meinem Job laufen mir Unmengen von Leuten über den Weg, aber ich bin eigentlich niemand, der ein Gesicht vergisst. Oder sonst was. Matt sagt, dass mein Gedächtnis ihn verblüfft; dass mein Kopf irgendwie die unbedeutendsten Details speichert. Er sagt, ich sollte seinen Job haben, eine Gabe wie meine wäre für einen praktischen Arzt ein Geschenk des Himmels. Aber sein Arzt-Dasein überlasse ich lieber ihm; ich würde es nie schaffen, jemand eine negative Prognose zu stellen. Seine Fähigkeit, unbeteiligt zu bleiben, geht mir ab.

Ich nenne sie eine Frau, doch ihr genaues Alter kann ich nicht abschätzen, sie kann nicht viel mehr als zwanzig sein. Dadurch sollte sie eigentlich weniger bedrohlich wirken.

Ich werfe ihr verstohlene Blicke zu und sehe, dass sie den Karton einer Kaffeemaschine mustert. Sie ist groß und dünn, trägt Leggins, eine kurze Lederjacke und um den Hals ein türkisfarbenes Tuch. Unter der Jacke schaut der Rand eines langen grauen T-Shirts hervor, aber warm kann sie das nicht halten. An den Füßen hat sie schwarze Sneakers mit knallig weißen Sohlen.

Gedanken an Helena drängen sich mir auf. Würde sie sich so anziehen? Nein, ich muss diese destruktiven Überlegungen wegschieben. Ich darf nicht an sie denken, nicht hier, mitten im Kaufhaus, vor den Augen meiner plötzlich aufgetauchten Stalkerin.

Ich widme mich einer Garnitur Silberbesteck, die mich eigentlich gar nicht interessiert, und versuche mir zu überlegen, was ich machen soll. Ich könnte auf sie zugehen und sie fragen, ob ich ihr irgendwie helfen kann. Ihr zeigen, dass mich dieser ungeheure Zufall, sie hier wie auch schon vor meiner Arbeitsstelle zu sehen, nicht verunsichert. Oder ich beachte sie einfach nicht, verlasse schleunigst den Laden, gehe zur Arbeit zurück und vergesse diesen Unfug. Manchmal läuft meine Phantasie mit mir davon: ein Störfaktor, den mein Job mit sich bringt. Und meine Vergangenheit.

Ehe ich eine Entscheidung treffen kann, taucht sie direkt neben mir auf und tippt mir auf den Arm. Kein sanftes Antippen, eher ein ungestümes und heftiges Drängen nach Aufmerksamkeit.

»Ach, bitte?« Ihre Stimme ist überraschend leise.

Jetzt, wo sie so dicht neben mir steht, merke ich erst, wie hübsch sie ist. Ihre dunklen braunen Augen sind riesig und glänzend, und ihr langes Haar ist fast schwarz und künstlich geglättet.

»Ja?« Was anderes fällt mir nicht ein.

Ihr Blick schweift nach links und nach rechts, dann sieht sie mich wieder an. »Sie sind doch Simone Porter, nicht?«

Ich hatte also recht. Sie muss mich von einem Beitrag kennen, den wir gesendet haben. Aber was sie von mir wollen mag, kann nichts Gutes sein; warum würde sie mir sonst außerhalb meines Arbeitsplatzes folgen, statt dort um ein Gespräch zu bitten? Sie hätte mir mailen können, wie es andere tun, die meine Hilfe wollen.

»Ja.« Ich klinge sehr zurückhaltend. »Kann ich Ihnen irgendwie helfen?« Ich werfe einen Blick auf die Uhr und hoffe, sie versteht den Wink, dass ich in Eile bin.

Sie sieht sich vorsichtig um, was meinen Verdacht bekräftigt, dass ich lieber nicht hören will, was immer sie mir sagen möchte. »Können wir uns unterhalten? Irgendwo anders.«

»Um was geht es denn? Wer sind Sie überhaupt?«

Sie legt mir die Hand auf den Arm. Ich zucke zurück. Das scheint sie zu merken, denn sie entschuldigt sich und rückt sofort etwas ab, wobei sie fast einen Turm säuberlich aufgestapelter Schachteln mit Kesseln umstößt. »Es ist nur … ich muss unbedingt mit Ihnen reden. Aber nicht hier.«

»Sie müssen mich bei der Arbeit aufsuchen. Tut mir leid. Der Sender mag solche Vorgehensweisen nicht.«

Die junge Frau seufzt und schüttelt den Kopf. »Nein, nein, es hat nichts mit Ihrer Arbeit zu tun.«

Ich bin überrascht. »Aber … woher kennen Sie mich denn dann?«

»Ich kenne … Sie nicht wirklich …« Sie starrt auf ihre Sneakers.

»Hören Sie, es tut mir leid, aber ich muss zurück. Wenn es wichtig ist, kommen Sie dort vorbei, okay?« Ich wende mich ab, spüre aber, wie sich ihr Blick in meinen Rücken bohrt.

»Simone?«

Ich weiß, ich sollte mich nicht umdrehen. Ich sollte weitergehen, als hätte ich sie nicht gehört; sie weiß das ja nicht, und es ist sowieso egal. Die Sache war wohl doch nicht so wichtig. Vielleicht kennt sie mich über meine Arbeit und will fragen, ob ich ihr nicht irgendwie eine Tür öffnen kann. Das passiert einem öfters, wenn man beim Fernsehen arbeitet. Trotz dieser Überlegungen drehe ich mich um. Ihre Augen sind noch größer geworden, sie flehen mich an, sie anzuhören, sie ernst zu nehmen.

»Ich muss mit Ihnen reden. Es geht um Ihre Tochter.«

Mir bleibt das Herz stehen, und ich greife nach dem nächstbesten Regal, um nicht umzukippen. »Was?«, sage ich, obwohl ich jedes Wort wie durch eine Lautsprecheranlage gehört habe.

»Können wir jetzt irgendwo anders hingehen? Bitte?«

* * *

Wir sitzen in einem Café, das in einer der abgelegeneren Straßen hinter John Lewis liegt, außerhalb des Getriebes von Oxford Street. Ich bin ihr einfach gefolgt und habe mit meinen Fragen gewartet, bis wir die Menschenmenge und die kalte Januarluft hinter uns gelassen haben. Es sind nicht viele Leute hier und gerade genug Stimmengeräusche, dass man uns nicht zuhören kann.

»Sagen Sie mir, was Sie wissen«, bitte ich sie mit bebender Stimme. Ich greife nach meinem Kaffee – schwarz und stark –, aber meine Hand zittert, daher stelle ich die Tasse wieder ab.

»Ich habe Ihnen einen Schreck eingejagt, stimmt’s?« Sie verzieht den Mundwinkel, aber ich weiß nicht, ob entschuldigend oder schadenfroh über meine Verwirrung. Wie auch immer, sie wirkt jetzt weniger aufgeregt.

»Was wissen Sie? Und wer sind Sie?« Meine Worte klingen scharf, aber ich bin einfach nervös. Was bekomme ich gleich zu hören?

Mit dem Strohhalm rührt sie in ihrem Glas Coke um. Die Eiswürfel klirren. Ihr Blick ist fest auf mich gerichtet. »Ich muss erst sicher sein, dass Sie es auch wirklich sind. Bitte haben Sie Geduld, und ich verspreche, dass ich Ihnen alles erzähle.«

Ich krame in meiner Tasche nach meiner Geldbörse und ziehe meinen Führerschein heraus. Einen Moment zögere ich verunsichert. Sonst überdenke ich immer alles genau, wäge jede Situation ab, in die ich gerate, aber heute ist keine Zeit dafür. Ich reiche ihr den Führerschein. Sie starrt das Foto an. Es ist fast zehn Jahre alt, meine Haare sehen jetzt anders aus – kürzer und lockiger als damals –, aber es zeigt doch unverkennbar mich. Eine Frisur kann sich verändern, sogar die Hautfarbe, aber Augen bleiben immer gleich, egal, wie viel Zeit vergeht. Warum braucht sie also so lange, um ihn mir zurückzugeben?

»Danke«, sagt sie schließlich und schiebt ihn über den Tisch. Schnell greife ich danach und stecke ihn in meine Tasche, ohne mir die Mühe zu machen, ihn in das richtige Fach in meinem Geldbeutel einzuordnen.

»Sie arbeiten also beim Fernsehen?«

Ich versuche, meine Ungeduld nicht zu zeigen. »Ja, ich bin Producerin bei N24. Seit zwölf Jahren. Aber das wissen Sie doch wohl schon, oder?«

Das Mädchen – denn ich bin zu dem Schluss gekommen, dass sie noch ein Mädchen ist und eigentlich geduzt werden kann – rutscht auf dem Stuhl umher, tut mir endlich den Gefallen, unbehaglich auszusehen. »Ja. Sorry. Ich muss nur einfach sicher sein, dass Sie es sind.«

Die Tür wird aufgestoßen, und sie reißt den Kopf hoch und folgt dem neuen Kunden, der zur Kasse stürzt, mit Blicken.

»Du hast mich doch sicher auf der Website unseres Senders gesehen? Das Foto ist verhältnismäßig neu, du kannst also keine Zweifel mehr haben. Also, was weißt du über … meine Tochter?« Ich ersticke fast an diesen Worten. Es ist schon zu lange her, seit ich sie ausgesprochen habe. »Und wer bist du überhaupt?«

Sie schiebt ihr Glas zur Seite und starrt mich mit ihren dunklen, großen Augen an. »Ich heiße Grace Rhodes. Und ich … kann Ihnen etwas über Ihre Tochter sagen.« Ihre Stimme klingt zögerlich, und zum ersten Mal habe ich den Eindruck, dass ihr Selbstbewusstsein bröckelt.

»Das hast du bereits erwähnt. Was kannst du mir sagen? Was weißt du? Und warum sollte ich dir glauben?« Ich bin auf der Hut. Schon ein paar Mal bin ich von Leuten, die behauptet haben, etwas von Helena zu wissen, an der Nase herumgeführt worden. Zwar schon länger nicht mehr, nicht mehr, seit sie ein Baby war, aber das heißt nicht, dass dieses Mädchen keine üblen Tricks spielt oder sich einfach nur wichtigtut. In meiner Branche sind mir alle möglichen gestörten Leute begegnet. Der Boshaftigkeit der Menschen sind keine Grenzen gesetzt.

»Ich weiß, dass Ihre Tochter vor achtzehn Jahren in einem Park entführt worden ist. Sie war erst sechs Monate alt.«

Mir wird kalt, obwohl ich direkt an dem warmen Heizkörper sitze. »Das beweist gar nichts. Das hättest du online rausfinden können. Es ist allgemein bekannt.« Selbst mir kommt meine Stimme nicht überzeugend vor.

Sie nickt. Gibt sie so leicht auf? »Sie haben recht, ich habe noch nichts Handfestes. Nicht wirklich. Tut mir leid.«

Ich werde nicht aus ihr schlau. Ich weiß, dass sie ein Spielchen spielt, aber was will sie? »Wenn du keinen Beweis hast, dann verschwendest du meine Zeit.« Ich stehe auf und mache Anstalten, entschlossen zur Tür zu gehen, auch wenn ich bezweifle, dass es meine wackeligen Beine bis dahin schaffen.

»Bitte warten Sie.« Sie erhebt sich von ihrem Platz und packt meine Hand. Ihre Haut fühlt sich warm an. »Ich weiß, das ist schwer für Sie, aber Sie müssen mich bitte anhören. Nur bis ich fertig bin. Dann können Sie immer noch entscheiden, ob Sie gehen wollen oder nicht.«

Es heißt, Mütter hätten einen starken Instinkt; etwas Angeborenes, das ihnen hilft, ihre Kinder zu beschützen. Ich bin zwar schon lange keine Mutter mehr, aber wenn ich dieses junge Mädchen ansehe, zwingt mich etwas, ihr eine Chance zu geben.

»Was weißt du über meine Tochter, das nicht schon allgemein bekannt ist?«

»Mrs. Porter – Simone. Sie müssen mir glauben, dass ich nicht irgendeine verrückte Person bin, die Ihnen etwas vorspinnt.« Sie setzt sich wieder, und ich nehme ebenfalls Platz.

»Dann zeige mir wenigstens irgendeinen Ausweis. Du hast einen von mir gesehen, nicht wahr? Jetzt will ich deinen sehen.«

Sie greift in die Tasche. »Ich habe nur einen Studentenausweis. Hier.« Sie schiebt ihn über den Tisch.

Ich nehme ihn und mustere das Foto. Es zeigt eindeutig das Mädchen, mit dem ich rede, und da steht, dass sie Grace Rhodes heißt. Aber woher soll ich wissen, dass der Ausweis echt ist? Der schwarze Schriftzug der City University London sieht zwar echt aus, genauso wie das rote Wappen, aber so ein Ausweis ist wahrscheinlich leicht zu fälschen.

»Hast du nichts anderes? Einen Führerschein?«

Sie schüttelt den Kopf. »Hab noch nicht mit Fahrstunden angefangen. Ich will immer welche nehmen, aber ich bin so mit dem Studium beschäftigt. Irgendwann einmal.«

Die Erklärung klingt stichhaltig. Trotzdem bin ich immer noch unsicher, ob das Mädchen aufrichtig ist, daher muss ich ihr weiter zuhören. Sie reden lassen, bis sie sagt, was sie wirklich will. Denn dass sie was will, ist klar.

»Rede«, sage ich und lasse sie nicht aus den Augen, um zu sehen, ob sie mich täuscht. »Du behauptest, dass Helena lebt? Was weißt du über sie? Wo ist sie?«

Sie sieht mich direkt an. »Sie lebt, das schwöre ich Ihnen.«

Benommen höre ich es. Hellseher und Handleser und alle möglichen angeblichen Wahrsager haben mir das auch schon gesagt, aber daraus hat sich nie etwas ergeben. Wir haben Helena nie gefunden. Ich schweige und lasse sie fortfahren.

»Ich … ich kann nicht sagen, was passiert ist. Ich weiß nicht … sie weiß nichts darüber. Aber es geht ihr gut. Bisher ist es ihr immer gutgegangen, meine ich.«

Wieder bleibt mir fast das Herz stehen. Ich kann nicht weiter zuhören. Ich muss weg von diesem Mädchen. Über Jahre, nachdem Helena verschwunden war, habe ich jedes Mal Hoffnung geschöpft, wenn jemand behauptete, Informationen zu haben, aber jedes Mal haben sie sich als falsche Fährten oder Lügen herausgestellt. Und bei jedem Mal wurde ich nur noch weiter zerrissen. »Ich muss jetzt gehen. Zurück an die Arbeit. Meine Mittagszeit ist fast vorbei.« Ich erhebe mich und will davonlaufen.

Sie starrt zu mir hoch, mit offenem Mund. Ich merke, dass sie auf eine solche Reaktion von mir nicht gefasst war. Vielleicht hat sie angenommen, dass ich auf die Knie falle und sie bitte, mich zu Helena zu führen.

»Aber … ich …«

»Hör mal, glaubst du vielleicht, du wärst die erste Person, die so was versucht? Die mit einer verrückten Geschichte ankommt und zu wissen behauptet, wo meine Tochter ist? Sag mal, was willst du überhaupt? Geld? Ist es das?« Ich stecke die Hand in die Tasche und ziehe einen Zwanzig-Pfund-Schein heraus, den ich vor sie hinwerfe. Er flattert langsam auf den Tisch, sie achtet jedoch nicht darauf, sondern starrt mich mit ihren großen Augen an. Andere Gäste drehen sich nach uns um; ich habe zu laut gesprochen, und sie sind neugierig geworden.

Ich lasse das Geld auf dem Tisch liegen und hänge mir die Tasche über die Schulter. Indem ich mich zum Gehen umdrehe, werfe ich noch einen Blick auf die junge Frau und sehe, dass ihre Wangen vor Tränen glitzern.

»Lassen Sie mich Ihnen einfach was zeigen.« Ihre Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern. Sie greift in ihre Tasche, und einen Augenblick lang bin ich sicher, dass ich eine Messerklinge sehen kann, als sie die Hand wieder herauszieht. Aber dann konzentriere ich mich und erkenne, was ich sehe.

Ein hellblaues Plüschhäschen.

Helenas Spielzeug.

»Woher hast du das?«, frage ich. Ich kann den Blick nicht davon abwenden.

Grace reicht es mir, und ich packe es mit zitternden Händen. »Dann stimmt es also. Es ist ihres, nicht? Das von Ihrer Tochter. Ich musste das einfach wissen«, sagt sie. Keines ihrer Worte ergibt einen Sinn.

Ich setze mich wieder, mustere das Spielzeug und bemühe mich, nicht von meinen Gefühlen übermannt zu werden und mein Urteilsvermögen trüben zu lassen. Was würde ich tun, wenn ich diese Nachricht in der Sendung bringen müsste? Ich würde der Mutter sagen, dass in jenem Jahr Millionen von diesem Spielzeug auf den Markt gekommen sein können. Matt hat das Plüschtier in einem Second-Hand-Laden gekauft, daher habe ich keine Ahnung, wo es ursprünglich herkam. Ich weiß nur, dass Helena ihr Häschen geliebt hat, so jung, wie sie damals war. Und dass es bei ihr war, als sie gekidnappt wurde.

Während ich das Häschen weiter ansehe und das weiche Material mit den Fingern streichle, weiß ich, dass es das Tier von meiner Tochter ist. Ich halte es an die Nase und schnuppere an dem Stoff, aber es riecht nicht vertraut – nach einem Waschmittel, das ich nie verwendet habe.

»Was geht hier vor? Sage es. Auf der Stelle! Woher hast du das?« Meine Stimme ist zu laut, und wieder werden wir angestarrt.

Grace reißt die Augen auf und holt tief Luft. »Es gehört mir. Ich habe es, seit ich ein Baby war.«

Nur ein Mal zuvor ist mir der Boden unter den Füßen weggesackt. Als Helena verschwunden ist. Aber das passiert mir jetzt wieder, ich ringe genauso wieder nach Luft und habe das Gefühl, dass mir das Herz stehen bleibt.

»Was hast du gerade gesagt?« Sie muss das noch einmal sagen, denn bestimmt habe ich mich verhört?

»Das Spielzeug gehört mir. Ich habe es, seit ich ein Baby war.«

»Aber … dann …«

Grace holt tief Luft. »Sie müssen mir helfen, Simone. Ich glaube, dass ich Ihre Tochter bin, und Sie müssen mir helfen herauszufinden, was mit mir passiert ist.«

Kapitel Drei

Ich starre das Mädchen an, das vor mir sitzt, und mein Herz pocht mir in der Brust. Wenn ich ein unbeteiligter Beobachter wäre, würde ich mir raten zu gehen. Aus dem Café zu laufen, so weit weg wie möglich von diesem Mädchen, das behauptet, meine Tochter zu sein. Aber ich bleibe sitzen.

Sie ist groß, wie ich, aber das hat nichts zu sagen. Ihr Haar ist dunkel wie das von Matt, und wir haben beide braune Augen, aber das haben die meisten Leute. Das alles beweist mir gar nichts, ich kann mich also nur auf meinen Instinkt verlassen, der mir jetzt sagt – aufgrund des Plüschhäschens –, dass ich sie weiter anhören muss. Wenn schon sonst nichts, muss ich hören, was sie zu sagen hat.

»Ich weiß, dass das schwer ist«, sagt Grace und rührt wieder in ihrer Coke. »Ich habe einfach nicht gewusst, was ich sonst machen soll. Ich musste Sie finden und Ihnen erzählen, was ich weiß. Ich brauche Ihre Hilfe.« Sie sieht mich flehend an.

Ich rede mir ein, dass ich das schaffe. Ich kann mir anhören, was sie sagt, lasse es über mich ergehen, als würde ich jemanden für eine Sendung interviewen. Mehr muss ich nicht machen. Und dann kann ich verschwinden, zurück zur Arbeit gehen und eines Tages die Geschichte von dem verrückten Mädchen erzählen, das behauptete, meine Tochter zu sein.

»Erzähle mir alles«, sage ich. Ich halte mich soweit ganz gut, klinge nicht gefühlsduselig. Nach außen hin bin ich ruhig und unbeteiligt.

Sie lässt ihren Strohhalm los, sieht sich um und überfliegt die Gesichter der anderen Gäste. Was mich wundert. Sie ist aufgeregt und nervös, und das ist nur einer von mehreren Gründen, warum ich ihr nicht glauben sollte. Eigentlich müsste sie doch wegen mir nervös sein?

»Ich habe immer gefunden, dass ich anders bin«, setzt sie mir auseinander. »Sie wissen schon, etwas fehl am Platz, als würde ich nirgends so richtig dazu passen. Ich weiß, das ist ein furchtbares Klischee, aber nur so kann ich das Gefühl beschreiben. Ich habe allerdings niemals eine Sekunde lang vermutet, dass meine Mum … also, sie ist ja nicht meine Mutter, oder? Aber ich nenne sie erst mal weiter so, das ist einfacher, bis ich Ihnen alles erzählt habe.«

Sie schweigt, und ich frage mich, ob ich schon etwas dazu sagen soll. Aber was? Dass ich dagegen ankämpfe, mir die kleinste Hoffnung zu gestatten, dass sie Helena ist? Ich habe mir schon zu oft die Finger verbrannt. Was könnte passieren, wenn ich es diesmal wage zu hoffen? Allerdings wird mir allmählich klar, dass dies Mädchen, dass diese Grace tatsächlich glaubt, meine Tochter zu sein – ob sie es ist oder nicht.

»Letzte Woche«, fährt sie fort, »hat ein Freund der Familie oder eher ein Freund von Mum versehentlich fallen lassen, dass sie womöglich nicht meine richtige Mutter ist.« Sie wirft eine Haarsträhne zurück, die ihr über die Wange gerutscht ist. »Er war betrunken, und ich glaube nicht, dass er die Bemerkung absichtlich gemacht hat. Als ich ihn ein paar Tage später bedrängt habe, hat er Ihren Namen gesagt. Da habe ich Sie im Internet gesucht.«

Sie schweigt wieder und beobachtet mich, und ich kann sehen, wie verzweifelt sie sich wünscht, dass ich etwas sage. Doch ich bin sprachlos. Das Ganze ist so weit hergeholt, ich erwarte die ganze Zeit, dass plötzlich jemand auftaucht und sagt, dass alles ein Scherz ist.

»Hör mal, das ist verrückt«, sage ich. »Der Mann war betrunken. Er hat sich wahrscheinlich an die Geschichte von meiner Tochter erinnert und sie benutzt, um deine Mutter aus irgendeinem Grund zu ärgern. Du kannst das, was er gesagt hat, nicht für bare Münze nehmen.« Aber während ich das sage, blicke ich auf das Häschen, das ich immer noch umklammert halte, und ich weiß, dass noch mehr kommen wird. Die Polizei hat die Sache mit dem Häschen nicht veröffentlicht, darüber gab es also nichts in den Medien.

»Erzähle mir alles, was er gesagt hat. Wort für Wort. Lass nichts aus.«

Grace atmet heftig ein. »Er heißt Lucas – Lucas Hall. Er ist mit Mums Bruder, meinem Onkel, zur Schule gegangen. War sein bester Freund. Aber Onkel Daniel hatte einen Gehirntumor und ist vor Kurzem gestorben, daher ist Lucas zu uns gekommen, um Mum zu besuchen. Wahrscheinlich, um zu sehen, wie es ihr ging.«

»Kanntest du ihn vorher schon? Diesen Lucas?« Ich mache, wozu ich ausgebildet wurde: Fragen stellen, um der Geschichte auf den Grund zu gehen.

Grace schüttelt den Kopf. »Nein, ich habe ihn erst an dem Tag kennengelernt. Ich hatte von ihm gehört. Er hat ein schickes Restaurant in Westlondon, soviel ich weiß, aber er war noch nie bei uns. Onkel Daniel hat allerdings viel von ihm geredet.« Sie unterbricht sich, doch ich dränge sie mit einem Blick weiterzumachen.

»An dem Tag haben er und Mum in der Küche ein Glas Wein zusammen getrunken, als ich kam, um sie zu besuchen. Sie trinkt normalerweise nicht, aber sie sagte, sie würden auf Onkel Daniels Leben anstoßen. Es ist nämlich so, dass er und Mum sich ziemlich nahestanden. Mum war viel älter als mein Onkel, ich nehme an, sie hat ihn ein bisschen bemuttert, sich um ihn gekümmert.«

Die ganze Zeit, während sie diese Szene für mich beschreibt, kann ich nicht glauben, dass ich Teil der Geschichte bin. Die Leute sind mir total fremd; wie kann einer von ihnen etwas mit Helena zu tun haben?

Grace spürt nichts von meinen Überlegungen und fährt fort. »Mum wurde weggerufen. Sie ist Altenpflegerin, und eine ihrer Kundinnen brauchte dringend Hilfe bei irgendwas. Sie sagte zu Lucas, ich würde ihm Gesellschaft leisten, bis sie zurück sei. Aber nach zwei Stunden war Mum immer noch nicht zurück, da machte er einfach noch eine Flasche auf. Ich versuchte ihm anzudeuten, dass ich für die Uni arbeiten müsste, schließlich kannte ich den Typ ja gar nicht, aber er ging einfach nicht, er trank eifrig weiter.«

»Hast du mitgetrunken?« Das muss ich fragen; ihre Antwort könnte die Dinge in ein anderes Licht rücken.

»Nein, ich trinke nicht. Ich bin zu sehr mit meinem Studium beschäftigt, um mich mit Alkohol zu benebeln.« Es ist das dritte Mal, dass sie fallen lässt, wie sehr sie sich dem Studium widmet, und ich muss einfach annehmen, dass sie diesen Punkt absichtlich so betont.

Die Tür zum Café geht auf. Ihr Blick fliegt wieder zu dem neuen Gast, der hereinkommt. Nach einem Augenblick entspannt sie sich und fährt mit ihrer Geschichte fort. »Er fing an, über Onkel Daniel zu reden. Was für ein guter Mensch er gewesen sei, der alles für Mum getan hätte. Wie alle. Dann wurde er ein bisschen unangenehm. Er fing an, mit mir zu flirten, und sagte, wie hübsch ich sei. Es war schrecklich. Ich sagte, er solle das lassen, da war er wohl zuerst etwas beleidigt, aber dann hat er angefangen zu lachen. Ich weiß nicht, vielleicht wollte er so tun, als mache es ihm nichts aus, dass ich ihn hatte abfahren lassen. Dann sagte er auf einmal, mit Ginny als Mutter sei ich besser dran gewesen als mit jenem Teenager. Ich fragte ihn, was er meinte, aber er sagte nichts mehr, behauptete, das sei ihm im Alkoholnebel rausgerutscht. Er ging, ehe ich ihn weiter dazu befragen konnte.«

Ich höre ihr zu und ordne die Worte so ein, dass sich daraus ein Sinn für mich ergibt. Ich weiß immer noch nicht, wie sie zu dem Schluss gekommen ist, dass sie meine Tochter ist.

»Also, hör mal, Grace, ich gebe zu, dass das, was dieser Mann, Lucas, gesagt hat, seltsam klingt, aber es ist kein Beweis dafür, dass du … Helena bist. Vielleicht hat er sich nur über dich geärgert, weil du ihn abgewiesen hast.«

Sie seufzt, ist eindeutig genervt. »Warten Sie. Ich habe ihn noch mal getroffen. Ich habe von Mum … von Ginny … rausgefunden, dass er gestern Abend einen Barbesuch vorhatte. Da bin ich hingegangen. Ich habe mich mit Makeup zugekleistert und einen kurzen Rock angezogen, mehr war nicht nötig.«

Ich bin entsetzt. Ob dieses Mädchen nun Helena ist oder nicht, ich spüre den überwältigenden Drang, sie zu beschützen. Sie ist genauso alt, wie meine Tochter jetzt wäre. »Was willst du damit sagen? Du hast doch nicht …«

Sie starrt auf ihr leeres Glas und sieht mich nicht an, während sie weiterredet. »Ich habe mit der Zeit die Wahrheit aus ihm rausgekriegt. Er hat Ihren Namen genannt.«

Plötzlich befinde ich mich in einem Zwiespalt. Ist ihre Geschichte nicht zu ausgefeilt, um erfunden zu sein? Oder vielleicht ist das genau entscheidend. Ist die Wahrheit nicht immer einfacher als eine Lüge? Ich will sie erst mal zu Ende anhören, bis ich herausfinde, was sie wirklich will, denn darauf bin ich sehr gespannt.

»Weißt du, wenn das alles wahr ist, dann müssen wir zur Polizei. Sofort.«

Sie erschrickt so, als hätte ich sie in den Bauch geboxt. »Nein, das geht nicht.«

»Doch, Grace, das müssen wir. Wenn dieser Lucas auch nur im Entferntesten die Wahrheit gesagt hat, dann muss das ermittelt werden.« Ich bleibe unbeteiligt und verhalte mich so, als sei ich nicht in die Sache verwickelt. Ich werde diesem Mädchen einfach helfen, egal, wobei sie Hilfe will.

Auf einmal fängt sie zu weinen an. Mit jedem Schluchzer hebt und senkt sich ihre Brust. »Ich weiß, aber bitte, es geht einfach nicht. Sie müssen mir nur helfen. Ich muss wissen, ob es stimmt. Ob ich Ihre Tochter bin. Ob mein ganzes Leben eine Lüge war.«

»Es geht gar nicht anders, Grace. Verstehst du das nicht? Wir müssen die Polizei einschalten.«

Als sie zu mir aufblickt, sind ihre Augen angsterfüllt. »Das können wir nicht«, sagt sie mit kaum hörbarem Flüstern. »Wegen Lucas … er ist tot … Es war ein Unfall. Ich habe ihn getötet.«

Kapitel Vier

Hast du eine normale Kindheit gehabt? Eltern, die dich mit Liebe umsorgt haben, dich vor der Welt draußen beschützt haben und es dennoch geschafft haben, dir Unabhängigkeit beizubringen?

All das hatte ich. Und noch mehr. Ein behagliches Haus, keine Geschwister, mit denen ich mich streiten musste– was mir ganz recht war–, jedes Spielzeug, das ich wollte, allerdings in vernünftigem Maß. Und ich muss dies »in vernünftigem Maß« hinzusetzen, denn ich will nicht, dass du meinst, ich wurde verwöhnt.

Ich berichte dir das, weil ich nicht das Klischee bin, für das du mich gerne halten wirst, wenn du meine Geschichte zu Ende erzählt hast. Du möchtest glauben, dass ich vernachlässigt oder missbraucht wurde, dass nichts, was später geschah, meine Schuld war. Nur so kannst du nachts noch schlafen: wenn du das Gefühl hast, dass es eine scharfe Abgrenzung zwischen Mensch und Unmensch gibt, eine Grenze so breit, dass du dir keinen vorstellen kannst, der sie überschritten hat.

Tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen, aber meine Kindheit war in jeder Hinsicht normal.

Wie ist es dann aber so weit mit mir gekommen, dass ich versunken bin in grauenhafter Geheimniskrämerei und in schändlichen Taten?

Weder Familie noch Umfeld, noch Schule waren das Problem.

Das Problem kam aus mir heraus.

Jahre später sagte er mir, wir seien aus demselben Holz geschnitzt. Deshalb täten wir, was wir taten, getrieben von einem inneren Zwang. Das Leben muss erforscht werden, sagte er, die einzigen Grenzen, die uns gesetzt wären, seien jene, die uns Engstirnigkeit und Angst aufzwingen würden. Unsere eigene und die von anderen.

Hat es dich erregt?, fragte er nach dem ersten Mal. Hast du das Gefühl gehabt, dein Blut würde aus dem Körper explodieren? Dass kein anderes Gefühl dem gleichkommen könnte?

Ich versuchte, meine zitternden Gliedmaßen unter Kontrolle zu halten, die Angst zu verbergen, in der ich ertrank.

Aber wovor hatte ich denn wirklich Angst? Vor dem, was wir gerade gemacht hatten, oder vor der Tatsache, dass es mir gefallen hatte?

Kapitel Fünf

In meinem Metier höre ich alle möglichen Geschichten. Aber noch nie zuvor habe ich jemandem gegenübergesessen, der gesagt hat, dass er getötet hat. Ich möchte davonlaufen vor Grace Rhodes oder wer sie auch sein mag, zurück in die Sicherheit meiner Arbeit. Doch dann wird mir wieder das blaue Plüschhäschen bewusst, das ich noch umklammert halte. Und da Grace die Worte ausgesprochen hat, bin ich in die Sache verwickelt. Ich kann ihren Bericht nicht löschen. Oder vergessen, dass sie Helenas Häschen hat. Wer immer sie ist, sie weiß etwas über meine Tochter.

Ich sehe es klar vor mir, als sie erzählt, was passiert ist: der Mann, der sich auf sie wirft, sie auf das Bett drückt, an ihren Kleidern zerrt. Ich spüre ihre Verzweiflung. Ihre Angst. Und die Panik, nachdem sie ihm die Lampe auf den Kopf geschlagen hat.

»Wir gehen zur Polizei. Auf der Stelle.«

Sie schüttelt so heftig den Kopf, dass sich ihr Haar fächerartig ausbreitet und durch die Luft peitscht. »Nein, warten Sie bitte. Ich muss nur … Begleiten Sie mich in seine Wohnung? Sie liegt am Embankment. Nicht weit. Ich muss etwas holen.«

Nun berichtet sie, dass er sie gefilmt hat, mit ihrem Handy, und dass sie es vergessen hat, als sie aus der Wohnung gerannt ist, aber dass sie seine Schlüssel mitgenommen hat, die noch im Schloss steckten. Das klingt wieder ganz unwahrscheinlich, wie das Drehbuch zu einem Film. Aber ich rufe mir die ganzen Fernsehbeiträge ins Gedächtnis, die ich betreut habe, die weit außerhalb jeglichen Möglichkeitsbereichs erscheinen.

Ich schüttle den Kopf. Ich kann mich da nicht hineinziehen lassen.

»Bitte, Simone«, sagt Grace. »Kommen Sie mit, und dann mache ich, was Sie von mir verlangen. Ich gehe zur Polizei, lasse einen DNA-Test machen, alles. Bitte tun Sie nur das für mich. Ich kann nicht zulassen, dass Mum … Ginny es sieht. Oder davon hört.«

Dann tue ich, was ich hätte tun sollen, sobald sie sich an mich gewandt hat. Ohne ein Wort stehe ich auf und gehe zur Tür. Ich sehe auch nicht durch das Fenster zurück und gehe schnurstracks in Richtung Oxford Street.

Erst als ich am Ende der Straße bin, merke ich, dass ich immer noch das blaue Häschen halte. Ich mache kehrt und steuere wieder auf das Café zu; ich will dieses Spielzeug nicht samt den Fragen, die es mit sich bringt. Ich muss es Grace zurückgeben. Meine Tochter ist fort; ich habe sie vor achtzehn Jahren verloren und habe die ganzen Jahre über versucht, mit der Sache zurechtzukommen. Ich möchte nichts mit alldem zu tun haben.

Ich sehe, wie Grace das Café verlässt und mit gesenktem Kopf in die andere Richtung geht. Meine Beine lenken mich, ohne dass ich es will, hinter ihr her. Ich halte Abstand, denn ich will sie nicht merken lassen, dass ich ihr folge. Ich muss wissen, wo sie hingeht, was sie im Schilde führt.

Ich schiebe das Häschen in meine Tasche, hole mein Handy heraus und rufe bei der Arbeit an. Abbot antwortet, und ich bin erleichtert, seine Stimme zu hören.

»Eine Notsituation«, sage ich zu ihm. »Eine Familienangelegenheit.« Das ist ja nicht ganz falsch. »Kannst du ein paar Stunden für mich einspringen? Ich komme, so schnell ich kann.«

Wie erwartet, ist er ganz besorgt: Er fragt, ob es mir gutgeht, ob er irgendwas tun kann, geht jedoch nicht so weit, dass er mich bedrängt, zu erzählen, was genau passiert ist. Abbot ist mehr als ein Arbeitskollege; während der Jahre, die wir schon Kollegen sind, ist er zu einem guten Freund geworden.

Ohne Grace aus den Augen zu lassen, danke ich ihm und beende den Anruf. Als ich das Handy in die Tasche stecke, streichen meine Finger über weichen Plüsch, und die Erinnerung an Helena und an das letzte Mal, als ich ihr Spielzeug sah, überfällt mich voller Schmerz.

Ich folge Grace, die zur Oxford Street in Richtung Tottenham Court Road geht. Kurz frage ich mich, ob sie zu meinem Arbeitsplatz gehen will, aber sie überquert die Straße und geht hinunter zur U-Bahn-Station. Ich beeile mich, um sie nicht aus den Augen zu verlieren, und halte mein Abonnement bereit für die Sperre.

Sie geht zur Northern Line, und als sie die U-Bahn nach Norden besteigt, glaube ich zu wissen, wo sie hinwill. Sie hat gesagt, dass Lucas’ Wohnung am Embankment liegt, nur drei Stationen von hier.

Kurz ehe der Warnton kommt, schaffe ich es, einzusteigen, und beobachte sie durch die Scheibe der Trenntür. Ich versuche ihren Ausdruck zu ergründen. Ist sie enttäuscht, dass ich nicht auf sie eingegangen bin, vielleicht verärgert? Aber ich sehe nur Resignation auf ihrem Gesicht.

Mein Verdacht, wo sie hinwill, bestätigt sich, als sie aufsteht, ehe wir beim Embankment ankommen, und zur Tür geht. Was mache ich eigentlich? Ich habe sie doch sitzen lassen, wollte einfach nicht glauben, was sie da erzählt hatt und nun folge ich ihr. Es ist noch nicht zu spät, damit aufzuhören. Ich kann bei der nächsten Station aussteigen, zum anderen Bahnsteig gehen und die Bahn zurück zur Oxford Street nehmen. Und später setze ich mich mit Matt zum Abendessen und erzähle ihm, was für ein seltsamer Tag hinter mir liegt. Was würde er von dem halten, was ich hier mache?

Aber als die Bahn quietschend abbremst, gehe ich zur Tür, als ob meine Füße das Kommando übernommen haben. Ich trete auf den Bahnsteig und behalte Grace fest im Blick, die mit der Menge verschmilzt, und schwöre, Matt anzurufen, sobald ich gesehen habe, was Grace als Nächstes tut.

Es ist schwer, mit ihr Schritt zu halten, nachdem wir die Station verlassen haben. In ihren Converse Sneakers kann sie rasch ausschreiten, während ich in meinen halbhohen Pumps langsamer vorankomme. Aber ich darf sie nicht aus den Augen verlieren.

Ich muss Gewissheit bekommen, so oder so.

Während ich ihr folge, kann ich nachdenken. An dem, was sie erzählt hat, muss etwas wahr sein, warum würde sie sonst hierherkommen? Aber eigentlich weiß ich nichts über dieses Mädchen, genauso gut könnte sie selbst hier wohnen. Ich hätte ihr mehr Fragen stellen sollen: über ihre Mutter, über sie selbst. Und was ist mit ihrem Vater? Den hat sie gar nicht erwähnt. Ich stecke schon zu tief in der Sache, um nun kehrtzumachen. Das ist jetzt meine eigene Geschichte, die ich recherchiere.

Zwanzig Minuten geht Grace so weiter. Die Menge löst sich auf, je weiter wir uns von der U-Bahn-Station entfernen. Am Himmel haben sich graue Wolken zusammengeballt, es ist also nur eine Frage der Zeit, bis es regnen wird. Doch das ist meine geringste Sorge.

Schließlich biegt sie in eine ruhige Straße ab und geht auf einen nüchternen Wohnblock zu. Er ist keineswegs heruntergekommen, die charakterlose graue Betonfassade ist mir trotzdem nicht ganz geheuer. Ich bleibe stehen; ich habe keine Ahnung, was ich machen soll.

Als sie in dem Gebäude verschwindet, merke ich, dass mir die Entscheidung aus der Hand genommen ist. Es gibt bestimmt ein gesichertes Zugangssystem, ich kann ihr also nicht hinein folgen. Zudem habe ich ja keine Ahnung, in welche Wohnung sie geht, und es gibt drei Stockwerke.

Trotzdem nähere ich mich weiter, bis ich vor dem Haupteingang stehe, durch den Grace soeben verschwunden ist. Und dann drücke ich an die Tür und stelle überrascht fest, dass sie unverschlossen ist.

Die Eingangshalle ist einfach, ohne Fahrstühle, nur ein Treppenhaus geht davon ab. Von hier aus kann ich das Erdgeschoss ganz überblicken. Grace ist nicht zu sehen, und sie hätte nicht die Zeit gehabt, eine Tür aufzuschließen oder zu warten, dass sie jemand hereinlässt, daher gehe ich auf die Treppe zu. Mit jedem Schritt werden mir die Beine schwerer.

Als ich in die zweite Etage komme, sehe ich sie. Grace verschwindet in der Wohnung am Ende des Ganges. Sie wirkt nicht mehr nervös und sieht sich auch nicht um, ob jemand in der Nähe ist.

Es ist noch nicht zu spät. Ich kann immer noch gehen. Wie ein Mantra wiederhole ich das vor mich hin, doch es nützt nichts; innerhalb von Sekunden bin ich vor der Wohnungstür, die nicht ins Schloss gefallen ist. Ich drücke sie auf. Grace fährt herum, und ihr fällt die Kinnlade herunter, als sie mich sieht.

»Fuck! Was machen Sie denn hier? Sie haben mich zu Tode erschreckt!« Sie drückt sich die flache Hand auf die Brust, als ob sie versucht, ihren Herzschlag zu beruhigen.

Ich trete ein und verfluche meine Dummheit. Ich habe keine Ahnung, was hier vor sich geht und auf was ich mich da einlasse.

Die Wohnung – wer weiß, wem sie gehört – ist makellos sauber. Ich denke an ihre Geschichte und kann mir kaum vorstellen, dass hier stattgefunden hat, was Grace mir erzählt hat.

Als ich nichts sage, spricht Grace weiter. »Aber ich bin froh, dass Sie hier sind. Wie haben Sie –? Ach, egal.« Sie tritt auf eine geschlossene Tür zu, bleibt jedoch abrupt stehen. »Ich traue mich nicht hineinzusehen, Simone. Er liegt da drin … tot.« Sie weint jetzt wieder, und aus irgendeinem Grund überzeugen mich ihre Tränen.

Ich gehe auf die Tür zu und mache mich auf das Schlimmste gefasst. Mit zugekniffenen Augen drücke ich die Tür auf, ohne einen Schritt hineinzutun. Als ich die Augen dann jedoch öffne, starre ich auf ein frisch gemachtes Bett. Und sonst nichts.

Ich trete ein und sehe mich um: weiße Wände, ein brauner Einbauschrank, ein makelloser beigefarbener Teppich. Aber keiner ist im Zimmer, lebendig oder tot. Und auf keinem der Nachttische steht eine Lampe.

Ich drehe mich um. Grace ist direkt hinter mir und drängt sich an mir vorbei ins Zimmer.

»Was zum –? Das verstehe ich nicht.« Sie stürzt an die andere Seite des Bettes und bückt sich, um darunter zu sehen. »Aber … er … ich …« Sie verstummt. Sie steht auf und starrt mich mit aufgerissenen Augen und erregtem Blick an.

Schließlich finde ich meine Sprache wieder. »Ich habe keine Ahnung, was zum Teufel hier vor sich geht, aber ich gehe jetzt auf der Stelle, und ich will dich nicht mehr sehen oder hören. Nie mehr. Was für ein Spielchen du auch spielst, jetzt ist Schluss.«

Sie hört mir jedoch nicht zu. Sie sitzt auf dem Bett und streicht über die frische weiße Steppdecke. »Ich verstehe das nicht«, murmelt sie. »Er war tot. Ich weiß es. Ich habe ihn umgebracht.« Sie zittert am ganzen Leib.