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Ein Mord. Ein Geheimnis. Eine Ehefrau, die niemandem mehr trauen kann.
Als eine junge Frau tot in einem Hotelzimmer gefunden wird, erschüttert die Nachricht die ganze Stadt. Doch für Hanna wird sie zum persönlichen Albtraum – denn in der Tasche ihres Mannes Max entdeckt sie die Schlüsselkarte zu genau diesem Zimmer.
Seit Wochen wirkt Max fahrig, kommt spät nach Hause. Hanna fürchtet, dass er sie betrügt – aber könnte er auch in einen Mord verwickelt sein?
Sie will an seine Unschuld glauben. Doch je tiefer sie gräbt, desto mehr Zweifel keimen in ihr. Was, wenn sie den Mann, mit dem sie ihr Leben teilt, nicht wirklich kennt?
Und wenn die Wahrheit ans Licht kommt – wie weit wird sie gehen, um ihre Familie zu schützen?
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Seitenzahl: 498
Veröffentlichungsjahr: 2025
Ein Mord. Ein Geheimnis. Eine Ehefrau, die niemandem mehr trauen kann.
Als eine junge Frau tot in einem Hotelzimmer gefunden wird, erschüttert die Nachricht die ganze Stadt. Doch für Hanna wird sie zum persönlichen Albtraum – denn in der Tasche ihres Mannes Max entdeckt sie die Schlüsselkarte zu genau diesem Zimmer.
Seit Wochen wirkt Max fahrig, kommt spät nach Hause. Hanna fürchtet, dass er sie betrügt – aber könnte er auch in einen Mord verwickelt sein?
Sie will an seine Unschuld glauben. Doch je tiefer sie gräbt, desto mehr Zweifel keimen in ihr. Was, wenn sie den Mann, mit dem sie ihr Leben teilt, nicht wirklich kennt?
Und wenn die Wahrheit ans Licht kommt – wie weit wird sie gehen, um ihre Familie zu schützen?
Kathryn Croft glaubt seit ihrer Kindheit an die Macht von Geschichten und hat einen Abschluss in Medienwissenschaften und Englischer Literatur. Bevor sie mit dem Schreiben begann, arbeitete sie im Personalwesen und als Lehrerin. Sie lebt mit ihrer Familie und zwei Katzen in Guildford, Surrey. Mehr Informationen zur Autorin unter www.kathryncroft.com
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Kathryn Croft
The Girl in Room 12
Aus dem Englischen von Christina Kagerer
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EINUNDZWANZIG
ZWEIUNDZWANZIG
DREIUNDZWANZIG
VIERUNDZWANZIG
FÜNFUNDZWANZIG
SECHSUNDZWANZIG
SIEBENUNDZWANZIG
ACHTUNDZWANZIG
NEUNUNDZWANZIG
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EINUNDDREISSIG
ZWEIUNDDREISSIG
DREIUNDDREISSIG
VIERUNDDREISSIG
FÜNFUNDDREISSIG
EIN BRIEF VON KATHRYN
ANMERKUNGEN
Impressum
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Für Lucy
Auszug aus der Wandsworth Times online:
Nachdem in einem Hotelzimmer in Putney, südwestlich von London die Leiche einer Frau gefunden wurde, ermittelt die Polizei nun in einem Mordfall.
Die Leiche wurde in einem Zimmer des River Walk Hotels gefunden, unklar ist allerdings noch, wie lange die Frau dort gelegen hat, bevor sie von dem Hotelpersonal gefunden wurde.
Die Managerin des Hotels, Claire Sands, sagte aus, sie sei zutiefst betroffen von den Ereignissen und kooperiere mit der Polizei, um die Umstände aufzuklären.
Die Polizei sucht nach Zeugen. Falls Sie Informationen zu diesem Vorfall haben, wenden Sie sich bitte unter 02088709011 an die Metropolitan Police oder schreiben Sie an @MPSWestPutney.
»Wo ist Daddy?«, fragt Poppy zum hundertsten Mal an diesem Abend.
Ich bin gerade dabei, das Risotto umzurühren, doch halte jetzt inne und beuge mich zu ihr herunter, sodass wir auf gleicher Augenhöhe sind. Sie ist jetzt fünf Jahre alt und für ihr Alter ziemlich groß, aber in diesem Moment sieht sie so winzig aus wie eine ihrer Puppen. Sie trägt ihren regenbogenfarbenen Lieblingspulli über ihrem blauen Schul-Sweatshirt, obwohl die Heizung an ist. Ich habe nichts dazu gesagt – ich habe schon vor langer Zeit gelernt, die Kleiderwahl meiner Tochter zu ignorieren.
»Er wird bald hier sein«, versichere ich Poppy und streiche eine Strähne ihres schokoladenbraunen Haars beiseite, die ihr über die dunklen Augen gefallen ist.
Sobald die Worte meinen Mund verlassen haben, verfluche ich mich selbst dafür, meiner Tochter dieses Versprechen gegeben zu haben. Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, wann Max zu Hause sein wird. Bis vor ein paar Monaten hat er immer geschrieben, um uns wissen zu lassen, wann er ungefähr heimkommen wird, aber irgendwie ist diese Routine abhandengekommen, und keiner von uns hat nach dem Warum gefragt. Aber ich bin mir nur allzu bewusst, dass sich eine neue Normalität in unser Zusammenleben geschlichen hat.
Ich lasse das Risotto in der Pfanne vor sich hin köcheln und gehe ins Wohnzimmer – Poppy mir dicht auf den Fersen –, um erneut einen Blick nach draußen zu werfen. Wir wohnen in einer der ruhigeren Straßen in Putney, und an einem Winterabend wie heute könnte es genauso gut schon Mitternacht sein und nicht erst achtzehn Uhr.
Niemand ist draußen, und auch Max’ BMW ist nirgends zu sehen. Mein roter Toyota Yaris steht alleine in der Einfahrt.
Poppy zieht an meinem Kleid. »Daddy ist immer arbeiten«, beschwert sie sich. »Oder wütend.« Seufzend schaut sie aus dem Fenster.
Eine Sekunde lang registriere ich nicht, was sie da sagt. Die Worte klingen so fremd. Es passt einfach nicht, dass sie sich auf Max beziehen. Den Mann, der immer ein liebender und freundlicher Ehemann und Vater war. Die Sorte Vater, der sich zu seiner Tochter auf den Boden setzt und jedes Spiel mit ihr spielt, das sie will.
Bis das alles plötzlich aufgehört hat.
»Erinnerst du dich daran, wie wir darüber geredet haben, dass Daddy im Moment sehr viel Stress auf der Arbeit hat?«, sage ich. »Wenn Erwachsene in ihren Jobs viele schwierige Dinge erledigen müssen, dann sind sie manchmal zu Hause ein bisschen … grummelig.«
Poppy runzelt die Stirn, während ihr fünf Jahre altes Gehirn versucht, denn Sinn meiner Erklärung zu verstehen. »Aber du nicht. Und du arbeitest auch.«
Ich lächle. Wie kann ich meiner Tochter erklären, dass es für mich anders ist? Einen eigenen Buchladen zu besitzen, bringt auch Probleme mit sich, aber dieser Job ist meine Leidenschaft und fühlt sich kaum wie Arbeit an. Ich genieße die Herausforderungen, die damit einhergehen, selbstständig und Ladenbesitzerin zu sein. Whispering Pages war ursprünglich der Buchladen meiner Mutter, doch vor sechs Jahren habe ich ihn von ihr übernommen. Was eine der besten Entscheidungen meines Lebens war. Er gibt mir eine Identität neben meinem Dasein als Mutter und Ehefrau, und so sehr ich Max und Poppy auch liebe, gehe ich geradezu darin auf, den Buchladen zu führen. Ich liebe es, jedem, der in den Laden kommt, eine Art Zuflucht zu bieten. Wie eine Reise in die Vergangenheit. Innerhalb dieser Wände scheint die Zeit stillzustehen, und ich glaube, das gefällt den Leuten, die nur für ein paar Minuten ihrem hektischen Leben entfliehen wollen.
»Wir haben unterschiedliche Jobs«, sage ich zu Poppy.
»Ich weiß.« Sie verdreht die Augen. »Daddy macht etwas mit Zahlen. Und die sind super schwer.«
Max ist Finanzanalyst bei einer globalen Technologiefirma, und er würde vierundzwanzig Stunden am Tag arbeiten, wenn er nicht schlafen müsste.
Ist sein Stresslevel deswegen in letzter Zeit so hoch? Mein Gefühl sagt mir, dass mehr dahinter steckt – er hatte schon immer anstrengende Jobs, seit ich ihn kennengelernt habe. Was hat sich also geändert?
Ich umarme Poppy, und wir drehen uns wieder zum Fenster um. »Komm«, sage ich. »Sehen wir nach dem Risotto, bevor es in der Pfanne anbrennt.«
Als ich das Essen auf den Tisch stelle, habe ich noch immer nichts von Max gehört. Erneut überprüfe ich mein Handy, aber er hat mir keine Nachricht geschrieben, dass er später kommt. Also lasse ich seinen Teller leer und setze mich zu Poppy an den Tisch, verliere mich in ihren Erzählungen über die Vorschule und versuche, das nagende Gefühl, dass etwas nicht stimmt, zu ignorieren.
Als wir zu Ende gegessen haben, sage ich Poppy, dass sie jetzt ihr Bad nehmen muss.
»Aber ich will noch auf Daddy warten!«
»Ich weiß. Und er wird bald hier sein. Wäre es nicht schön, wenn du schon bettfertig wärst, wenn er nach Hause kommt? Dann kann er dir eine Geschichte vorlesen.« Wieder mache ich ein Versprechen, von dem ich nicht weiß, ob ich es halten kann.
»Okay«, sagt sie widerwillig, steht langsam auf und geht nach oben.
Poppy ist fertig im Bad und schon im Schlafanzug, als sich unten ein Schlüssel im Türschloss dreht. Sie schaut mich an und wartet darauf, dass ich nicke, bevor sie nach unten rennt, um Max zu begrüßen. Vor ein paar Wochen hätte sie dafür noch nicht auf meine Zustimmung gewartet.
Ich halte den Atem an und gehe runter. Ich will es mir selbst nicht eingestehen, aber es ist, als wartete ich darauf, dass ein Fremder nach Hause kommt.
Welche Version von Max werde ich heute antreffen?
Max hält Poppy in den Armen. »Ich weiß, ich habe versprochen, zum Abendessen zu Hause zu sein«, sagt er und lässt sie los. »Tut mir leid.«
Seine Stimme klingt sanft. Weich. Sie gehört zu dem Max, den ich geheiratet habe.
Ich lächle und betrachte ihn vorsichtig, sehe keine Sorgenfalten in seinem gebräunten Gesicht. Und in seinem blauen Anzug sieht er richtig gut aus. Es ist der Anzug, den ich ihm zum Geburtstag geschenkt habe. Ich bin das Risiko eingegangen, ihn selbst auszusuchen, obwohl er genauso wählerisch wie seine Tochter ist, was Klamotten angeht.
Ich gebe ihm einen Kuss. »Ich kann dir das Abendessen aufwärmen.«
»Das mache ich schon selbst«, sagt er und zieht sein Jackett aus.
Poppy folgt ihm wie ein Schatten. Vielleicht kann sie auch spüren, dass er heute Abend wieder der Alte sein könnte.
»Kann ich noch unten bleiben, während du isst?«, fragt sie. »Bitte? Nur dieses eine Mal.«
»Es ist schon später als sonst«, sage ich warnend. »Und du hast morgen Schule.«
Vielleicht habe ich Angst, dass Max genervt sein könnte. Zurzeit braucht es nicht viel, ihn zu verärgern.
Poppy schaut Max an. »Bitte«, fleht sie, diesmal mit leiserer Stimme.
Er wuschelt ihr durch die Haare. »Okay, nur dieses eine Mal.«
Sie quietscht und schlingt ihre Arme um ihn. »Ich hatte heute Eis«, erzählt Poppy ihm, als wir in die Küche gehen.
Max grinst. »Wirklich? Ich hoffe, du hast mir etwas aufgehoben.«
»Du kannst ein bisschen was davon haben.« Poppy lacht. »Aber erst, wenn du dein Abendessen aufgegessen hast.«
Max lacht, hebt sie hoch und wirbelt sie herum.
Alles ist normal.
»Wie war dein Tag?«, frage ich und stelle Max seinen Teller hin.
Er nimmt etwas Reis mit der Gabel, bevor er antwortet: »Ganz gut.«
Ich werfe einen Blick auf Poppy, die auf dem Fußboden mit ihrem Polly Pocket-Spielzeug spielt, aber nicht zuhört. Sie scheint die Stumpfheit seiner Antwort nicht zu bemerken. Oder dass wir ihn normalerweise gar nicht davon abhalten können, über seine Arbeit zu reden.
Max blickt auf. »Wie war deiner?«
Ich nicke und unterbreche das unangenehme Schweigen. »Katy ist schon wieder zu spät gekommen. Zum Glück hat Cole sich bereiterklärt, an der Kaffeebar einzuspringen, bis sie gekommen ist.«
Ich sage nichts darüber, dass es mich sehr viel Überzeugungsarbeit und das Versprechen, dass er dafür früher nach Hause gehen darf, gekostet hat. Natürlich hat er dieses Angebot nicht angenommen. Das tut er nie. Manchmal glaube ich, dass sich Coles ganzes Leben um den Buchladen dreht.
Max zieht seine buschigen, dunklen Augenbrauen nach oben. »Wie oft ist sie dieses Jahr schon zu spät gekommen? Fünfzehnmal? Zwanzigmal? Du solltest ernsthaft über deine Personalentscheidungen nachdenken, Hannah.«
Normalerweise würde ich mich verteidigen und darauf hinweisen, dass es mein Laden ist und ich ihn so führe, wie es mir richtig erscheint. Aber heute Abend halte ich den Mund. Und ich gebe auch nicht zu, dass ich den Überblick darüber verloren habe, wie oft Katy schon zu spät gekommen ist – voller Entschuldigungen und Versprechen, dass es nicht wieder passieren wird. Bis es dann das nächste Mal passiert. Sie ist erst vierundzwanzig und noch auf der Suche nach sich selbst, erzählt sie jedem. Kann ich es ihr verübeln, dass sie sich dem Buchladen nicht verpflichtet fühlt?
»Ich habe noch Hunger. Kann ich Obst haben?«, fragt Poppy. »Einen Apfel ohne Kerne und Haut.«
Ich nicke und stehe auf, um ihr einen Apfel zu holen. Obwohl ich ihn nicht anschaue, kann ich Max’ Blick auf mir spüren und weiß, dass er sich innerlich fragt, warum ich nichts auf seine Bemerkung erwidert habe. Warum ich nicht angebissen habe. Werde ich ihm genauso fremd wie er mir?
»Sag es einfach!«, faucht er plötzlich und starrt mich an.
»Was?«
»Ich weiß, dass du mich anmotzen willst, weil ich zu spät heimgekommen bin. Bringen wir es hinter uns. Normalerweise hält dich doch auch nichts auf.«
Ich werfe Poppy einen Blick zu, die Max mit großen, runden Augen anstarrt.
»Warum schreist du, Daddy?«, fragt sie und weicht zur Wand zurück.
Er eilt zu ihr und tätschelt ihr den Arm. »Tut mir leid, Süße. Ich habe nicht geschrien. Es ist nur … Daddy hatte einen langen Tag.« Er dreht sich wieder zu mir um. »Es tut mir leid.«
Poppy springt auf, läuft zu mir und schlingt mir ihre Arme um den Hals.
Ich halte sie fest und gebe ihr einen Kuss auf den Kopf. »Alles okay. Komm, lass uns jetzt den Apfel schälen.«
Sie schüttelt den Kopf. »Ich will ihn nicht mehr.«
Ich lege den Apfel zurück in die Obstschüssel.
»Ich kann Poppy ins Bett bringen«, sagt Max und steht vom Tisch auf. »Du hast auch den ganzen Tag gearbeitet. Und du hast das hier gemacht.« Er deutet auf das Risotto auf seinem Teller, das er kaum angerührt hat. »Es hat toll geschmeckt.«
Ich runzle die Stirn – ich weiß nicht, was ich von diesem plötzlichen Stimmungswechsel halten soll. Und als ich ihnen nachschaue, wie sie die Treppe nach oben verschwinden – Poppys Hand in der von Max –, schwirren mir tausend Fragen im Kopf herum.
Was zur Hölle ist mit ihm los?
Als Max Poppy eine Geschichte vorgelesen und sie ins Bett gebracht hat, gehe ich nach oben, um gute Nacht zu sagen. Als ich wieder runterkomme, sitzt Max auf dem Sofa in der Küche und starrt durch die Fliegengittertür. Er hält sein Handy in der Hand, schaut es aber nicht an.
»Poppy ist am Einschlafen«, sage ich.
Max dreht seinen Kopf. Er ist meilenweit von mir entfernt, und ich weiß nicht, wie ich ihn erreichen soll. Leise schenke ich uns zwei Gläser Rotwein ein, trage sie zum Sofa und setze mich neben ihn. Instinktiv will ich nach ihm greifen, aber etwas hält mich davon ab.
Er nimmt das Glas und stellt es auf den Couchtisch. »Danke.«
»Willst du darüber reden?«, biete ich ihm an.
Ich habe genug davon, im Dunkeln zu tappen. Irgendetwas geht in ihm vor, und ich muss wissen, was es ist. In guten wie in schlechten Zeiten. Haben wir uns das nicht vor sechs Jahren versprochen?
Er zuckt mit den Schultern und starrt weiterhin in die Dunkelheit. Auf der unteren Hälfte der Türen sind Flecken – Poppys Handabdrücke –, aber ich bezweifle, dass er sie überhaupt bemerkt.
»Ich habe nur schreckliche Kopfschmerzen, das ist alles«, sagt Max. »Die Arbeit war … erbarmungslos. Ich muss immer noch Peters Aufgaben übernehmen. Ich kriege es nicht in meinen Kopf, dass sie ihn immer noch nicht ersetzt haben. Es ist jetzt schon Monate her. Das ist einfach alles …« Er seufzt. »Kaum auszuhalten.«
»Ich weiß.« Ich greife nach seiner Hand. »Kann ich irgendwas tun?«
Er lacht. »Nur, wenn du dich plötzlich über Nacht in eine Finanzexpertin verwandelt hast.« Er streichelt meine Wange. »Das war nur ein Witz.«
»Ich leite ein erfolgreiches Geschäft, Max. Sei nicht so herablassend.«
Ich habe vielleicht nicht viel Ahnung von den ganzen Prognosen und Analysen, die er jeden Tag machen muss, aber er weiß auch nicht alles darüber, wie man ein Unternehmen leitet, vor allem in diesen unsicheren Zeiten.
»Ich habe nicht gemeint …«
»Ich kann zuhören«, sage ich. »Wenn du über etwas reden willst. Manchmal geht es nicht darum, dass das Problem gelöst wird, sondern nur darum, es rauszulassen.«
Er wendet sich ab. »Wer ist jetzt herablassend?«
Meine beste Freundin Sarah sagt immer, dass Männer nicht reden wollen. Und zu versuchen, sie dazu zu bringen, ist, als versuche man Apfelsaft aus einer Grapefruit zu pressen. Aber Max ist nicht so. Deshalb habe ich mich in ihn verliebt. Selbst am Anfang unserer Beziehung hat er nie etwas vorgespielt – man wusste immer ganz genau, womit man es zu tun hatte.
Als ich einen Job in der Personalabteilung der Firma hatte, in der er heute noch arbeitet, haben wir uns zum Mittagessen getroffen, auf der Dachterrasse gesessen und die Aussicht über Southbank genossen. Für manche Menschen ist London trostlos, grau und dreckig, aber ich sehe immer nur die Schönheit der Stadt. Das Leben. Die Geschichte. Wie unterschiedlich ihre Einwohner sind.
In der Anfangszeit, als wir uns der Landschaft Londons hingegeben haben, hat Max so viel geredet. Er hat darüber sinniert, dass wir alle nur winzige Flecken sind, dass sich jeder von uns nur um die eigenen Sachen kümmert. Manchmal hat es sich für mich so angefühlt, als würde ich mit einer Freundin reden.
Ich habe ihn auch als nichts anderes als einen Freund gesehen, bis zu einem Mittagessen, als ich das dringende Bedürfnis hatte, ihn zu küssen. Wir haben über irgendetwas gelacht, und unsere Köpfe waren ganz dicht beieinander. Bis heute ist sich keiner von uns sicher, wer den ersten Schritt gemacht hat. Er behauptet, dass ich es war. Ich bin da anderer Ansicht. Vielleicht waren wir es beide gleichzeitig.
Aber wen interessiert das schon? Von diesem Moment an haben wir nie mehr zurückgeblickt.
Und selbst, als er sich mir zu dem Vorfall in seiner Vergangenheit geöffnet hat, habe ich nie auch nur einen Funken dieser unbekannten Person gesehen.
Ist es das, was ich jetzt sehe?
Wir hatten unsere Probleme, zum Beispiel, als Poppy auf die Welt gekommen ist und ich nicht auf ein Leben mit einem Neugeborenen vorbereitet war. Max hat alles auf sich genommen und uns durch diese neue Welt des Elternseins navigiert, während er es gleichzeitig geschafft hat, sich weiterhin auf seine Arbeit zu konzentrieren. Er ist geduldig an meiner Seite gestanden, während ich zu fertig war, ihm auch nur eine Sekunde meiner Zeit zu schenken. Ich weiß, es muss hart für ihn gewesen sein, aber er hat jedes Quäntchen Energie in seine Vaterrolle für Poppy gesteckt. Letztendlich haben wir unseren Rhythmus gefunden. Seitdem ist meistens alles glattgelaufen.
Bis jetzt.
Max schüttelt den Kopf. »Mir geht’s gut. Ich muss nicht reden. Ich muss nur weniger arbeiten.«
»Sie werden Peter doch ersetzen, oder?«, hake ich nach. »Dann wird alles besser.«
Er nickt. »Irgendwann. Aber es braucht seine Zeit, neue Leute einzustellen. Es ist nicht wie bei dir, wenn du beschließt, jemandem in deinem Laden einen Job zu geben. Wie Katy.«
Ohne ein weiteres Wort stehe ich auf und verlasse mit meinem Glas Wein in der Hand den Raum. Über die letzten Monate hinweg habe ich gelernt, Abstand zu halten, wenn Max beschließt, einen Streit vom Zaun brechen zu wollen.
Ich gehe hoch, sehe nach Poppy, verschwinde dann ins Schlafzimmer und setze mich aufs Bett. Während ich an meinem Wein nippe, checke ich Facebook.
Ich tippe auf die Nachbarschaftsseite von Putney und scrolle ziellos runter, bis etwas meine Aufmerksamkeit auf sich zieht. Eine Diskussion über eine Frauenleiche, die im River Walk Hotel gefunden wurde. Sofort klicke ich auf den Link, der mich zu den lokalen Nachrichten führt.
Das Hotel befindet sich in Laufweite zu unserem Haus. Ich habe ihm noch nie viel Aufmerksamkeit geschenkt, obwohl ich schon tausendmal auf dem Weg zur U-Bahn-Station daran vorbeigegangen sein muss. Ich betrachte die Frau auf dem Foto. Sie wirkt jung und lebhaft, und auf dem Foto lächelt sie. Ihre stechend blauen Augen strahlen die Person an, die das Foto geschossen hat. Ihr langes, dunkelblondes Haar ist zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden, und sie hat eine Fliegersonnenbrille auf dem Kopf.
Irgendwie kommt sie mir bekannt vor. Ich starre auf das Foto und versuche mein Gehirn zu einem Geistesblitz zu bewegen. Aber … nichts. Vielleicht habe ich sie schon in der Facebook-Nachbarschaftsgruppe gesehen? Oder sie hat mal ein Buch in meinem Laden gekauft?
Ich lese weiter. Die Polizei bittet um Informationen, und der Artikel nennt Telefonnummern und so weiter, falls man Kontakt zur Polizei aufnehmen will.
Seltsam, dass ich so ein ungutes Gefühl habe, obwohl ich nichts darüber weiß. Ich weiß nur, dass mir diese junge Frau irgendwie bekannt vorkommt.
Ihr Name war Alice. Ein klassischer, hübscher Name. Ein Name, der in ein Märchen gehört und nicht in einen Zeitungsartikel über einen Mordfall. In diesem Moment werden irgendwo Eltern um ihre Tochter trauern. Es zerreißt einem schon das Herz, dass sie tot ist, aber so in einem Hotelzimmer zurückgelassen zu werden, ist noch viel schlimmer. Alleine an einem seelenlosen Ort zu sterben. Einem Ort, der niemandem gehört und keine Bedeutung hat. Die letzte Person, mit der sie gesprochen und Zeit verbracht hat, war ihr Mörder.
Ich lege mein Handy weg und gehe schnell in Poppys Zimmer, knie mich auf den Boden neben ihr Bett und beobachte, wie sich die Bettdecke langsam hebt und senkt. Der beste Hinweis darauf, dass sie am Leben ist.
Ich bin immer noch hier, als Max nach oben kommt. Er schaut in Poppys dunkles Zimmer, schweigt aber einen Moment lang. Als ob er mich nicht sehen könnte. Oder mich nicht sehen wollte.
»Was tust du da?«, fragt er.
Diese Frage ist berechtigt. Es ist schon Jahre her, dass einer von uns an Poppys Bett gesessen hat, um ihr beim Einschlafen zu helfen. Wie kann ich erklären, warum der Tod einer Fremden mir so nahegeht?
»Ich komme«, sage ich, stehe auf und reibe mir über die feuchten Augen.
Jetzt komme ich mir dumm vor. Ich kenne Alice Hughes nicht. Ich weiß nicht, warum sie mir so bekannt vorkommt, obwohl ich sie noch nie getroffen habe. Jeder in meinem Leben ist in Sicherheit, jedem geht es gut.
Max, der sich mittlerweile eine Jeans und ein khakifarbenes T-Shirt angezogen hat, beobachtet mich. »Ich muss noch ein bisschen arbeiten«, sagt er. »Es wird eine lange Nacht werden. Warte nicht auf mich.«
Das bedeutet, dass er im Büro im Garten sein wird. Obwohl wir vier Schlafzimmer haben, haben wir es vor Jahren bauen lassen, damit Max arbeiten konnte. Im Haus war das mit Poppy, die als Baby schlecht geschlafen hat, kaum möglich. Aber seit sie älter ist, nutzt er das Gartenbüro eigentlich kaum noch und bleibt dafür lieber länger auf der Arbeit. Jetzt ist es der erste Ort, an dem ich suche, wenn ich weiß, dass er zu Hause ist, ich ihn aber nicht finden kann.
»Okay.« Ich schaue ihm nach, wie er nach unten geht.
Mein Handy klingelt – ein WhatsApp-Anruf von Sarah. Obwohl ich versucht bin, es klingeln zu lassen und ihr zu schreiben, dass ich sie morgen zurückrufe, könnte ich ihren Anruf nie ignorieren. Sie ist meine beste Freundin, seit wir uns bei dem Schwangerschaftsvorbereitungskurs kennengelernt haben. Wir haben uns sofort gut verstanden, und obwohl auch die anderen Frauen in dem Kurs nett waren, habe ich sofort gewusst, dass ich in Sarah eine Freundin fürs Leben gefunden hatte.
»Hey. Geht’s dir gut?« Ich zwinge mich dazu, einen fröhlichen Ton anzusetzen.
»Was ist los?«, fragt sie. »Du hörst dich irgendwie … komisch an.«
Ich hätte nie gedacht, dass ich so einfach zu durchschauen bin, würde gerne glauben, dass es einen Teil von mir gibt, den niemand so richtig ergründen kann, aber irgendwie kennt Sarah mich in- und auswendig.
»Mir geht’s gut«, sage ich. »Es ist nur … hast du von der Frau im River Walk Hotel gehört?«
»Ja. Schrecklich. Deshalb rufe ich auch tatsächlich an. Das lässt einen die Menschen in seinem Leben noch mehr schätzen, findest du nicht? Wenn so was passiert. Sie war in unserem Alter, glaube ich.«
»Ein paar Jahre jünger. Ich habe gelesen, dass sie dreißig war.« Ich gehe ins Schlafzimmer und ziehe die Tür hinter mir zu, damit ich Poppy nicht aufwecke. Dann lasse ich mich aufs Bett fallen.
»Was hat sie dort überhaupt gemacht?«, fragt Sarah, als erwarte sie, dass ich eine Antwort darauf habe. »Sie hat doch in Roehampton gewohnt. Das ist nur einen Fußmarsch entfernt. Warum sollte sie in einem Hotel übernachten, das in der Nähe ihrer Wohnung liegt? Was hat sie dort gemacht? Das ist doch alles ein bisschen seltsam.« Sie hält inne. »Das geht mir wirklich nahe. Ich weiß auch nicht, warum.«
»Weil es direkt vor unserer Haustür passiert ist. Es hätte jede von uns …«
»Sag so was nicht!«, warnt mich Sarah. »Ich glaube nicht, dass eine von uns in einem Hotelzimmer gewesen wäre, oder? Das hoffe ich zumindest. Und es ist auch nicht ganz billig. Außerdem bist du eine verheiratete Frau, und ich weiß, ich nicht, aber …« Sie schweift ab.
Es fällt ihr immer noch schwer, über Dean zu reden. Es ist jetzt fünf Jahre her, seit er sie verlassen hat und sie und Ivy, mit der sie gerade schwanger war, aus seinem Leben verbannt hat.
»Wie geht’s Ivy?«, frage ich.
»Gut so weit. Aber ich denke schon an Weihnachten. Wie Dean mit seiner Frau und seinen anderen Kindern zusammen sein wird, während Ivy kaum weiß, dass es ihn gibt.« Sie hält inne. Diese Jahreszeit ist für Sarah immer ganz besonders schwierig. »Ich würde mir nie wünschen, dass es Ivy nicht gäbe, aber ich verfluche den Tag, an dem ich diesen Mann kennengelernt habe. Verdammter Lügner. Er hat mich und seine unwissende Frau angelogen. Tut mir leid. Du willst das alles nicht hören.«
»Doch, will ich«, erinnere ich Sarah. »Dafür bin ich doch da, oder? Außerdem ist es erst November. Bis Weihnachten ist noch ein bisschen Zeit hin.«
Sie seufzt. »Ja, ich weiß. Was würde ich nur ohne dich tun? Wie geht’s euch denn so? Alles okay mit Poppy? Ist Max immer noch so gestresst?«
Normalerweise würde ich mich nicht zurückhalten und Sarah alles erzählen, was in meinem Leben vor sich geht, aber im Moment ist das unmöglich, weil ich es selbst einfach nicht verstehe. »Poppy geht’s gut. Max ist immer noch gestresst. Er hat viel zu tun auf der Arbeit. Ich habe dir doch erzählt, dass sein Kollege gegangen ist und Max seine Arbeit übernehmen musste, oder?«
»Ja. Das ist hart. Und ich weiß genau, wie sich das anfühlt.«
»Wie läuft’s im Krankenhaus?«
Sarah arbeitet als Krankenschwester in der Notaufnahme und wächst stets für ihre Patienten über sich hinaus. Ich habe ihr schon oft gesagt, sie solle sich selbst eine Pause gönnen und versuchen, endlich eine gesunde Work-Life-Balance zu etablieren, aber sie schafft es nie.
»Alles beim Alten. Personalmangel und überarbeitet.« Sie schnaubt. »Ich hatte vor ein paar Tagen eine Diskussion mit Mom. Sie hat gesagt, ich muss aufhören, so viele Extraschichten zu übernehmen, und dass Ivy mehr Zeit mit ihr als mit mir verbringt.«
»Das ist nicht wahr«, versichere ich ihr. »Außerdem tust du dein Bestes. Und ich freue mich jedes Mal, wenn ich Ivy nehmen kann, das weißt du.« Ich tippe auf mein Handy, und das Foto von Alice Hughes erscheint wieder auf dem Display.
»Das weiß ich«, sagt Sarah. »Danke. Mom versteht einfach nicht, dass ich jede Schicht brauche, die ich kriegen kann. Ein Kind aufzuziehen, kostet schließlich ein Vermögen. Es ist zwar schön, wenn du mir Ivy hin und wieder abnimmst und es hält mir Mom vom Hals, aber es löst nicht das Problem, dass ich mehr Zeit mit meiner Tochter verbringen müsste.« Sie seufzt. »Aber ich bin immer für sie da, oder?«
»Natürlich bist du das.« Ich gehe zum Fenster und blicke durch den Garten. Die Lichter im Büro sind an, und ich kann sehen, wie Max mit geöffnetem Laptop an seinem Schreibtisch sitzt. Er hat eine Hand ans Ohr gepresst, telefoniert vermutlich gerade.
»Ich muss einfach alle Schichten übernehmen, die ich kriegen kann«, sagt Sarah wieder. »Wir brauchen schließlich ein Dach über dem Kopf.«
»Hör mal, wenn du Hilfe …«
»Ich muss gehen«, erwidert sie ohne Vorwarnung. »Ivy ruft nach mir. Ich wusste, es war zu schön, um wahr zu sein, dass sie endlich vor acht Uhr eingeschlafen ist! Aber laut Mom schläft sie in der Sekunde ein, in der sie ihren Kopf auf das Kissen legt, wenn sie hier ist. Gute alte Grandma!«
»Geh«, dränge ich sie. »Ich ruf dich morgen noch mal an.«
Ich schaue wieder aus dem Fenster. Max ist immer noch am Handy, gestikuliert wild und schüttelt den Kopf.
Ich drehe mich um und lasse den Blick durch unser Schlafzimmer schweifen. Normalerweise ist es ein ruhiger und friedlicher Ort, aber jetzt liegen Max’ Klamotten über dem Bett verteilt. Der teure Anzug liegt zerknittert auf einem Haufen. Ich nehme ihn und versuche, die Falten zu glätten. Aber es hilft nichts, und außerdem muss er sowieso mal in die Reinigung. Es ist schon ein paar Wochen her, seit ich eine Gelegenheit hatte, ihn hinzubringen. Da die Reinigung direkt gegenüber von Whispering Pages liegt, ist es naheliegend, dass ich diejenige bin, der diese Aufgabe zu fällt.
Ich durchsuche die Taschen – neun von zehn Mal lässt Max Münzen oder eine Rechnung darin, und Demitri, dem die Reinigung gehört, erinnert mich immer daran, sie zu überprüfen. Also stecke ich meine Hand in die linke Tasche und stelle verblüfft fest, dass ich diesmal keine Münzen darin finde. Stattdessen bekommen meine Finger etwas anderes zu fassen – glatt und hart, wie ein Bankkarte. Ich ziehe es heraus und bin überrascht, als ich die weiße Karte mustere. Keine Kreditkarte oder irgendeine Visitenkarte.
Als ich sie genauer betrachte, stelle ich fest, dass es eine Keycard ist. Und sie trägt das Logo des River Walk Hotel.
Ich kann kaum schlafen, und als es Morgen wird, fühlt sich mein Kopf schwer und vernebelt an. Letzte Nacht habe ich darauf gewartet, dass Max ins Bett kommt, damit ich ihn mit der Keycard konfrontieren kann. Aber bevor ich die Gelegenheit dazu bekommen habe, ist Poppy mit Albträumen aufgewacht und wollte in unserem Bett schlafen. Also habe ich fast die ganze Nacht damit verbracht, ihn zu betrachten, unsere Tochter zwischen uns gepresst, während Übelkeit und Angst meinen Körper erobert haben.
Was könnte mein Ehemann mit einer ermordeten Frau in einem Hotelzimmer zu tun haben?
Nachdem ich Poppy zur Vorschule gebracht habe, gehe ich die Upper Richmond Road entlang Richtung Buchladen. Als ich das Geschäft von Mom übernommen habe, wollte ich zuerst Räumlichkeiten direkt in der Putney High Street anmieten oder kaufen, weil dort mehr Menschen vorbeilaufen. Ich habe die lokalen Immobilienagenturen durchforstet und gehofft, es würde etwas zum Mieten oder Kaufen frei werden. Natürlich hätte es mehr Geld gekostet, aber ich war gewillt, dieses Risiko für eine bessere Lage auf mich zu nehmen. Aber letztendlich habe ich darauf gehört, als Mom gesagt hat, dass jeder, der Bücher liebt, gerne ein paar extra Meter laufen würde, um die Atmosphäre von Whispering Pages zu erleben. Sie hat genörgelt, als ich den Laden ein bisschen umgebaut und eine Kaffeebar hinzugefügt habe, aber sie hat mir trotzdem ihren Segen gegeben und zugegeben, dass es an mir liegt, das Geschäft jetzt so zu gestalten, wie es mir gefällt.
Neuigkeiten verbreiten sich hier schnell, und die Atmosphäre in Putney ist heute Morgen vollkommen anders. Murmelnde Menschentrauben ziehen mit ernstem Gesichtsausdruck an mir vorbei. Alle von uns sind bestürzt über den Tod einer Frau, die die meisten von uns nicht einmal kannten. Das River Walk Hotel liegt auf der anderen Seite der Putney Bridge in Richtung Fulham und in entgegengesetzter Richtung des Buchladens. Aber ich spüre die Präsenz von Alice Hughes überall, die Präsenz dessen, was sie zurückgelassen hat.
Die Temperaturen sind heute Morgen weiter gesunken, und mit dem klaren blauen Himmel fühlt es sich eher wie Januar an als wie November. Ich stecke meine behandschuhten Hände in die Jackentaschen und spüre die Keycard des Hotels. Angst strömt durch meine Adern, kalt und schwer. Heute Abend, nach der Arbeit, werde ich Max damit konfrontieren. Es muss ein Zufall sein. Es gibt einen Grund, warum Max diese Karte hatte. Er hat sie gefunden. Er wollte sie zurückgeben, hatte aber noch nicht die Zeit dafür. Und dann werden wir beide darüber lachen. Ich meine, wie leicht zieht man Rückschlüsse, ohne den Zusammenhang zu kennen?
Das alles rede ich mir selbst ein, denn die Alternative ist zu schrecklich, um sie mir vorzustellen.
Ich habe heute Morgen, als wir schweigend beim Frühstück gesessen haben, mal vorgefühlt. Poppy war bei uns, also musste ich vorsichtig sein, aber ich habe Max gefragt, ob er die Neuigkeiten von Alice Hughes schon gehört hat. Ich habe sein Gesicht keine Sekunde aus den Augen gelassen, habe gehofft, etwas darin zu sehen … was eigentlich? Erkenntnis? Lügen?
Aber er hatte nur Augen für sein Handy und hat bloß den Kopf geschüttelt. Eine Tragödie. Das hat er gesagt, bevor er in seinen Toast gebissen hat. Und als ich gesagt habe, wie seltsam es sei, dass noch nie einer von uns in diesem Hotel gewesen ist, hat er die Stirn gerunzelt.
»Wir hatten ja auch keinen Grund dazu«, hat er gesagt, sein Blick immer noch aufs Handy gerichtet.
Jetzt, als ich zum Buchladen gehe, bin ich entschlossen, selbst herauszufinden, warum mein Mann diese Karte in seiner Tasche hatte. Und warum sie zu demselben Hotel gehört, in dem gerade erst eine Frau ermordet wurde.
Die Ladentür ist bereits aufgeschlossen, als ich meinen Schlüssel in das Schloss stecke. Ich gehe hindurch und sehe sofort Cole an der Kaffeebar stehen.
Er lächelt und hebt die Hand zum Gruß. »Guten Morgen, Hannah.«
»Ich dachte, ich schließe heute auf?«, sage ich. »Du kannst doch heute später anfangen.«
»Ich war sowieso wach, also dachte ich, ich könnte genauso gut schon reinkommen. Aus irgendeinem Grund konnte ich nicht mehr schlafen.«
Er sprüht Desinfektionsmittel auf einen der Tische und wischt gründlich darüber. Er trägt eine dunkelgraue Hose und einen dicken, schwarzen Pullover mit einem Hemd und rotgestreifter Krawatte darunter. Ich habe ihm gesagt, dass er keine Krawatte tragen muss und dass für mich alles in Ordnung ist, was für ihn bequem ist, solange es einigermaßen ordentlich aussieht. Auch Mom hat nie auf irgendeinen Dresscode bestanden.
Ich habe noch nie jemanden wie Cole getroffen. An ihm ist alles ein einziger Widerspruch. Er ist dünn und groß, ungefähr ein Meter fünfundachtzig – so wie Max –, und doch kann man ihn in einem Raum leicht übersehen. Während Max alleine durch seine Gegenwart alle Aufmerksamkeit auf sich zieht, scheint Cole im Hintergrund zu verschwinden, fast, als wolle er nicht gesehen werden.
»Ich konnte auch nicht schlafen«, gebe ich zu. »Es ist schrecklich, nicht wahr?« Ich gehe zum Tresen und mache mich daran, die Kasse zu öffnen.
»Total. Ich habe schon seit meiner Kindheit Schwierigkeiten einzuschlafen«, sagt Cole.
Ich blicke auf. »Ich habe die Frau im River Walk Hotel gemeint.«
Er hört mit dem Saubermachen auf und starrt mich verständnislos an.
»Du hast es nicht gehört?«
»Nein. Welche Frau?« Ich erzähle ihm von Alice Hughes, und er wird ganz blass. »Das ist ja furchtbar. Direkt vor unserer Haustür. Die arme Frau.« Dann wischt er weiter die Tische. »Ich lese die Nachrichten nicht, Hannah. Das ist zu deprimierend. Ist es nicht besser, nichts von all diesen schrecklichen Dingen zu wissen? Es tut uns nicht gut, weißt du? Vor allem, wenn es das Erste ist, was man am Morgen hört.«
Ich öffne den Mund, um zu widersprechen, als die Tür geöffnet wird und eine ältere Frau eintritt. »Ich schaue mich nur um«, ruft sie und winkt uns zu. »Ich brauche keine Hilfe.«
Cole wirft mir einen kurzen Blick zu und hebt dann die Augenbrauen. »Ähm, tut mir leid, aber wir haben noch gar nicht geöffnet. Erst in einer halben Stunde.«
Sie runzelt die Stirn, hebt ihre Brille an und taxiert Cole. »Die Tür war offen. Wenn Sie nicht geöffnet haben, warum lassen Sie dann die Leute einfach reinlaufen? Das ist verwirrend.«
»Tut mir leid«, mische ich mich ein. »Das war mein Fehler. Ich habe vergessen, wieder zuzusperren. Aber ist schon in Ordnung – Sie können sich gerne umschauen, aber wir können vor neun noch nichts abkassieren.«
Sie verdreht die Augen und geht vorwärts. »Ich brauche keine Hilfe«, wiederholt sie. »Ich schaue mich nur um.«
»Lassen Sie uns wissen, falls Sie einen Tee oder Kaffee möchten.« Cole setzt ein Lächeln auf und dreht sich von ihr weg.
Zum Glück sieht sie seinen finsteren Blick nicht.
Ich greife nach meiner Tasche. »Kannst du kurz ein Auge auf alles haben, während ich nach oben gehe? Ich muss meine Sachen ins Schließfach stellen.«
»Lass dir Zeit«, sagt Cole stirnrunzelnd.
Als ich zur Treppe gehe, spüre ich seinen Blick in meinem Rücken. Normalerweise lasse ich meine Tasche immer unten im Büro und lege sie in die Schublade meines Schreibtisches – mein Schließfach habe ich bisher nur selten benutzt. Und Cole entgeht nichts.
Oben im Angestelltenraum schließe ich die Tür und gehe zu den Schließfächern an der Wand. Es gibt nur vier – wir waren noch nie mehr als drei gleichzeitig im Laden.
Ich gebe den Code meines Schließfachs ein, öffne es und starre in die leere Öffnung. Dann hole ich die Keycard aus meiner Tasche und betrachte sie wieder, als würde sie mir irgendwelche Antworten liefern. Am liebsten würde ich schreien. Warum hast du diese Karte? Wenn du nie in diesem Hotel warst, warum hast du dann eine Keycard für eins der Zimmer in deiner Tasche?
Erst jetzt fällt mir ein, dass Max nach der Karte suchen könnte. Und was wird er tun, wenn er feststellt, dass sie weg ist?
Ich schlage die Schließfachtür zu, lehne mich dagegen und versuche, meine Atmung zu beruhigen. Tief ein- und ausatmen. Cole darf nicht sehen, dass etwas nicht stimmt – er ist der reinste Spürhund und wird nicht aufhören, bis er Antworten bekommen hat.
Als hätte ich ihn mit meinen Gedanken heraufbeschworen, öffnet sich die Tür, und Cole schaut hinein. »Ist alles in Ordnung?«, fragt er und bleibt im Türrahmen stehen.
»Ja, alles gut. Ist die Kundin jetzt alleine unten?«
»Nein. Sie ist gegangen, und ich habe abgeschlossen.«
Ich werfe einen Blick auf mein Handy. »Okay, wir haben noch ein paar Minuten.«
»Kaffee?«, fragt er. »Normalerweise ist das das Erste, was du tust. Ist alles in Ordnung, Hannah?«
»Ich bin nur ein bisschen … heute Morgen war es ziemlich hektisch, Poppy für die Vorschule fertig zu machen. Es war alles ein bisschen viel. Ich trinke jetzt einen.«
Er betrachtet mich eingehend. »Ist es wegen der Frau in dem Hotel? Das nimmt dich ziemlich mit, oder?«
Ich schaue weg und wühle in meiner Tasche. »Nein. Na ja, es ist natürlich schrecklich. Mir tut ihre Familie nur so leid.« Ich hole einen Lippenstift heraus und trage ihn auf, nur, damit ich Cole nicht anschauen muss, der mich nicht aus den Augen lässt. Mein ganzes Gesicht fühlt sich zu warm an.
»Wenn sie eine hatte. Manche Menschen haben keine Familie, Hannah. Oder zumindest keine Familie, auf die sie zählen können. Einige von uns können sich nicht so glücklich schätzen.«
»Ich weiß. Du hast recht. Ich sollte keine Vermutungen anstellen.«
Coles Eltern sind beide gestorben, als er in seinen Zwanzigern war, und er ist ein Einzelkind. Er spricht nie darüber, aber ich weiß von meiner Mom, dass er vor langer Zeit verheiratet war, mittlerweile jedoch geschieden ist. Sie hatten keine Kinder. Aber er ist erst vierzig, also könnte es schon sein, dass er wieder in einer Beziehung ist, auch wenn er nichts dergleichen je erwähnt hat.
Cole nickt, bleibt aber in der Tür stehen.
»Gehen wir runter?«, schlage ich vor und gehe auf ihn zu.
Er schaut mich einen Moment lang an, scheint gar nicht bemerkt zu haben, dass ich etwas gesagt habe. »Oh, ja«, antwortet er schließlich und tritt zur Seite. »Ich dachte, du wolltest die in dein Schließfach sperren«, fügt er noch hinzu und deutet auf meine Tasche.
»Ich habe es mir anders überlegt«, sage ich. »Komm, ich brauche Koffein.«
Es ist schon mitten am Vormittag, als ich die Chance bekomme, mich in mein Büro zu flüchten. Katy ist wieder nicht erschienen, und weder Cole noch ich können sie erreichen, also bin ich im Verkaufsraum, seit wir geöffnet haben, während Cole sich um die Kaffeebar kümmert. Was ich nicht erwartet hatte, ist, dass manche Menschen nur herkommen, um Kaffee zu trinken und den Büchern um sie herum gar keine Aufmerksamkeit schenken – egal, wie verlockend ich die Auslagen gestalte.
»Du bist entweder eine Bücherperson oder nicht«, sagt Max immer.
Trotzdem bin ich für jede Kundschaft dankbar, egal, aus welchen Gründen sie reinkommt.
Cole nimmt an, dass ich Bestellungen aufgebe, während er die Kasse übernimmt, aber tatsächlich durchforste ich das Internet nach allem, was ich über Alice Hughes finden kann. Sie hat einen Social Media-Account, und dasselbe Foto, das in den Nachrichten zu sehen war, starrt mich jetzt an.
Von Instagram erfahre ich, dass sie eine Personal Trainerin war und Privatstunden in ihrer Wohnung in Roehampton gegeben hat. Ich betrachte das Foto ihres kleinen Fitnessstudios im Garten und frage mich, ob Max vielleicht Trainingseinheiten bei ihr hatte. Aber das hätte er mir erzählt. Und er hat sich eigentlich nie für Fitnessstudios interessiert. Manchmal geht er laufen, aber meistens ist er zu beschäftigt, um sich mit irgendeiner Fitnessroutine abzugeben.
Ich scrolle weiter und sauge jede Information über Alice in mir auf, als wäre ich ihre Stalkerin. Ist das aus mir geworden? Eine Stalkerin, die von einer Frau besessen ist, die nicht länger unter uns weilt? Habe ich mich – einfach nur, weil ich die Keycard in Max’ Tasche gefunden habe – in eine solche Person verwandelt?
Es wird schnell klar, dass sie zwar regelmäßig etwas in den sozialen Medien gepostet hat, aber nur selten etwas Persönliches. Sie hat nichts geteilt, das helfen würde, mir ein Bild von ihr zu machen, außer, dass sie ein großer Fitness- und Katzenfan war. Anscheinend hatte Alice zwei Siamkatzen – eine weiß mit stechend blauen Augen, die andere Mokka-farben mit grünen Augen. Sie hat wohl beide Katzen vergöttert, denn auf Instagram hat sie genauso viel über ihre Haustiere gepostet wie über ihr Training.
Es gibt keinen Hinweis darauf, dass Alice in einer Beziehung mit jemandem war, und es gibt auch keine Fotos von ihr und Freunden. Kein einziges. Seltsam. Entweder war ihr ihre Privatsphäre wichtig, oder sie wollte den Rest ihres Lebens geheim halten.
Ein Klopfen an der Tür zwingt mich dazu, den Browser zu schließen, gerade noch rechtzeitig, bevor die Tür geöffnet wird.
Ich bin erleichtert, als Sarah mit zwei Tassen Kaffee hereinkommt. »Ich bin gerade vorbeigekommen und dachte mir, du könntest einen gebrauchen«, sagt sie und setzt sich auf den einzig anderen Stuhl im Raum. Sie hat sich noch nie gerne an Regeln gehalten und trägt jetzt ihren Krankenhauskittel, während ihr das lange, hellbraune Haar über die Schultern fällt. »Cole hat mich dafür zahlen lassen, falls du denkst, ich bin nur für kostenlosen Kaffee hier.« Sie beugt sich vor und fährt mit leiser Stimme fort. »Er mag mich nicht, stimmt’s? In all den Jahren, in denen ich jetzt schon hier vorbeischaue, hat er es kaum geschafft, Augenkontakt mit mir zu halten.«
»Es liegt nicht an dir«, versichere ich ihr. »Ich glaube, Cole fällt es schwer, Menschen zu vertrauen. Er ist sehr vorsichtig, bevor er einen wirklich kennt.«
»Na ja, dafür habe ich keine Zeit«, sagt sie und verdreht die Augen. »Ich habe genug andere Dinge, um die ich mich kümmern muss.«
»Außerdem ist die Kaffeebar nicht sein Lieblingsort hier, wenn man das so sagen kann.«
»Nicht, wenn er hier praktisch der Manager ist.« Sarah lacht. »Ich kann nicht fassen, dass du ihm diesen Titel verliehen hast.«
»Er arbeitet hart«, sage ich. »Ich brauche ihn hier. Er kennt den Laden in- und auswendig. Noch besser als ich. Und er war sehr loyal meiner Mom gegenüber.«
Was ich nie vergessen werde, ist, dass Cole schon länger hier ist als ich und dass er schon für meine Mutter gearbeitet hat.
»Er ist einfach so seltsam«, sagt Sarah und betont das letzte Wort.
»Arbeitest du heute?«
So sehr sie recht hat, was Cole betrifft, ich werde ihn immer verteidigen. Wie jeden anderen auch. Unschuldig, bis das Gegenteil bewiesen ist. Warum wende ich das nicht auch auf meinen eigenen Ehemann an?
Sie blickt auf ihr Handy. »Ja. In genau einer Stunde. Und diese Schicht wird lang werden. Deshalb bin ich unter anderem auch hier. Ich muss dich um einen großen Gefallen bitten. Mom sollte Ivy eigentlich nach der Schule abholen und sie über Nacht mit zu sich nehmen. Aber sie hat mir vorhin geschrieben, dass sie sich mit ihren Terminen vertan hat. Anscheinend geht sie heute Abend mit Freunden essen. Kaum zu glauben, oder?« Sarah verdreht wieder die Augen. »Ich bin mir sicher, das hat sie erst ausgemacht, als sie wusste, dass ich wieder ihre Hilfe brauchen würde.«
Das klingt sehr nach etwas, das Carol, Sarahs Mom, tun würde. Aber unschuldig, bis das Gegenteil bewiesen ist.
»Natürlich kann sie zu uns kommen«, sage ich, ohne zu zögern. »Poppy wird sich riesig freuen, wenn Ivy über Nacht bleibt.«
In dem Moment, in dem ich das sage, frage ich mich, wie ich Max mit der Keycard konfrontieren will, wenn die beiden Mädels da sind. Aber wenigstens wird Poppy heute Nacht gut in ihrem eigenen Bett schlafen, wenn Ivy mit ihr im Zimmer ist.
Sarah lächelt. »Das ist großartig – danke, danke, danke!« Sie springt auf und umarmt mich, wobei der Kaffee über meinen Becherrand schwappt. »Ups, sorry. Aber bist du sicher, dass das auch wirklich okay ist?« Sie setzt sich wieder hin. »Macht es Max nichts aus? Es ist schließlich unter der Woche, und ich bin mir sicher, das Letzte, was er will, wenn er nach Hause kommt, sind zwei Mädchen, die in eurem Wohnzimmer eine Disco veranstalten.«
»Er wird es verkraften«, sage ich, frage mich aber bereits, warum ich mich damit einverstanden erklärt habe, wo sich doch in meinem Schließfach die Zimmerkarte eines Hotels befindet, in dem eine tote Frau gefunden wurde.
Sarah betrachtet mich einen Moment lang. »Bist du sicher, dass mit dir und Max alles in Ordnung ist? Ich weiß nicht warum, aber ich habe irgendwie das Gefühl, dass … ich weiß nicht. Dass es da eine Spannung zwischen euch gibt? Bitte rede mit mir, Han.«
Ich sollte ihr alles erzählen. Sarah würde es verstehen. Sie hat in ihrem Leben schon viel durchgemacht und ist immer sehr mitfühlend. Bei ihr kann ich immer ich selbst sein. Trotzdem halte ich meinen Mund. Wie kann ich ihr erzählen, was ich in Max’ Tasche gefunden habe? Ich muss zuerst selbst wissen, was es bedeutet.
»Bei uns ist alles gut«, sage ich und schiele zur Tür. »Es ist nur … er ist in letzter Zeit wirklich ein bisschen seltsam. Distanziert. Ständig gereizt. Ich weiß, er hat ziemlich viel Druck auf der Arbeit, aber es ist schwer, zu ihm durchzudringen.«
Sarah stellt ihren Kaffeebecher auf den Schreibtisch. »Hast du versucht, ihn zu fragen, wie er sich fühlt? Du hast immer gesagt, ihr zwei könnt über alles reden.«
Normalerweise. Aber nichts daran ist normal. Max’ Verhalten. Die Keycard des Hotels. Eine tote Frau.
»Wir haben geredet. Er meint, es ist nur der Stress auf der Arbeit. Aber Poppy kriegt es auch mit.«
»Kinder sind widerstandsfähig«, sagt Sarah. »Sieh dir Ivy an. Sie ist eine kleine Kämpferin. Sie steckt alles gut weg. Ständig hört sie ihre Freundinnen über ihre Väter reden und fragt mich trotzdem nie nach Dean. Sie weiß einfach, dass er nicht bei uns sein kann. Außerdem wird sie ständig zu ihrer Großmutter gegeben. So viel Ablenkung, aber trotzdem ist sie genauso glücklich wie jedes andere Kind. Und was Max angeht, er liebt dich. So einfach ist das. Vielleicht macht ihr nur eine harte Phase durch. Erinnerst du dich daran, wie schwer es war, als Poppy noch ein Baby war? Das hat euch stark belastet, oder? Und schau euch jetzt an. Diese Zeiten sind auch vorübergegangen, oder etwa nicht? Und was immer gerade los ist, auch das wird vorübergehen. Du musst diesen Sturm nur aussitzen und auf sonnigere Tage warten.« Sie kichert. »Mein Gott, ich klinge, als hätte ich einen Selbsthilferatgeber verschluckt! Aber es ist die Wahrheit.« Sie blickt auf ihr Handy. »Ich gehe jetzt lieber. Das Krankenhaus braucht mich. Ich rufe dich später an.« Sie steht auf und nimmt ihren Kaffeebecher. »Den bringe ich besser zurück, bevor Inspektor Cole mich noch verhaftet.« Sie lacht leise auf und dreht sich an der Tür noch einmal um. »Du musst dich nur immer wieder daran erinnern, dass Max ein guter Mann ist.«
Mit diesen Worten wirft sie mir einen Luftkuss zu und verschwindet durch die Tür.
Um halb eins lasse ich Cole wissen, dass ich in die Mittagspause gehe. »Ich muss ein paar Dinge erledigen«, erkläre ich, bevor er mir irgendwelche Fragen stellen kann. Ich verlasse den Laden nur selten. Meine Tage sind kurz genug, weil ich Poppy immer um drei Uhr von der Vorschule abholen muss, also mache ich selten eine Pause. »Brauchst du was?«
Er schüttelt den Kopf. »Du weißt doch, dass ich mir mein Mittagessen immer selbst mitbringe, Hannah.«
Stimmt, und es ist jeden Tag das Gleiche – ein Schinken-Käse-Sandwich aus Vollkornbrot, in zwei Dreiecke geschnitten, ein paar Trauben, ein Apfel und zwei Kekse. Cole hat noch nie etwas anderes mitgebracht.
Er dreht sich um, um die Regale zu sortieren, aber in der Reflexion der Türen kann ich sehen, dass Cole sich wieder umdreht, um mir nachzusehen. Er weiß, dass etwas nicht stimmt.
Die Novemberkälte dringt durch meine Klamotten und sticht in meine Haut, während ich die Hauptstraße Richtung Putney Bridge entlanggehe. Ich muss einfach immer weiterlaufen, obwohl ich keinen Grund habe, in der Nähe des River Walk Hotels zu sein.
Ich bin eine Kriminelle, die an den Ort ihres Verbrechens zurückkehrt – obwohl ich dieser Frau nichts getan und sie nie getroffen habe.
Ich weiß nicht, was ich zu sehen erwartet habe, als ich dort ankomme, aber es ist ruhiger, als ich es mir vorgestellt habe. Nicht so hektisch. Vor dem Eingang parkt ein Polizeiauto, und ein Officer in Uniform steht an der Tür.
Vor dem Hotel liegt ein Meer aus Blumen ausgebreitet. Die Leute, die vorbeigehen, werden für einen Moment langsamer, um sie sich anzuschauen, und ich stelle mir ihre Erleichterung vor, dass diese Tragödie nicht ihnen passiert ist. Ohne großes Spektakel gehen sie weiter und nehmen ihr Leben wieder auf, weil Alice für sie eine Fremde war und ihr Leben nichts mit ihnen zu tun hatte.
Aber irgendwie hat es etwas mit meinem zu tun.
Ich werde ebenfalls langsamer, als ich näherkomme, und ich kann nicht sagen, ob das an der Tatsache liegt, dass sich mein ganzer Körper schwer und irgendwie tot anfühlt, oder weil ich sehen will, was hier vor sich geht. Um Antworten zu finden.
Ich bin auf der anderen Straßenseite, also bleibe ich stehen und schaue einen Moment hinüber. Ich tue nichts anderes als die anderen Menschen, die auf dem Gehweg stehengeblieben sind und starren. Keine Anzeichen deuten auf mich hin. Auf die Schuldige.
»Schrecklich, oder?« Ich drehe mich um.
Ein junger Mann in Jeans und einer Daunenjacke kommt auf mich zu. Er ist etwa dreißig Jahre alt, und sein dunkelbraunes Haar fällt ihm in die Stirn. Er streicht es sich aus den Augen und bleibt neben mir stehen.
Ich muss ihm antworten. Mich normal verhalten. »Ja, und wie. So traurig.«
»Leben Sie hier in der Gegend?« Er trägt keine Handschuhe und schiebt seine Hände in die Jackentaschen.
Ich nicke, gebe ihm aber keine weiteren Informationen.
»Kannten Sie sie?«, fragt er.
Ich blicke zu dem Hotel. »Nein.« Meine Wangen brennen, obwohl es keine Lüge war, was ich gesagt habe.
»Sie sehen nur sehr mitgenommen aus, deshalb habe ich gedacht, Sie kannten sie vielleicht.«
Eine Hitzewelle schießt durch meinen Körper. »Wen würde das nicht mitnehmen? Eine Frau wurde in einem Hotelzimmer ermordet.«
Er nickt langsam, sagt aber nichts, und ich spüre die Schwere seines Blickes auf mir.
»Kannten Sie sie?«, frage ich.
Seine Frage zurückzugeben, wird von meinen Schuldgefühlen ablenken.
»Nein.« Er lächelt. »Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.«
Er geht davon, über die Brücke zur Hauptstraße, und ich habe ein ungutes Gefühl. Es ist nicht das, was er gesagt hat, sondern die Art, wie er mich angeschaut hat. Er hat mich mit Skepsis in den Augen betrachtet und mich viel zu lange angeschaut.
Ich blicke ihm noch einen Moment nach, und da dreht er sich noch einmal zu mir um. Jetzt liegt kein Lächeln mehr auf seinem Gesicht.
Wer immer dieser Mann ist, ich habe das Gefühl, er weiß genau, was ich hier tue.
Putney Nachbarschaftsgruppe
Öffentliche Gruppe, 10.700 Mitglieder
Oksana Thomas: Es tut mir so leid, von der Frau zu hören, die tot im River Walk gefunden wurde. Mein Beileid an ihre Familie. Ich hoffe, sie kriegen denjenigen, der das getan hat.
Kommentare:
Lee Broomfield: Schrecklich. Meine Frau war eine ihrer Kundinnen. Sie sagt, sie war eine wundervolle Person. Ich kann nicht fassen, dass die Sicherheitskameras nicht funktioniert haben. Sie sind kaputtgegangen, und der Elektriker sollte heute kommen. Sonst hätten sie bestimmt schon einen Verdächtigen.
Renee Curtis: Aber mal ganz im Ernst, was hat sie in dem Hotel gemacht? Anscheinend hat sie die Straße rauf gewohnt. Schon etwas seltsam. Bestimmt hatte sie eine Affäre. Ich sage nicht, dass sie verdient hat, was ihr passiert ist, aber seltsam ist es schon.
Ajay Kahn: Es war jemand, der sie gekannt hat. Ganz bestimmt. Die Polizei wird ihn oder sie finden.
Nora David: Vielleicht hat sie sich selbst umgebracht? Selbstmord ist heutzutage unter jungen Leuten die häufigste Todesursache. Fürchterlich.
Ajay Khan: Ich glaube nicht, dass es möglich ist, sich selbst zu strangulieren und dann bewusstlos in die Badewanne zu steigen, oder?
Nora David: Kein Grund, zynisch zu werden – ich wusste nicht, dass sie so gestorben ist.
Ajay Khan: Es ist jemand, der sie gekannt hat, glaubt mir. So ist es immer.
Sarah Brooks: Könnt ihr bitte alle mal aufhören, über ihr Privatleben zu spekulieren? Das ist respektlos, und keiner von uns weiß irgendwas über sie. Lasst doch einfach die Polizei ihren Job machen.
Ich verlasse den Laden früher als sonst und mache mich auf den Weg zu Poppys Vorschule. Ich werde zwanzig Minuten vor den Toren warten müssen, aber wenigstens bin ich dann draußen an der frischen Luft. So sehr ich den Buchladen liebe, heute hat sich die Luft darin stickig angefühlt, und Coles fragende Blicke in meine Richtung waren einfach kaum zu ertragen. Vielleicht bin ich paranoid, aber es hat sich angefühlt, als hätte er alles abgeschätzt, was ich getan habe.
Am Tor stehen drei Mütter zusammen, die ich kenne. Ich weiß nicht, wie sie heißen – ich gehe immer gleich ins Geschäft, nachdem ich Poppy abgeliefert habe, also bin ich nie lange genug an der Vorschule, um Freundschaften zu schließen. Sarah – die ich schon gekannt habe, lange bevor die Mädchen in die Vorschule gekommen sind – ist die einzige Mutter, mit der ich hier mehr Worte als nur ein kurzes Hallo wechsle. Und jetzt ist es zu spät, um Freundschaften zu aufzubauen. Jeder hat schon seine Cliquen gefunden, die für neue Mitglieder geschlossen sind.
Die drei Mütter sind so vertieft in ihre Unterhaltung, dass keine von ihnen aufblickt, als ich näherkomme. Noch bevor ich ein Wort hören kann, weiß ich, worüber sie reden. Alice Hughes. Als wäre ihr Mord etwas, das sie gestern Abend in einer Netflix-Doku gesehen haben. Keine von ihnen schaut bestürzt aus. Stattdessen funkeln ihre Augen vor Aufregung. Die Klatschweiber können es einfach nicht lassen. Mir wird ganz schlecht.
Ich halte mich im Hintergrund, hole mein Handy heraus und lausche ihrer Unterhaltung.
»Ich habe gehört, sie war eine … ihr wisst schon … eine Prosituierte«, sagt eine der Mütter. »Hat dort einen Kunden getroffen. Und dann ist alles aus dem Ruder gelaufen. Von solchen Sachen hört man doch immer wieder, oder? Das sind verletzliche Frauen, die so einer Arbeit nachgehen.«
Ich schaue die Mutter an, die gesprochen hat, betrachte ihr dick geschminktes Gesicht und ihre goldenen Haare, die zu einem ordentlichen Dutt hochgebunden sind. Diese Absätze an den Schuhen können nicht bequem sein, wenn man seinem Kind hinterherläuft. Ziemlich sicher ist sie mit dem Auto hergekommen, obwohl das Einzugsgebiet der Vorschule so klein ist, dass die meisten in fußläufiger Entfernung wohnen. Sie schüttelt traurig den Kopf, während sie spricht, aber ihre Augen leuchten genüsslich.
»Ich glaube nicht, dass sie sich noch selbst Prostituierte nennen«, sagt die Mutter mit den dunklen Locken. »Ich glaube, sie nennen sich mittlerweile Escort-Damen.« Sie stößt die Mutter neben sich an. »Als ob das einen Unterschied machen würde. Das ist doch das Gleiche, oder?«
»Da fragt man sich schon, was für ein Leben sie gelebt hat, dass sie so enden musste«, sagt die dritte Mutter. »Gott sei Dank hatte sie keine Kinder.«
Ich habe genug gehört. »Habt ihr nichts Besseres zu tun?«, zische ich. »Es ist beschämend und ekelhaft, so über jemanden zu reden, der tot ist.«
Obwohl sie mich jetzt alle anstarren und ihre mit Lippenstift beschmierten Münder offenstehen, sagt keine ein Wort. Angesichts des Schweigens, das sich über uns legt, richte ich meine Aufmerksamkeit wieder auf mein Handy und tue so, als wäre ich mit etwas beschäftigt.
»Was ist dein Problem?«, sagt die Laute mit dem Dutt nach einigen Augenblicken. »Wir haben nur darüber geredet. Hast du schon mal von Meinungsfreiheit gehört?«
»Es gibt einen Unterschied zwischen Meinungsfreiheit und Gerüchte verbreiten«, sage ich. »Wie wäre es mit etwas Respekt?«
Sie öffnet den Mund, um etwas zu entgegnen, ändert aber schnell ihre Meinung, dreht sich pikiert um und schüttelt den Kopf. Sie nehmen ihre Unterhaltung wieder auf, aber da sie sich jetzt meiner Anwesenheit nur allzu bewusst sind, widmen sie sich der bevorstehenden Halloween-Party, die der Elternbeirat organisiert.
Als die Schultore geöffnet werden, ist die Menge der Eltern größer geworden, und wir bewegen uns alle gemeinsam nach vorne wie eine Welle, die auf die Küste zurast.
Ich stehe abseits und warte darauf, dass Poppys Klasse rauskommt, werde das Gefühl nicht los, dass mich alle anstarren. Natürlich tun sie das nicht. Die meisten Eltern hier sind zu beschäftigt damit, miteinander zu tratschen oder auf ihre Handys zu starren, um mir ihre Aufmerksamkeit zu widmen, aber trotzdem überkommen mich Schuldgefühle, weil ich nicht so bin wie alle anderen hier.
Irgendwie bin ich mit Alice Hughes verbunden.
Ich weiß etwas Wichtiges über den Fall, das die Polizei auch wissen sollte. Aber trotzdem kann ich nicht zu ihr gehen. Nicht, bevor ich mit Max gesprochen habe.
Ich bin so abgelenkt durch diese Gedanken, dass ich gar nicht bemerke, dass Poppy schon rausgekommen ist, bis sie mit fliegenden Zöpfen auf mich zu läuft.
»Mummy!«, ruft sie und wirft ihre Arme um mich.
Es freut mich, dass sie immer so glücklich ist, mich nach Schulschluss zu sehen. Ich drücke sie fest und genieße es, dass ich sie im Arm halten kann. Das erdet mich. Das ist meine Realität. Es darf nicht anders sein.
»Hattest du einen schönen Tag, Schatz?«
Sie nickt. »Welchen Snack hast du mitgebracht?«
Ich greife in meine Tasche und ziehe eine Packung Erdbeer-Fruchtgummis raus. »Hier. Wir nehmen Ivy heute mit. Sie übernachtet bei uns.«
»Jaaaaa!«, ruft Poppy und läuft zurück, in die Richtung, wo die Lehrkräfte immer noch die Kinder verabschieden. Sie und Ivy sind dieses Jahr nicht in derselben Klasse, sehr zum Leidwesen der beiden Mädchen. Als wir herausgefunden hatten, dass die Klassen dieses Jahr gemischt werden könnten, habe ich mir Sorgen gemacht, dass Poppy ihre Freundin vermissen würde, aber sie hat mich sehr überrascht und schnell Freundschaft mit anderen Kindern geschlossen. Ivy wiederum hatte Probleme damit und sucht immer noch nach Poppy, sobald die zwei Klassen die Pausen gemeinsam verbringen können.
Ivy erscheint hinter ihrer Lehrerin, die auf mich deutet und sie losschickt. »Fahre ich mit euch mit?«, fragt sie. »Die Lehrerin hat es zwar gesagt, aber Mummy hat es mir gar nicht erzählt.«
»Ja«, sage ich so enthusiastisch, wie ich kann. »Das haben wir ganz kurzfristig beschlossen. Ist das nicht toll?« Ich gebe ihr ebenfalls eine Packung Fruchtgummis, die ich immer in meiner Tasche habe, und sie nimmt sie, ohne sich zu bedanken. »Gern geschehen«, sage ich.
»Danke, Hannah.«
Ivy gibt mir ihre Schultasche und ihre Wasserflasche und nimmt Poppys Hand. Die beiden Mädchen gehen vor mir und stecken ihre Köpfe zusammen, während sie lachen und reden.