Als Großmutter im Regen tanzte - Trude Teige - E-Book
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Als Großmutter im Regen tanzte E-Book

Trude Teige

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Beschreibung

»Der Roman ist bewegend; er ist schön und klug erzählt.« FAZ Eine starke Frau in dunklen Zeiten. Und eine junge Frau, die zurückschauen muss, um nach vorn blicken zu können. Als Juni ins Haus ihrer verstorbenen Großeltern auf der kleinen norwegischen Insel zurückkehrt, entdeckt sie ein Foto: Es zeigt ihre Großmutter Tekla als junge Frau mit einem deutschen Soldaten. Wer ist der unbekannte Mann? Ihre Mutter kann Juni nicht mehr fragen. Das Verhältnis zwischen ihrer Mutter und ihrer Großmutter war immer von etwas Unausgesprochenem überschattet.  Die Suche nach der Wahrheit führt Juni nach Berlin und in die kleine Stadt Demmin im Osten Deutschlands, die nach der Kapitulation von der russischen Armee überrannt wurde. Juni begreift, dass es um viel mehr geht als um eine verheimlichte Liebe. Und dass ihre Entdeckungen Konsequenzen haben für ihr eigenes Glück. »Als Großmutter im Regen tanzte« erzählt davon, wie uns die Vergangenheit prägt bis in die Generationen der Töchter und Enkelinnen. Doch vor allem ist es eine Geschichte über die heilende Kraft der Liebe. Der bewegende SPIEGEL-Bestseller: drei Generationen, verbunden durch die Liebe und ein tragisches Geheimnis der Nachkriegszeit »Dieses Buch lässt niemanden unberührt. Verpassen Sie es nicht.« Expressen »Eine packende und erhellende Lektüre über die Liebe dreier Generationen im Schatten des Krieges. Ein eindrückliches Buch, das man unbedingt lesen muss. Geschrieben von einer Autorin, die weiß, wie man eine starke Erzählung schafft und die eine hochinteressante Geschichte zu erzählen hat.« M-Magasin

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Seitenzahl: 392

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Trude Teige

Als Großmutter im Regen tanzte

Roman

 

Aus dem Norwegischen von Günther Frauenlob

 

Über dieses Buch

 

 

Eine starke Frau in dunklen Zeiten.

 

Und eine junge Frau, die zurückschauen muss, um nach vorn blicken zu können.

 

Als Juni ins Haus ihrer verstorbenen Großeltern auf der kleinen norwegischen Insel zurückkehrt, entdeckt sie ein Foto: Es zeigt ihre Großmutter Tekla als junge Frau mit einem deutschen Soldaten. Wer ist der unbekannte Mann? Ihre Mutter kann Juni nicht mehr fragen. Das Verhältnis zwischen ihrer Mutter und ihrer Großmutter war immer von etwas Unausgesprochenem überschattet.

Die Suche nach der Wahrheit führt Juni nach Berlin und in die kleine Stadt Demmin im Osten Deutschlands, die nach der Kapitulation von der russischen Armee überrannt wurde. Juni begreift, dass es um viel mehr geht als um eine verheimlichte Liebe. Und dass ihre Entdeckungen Konsequenzen haben für ihr eigenes Glück.

 

Der bewegende Bestseller aus Norwegen um ein unbekanntes Stück deutscher Geschichte

 

»Packend und kraftvoll.« Litteratursiden

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Trude Teige bietet uns einen bewegenden Einblick in die Nachkriegszeit in Norwegen und Deutschland und wie das Schicksal auch die folgenden Generationen prägt. Ihr Roman »Großmutter tanzte im Regen« stand mehrere Jahre lang auf den norwegischen Bestsellerlisten; ihre Werke werden in viele Sprachen übersetzt. Trude Teige gehört zu den bekanntesten Journalistinnen und TV-Moderatorinnen Norwegens. Für »Großmutter tanzte im Regen« recherchierte sie auch in Berlin und Demmin.

»Fiktion ist wie ein Spinnennetz, das, auch wenn vielleicht nur ganz leicht, an allen vier Ecken des Lebens befestigt ist.«

 

VIRGINIA WOOLF

1

Ich warf den Rucksack in das alte Holzboot. Alfred nahm ihn entgegen, und ich sprang hinterher.

»Na, willst du mal wieder auf die Insel?«, sagte er und ließ den Motor an.

Ich nickte. Reden konnte ich nicht.

»Da drüben ist es jetzt richtig schön, still und ruhig«, fuhr er fort. »Für den Moment jedenfalls. Du weißt ja, wie es ist: In ein paar Monaten kommen schon wieder die ersten Sommergäste.«

Ich hockte mich vorn in den Bug, zog den Reißverschluss der Jacke ganz hoch und setzte mir die Kapuze auf. Die Wellen wurden höher, als wir auf das offene Wasser kamen. Sie spritzten über die Reling, und Alfred drosselte den Motor.

Ich war mit dem Bus von Drammen nach Kragerø gefahren und hatte eigentlich mit einem Taxiboot auf die Insel fahren wollen, als ich Alfred unten am Kai getroffen hatte.

Das Auf und Ab beruhigte mich. Gedanken und Sorgen fielen von mir ab, als würde der Wind sie mit sich fortnehmen. Langsam sank ich tiefer ins Boot, lehnte den Kopf an einen Sack und schlief ein.

Als das Boot an der Mole anlegte, wurde ich wach. Alfred vertäute das Achterende an einer Boje, ging an Land und machte den Bug an einem Poller fest.

»Es gibt nichts Besseres, als in einem Boot zu schlafen«, sagte er lächelnd und wischte sich die Hände an den Hosenbeinen ab.

Wir gingen über die Mole, passierten die am Wasser aufgereihten Bootshäuser und bogen dann auf einen Schotterweg ab, der zu den Häusern führte. Auf der großen Wiese, an der wir vorbeikamen, hatten wir früher immer Fußball gespielt. Das welke Gras roch nach dem vielen Regen am Vormittag leicht moderig. Inzwischen hatte es aufgeklart, die Sonne verschwand aber schon wieder hinter den Hügeln auf dem Festland. Kühler Nordwind blies uns ins Gesicht, und ein paar Möwen kreischten heiser am Himmel über uns. Ich bemerkte, dass Alfred etwas hinkte.

»Hast du dich am Fuß verletzt?«, fragte ich.

»Ja, ich hab da so ’ne blöde Wunde, die einfach nicht heilen will«, sagte er. »Deshalb war ich in der Stadt. Ich musste zum Arzt, den Verband wechseln.«

»Die Gemeindeschwester kommt wohl nicht mehr hier raus, oder?«, fragte ich. »Ist die wunde Stelle am Unterschenkel?«

»Ja.«

»Dann kann auch ich dir den Verband wechseln«, sagte ich.

Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. »Stimmt, du bist ja Krankenschwester.« Doch dann fügte er hinzu: »Du hast jetzt frei, Juni. Mach dir keine Gedanken über mich.«

»Doch, doch, ich mache das gern. Wenn du das nächste Mal zum Arzt fährst, bringst du einfach alles mit, was wir brauchen.«

Wir gingen schweigend weiter, bis Alfred schließlich sagte: »Traurige Sache, das mit Lilla. Es ging so schnell.«

»Ja. Sie konnten nichts mehr für sie tun.«

»Bleibst du lange?«

»Ich weiß es nicht. Eine Weile.«

»Ich habe mir schon gedacht, dass du bald kommst. Du hast doch bestimmt das Haus geerbt?«, sagte er, als wir vor dem Tor stehen blieben.

»Ja, das stimmt.«

Lilla hatte in dem Haus gewohnt, nachdem Großmutter und Großvater vor drei Jahren gestorben waren. Alfred war ihr nächster Nachbar.

»Es muss mal gestrichen werden«, sagte er.

Ich öffnete das Tor. »Danke fürs Mitnehmen, Alfred. Wir sehen uns.«

»Das tun wir. Sag Bescheid, wenn du bei irgendetwas Hilfe brauchst.«

Ich schaute der großen, kräftigen Gestalt hinterher, die über den Weg davonhumpelte. Alfred war schon in jungen Jahren Witwer geworden. Er hatte zwei Söhne, die beide auf dem Festland wohnten. Sein ganzes Leben lang war er Krabbenfischer gewesen, bis er sich vor zehn Jahren die Schulter verletzt hatte und aufhören musste. Wenn wir als Kinder im Sommer nachmittags an der Mole badeten und er auf der Rückfahrt welche übrig hatte, spendierte er uns immer je eine Handvoll Krabben. Wir saßen dann auf der Mole und fütterten die Möwen mit den Krabbenschalen.

Alfred war jetzt Ende sechzig und der Letzte, der noch fest auf der Insel wohnte.

Warum habe ich ihm bloß angeboten, den Verband zu wechseln?, fragte ich mich und ging auf die Tür zu. Ich wollte doch allein sein.

***

Am Morgen war ich zu Hause in Drammen noch bei meiner Ärztin gewesen.

»Ich glaube, ich sollte Sie krankschreiben«, hatte sie gesagt und mich mit ernster Miene angesehen. »Und dabei denke ich nicht an ein oder zwei Wochen, Sie brauchen Ruhe und Zeit. Nehmen Sie sich bitte erst einmal für drei Wochen eine Auszeit.«

Die Beklemmung saß mir wie ein zentnerschweres Gewicht auf der Brust, und ich musste die aufsteigenden Tränen niederkämpfen, als ich ihr erzählte, warum ich gekommen war. Dass ich nicht mehr einschlafen konnte und wenn es mir dann endlich doch gelang, ich gleich wieder mit Herzklopfen und hohem Puls aufwachte. Außerdem fühlte ich mich nicht gut. Mir war immer wieder übel, und ich hatte keine Kraft mehr.

»Wie läuft es auf der Arbeit?«, fragte sie.

»Ich habe Schwierigkeiten, mich zu konzentrieren.«

»Aber die Arbeit gefällt Ihnen?«

Ich nickte. Es stimmte, ich liebte meinen Job als Krankenschwester. »Es hat nichts mit meiner Arbeit zu tun«, sagte ich.

»Womit dann?«

»Es geht …« Ich schluckte und dann noch einmal, aber schließlich brachte ich die Worte über die Lippen. »… um meinen Mann.«

»Ja?« Sie beugte sich vor und wartete.

»Er weiß nicht, wo ich bin.«

»Aha.«

»Wir waren ein paar Tage segeln. Eigentlich wollten wir die ganzen Osterferien über die schwedische Küste hinabsegeln. Aber dann bin ich einfach abgehauen.«

»Heute?«

»Nein, gestern. Im Hafen von Strømstad … wenn Jahn trinkt, dann … verliert er manchmal die Kontrolle.«

»Und dann …?«

»Dann …« Die Worte wollten nicht über meine Lippen.

»Schlägt er Sie?« Sie reichte mir ein Papiertaschentuch aus der Box, die auf dem Tisch stand.

Ich nickte und putzte mir die Nase. »Gestern bin ich an Land geflohen, und als ich zurückkam, hat er mich nicht an Bord gelassen. Ich bin eine ganze Weile kreuz und quer durch die Stadt gelaufen, und dann … ich hatte das wirklich nicht vor … habe ich den Bus nach Oslo genommen. Die Nacht habe ich in einem Hotel verbracht. Ich habe mich nicht getraut, nach Hause zu gehen, ich hatte Angst, dass er mir gefolgt sein könnte.«

Sie schrieb mir die Krankmeldung. »Ich kann Ihnen einen guten Psychologen empfehlen …«

»Vielleicht später«, sagte ich. »Nicht jetzt.«

Sie füllte ein Formular aus, reichte es mir und bat mich, im Labor noch eine Blutprobe nehmen zu lassen.

Als sie mich wieder zu sich ins Behandlungszimmer rief, sah ich ihr an, dass etwas nicht stimmte.

»Sie sind schwanger«, sagte sie.

Ich starrte sie ungläubig an. »Schwanger? Aber … Nein …«

»Das Ergebnis ist eindeutig«, erwiderte sie und schaute noch einmal auf die Resultate. Sie hob nicht den Blick, als sie fragte: »Was denken Sie darüber?«

»Ich … ich weiß es nicht. Ich glaube … ich will das Kind nicht haben.«

»Wann hatten Sie Ihre letzte Regel?«

Ich rechnete zurück. »Vor etwas mehr als fünf Wochen.«

»Dann haben Sie reichlich Zeit zum Nachdenken. Ich denke, das sollten Sie auch in Ruhe tun.«

»Aber …«

»Sie sind jetzt nicht in der Lage, eine solche Entscheidung zu treffen«, sagte sie bestimmt. »Nehmen Sie sich etwas Zeit. Die Grenze liegt bei zwölf Wochen. Wir können uns gern in ein oder zwei Wochen noch einmal unterhalten.«

2

Die steinerne Treppe war dreckig und grün vor Algen. Auch das Geländer hatte einen Grünschimmer. Ich blieb stehen und musterte die weiße Hausfassade. Das Skipperhaus war Anfang des 20. Jahrhunderts gebaut worden. Über der Eingangspartie war ein Erker, dort hatte Lilla ihr Zimmer gehabt. Die geteilten Fenster waren mit geschnitzten Leisten eingefasst.

Alfred hatte recht, das Haus brauchte einen neuen Anstrich. Ich stellte den Rucksack auf Großvaters Korbsessel hinter der Eingangstür. Dort hatte er im Sommer immer seine Zeitung gelesen. Auch der Sessel war alt und grau geworden.

Im Flur schlug mir der abgestandene Geruch des alten, leeren Hauses entgegen. Süßlich und feucht, vielleicht ein bisschen Schimmel, der typische Geruch von alten Häusern ohne Menschen. Und es roch nach Lilla, das Nikotin steckte noch in den Wänden.

Das Regal im Flur war voller Hüte. Lillas Hüte. Seit vielen Jahren hatte sie die nicht mehr getragen. Am Garderobenhaken hingen dicht übereinander ihr Regenmantel und ihre Sommer- und ihre Winterjacke. Schuhe und Stiefel türmten sich auf dem Boden vor der Kellertür. Ich zog meine Allwetterjacke aus, hängte sie über den Treppenpfosten und ging in die Küche. Dann drehte ich die Heizung unter dem Fenster auf und ließ das Wasser laufen, bevor ich mir einen Kaffee machte. Die Küche war erst kurz vor Großvaters Erkrankung neu eingerichtet worden. Weiße Oberschränke, die bis unter die Zimmerdecke reichten, eine Arbeitsplatte aus Granit und ein moderner Backofen mit Ceranfeld. Über dem Tisch hing eine Lampe des dänischen Designers Poul Henningsen.

Als Lilla vor einem halben Jahr ins Krankenhaus kam, war ich im Haus gewesen, um Kleider für sie zu holen. Ich hatte den Aschenbecher und den Kühlschrank geleert, die leeren Flaschen weggeräumt und den Müll nach draußen getragen. Dann hatte ich die Heizungen runtergedreht und war zurück zum wartenden Taxiboot gegangen.

Auf dem hellen Sofa im Wohnzimmer waren die Kissen an der einen Seite zusammengedrückt, als hätte Lilla dort gerade noch gelegen. Auf dem Couchtisch stapelten sich alte Magazine und Zeitschriften. In der einen Ecke des Raumes stand noch immer Großvaters Bett, ordentlich gemacht und mit einer bunten gestrickten Patchworkdecke darüber. Das Ganze war unverändert, seit er vor vier Jahren ins Altenheim gezogen war, ein Jahr vor seinem Tod.

Als ich klein war, war die Glasveranda immer voller Pflanzen gewesen. Es war dort so warm wie in einem Dschungel. Jetzt waren die großen Töpfe auf dem gefliesten Boden leer. Auf den halbhohen Regalen unter den Fenstern stapelten sich kleine schwarze Plastiktöpfe. Vor der hellblauen Innenwand standen Großmutters und Großvaters dunkelblaue Sessel, nur getrennt durch einen kleinen Messingtisch.

Ich öffnete die Tür zur Treppe in den Garten. Die Schaukel hing noch immer in der großen Birke, das Wetter und die Jahre hatten aber auch sie gezeichnet. Ich packte die Taue, stieß mich mit den Beinen ab, lehnte mich nach hinten und hob die Füße.

Es begann zu regnen, eine Art Nieselregen, aber ich blieb sitzen und lehnte den Kopf an das Tau.

Der Regen ist der Applaus des Lebens, hatte meine Großmutter immer gesagt.

Die Erinnerungen zeichneten sich wie scharfe Fotos auf der Netzhaut ab: Großmutter hier im Garten, abends im Regen, in einem ihrer roten Kleider. Sie trug niemals Hosen, immer nur Kleider mit einfachem Schnitt, gerne rot, egal ob zu festlichen Anlässen oder im Alltag. Sie liebte Farben. Ich habe sie nie in Schwarz gesehen. Nicht einmal bei Großvaters Beerdigung.

»Sie ist verrückt«, sagte Lilla, wenn Großmutter ruhig durch den warmen Sommerregen tanzte.

»Nein, ist sie nicht«, verteidigte Großvater sie immer. »Sie ist glücklich.«

Ich habe meine Großmutter nie so leichtfüßig erlebt wie an jenen Abenden, wenn sie durch den Garten tanzte. Ich schloss die Augen und nahm ihren Geruch wahr. Ihren Geruch, wenn sie glücklich war.

An anderen Tagen roch sie anders. »Warum tanzt Großmutter im Regen?«, habe ich Großvater einmal gefragt, ich mag damals vielleicht acht oder neun Jahre alt gewesen sein.

»Weil sie das froh und glücklich macht«, sagte er.

Wenn Großmutter getanzt hatte, verbeugte sie sich immer tief, als nähme sie den Applaus entgegen, dann kam sie durchnässt zurück ins Haus. Großvater stand dann immer schon mit dem Morgenrock bereit, und sie zog sich aus, hüllte sich in den Mantel, schmiegte sich an ihn, während er die Arme um sie legte. »Ich liebe dich, das weißt du, oder?«, sagte sie immer, und er blickte lächelnd auf ihre Haare hinab und erwiderte: »Das weiß ich, Tekla. Wir sind das Beste, was uns passieren konnte.«

Dann schenkte er zwei Gläser Portwein ein, immer Portwein, und deutete in Richtung der beiden Sessel.

»Ja, Konrad«, sagte meine Großmutter. »Lass uns miteinander reden. Es tut mir gut, mit dir zu reden.«

Ich lag in meinem Bett direkt über dem Wohnzimmer. Großvaters Stimme war ein leises Brummen, Großmutters eher ein helles Summen.

Worüber reden sie?, habe ich mich gefragt, während ihre Stimmen zu einem Schlaflied wurden, das durch mein Zimmer wogte und mich in das Reich der Träume entführte.

3

Lilla arbeitete in der Stadt und kam an den Wochenenden nach Hause. Ich habe sie immer nur Lilla genannt, nie Mama oder Mutter. Die Stimmung veränderte sich oft, wenn Lilla zu Hause war, der Puls des Hauses schien dann irgendwie schneller zu schlagen.

»Warum gehst du arbeiten?«, habe ich sie einmal gefragt. »Die anderen Mütter auf der Insel sind zu Hause.«

»Weil ich hier nicht wohnen kann, ich ertrage das nicht«, sagte sie. »In der Stadt gefällt es mir besser. Da kann ich leichter atmen.«

Die Antwort verwirrte mich, denn ich fand, dass die Luft hier bei uns viel besser war als in der Stadt. Ich dachte deshalb, dass es etwas mit mir zu tun haben musste und sie nicht die ganze Zeit mit mir zusammen sein wollte.

Bis ich auf die weiterführende Schule kam und zu Lilla in die Stadt zog, wohnte ich bei Großvater und Großmutter auf der Insel. Während meiner gesamten Kindheit pflegte ich auf der Mole zu stehen und auf Lilla zu warten. Meistens freitagabends, manchmal aber auch erst am Samstagnachmittag. Sie arbeitete in Torkildsens Modegeschäft und bekam dort Rabatt, so dass ich immer gespannt war, ob sie etwas Neues trug. Ein Kostüm, ein Kleid, eine neue Hose oder irgendetwas anderes Schönes. Als Kind war ich mir vollkommen sicher, dass niemand so moderne Sachen trug wie Lilla. Ich bewunderte sie. Sie sah immer aus wie eines der Modelle in den Modezeitschriften. Und sie roch so wunderbar, trug immer Parfüm mit seltsamen Namen: Red Door, Rive gauche, Anaïs Anaïs. Am besten gefiel mir aber Charlie. Auf der Flasche war ein Bild von einer Frau mit langen, blonden Haaren, die mit nackten Füßen bei Sonnenuntergang an einem Strand entlanglief. Sanfte Wellen rollten hinter ihr an Land. Sie trug einen kreideweißen Hosenanzug, und auch ihre Zähne waren blendend weiß. Schräg über ihre Beine stand geschrieben: »Gives you the time of your life!«

Schon wenn Lilla mir noch weit draußen auf dem Wasser von der Fähre aus zuwinkte, wusste ich, wie ihre Laune war. Manchmal wirkte sie abwesend, dann redete sie kaum, wenn wir nach Hause gingen, und zog sich später gleich in ihr Zimmer zurück. Wenn sie sich aber wirklich darüber zu freuen schien, mich zu sehen, lackierte sie mir die Nägel, machte mir die Haare und schminkte mich. Dann durfte ich auch in ihr Zimmer und auf ihrem Bett sitzen. Wenn sie dann fertig war und mich ansah, sagte sie oft: Du bist das hübscheste Mädchen, das ich kenne. Manchmal streichelte sie mir auch über die Wange. Dann kribbelte es in meinem Bauch, denn sie, die so elegant und schön war und nach Charlie roch, musste es ja wissen.

Manchmal bauten Lilla und ich im Winter im Garten Schneelichter. Wir formten Schneebälle, die wir zu hohen Ringen auftürmten, und platzierten eine Kerze in der Mitte. Einmal haben wir fünfzehn solcher Lampen gemacht, der ganze Garten war erleuchtet. Ich weiß noch, wie Großmutter gelacht hat, als sie über den von Großvater geräumten Weg zum Nebengebäude ging, in dem sie ihr Atelier hatte. Sie sagte, es sehe aus wie in einer katholischen Kirche.

Auf der Insel schneite es nur selten richtig viel, der Schnee reichte nie, um Höhlen oder Iglus zu bauen. Dafür war das Klima viel zu mild und wechselhaft. Aber einmal – mein Großvater meinte, das sei der schneereichste Winter seit Menschengedenken gewesen – hatte Lilla plötzlich die Idee, vom Balkon im ersten Stock in den Schnee zu springen. Wir schaufelten einen großen Haufen Schnee zusammen, bis er so hoch war, dass wir darin landen konnten. Ich kletterte aufs Geländer, hielt mich am Pfosten fest und sah nach unten. Lilla stellte sich neben mich.

»Du schaffst das«, sagte sie.

»Ich trau mich nicht«, erwiderte ich, und sie nahm meine Hand.

»Doch, das tust du. Wir werden wie in Baumwolle landen.«

Ich sah erst nach unten, dann zu Lilla.

»Stell dir vor, du könntest fliegen«, sagte sie.

Ich kann fliegen, sagte ich zu mir, ich kann fliegen. Ich wollte, dass sie stolz auf mich war, wollte, dass sie mich mutig und stark fand. Ich weiß nicht, wovor ich am meisten Angst hatte: davor, zu springen, oder davor, sie zu enttäuschen. Ich schloss die Augen – und sprang. Mir blieb die Luft weg, ich bekam Schnee in Mund und Nase und rang heulend nach Atem.

Lilla war plötzlich dicht neben mir. Auch sie musste gesprungen sein. Sie zog mich aus dem Schnee und drückte mich an sich. »Geht’s dir gut? Hast du dir weh getan?« Ihre Stimme klang besorgt. »Tut dir irgendwas weh?«

Ich spürte in mich hinein. Nein, es tat mir nichts weh. Aber trotzdem weinte ich. Sie hielt mich in ihren Armen, während ich schluchzend ihren Duft einsog, eine Mischung aus kaltem Schnee und Charlie. Ich weinte lange, damit sie mich nicht losließ.

Großmutter hörte oft Musik, wenn sie im Nebengebäude war und malte.

»Chopin«, sagte sie und nahm eine Schallplatte, legte sie auf den alten Plattenspieler, blieb eine Weile stehen und wartete auf die Musik. Als die ersten Töne erklangen, trat sie an die Staffelei. »Chopin«, sagte sie wieder. »Die schönste Klaviermusik, die ich kenne. Mit Orchester. Dirigiert von Herbert von Karajan. Auch der war Mitglied in der NSDAP«, fügte sie hinzu, als spräche sie mit sich selbst.

»Was ist die NSDAP?«, fragte ich.

»Das lernst du, wenn du in die Schule kommst.«

Mit raschen Bewegungen begann sie, die Farben zu mischen. »Es ist schon komisch, wie die Vergangenheit an einem kleben bleiben kann«, fuhr sie fort, den Blick auf die Leinwand gerichtet. »Karajan bekam das zu spüren, obwohl er später eine Vierteljüdin geheiratet und die Partei verlassen hat.«

»Was ist eine Vierteljüdin?«

»Eine Person, deren Großvater oder Großmutter Jude war«, antwortete sie.

Dann schloss sie für ein paar Sekunden die Augen, und ich traute mich nicht mehr, noch weitere Fragen zu stellen. Sie atmete durch die Nase, und ihre Brust hob und senkte sich. »Ah! Das Klavierkonzert Nr 1 in e-Moll. Jetzt kann ich malen.«

Ich fand es komisch, dass dieser Chopin sie inspirierte, denn ihr Gesicht hatte immer etwas Wehmütiges, wenn sie die Musik hörte. Zumindest scheint mir Wehmut das richtige Wort zu sein, wenn ich heute daran zurückdenke. Damals kannte ich solche Ausdrücke natürlich noch nicht, aber ich sah, dass irgendetwas über sie kam.

Auch ich mochte Chopin. Wenn ich der Musik lauschte, gelang es mir, ziemlich lange still dazusitzen und zuzusehen, wie ihr Bild allmählich Form annahm. Denn nur wenn ich mich ganz still verhielt und nichts sagte, durfte ich bei Großmutter im Atelier sein.

Im Sommer stand die Tür zum Garten immer offen, und nachmittags krochen die Sonnenstrahlen dann langsam auf Großmutter zu, bis sie ihr Gesicht trafen und sich wie goldene Bänder auf ihre hochgesteckten Haare legten. Wenn sie eine Weile nicht beim Frisör gewesen war, entlarvte das Licht das Grau an ihrem Scheitelansatz und an ihrer Stirn. Ihre Falten warfen dann dunkle Schatten, die sich wie scharfe Striche von den Augen ausbreiteten. Auf der Stirn hatte sie horizontale Furchen, und die lange Narbe, die sich vom Nasenflügel bis zum Ohr quer über die eine Wange zog, trat deutlicher hervor. Ich habe sie einmal gefragt, woher diese Narbe stamme, aber sie sagte nur, sie könne sich nicht erinnern, das sei alles so lange her.

Meine Großmutter war auf ganz andere Weise schön als Lilla. Heute denke ich, dass sie eine Schönheit ausstrahlte, die nur das Alter einem Menschen geben kann.

Wenn sie malte, legte sich oft ein sanftes Lächeln auf ihr Gesicht. An anderen Tagen fuhr sie mit dem Pinsel schnell und hart über die Leinwand, als hätte sie wenig Zeit, dann wirkte ihr Gesicht verbissen. Einmal war ich dumm genug, sie zu fragen, ob sie sauer sei. Sie antwortete mit leiser, abweisender Stimme, dass ich still sein solle, sonst müsse ich gehen. Ich lief damals weinend zu Großvater, weil Großmutter so schroff gewesen war. Er nahm mich in die Arme und sagte: »Sie ist nicht sauer auf dich, sie ist nur in ihrer eigenen Welt und will nicht gestört werden. Komm, lass uns mal ans Meer gehen.«

Großvater und ich gingen in der Regel auf die Ostseite der Insel, wo es ein Plateau auf den Felsen gab, das von Norden und Westen vor dem Wind geschützt war. Im Sommer pflückte ich Blumen. Strandnelken, Gräser und Blutweiderich. Im Winter waren die Pfützen gefroren und das Eis so dünn wie Glas. Es knackte immer so lustig, wenn man darauf trat. Großvater sagte lächelnd, dass Lilla genau dasselbe getan habe, als sie klein war. Ich dachte in diesen Momenten immer, dass ich ihr vielleicht ähnelte und einmal genauso schön werden könnte, wenn ich groß war.

Während des Krieges war Großvater Seemann gewesen. Er erzählte nie, was er erlebt hatte, nur von der Zeit danach, als er auf großen Schiffen die Welt bereiste. Bevor er an Land gegangen und in der Reederei in Kragerø zu arbeiten begonnen hatte.

Wenn wir auf den Felsen saßen und über das Wasser blickten, erzählte er mir von fremden Meeren. Wie er Lilla davon erzählt hatte, als sie klein gewesen war. New York, Buenos Aires, Honolulu, Madras, Bremerhaven. Das alles waren seltsame Namen, die mir schwer über die Zunge gingen.

»Warum bist du später nicht mehr zur See gefahren?«, fragte ich.

»Ich habe es nicht mehr geschafft, so lange von Großmutter getrennt zu sein.«

An einige seiner Geschichten erinnere ich mich noch: an den Stewart, der seinen Job verlor, weil er trank; oder den Matrosen, der sich so nach seiner Geliebten zu Hause in Norwegen sehnte, dass er eine ganze Woche in seiner Kajüte saß und weinte; oder an den Maschinisten, der nach einem Landgang in Kapstadt die Abfahrt des Schiffes verpasst hatte. Doch von all seinen Geschichten erinnere ich mich vor allem daran, dass er es nicht mehr geschafft hatte, so lange von Großmutter getrennt zu sein.

Als Erwachsene bemerkte ich die Zärtlichkeit und Nähe zwischen ihnen. Sie konnten ohne einander nicht sein, und sie waren auch nie ohne einander.

Als mein Großvater siebenundachtzig Jahre alt war, bekam er einen Schlaganfall. Danach war er bettlägerig und konnte nicht mehr sprechen. Großmutter pflegte ihn. Sie wollte nicht, dass andere sich um ihn kümmerten, und so geschah es dann auch. Es wurde immer getan, was sie wollte. Sie selbst war noch ziemlich fit und voller Energie, bis sie irgendwann einsah, dass Großvater ins Pflegeheim musste. Danach sackte sie mehr und mehr in sich zusammen, als wäre all ihre Kraft aufgebraucht. Obwohl ihre eigene Gesundheit sich verschlechterte, besuchte sie ihn jeden Tag und bei jedem Wetter in der Stadt. Aber ohne ihn war sie nicht mehr dieselbe. Sie, die immer so energisch und leichtfüßig gewesen war, wurde langsam und schwerfällig. Ich weiß nicht, ob sie in ihrem letzten Lebensjahr noch ein einziges Bild gemalt hat.

Drei Tage nach Großvaters Beerdigung – das war im Frühjahr – ging sie nach draußen in den Regen und tanzte. Ich stand auf der Glasveranda und lächelte ihr zu, beobachtete, wie ihr schmaler Körper sich langsam drehte.

Es sah aus, als würde sie sich ruhig ins Gras niederlegen.

Herzversagen, konstatierte der Arzt.

Gebrochenes Herz, dachte ich.

4

Die Soldaten im Bus sangen aus vollem Hals: Ein Wanderbursch, mit dem Stab in der Hand, kommt wieder heim aus dem fremden Land. Erst als ein Baby zu schreien begann, verstummten sie. Tekla beobachtete die Frau, die ihr Kind zu beruhigen versuchte. Sie knöpfte sich die Bluse auf, legte das Kind an und bedeckte sich selbst und den kleinen Kopf mit dem Schal, den sie um ihren Kopf geschlungen hatte. Die Haare waren ihr bis auf kurze Stoppeln abrasiert worden.

Tekla zog ihren eigenen Schal tiefer in die Stirn. Ich bin eine von ihnen, dachte sie. Eine Ausgestoßene. Eine Tyskertøs – ein »Deutschenmädchen«, eine Hure, eine Verräterin. Aber noch kann ich mich umentscheiden, aussteigen und zu Tante Amalie in Oslo reisen. Die Schande und die Demütigungen ertragen und abwarten, bis es vorbeigeht.

Als ob Otto ihre Gedanken gelesen hatte, nahm er ihre Hand. Nein, sie würde bei ihm bleiben. Tekla legte ihren Kopf auf seine Schulter und sah zu den anderen in dem überfüllten Bus. Es waren vor allem deutsche Soldaten, aber auch einige junge Norwegerinnen. Viele davon mit Kindern. Sie begegnete dem Blick eines kleinen Jungen. Er saß still da und sah sie mit ernster, fast ängstlicher Miene an. Er und seine Mutter reisten allein. Sie hielt ihn in ihrem Arm und sah durch das Fenster nach draußen. Manchmal hob er den Blick und sah sie an. Er hatte ein kleines, rotes Auto in der Hand, spielte aber nicht damit.

Der Fahrer musste an einem Hang herunterschalten, und das Getriebe antwortete mit einem unwilligen Kratzen. An der Tür stand ein norwegischer Soldat, der die Leute im Bus im Auge behalten sollte. Er lachte, als er für einen Moment das Gleichgewicht verlor.

Die Luft war schwer. Es roch nach Schweiß, Leder und nasser Wolle. Die Fenster waren beschlagen, draußen rann der Regen wie ein dünner Film über die Scheibe. Tekla sah Menschen und Gebäude vorbeigleiten, bis sie gleich darauf wieder von Feldern und Wald umgeben waren.

Sie wusste nur, dass sie in ein Lager in Mandal gebracht werden sollten. Wie lange sie dort bleiben mussten, bevor sie mit einem Schiff nach Deutschland gebracht würden, das wusste sie nicht.

»Wird dir schlecht?«, fragte Otto.

»Nein, nein, ich bin nur müde«, antwortete sie und schob ihre Hand unter seine Uniformjacke.

***

Zwei Tage nach der Befreiung hatte ihr Vater sie früh am Morgen geweckt.

Vor der Arbeit pflegte er immer kurz bei ihr hereinzuschauen. »Guten Morgen, die Sonne scheint für dich«, sagte er manchmal. Es waren immer ein paar Worte über das Wetter, und wenn sie nicht antwortete, kitzelte er sie an den Füßen.

Doch dieses Mal stand er nur ernst in der Tür. »Du musst runterkommen, Tekla, sofort.«

Sie warf sich einen Morgenmantel über die Schultern und folgte ihm. Unten in der Halle nahm er ihren Arm, führte sie nach draußen und zeigte auf die Hauswand. Direkt neben der Tür stand mit dicken Buchstaben Tyskertøs. Er schob sie vor sich her ins Wohnzimmer, in dem die Mutter auf und ab ging, die Kissen auf dem Sofa zurechtrückte und ein paar trockene Blätter von einer Pflanze zupfte. Teklas fünf Jahre älterer Bruder Henrik saß auf einem Sessel am Fenster. Ihm war anzusehen, wie wütend er war.

»Ist das wahr?«, fragte er scharf. Tekla hatte ihn selten derart außer sich erlebt. »Antworte!«, schimpfte er, als sie nichts sagte.

»Ich … ich habe Otto nur ganz selten getroffen. Das ist der, der mir mit dem Pferd geholfen hat«, sagte sie.

Es stimmte nicht, im letzten halben Jahr hatten sie sich mehrmals die Woche gesehen, aber nie gemeinsam mit anderen. Sie war sich sicher gewesen, von niemandem gesehen worden zu sein.

»Und das soll ich dir glauben?«, fragte Henrik. »Wie konntest du nur?« Seine Stimme wurde immer lauter. »Ich verstehe das nicht!«

Der Vater breitete die Arme aus und zeigte auf die Tageszeitung, die auf dem Tisch lag. Einen Moment fürchtete sie, es könne darin etwas über sie geschrieben stehen. Sie trat an den Tisch und las die Überschrift. »Die meisten Deutschenmädchen sind geistig beschränkt«, stand dort.

»Du bist doch ein anständiges, intelligentes Mädchen, Tekla«, sagte der Vater. »Verstehst du, was du getan hast?«

»Aber … wie können die … wissen …«, stotterte sie.

»Jemand muss euch zusammen gesehen haben. Wie konntest du nur so gedankenlos sein, so … unmoralisch und dumm? Wir haben dich doch anständig erzogen, oder etwa nicht?«

»Was werden die Leute jetzt nur über uns sagen?«, jammerte ihre Mutter und presste sich ein Taschentuch vor den Mund.

Tekla sah sie schweigend an. Ihr war kalt bis ins Mark. Ihre Mutter interessierte wieder einmal nur, was die anderen dachten. Und ihr Bruder würde sie niemals verstehen. Das Schlimmste aber war, dass sie auch ihren Vater hintergangen hatte, schließlich hatte sie ihm versprochen, sich von Otto fernzuhalten, nachdem dieser ihr geholfen hatte, das nervöse neue Pferd zu zähmen.

»Otto mag Hitler auch nicht, er …«

»Er mag Hitler nicht?«, fiel Henrik ihr ins Wort. »Du bist wirklich naiver, als ich gedacht habe. Du hast Schande über dich gebracht, über die ganze Familie!«

Ihr Vater lief aufgeregt hin und her. Schließlich trat er vor sie.

»Dein eigener Bruder wäre im Kampf für ein freies Norwegen beinahe umgekommen«, sagte er und zeigte auf Henrik. »Er hat sein Leben riskiert. Wir sind anständige Leute, aber du, du hast …«

»Otto hat niemanden getötet«, unterbrach sie ihn.

Henrik schnaubte verächtlich. »Das kannst du nicht wissen.«

»Aber er ist nicht so.«

»Wie, so? Er ist Soldat, er ist einer unserer Feinde! Einer von denen, die gute Norweger gefoltert und getötet haben.«

Tekla antwortete nicht. Was sollte sie auch sagen?

»Du musst doch verstehen, dass du dich nicht einfach in irgendwen verlieben kannst«, sagte ihre Mutter schluchzend.

»Otto ist ein anständiger Mann«, sagte Tekla kleinlaut. »Er ist wirklich nett.«

»Nett?«, sagte die Mutter. »Es gibt keine netten Deutschen!«

»Du hast dich wichtiger genommen als alles andere, hast dein Vaterland mit Füßen getreten«, sagte ihr Vater. »Du wirst diesen Deutschen nie wiedersehen, nicht solange ich lebe!«

Tekla begegnete Henriks Blick. Die Verachtung in seinen Augen stach wie Nadeln, als er an ihr vorbei aus dem Zimmer stürmte und die Tür zuwarf.

Ihre Mutter fasste sich an die Stirn, schloss die Augen und verzog das Gesicht zu einer schmerzverzerrten Grimasse.

»Ich ertrage das nicht mehr«, sagte sie. »Jetzt, da der Krieg endlich vorbei ist und wir uns freuen sollten, bringst du uns neue Sorgen. Ich gehe ins Bett, ich habe Kopfschmerzen.«

 

Ihr Vater verbot Tekla, nach draußen zu gehen. Er meinte, es könne gefährlich für sie sein. »Man kann nicht wissen, was da draußen passiert, die Menschen sind wütend auf alle, die etwas mit den Deutschen zu tun hatten.«

Am späten Nachmittag ging sie trotzdem zum Stall. Sie war niedergeschlagen, ruhelos und voller Angst. Vielleicht sollte sie kurz ausreiten, um auf andere Gedanken zu kommen. Außerdem würde ihr im Wald bestimmt niemand begegnen.

Sie ritt in hohem Tempo und ließ das Pferd erst wieder im Schritt gehen, als sie sich dem Hof näherte.

Am Waldrand hinter dem Stall saßen ein paar Jungs und rauchten. Sie blickte stur geradeaus, richtete sich kerzengerade im Sattel auf und sah sie nicht an. Sie sollten nicht merken, dass sie Angst hatte. Doch als sie auf ihrer Höhe war, stürmten die Jungs plötzlich auf sie zu, und noch ehe ihr klar war, was geschah, hatte einer von ihnen die Zügel gepackt. Der andere zog sie vom Pferderücken.

»So, so, du wagst dich also unter anständige Menschen?«, fragte einer von ihnen frech.

Tekla versuchte sich loszureißen, aber sie umringten sie nur hämisch lachend.

»Lasst mich durch«, sagte sie und versuchte einen der Kerle wegzuschieben.

»Verdammt, die Tyskertøs hat mich angefasst!« Der größte der Jungen schlug ihr gegen die Brust, so dass sie ein paar Schritte nach hinten zurückweichen musste, um nicht zu fallen.

Ein anderer packte sie und begann zu rufen: »Schnipp, schnapp, Haare ab!«

Die anderen stimmten mit ein und skandierten: »Schnipp, schnapp, Haare ab!«

Einer von ihnen hatte plötzlich eine Schere in der Hand. Tekla presste sich die Hände auf den Kopf und versuchte, sich zu schützen, aber die Jungen drückten sie zu Boden und packten ihre Arme und Beine. Der Junge mit der Schere zog ihr an den Haaren. Sie schrie, steckte aber wie in einem Schraubstock fest und konnte sich nicht rühren. Es nützte nichts, Widerstand zu leisten. Sie schluchzte, als sie das Schneiden hörte und spürte, wie dicht die Schere an ihrer Kopfhaut entlangfuhr.

Die Jungen schrien im Takt. »Schnipp, schnapp, Haare ab, schnipp, schnapp, Haare ab!«

Ihre Locken fielen auf den Boden, auf ihre Schultern und klebten an ihrer Jacke.

Als die Jungen sie losließen, blieb sie, das Gesicht in den Händen verborgen, liegen.

»Kommt«, hörte sie einen von ihnen sagen. »Jetzt kann jeder sehen, was das für eine ist, egal wo sie hingeht.« Der Junge beugte sich über sie: »Wir werden nie vergessen, was du getan hast, du Deutschenhure.«

Dann spuckte er sie an.

Tekla lag still da und hörte, wie die Schritte sich entfernten. Dann strich sie sich mit den Fingern über die kurzen Stoppeln, wischte die Haare beim Aufstehen weg, stand auf und führte das Pferd langsam zum Stall.

 

Ihre Mutter versuchte das Beste aus den verbliebenen Stoppeln zu machen, aber ohne großen Erfolg. Anschließend band Tekla sich ein Kopftuch um.

»Wärst du mal zu Hause geblieben, ich habe es dir ja gesagt«, meinte ihr Vater.

»Ich bin doch nur kurz durch den Wald geritten.«

»Du solltest zu Tante Amalie nach Oslo reisen«, sagte er und wandte sich ab. »Da kennen dich nicht so viele Leute.« Seine Stimme war belegt, und er hustete in seine Hand.

 

Spät am Abend, nachdem Tekla ins Bett gegangen war, hörte sie Steinchen an ihrem Fenster. Sie zog sich rasch an, schlich nach unten und ging durch die Küche nach draußen. Sie hatte sich gefragt, ob sie Otto jemals wiedersehen würde oder ob er vielleicht schon fort war, denn in den letzten Tagen war nicht ein Deutscher zu sehen gewesen. Sah sie ihn heute zum letzten Mal?

Sie gingen in den Stall und setzten sich auf seinen Mantel, den er auf dem Boden ausgebreitet hatte. Otto drückte sie voller Entsetzen an sich, als er ihre Haare sah.

»Wann fährst du?«, fragte sie.

»Übermorgen.«

Tekla begann zu weinen.

»Ich komme zurück«, tröstete er sie. »Das verspreche ich dir.«

»Wie willst du denn hierher zurückkehren? Wir werden uns nie wiedersehen, Deutsche und Norweger sind noch immer Feinde, auch wenn der Krieg vorüber ist.«

»Aber wir sind keine Feinde, Tekla. Nicht du und ich«, flüsterte er in ihre Haare. »Und wenn der Krieg nicht gewesen wäre, hätte ich dich niemals getroffen. Ich liebe dich. Es werden andere Zeiten kommen, das Leben wird wieder normal werden. Dann komme ich zurück und hole dich.« Er legte seine Wange an ihre. »Oder …« Er zögerte etwas, bevor er weiterredete: »Oder du kommst mit mir, wenn ich gehe.«

Mit ihm mitkommen? Nach Deutschland? Und alles hier verlassen? Nein, das konnte sie nicht.

Oder … vielleicht doch?

Sie drehte sich zu ihm, drückte ihre Lippen fest auf seine und hörte, wie kurzatmig er wurde. Er roch nach Leder und Wolle, und sein Mund schmeckte nach Pfefferminzkaugummi. Sie zitterte, als er sie aufs Schlüsselbein küsste, ihr die Bluse aufknöpfte und ihr über den Bauch strich. Ein Keuchen kam über ihre Lippen, aber er ließ sie warten. Beide stöhnten leise auf, als er in sie eindrang und sie wie von einer Welle emporgehoben wurde, die höher und höher wurde, während er ihren Namen so zärtlich flüsterte, wie nur er es konnte.

***

Tekla wischte mit der Hand über die beschlagene Scheibe, um einen Blick auf die weißen Holzhäuser von Mandal zu erhaschen. Gleich darauf waren sie in Kleven, dem Lager außerhalb der Stadt. Alle reckten die Hälse, als der Bus anhielt. An der Schranke stand ein Soldat vor einem Wachhäuschen, das wie ein hochkant gestellter Sarg wirkte. Tekla und Otto saßen weit vorn im Bus, so dass sie durch die Frontscheibe direkt ins Lager blicken konnten. Im heftiger gewordenen Regen war aber nur wenig zu erkennen. Ein großes Gebäude wurde von hellen Scheinwerfern angestrahlt, und entlang eines Stacheldrahtzauns waren mehrere Wachtürme zu sehen, auf denen bewaffnete Soldaten standen.

Das ist kein Lager, das ist ein Gefängnis, dachte sie. Wir werden eingesperrt.

Auch die Gesichter der anderen Frauen verzogen sich, als ihnen klarwurde, an was für einem Ort sie gelandet waren. Für einen Moment dachte Tekla, dass es noch nicht zu spät war. Sie könnte Otto sagen, dass sie es nicht übers Herz brachte fortzugehen, sie könnte aus dem Bus springen und fortlaufen.

Da sagte er: »Endlich angekommen«, und drückte ihre Hand.

Sie rang sich ein flüchtiges Lächeln ab.

Ein Soldat kam in den Bus, ging prüfend durch die Reihen, dann hob sich die Schranke, und der Wagen fuhr weiter. Einer der norwegischen Soldaten hatte ihnen erklärt, dass Kleven während des Krieges ein deutsches Lager und ein Flugplatz gewesen war. Jetzt hatten englische Truppen und verschiedene norwegische Einheiten die Anlage übernommen.

Ein roter Pfeil zeigte in Richtung des großen, hell erleuchteten Gebäudes. Es schien ein Hangar zu sein. An der Außenwand waren Verschläge aus Hühnerdraht, an denen Schilder hingen. Tekla reckte den Hals, als der Bus in Richtung Flugplatz daran vorbeifuhr. Bergen-Belsen, Dachau, Auschwitz, las sie, ohne zu begreifen.

 

Tekla und Otto bekamen eine Kammer in einer langgestreckten Baracke zugewiesen. Das Zimmer war möbliert mit zwei Betten, ein paar Stühlen, einem kleinen Tisch am Fenster und einem Kleiderschrank. Die Wände waren ungestrichen und der Boden dreckig. Es gab weder Teppiche noch Gardinen. Auch die Matratzen hatten große Flecken und stanken.

Sie trat ans Fenster, und Otto kam zu ihr.

»Es müssen an die tausend Soldaten hier sein«, sagte er und legte von hinten die Arme um sie. »Es kann eine Weile dauern, bis wir mit einem Schiff von hier wegkommen.«

Tekla schloss die Augen und ließ sich kurz von ihm halten. Dann holte sie Luft, befreite sich aus seinen Armen und begann die wenigen Dinge auszupacken, die sie mitgenommen hatte. Sie musste etwas tun. Sie legte die Kleider in den Schrank und hängte den weißen, gehäkelten Schal über einen Stuhlrücken. Den Skizzenblock und das Kästchen mit den Bleistiften platzierte sie auf dem Tisch. Sobald sich alles geregelt hatte, wollte sie zu zeichnen beginnen, endlich wieder etwas Normales tun. Otto ging nach draußen, und sie öffnete das Fenster, um durchzulüften und den Geruch der Menschen, die vor ihr hier gewesen waren, zu vertreiben. Morgen wollte sie die ganze Kammer durchwischen.

Mit einem Mal fühlte sie sich beobachtet. In der Türöffnung stand eine kleine, rundliche Frau mit einer dicken Brille. Sie stellte sich als Sonja vor, lächelte Tekla fröhlich an und wirkte, als hätte sie nicht die geringsten Sorgen. Dann erzählte sie, dass sie mit ihrem Mann Stephan im Nebenzimmer wohne.

»Etwas entfernt gibt es eine leerstehende Baracke, in der noch Gardinen hängen. Wenn du magst, zeige ich es dir.«

»Können wir uns denn einfach bedienen?«, fragte Tekla unsicher.

»Klar können wir das, wir müssen nur dafür sorgen, dass uns niemand sieht«, erwiderte Sonja lächelnd. »Ich hab das schon gemacht. Wir sind vorgestern gekommen.«

In der unbewohnten Baracke nahmen sie die Gardinen ab und stopften sie unter ihre Kleider, bevor sie zurückgingen. Obwohl das Orange des Stoffes verblasst war, würden die Vorhänge den Raum wohnlicher machen und die Morgensonne abhalten, die sonst direkt in ihre Kammer schien.

Als Tekla die Gardinen aufhängte, kam Otto mit einem Strauß Wiesenblumen und einer alten Blechdose, die er gefunden hatte.

Tekla wusch die Dose aus, füllte sie mit Wasser und stellte sie mit den Margeriten und Glockenblumen auf den Tisch am Fenster.

»Hast du jemals so schöne Blumen in einer so hässlichen Vase gesehen?«, fragte Otto lachend.

Tekla musste an die Kristallvase zu Hause in der Stube denken, die immer mitten auf dem Esstisch stand. In der Weihnachtszeit mit Christdorn aus dem Garten und im Frühjahr mit Flieder, der die Zimmer mit seinem Duft erfüllte. Am 8. Mai morgens beim Frühstück hatte Vater erzählt, dass die Deutschen kapituliert hätten. Mutter hatte daraufhin zwei kleine norwegische Fahnen hervorgeholt und zusammen mit frischen Birkenzweigen in die Vase gesteckt.

Tekla seufzte. Diese Gedanken halfen ihr nicht weiter, sie machten alles nur noch schlimmer.

»Ja, ein wahres Herrenhaus«, antwortete sie und versuchte ein Lächeln.

»Rufst du mal das Hausmädchen?« Otto setzte sich und klopfte ungeduldig auf den Tisch. »Sie soll endlich die Lammkeule, die überbackenen Kartoffeln und die glasierten Karotten bringen.«

Er nahm Teklas Arm, zog sie auf seinen Schoß und erstickte ihr Lachen mit einem Kuss.

5

In der ersten Nacht im Haus wachte ich wie gewöhnlich mitten in der größten Finsternis auf. Ich lag da und wartete darauf, dass wieder die übliche Unruhe über mich kam. Aber es geschah nicht, ich bekam keine Gänsehaut, und auch mein Puls blieb normal. Ich legte die Hände auf meinen Bauch. Nein, daran wollte ich jetzt nicht denken. Ich schlug die Decke zur Seite, stieg aus dem Bett und zog den Morgenmantel an, der auf dem Stuhl am Fenster lag.

Wenn Großvater und ich auf dem Meer waren, lehrte er mich das Navigieren und Kartenlesen. Er sagte, die meisten Menschen glaubten, es sei einfach, ein Boot zu fahren; man müsse nur das Steuer festhalten und die gewünschte Richtung nicht aus den Augen verlieren. Aber so ist es nicht. Erst bei schwerer See von hinten kann man wirklich zeigen, was in einem steckt, meinte er. Die anrollenden Wellen nähmen das Boot nämlich mit und brächten es vom Kurs ab. »Dann kann man nicht mehr geradeaus fahren, sondern schippert kreuz und quer über das Wasser. Vermeiden kann man das nur, wenn man gegenlenkt, bevor die Wellen das Schiff treffen und es zur Seite drängen. Es reicht nicht, einfach nur nach vorn zu schauen. Man muss den Blick auch nach hinten richten, um zu wissen, wann die nächste Welle kommt und hart dagegen ansteuern. Genau wie im Leben«, sagte Großvater. »Die Menschen sagen immer, man soll nicht zurückblicken, aber das ist falsch. Man muss ein Stück weit zurückschauen, um zu wissen, wer man ist und woher man kommt. Erst dann lernt man wirklich zu manövrieren.«

Ich hatte die Wellen nicht gesehen, die mich vom Kurs abgebracht hatten.

 

Ich stöberte im Wohnzimmer herum, und all die Dinge dort versetzten mich zurück in meine Kindheit. Vor der Wand mit den Familienfotos blieb ich stehen. Ich studierte das handkolorierte Hochzeitsfoto von Großmutter und Großvater. Ihre Gesichter waren unnatürlich rosa und der Hintergrund hellgrün.

Wie hatten sie sich getroffen? Es gab so vieles, was ich nicht wusste, und fragen konnte ich jetzt auch niemanden mehr.

Auf einem Foto saß Lilla zwischen ihren kleinen Brüdern, Ove und Oskar. Sie hatte ihre Arme schützend um sie gelegt und lächelte mit offenem Mund. Sie war vielleicht sechs oder sieben Jahre alt, die Zwillinge waren ungefähr zwei. Ich hatte meine Onkel vor drei Jahren bei der Beerdigung von Großmutter das letzte Mal gesehen. Zu Lillas Beerdigung waren sie nicht gekommen, vermutlich waren sie im Ausland.

Auch Lillas Konfirmationsfoto hing dort. Sie hatte lange, fast schwarze, offene Haare und braune, etwas eng stehende Augen. Meine Haare und meine Augen. Aber sie glich weder Großvater noch Großmutter, sah man einmal von Großvaters braunen Augen ab.

Lilla sah direkt in die Kamera, ihr Blick war fest, und sie wirkte selbstbewusst. Früher war sie wirklich schön und stark gewesen.

Ein weiteres Bild zeigte sie und mich, ich war auf dem Foto vielleicht ein Jahr alt. Als es aufgenommen wurde, muss sie in meinem jetzigen Alter gewesen sein: Anfang dreißig. Ihr Blick hatte etwas nach innen Gerichtetes. Sie trug eine blaue Tunika und eine weiße Bluse. Mit dem einen Arm hielt sie mich, während sie mir mit dem anderen Handrücken über die Wange streichelte. Was hatte sie gefühlt, was gedacht, als sie mich bekommen hatte? Warum hatte sie mir nie erzählt, wer mein Vater ist?

Es gab niemanden mehr, zu dem ich mit meinen Fragen hätte gehen können. Niemand, der mir erzählen konnte, was ihnen widerfahren war, was sie erlebt, gedacht, gefühlt oder geträumt hatten. Keiner von ihnen würde jemals wieder reden, lachen, weinen – oder tanzen.

Ich setzte mich in Großmutters Sessel auf die Glasveranda und hüllte mich in ihre Decke. Auf dem Boden unter dem Fenster standen einige leere Weinflaschen. In der Regel hatte ich Lilla ein- oder zweimal im Monat besucht, aufgeräumt und das Haus gewischt. Sie kommentierte das nie, hat mir nie dafür gedankt. Ich glaube, ihr war das alles egal.

Vor sechs Monaten war sie dann mit Atembeschwerden und hohem Fieber ins Krankenhaus gekommen. Die Untersuchungen ergaben, dass sie Lungenkrebs hatte, der bereits gestreut hatte. Sogar noch ganz am Ende, als sie nur noch apathisch im Bett lag, weigerte sie sich, mir zu sagen, wer mein Vater ist, obwohl ich sie angefleht habe.

Hat sie sich für irgendetwas geschämt? Mich vor etwas Schrecklichem schützen wollen? In all den Jahren habe ich immer wieder darüber nachgedacht. Wurde sie vergewaltigt? War es ein One-Night-Stand? Erinnerte sie sich nicht an ihn? Hatte sie in der Zeit noch mit anderen geschlafen und wusste nicht, von wem ich war?

»Du musst mir erzählen, wer er war«, flehte ich sie an einem ihrer letzten Tage an. »Ich will wissen, wer ich bin. Außerdem kriege ich vielleicht ja selbst mal Kinder, und dann kann es um irgendwelche Erbkrankheiten gehen.«

Die Gestalt im Krankenhausbett war nur noch Haut und Knochen, sie konnte nicht mehr essen, nicht mehr reden, schaffte es aber noch, die Hand zu heben, eine Faust zu ballen und mich zweimal zu schlagen, als ich sagte: »Ich habe ein Recht darauf, es zu erfahren!«

 

Das Morgenlicht ließ die Gardinen leuchten, als ich wach wurde. Ein paar Sonnenstrahlen hatten ihren Weg durch einen kleinen Spalt gefunden und mich geweckt. Es war sieben Uhr.

Ich blieb still liegen und fuhr mir mit der Hand über den Bauch.

Jahns Kind.

Ich will Jahns Kind nicht haben.

Langsam stand ich auf und ging in die Küche. Nahm mir ein paar Scheiben Brot mit hinaus auf die Veranda und lud mein Handy auf. In der tiefstehenden Morgensonne sah ich, wie verwildert der Garten war. Der weiße Staketenzaun war ganz grau geworden.