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Und dann werden wir tanzen: Drei mutige Frauen, die durch unverbrüchliche Freundschaft überleben 2024: Juni Bjerke erhält einen Anruf. Erst jetzt erfährt sie vom Schicksal der geliebten Freundinnen ihrer Großmutter Tekla. 1944: Norwegen ist von den Deutschen besetzt. Die junge Krankenschwester Birgit begegnet der 16-jährigen Nadia, die aus der Ukraine zur Zwangsarbeit in der Fischfabrik verschleppt wurde. Als Birgit sich dem Widerstand anschließt und Nadia einen Kollaborateur trifft, geraten sie in höchste Gefahr. Ihre Geheimnisse teilen sie nur mit dem 'Deutschenmädchen' Tekla. Weit über den Krieg hinaus müssen die Freundinnen Entscheidungen fällen, die noch das Leben ihrer Kinder und Enkel prägen werden. Was uns bis heute prägt: Von Menschlichkeit in schweren Zeiten und dem Aufbau einer neuen Zukunft – der große neue Roman der norwegischen Erfolgsautorin. "Erzählen ist wichtig. Um selbst leben zu können, müssen wir wissen, was unsere Familien erlebt haben. Die Kriegserlebnisse von Frauen sind dabei genauso dramatisch wie die der Männer. Die Historiker haben die Frauen im Stich gelassen. Was ich suche, ist das, was verschwiegen wurde." Trude Teige Eine junge Widerstandskämpferin, eine Zwangsarbeiterin und ein »Deutschenmädchen« werden zu Schicksalsfreundinnen.
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Seitenzahl: 368
Veröffentlichungsjahr: 2025
Trude Teige
Roman
2024: Juni Bjerke erhält einen Anruf. Erst jetzt erfährt sie vom dramatischen Schicksal der Freundinnen ihrer Großmutter Tekla.
1944: Norwegen ist von den Deutschen besetzt. Während die junge Tekla an der Südküste bleibt, geht ihre beste Freundin Birgit als Krankenschwester in den Norden. Als Birgit sieht, unter welch harten Bedingungen die russischen Kriegsgefangenen und die Zwangsarbeiter aus dem Osten leben, versucht sie zu helfen. Auch der blutjungen Nadia, die die Nazis aus der Ukraine nach Norwegen verschleppt haben. Als Harald, ein Norweger, der für die Deutschen arbeitet, auf Nadia aufmerksam wird, scheint sich ein Weg aufzutun. Was ihnen widerfährt, teilen Birgit und Nadia nur mit Tekla, die wie sie ihre persönliche Geschichte verbergen muss. Das Schicksal wird sie bis nach Deutschland und Moskau führen – und noch die Leben ihrer Kinder und Enkel prägen.
Der große neue Roman von Trude Teige ist das dritte Buch in ihrem erfolgreichen "Großmutter"-Kosmos, aber auch ganz unabhängig lesbar. Bewegend erzählt es von Überleben und Menschlichkeit in schweren Zeiten und dem Aufbau einer neuen Zukunft.
»Fesselnd und einfühlsam – Trude Teige ist eine wunderbare Erzählerin.« Dagbladet
»Trude Teige schreibt so zugänglich und sympathisch, dass ihre Bücher trotz der schweren Themen leicht zu lesen sind.« Avisa Nordland
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Trude Teige, eine der bekanntesten Autorinnen und Journalistinnen Norwegens, sagt: »Erzählen ist wichtig. Um selbst leben zu können, müssen wir wissen, was unsere Familie erlebt hat. Die Kriegserlebnisse von Frauen sind dabei genauso dramatisch wie die der Männer. Die Historiker haben die Frauen im Stich gelassen. Was ich suche, ist das, was verschwiegen wurde.« In ihren Romanen bietet Trude Teige einen bewegenden Einblick in unbekannte Stücke unserer Geschichte und zeigt, wie das Schicksal auch die folgenden Generationen prägt. »Als Großmutter im Regen tanzte« und »Und Großvater atmete mit den Wellen« standen monatelang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste. Das Werk der Autorin wird in viele Sprachen übersetzt.
Günther Frauenlob ist Übersetzer, Moderator und Literaturagent. Seit vielen Jahren überträgt er erzählende Literatur und Sachbücher aus dem Norwegischen und Dänischen.
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel »Mormors utroliga venniner« im Verlag H. Aschehoug & Co, Oslo
© 2024 Trude Teige
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2025 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Redaktion: Henrik Halbleib
Covergestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich
Coverabbildung: Picture Alliance / Mary Evans Picture Library
ISBN 978-3-10-492192-1
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[Widmung]
[Motto]
Prolog
Teil 1 Januar – Juli 1944
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
Teil 2 Oktober 1944 – Juli 1945
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
41. Kapitel
Teil 3 August 1947 – Juni 1949
42. Kapitel
43. Kapitel
44. Kapitel
45. Kapitel
46. Kapitel
47. Kapitel
48. Kapitel
49. Kapitel
50. Kapitel
51. Kapitel
52. Kapitel
Teil 4 Juli 1952 – Juli 1953
53. Kapitel
54. Kapitel
55. Kapitel
56. Kapitel
57. Kapitel
58. Kapitel
59. Kapitel
60. Kapitel
61. Kapitel
62. Kapitel
Epilog
Dank
In Gedenken an meine Großmütter Anna und Petra
»Es ist eine völlig andere Art von Zeit, wenn man einen Monat für einen halben Silberrubel opfert, als solche, von der eine halbe Stunde mit keinem Gelde bezahlbar ist.«
LEO TOLSTOI, Anna Karenina
Es begann mit einem Anruf an einem Apriltag des Jahres 2023, als ich gerade durch die Rushhour auf dem Weg nach Hause war. Eine Frau stellte sich als Anna Borch vor und fragte mich, ob ich die Enkelin von Tekla Bjerke sei, was ich bejahte. Sie sagte, sie habe schon lange vorgehabt, Kontakt mit mir aufzunehmen. »Erinnern Sie sich an eine Freundin Ihrer Großmutter namens Birgit Johansen?«, fragte sie.
Ich hatte die Freisprechanlage nicht eingeschaltet und antwortete daher rasch, dass ich sie zurückrufen würde, sobald ich zu Hause sei.
Birgit pflegte meine Großeltern oft auf der Insel zu besuchen, auf der sie wohnten, im Sommer nicht selten in Begleitung einiger weiterer gemeinsamer Freundinnen. Ich erinnere mich, dass Großvater dann immer mit dem alten Boot nach Kragerø fuhr, um sie zu abzuholen. Lange bevor wir ihn zurückerwarteten, nahm Großmutter mich mit zum Anleger, und wenn wir sie dann sahen, sprang sie auf und winkte wild, bis sie die Bootsleinen festmachen und sich ihren Freundinnen in die Arme werfen konnte. Sie standen dann immer lange da und hielten sich gegenseitig fest umschlungen.
Das letzte Mal habe ich Birgit kurz vor ihrem Tod besucht, weil ich erfahren hatte, dass meine Großmutter ihr ganzes Leben lang ein großes Geheimnis gehütet hatte.
Als ich wieder zu Hause war, rief ich Anna Borch zurück. Ich war gespannt, was sie mir zu erzählen hatte. Wie sich herausstellte, war Birgit ihre Großtante. Sie hatte nie eigene Kinder bekommen und Anna sehr nahegestanden. Umso größer war deren Verwunderung, als vor ein paar Jahren auf der Beerdigung ihrer Großtante plötzlich der Leiter des Auslandsgeheimdienstes aufgetaucht war und eine komplett unglaubliche Geschichte über Birgit zum Besten gegeben hatte. Unter anderem habe sie in den Nachkriegsjahren als amerikanische Agentin in Moskau gearbeitet. Anna und ihre Familie waren völlig überrascht, denn Birgit hatte nie etwas davon gesagt.
Anna interessierte sich auch für eine andere von Großmutters und Birgits Freundinnen, eine Frau namens Nadia, die ursprünglich aus der Ukraine stammte. Ob ich mich auch an sie erinnerte? Natürlich tat ich das, Nadia war eine der Freundinnen, die immer im Sommer zu Besuch kamen.
Anna arbeitete als Krankenschwester für das Internationale Rote Kreuz in Dnipro in der Ukraine, und vor einiger Zeit hatte sie in einem Luftschutzbunker eine siebenundneunzigjährige Frau getroffen. Als diese bemerkte, dass Anna Norwegerin war, hatte sie ihre Hände genommen und mit glänzenden Augen erzählt, dass die Deutschen sie als junges Mädchen zur Zwangsarbeit nach Norwegen geschickt hätten. Anna hatte ihr im Gegenzug von Nadia berichtet, die nach dem Krieg nach Norwegen gekommen sei. Aber die Frau im Bunker hatte nur gesagt, dass das nicht stimmen könne. Niemand sei nach dem Krieg aus der Sowjetunion in den Westen gelangt. Anna fragte sich deshalb, ob auch Nadia schon in den Kriegsjahren nach Norwegen gekommen sein könnte. Die beiden Frauen und Birgits überraschende Geschichte waren ihr seither nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Es drängte sie, mehr über Birgit und Nadia zu erfahren, und sie hatte sich gefragt, ob ich ihr dabei helfen könnte.
Seit dem Erscheinen des Buches über meine Großmutter, Als Großmutter im Regen tanzte, haben immer wieder Leute mit mir Kontakt aufgenommen, und das wurde noch intensiver, als auch das Leben meines Großvaters zu dem Buch Und Großvater atmete mit den Wellen geworden war. Es war immer interessant zu hören, dass auch andere ähnliche Familiengeheimnisse hatten. Doch mit der Zeit fühlte ich mich auch wie eine Art Therapeutin für all die Menschen, die das Bedürfnis hatten, über die Folgen des Vertuschens und Verdrängens für sie und ihre Familien zu reden. Annas Anliegen war anders: Es ging um Menschen, die ich persönlich kannte und zu denen ich eine Verbindung hatte.
Inzwischen weiß ich so viel mehr über Großmutters Freundinnen. So unterschiedlich sie auch waren, verlieh ihre Freundschaft ihnen Hoffnung, Mut und Kraft, als sie diese so dringend nötig hatten.
Oslo, 27. Juni 2024
Juni Bjerke, Teklas Enkelin
Bodø, 11. Januar
Birgit Johansen stellte ihre beiden Koffer auf dem Kai ab, zog sich den Glockenhut tiefer über die Ohren und band sich den Schal fester um den Hals. Der Schnee schlug ihr ins Gesicht, dass sie die Augen kaum aufhalten konnte, und der Wind raubte ihr den Atem, wenn sie den Mund öffnete.
Auf dem Anleger herrschte hektische Aktivität. Taue liefen knirschend über die Flaschenzüge, mit denen Kisten und Tonnen unter lautem Getöse verladen wurden, begleitet von Kommandorufen auf Deutsch und Norwegisch. Obwohl es erst früher Nachmittag war, war das Tageslicht bereits verschwunden, allein die Lichter des Liniendampfers, mit dem sie gekommen war, und einige Scheinwerfer auf dem Hafengebäude durchbrachen die Dunkelheit.
Das Krankenhaus von Bodø suchte Krankenschwestern, und in ihrer Vorstellung hatte Birgit eine zerbombte Stadt vor sich gesehen, in der sie wirklich gebraucht wurde. Sie wollte für eine Weile aus Oslo weg, die Erinnerungen an Ilja hinter sich lassen. Erst im Zug über das Dovrefjell nach Trondheim und von dort weiter nach Mosjøen, und dann per Schiff nach Bodø, war ihr bewusst geworden, wie sehr sie sich ins Unbekannte vorwagte. Doch da war es für Reue zu spät gewesen.
Jetzt stand sie hier inmitten der eisigen Einöde, nördlich des Polarkreises, wo sie keine Menschenseele kannte. Hatte sie wirklich gedacht, die Trauer würde weniger, je weiter sie davonlief?
»Entschuldigung, aber können Sie mir sagen, wo das Krankenhaus ist?«, fragte sie einen Mann, der an ihr vorbeiging.
Er zeigte ins Schneegestöber. »Immer geradeaus, den Hügel hoch und dann nach links. Es ist ein großes Gebäude, das Sie kaum übersehen können, selbst bei so schlechter Sicht wie heute.«
»Dauert es lang dorthin?«
»Na ja, normalerweise sind es so zehn Minuten, aber bei dem Wetter …«
Sie hielt sich dicht an den vom Schneepflug aufgeworfenen Wall am Straßenrand, um nicht auf Abwege zu gelangen. Überall in der Stadt lärmte und heulte es, sie hatte so etwas noch nie gehört, es klang, als würde die Stadt jammern.
Birgit senkte den Kopf und kämpfte sich voran. Nach einer Weile schaffte sie es nicht mehr, die beiden Koffer weiter zu tragen, und zog sie stattdessen durch den tiefen Schnee hinter sich her. Für einen Moment ging das, doch bald waren ihre Finger trotz der dicken Handschuhe eiskalt. Sie rieb die Hände aneinander und steckte sie in die Manteltaschen.
Während sie so dastand, begriff sie mit einem Mal, woher das Jammern kam. Aus den Ruinen ragten noch die schwarzen Schornsteine empor, auf denen der Wind wie auf Orgelpfeifen sein unharmonisches Klagelied spielte. Ihr Weg führte an eingestürzten Häusern vorbei, anderen fehlten Dächer und Fenster. Kaum ein Gebäude war noch heil, doch auf den Schuttflächen daneben waren niedrige Baracken errichtet worden. In einem Garten standen zwei verkohlte Bäume. Seltsamerweise war der weiße Lattenzaun zur Straße noch intakt. Eine steinerne Treppe führte ins Leere.
Birgit hatte erwartet, dass inzwischen, vier Jahre nach den Bombenangriffen, ein Gutteil der Stadt wiederaufgebaut sein würde. Es hieß, Ziel des Angriffs damals seien die Sendeanlagen des norwegischen Rundfunks in Bodø gewesen. Sie waren so stark, dass nach der Flucht des Königs und der aus dem Osloer Sendezentrum per Radio proklamierten Machtübernahme des norwegischen Naziführers Quisling im ganzen Land noch für ein paar Wochen unzensierte Nachrichten zu hören gewesen waren.
Drei kleine Jungs bauten am Straßenrand Schneehöhlen und lachten, als wären das Wetter und die Umstände ganz normal. Plötzlich blieben sie stehen und starrten auf etwas in Birgits Rücken. Als sie sich umdrehte, sah sie aus dem Schneetreiben einen Schatten auftauchen, der größer und größer wurde und sich schließlich als graue Menschenmenge entpuppte. Männer in zerrissenen Mänteln gingen in Zweierreihen, die Mützen tief in die Augen gezogen. Sie wurden von deutschen Soldaten bewacht und strichen so dicht an ihr vorbei, dass sie sie hätte berühren können. Einige hinkten, ein Mann konnte sich kaum noch auf den Beinen halten und wurde von zwei anderen gestützt. Birgit starrte überrascht auf seine spitze Mütze. Die Ohrenklappen waren nach unten geklappt und unter dem Kinn verschnürt. Das war eine Budjonowka. Ilja hatte ihr einmal erzählt, dass diese Revolutionsmütze zu einem Symbol für die Rote Armee geworden war. Und wirklich, viele der Männer trugen solche Mützen.
Waren tatsächlich Russen hier?
Der Zug war lang, er bestand sicher aus mehr als hundert Männern. Einer hatte den Anschluss verloren und schleppte sich den anderen hinterher. Als er sie sah, streckte er die Hand aus. »Essen?«, fragte er auf Norwegisch.
Birgit schüttelte den Kopf. »Wy russkij? Sind Sie Russe?«
Er sah sie überrascht an. »Da. Ty tosche? Ja, du auch?«
Sie schüttelte den Kopf, konnte aber nichts mehr erwidern, bevor ein deutscher Soldat dem Mann den Gewehrkolben in den Rücken stieß, so dass er vornüberstürzte. Als er sich wieder aufrappelte und Birgit ansah, versetzte es ihr einen Stich. In seinen Augen lag pure Verzweiflung.
Die lange Reise gen Norden hatte vor bald einem halben Jahr begonnen, als sie eines Tages Arm in Arm mit ihren Freundinnen Tekla und Annelise über die Stortingsgata in Oslo spaziert war.
Birgit hatte auf das große Banner gezeigt, das unter den Fenstern des Parlamentsgebäudes hing.
DEUTSCHLAND SIEGT AN ALLEN FRONTEN.
»Das stimmt nicht«, sagte sie. »Die Deutschen sind nicht mehr überall auf dem Vormarsch.«
Oben auf dem Gebäude wehte die Hakenkreuzflagge in der milden Septemberbrise, und vor dem Haus hielten deutsche Soldaten Wache.
»Das ist nur die Propaganda der Alliierten«, wandte Annelise ein.
»Wie kannst du dir da so sicher sein?«, fragte Tekla.
»Vater liest deutsche Zeitungen, und die schreiben etwas ganz anderes.«
»Vielleicht ist das ja die Propaganda der Deutschen«, gab Birgit zu bedenken.
Birgit und Tekla waren beide in Kragerø aufgewachsen, während Annelise aus Oslo stammte. Ihre Familie hatte aber ein Landhaus im Schärengarten von Kragerø, und die drei Mädchen verbrachten seit vielen Jahren die Sommer gemeinsam. Tekla wohnte noch immer in Kragerø, während Birgit und Annelise frisch examinierte Krankenschwestern waren und im Reichshospital in Oslo arbeiteten.
»Kommt mit«, sagte Annelise und zog sie in eine Seitenstraße.
»Wohin denn?«, fragte Tekla.
Annelise blieb vor einer Tür stehen, über der eine rote Flagge mit schwarzem Hakenkreuz wehte. Einige Frauen schoben sich an ihnen vorbei und verschwanden im Haus.
»Überall in Europa sterben Soldaten, und es fehlt an Krankenschwestern«, sagte Annelise. »Ich habe in der letzten Zeit viel darüber nachgedacht.«
»Ich nicht«, sagte Birgit. »Ich könnte mir niemals vorstellen, für die Deutschen zu arbeiten.«
»Es ist das Rote Kreuz, das die Krankenschwestern hinter die Front schickt, nicht die Deutschen. Außerdem geht es darum, allen Hilfe zu leisten, die Hilfe brauchen«, antwortete Annelise. »Kommt mit rein, es schadet ja nicht, uns mal anzuhören, was sie sagen.«
Birgit zog die Augenbrauen hoch und sah Tekla fragend an, aber Annelise zog sie weiter, so dass sie ihr schließlich zögernd folgten.
Sie kamen in einen großen bestuhlten Raum mit einer Bühne und einem Rednerpult. Im gleichen Augenblick sah Birgit eine Frau, die sie kannte.
»Guck mal«, sagte sie und stieß Annelise an.
»Wer ist das?«, fragte Tekla.
»Das ist Oberschwester Gundersen«, antwortete Birgit. »Ist sie eine Anhängerin der Nazis? Das hätte ich nicht gedacht.«
Anstelle des Schwesternkittels trug die Oberschwester eine grüne Bluse mit einer einreihigen grünen Jacke und einem braunen Gürtel. Am linken Arm war ein viereckiger Aufnäher mit dem Sonnenkreuz, dem Emblem der norwegischen Nationalsozialisten, auf weißem Grund, und auf dem Kopf trug sie ein blaues Schiffchen. Alle sahen zu ihr, als sie zum Rednerpult ging und dort ein paar Sekunden schweigend stehen blieb und die Menge musterte.
»Lasst uns ehrlich sein. Der Krieg fordert seinen Tribut. Junge Männer, darunter auch junge Norweger, riskieren ihr Leben für unsere Zukunft. Europa brennt, und überall fehlt es an medizinischem Personal.« Sie verlieh ihrer Stimme mehr Nachdruck: »Ihr könnt den Unterschied ausmachen.«
In der ersten Reihe begann jemand zu klatschen, dann fielen andere ein, darunter auch Annelise.
»Liebe Mitschwestern«, fuhr Oberschwester Gundersen leiser fort, wies mit einer dramatischen Geste Richtung Fenster und erhob ihre Stimme erneut: »Da draußen in Europa werden gerade die entscheidenden Schlachten geschlagen. Es geht nicht um Politik oder Ideologie, es geht um Mitmenschlichkeit und Nächstenliebe. Ich fordere euch alle auf, euch für den Dienst zu melden!«
Kaum dass die Oberschwester das Rednerpult verlassen hatte, stand Birgit auf. Annelise packte sie am Arm. »Wohin willst du?«, fragte sie flüsternd.
»Raus. Ich bekomme hier keine Luft.«
»Ich auch nicht«, sagte Tekla.
Die beiden verließen die Zusammenkunft, doch Annelise blieb.
»Was denkt Annelise sich nur«, platzte Tekla hervor, als sie auf der Straße standen. »Will sie sich wirklich als Frontschwester melden?«
»Davon hat sie bislang kein einziges Wort gesagt«, erwiderte Birgit. »Aber du hast ja mitbekommen, wie begeistert sie war, sie hat sogar geklatscht.«
»Wo um alles in der Welt kommt denn diese Idee her?«
»Bestimmt von ihrem Vater. Ich esse manchmal bei Annelise und ihren Eltern, und mitunter ist es richtig unangenehm, denn ihr Vater besteht immer darauf, laut aus Büchern und Zeitungen vorzulesen. Immer geht es dabei darum, wie gefährlich die Sowjetunion ist und dass die Deutschen uns beschützen müssen. ›Was wir wirklich fürchten müssen, ist der jüdische Bolschewismus. Wir müssen ihn gemeinsam mit den Deutschen bekämpfen‹«, äffte Birgit ihn nach. »Als ich das letzte Mal da war, trug Annelises Bruder die Hirden-Uniform.«
»Du machst Witze, Harald Friedmann ist ein Nazi? Das hätte ich niemals von ihm gedacht«, sagte Tekla.
»Ich auch nicht, ich habe Harald immer gemocht, aber er und auch Annelise stehen wirklich sehr unter dem Einfluss ihres Vaters.«
Tekla war über das Wochenende bei einer Tante in Oslo und musste den Bus zurück nach Kragerø erreichen. Die beiden jungen Frauen umarmten sich und zögerten dann einen Augenblick, als wollten sie sich nicht wieder loslassen. Es war Krieg, und niemand wusste, wann sie sich wiedersehen würden.
Als Birgit dann durch den Schlosspark und weiter über die Gyldenløves gate in Richtung Frogner ging, wo Ilja wohnte, versuchte sie, das Gefühl von Wehmut und Sehnsucht abzustreifen. Sie tröstete sich damit, dass sie bei ihrem Russischlehrer in der Regel alles vergaß. Ilja war so lebendig, so voller Humor. Jedes Mal, wenn sie bei ihm war, entführte er sie in eine ihr unbekannte, spannende Welt. Sie liebte es, dort zu sein.
»Birgituschka!«, sagte er vor Glück strahlend, als er ihr die Tür öffnete und sie in die Arme nahm.
Sie gingen in das größere der beiden Zimmer. Ilja setzte sich und stopfte seine Pfeife. »Nachschub«, sagte er und zündete sie an. »Ich habe Kontakt zu einem Gärtner bekommen, der Tabak anbaut.«
Birgit erzählte von dem Treffen und wie unangenehm es ihr gewesen war.
»Wer sich auf diese Art und Weise als Krankenschwester werben lässt, wird ein Teil der deutschen Kriegsmaschinerie«, sagte er und paffte an seiner Pfeife.
»Genau! Ich verstehe Annelise einfach nicht. Was denkt sie sich nur! Ich könnte mein Land niemals so verraten«, sagte Birgit.
»Lass uns nicht mehr darüber reden.« Ilja legte die Pfeife in einen Aschenbecher und blätterte durch seine Plattensammlung. »Ah, Rachmaninows Klavierkonzert Nr. 3.«
Bald mischten sich die Töne von Klavier und Orchester in den Pfeifenrauch, und Birgit überkam eine tiefe Ruhe. Ilja ging an den Barschrank und goss ihnen beiden, wie üblich, einen Wodka ein. Trotz der Rationierung schienen ihm die Vorräte nie auszugehen. Ob es aber wirklich Wodka war, wie er es nannte, oder bloß irgendein norwegischer Selbstgebrannter, wusste sie nicht zu sagen.
Ilja lauschte der Musik mit halb geschlossenen Augen. Er war einmal wohlhabend gewesen, das wusste sie, denn er hatte ihr von seiner herrschaftlichen Wohnung in Petersburg erzählt. Die Stadt hieß jetzt Leningrad, er benutzte aber noch immer den alten Namen. Während der Oktoberrevolution 1917, in deren Folge die Bolschewiken an die Macht gekommen waren, war er nach Norwegen geflohen. Seine große Wohnung mit den beiden Wohnzimmern lag in einer von Oslos vornehmsten Gegenden. Das eine Zimmer nutzte er zum Malen, dort standen fertige und angefangene Gemälde an den Wänden. In dem zweiten Zimmer, in dem sie jetzt saßen, stapelten sich Bücher und Zeitungen auf Tischen, Stühlen und entlang der Wände.
Die Musik wurde schneller, es hörte sich fast so an, als würde das Klavier lachen, dachte Birgit. Sie spürte einen gewissen Sog im Bauch, als Ilja die Augen öffnete, ihren Blick auffing und sie warm anlächelte.
Schon bei ihrer ersten Begegnung vor zwei Jahren, als sie zu ihm gekommen war, um Russisch zu lernen, hatte er klassische Musik für sie gespielt. Die Musik, die Erzählungen aus den Büchern, die er ihr vorgelesen hatte, bis sie sie selbst lesen konnte, und all die Geschichten über das Leben in Petersburg hatten von Anfang an eine Art Sehnsucht in ihr geweckt. Wonach sie sich sehnte, wusste sie nicht, aber es war, wie an einen neuen Ort zu kommen und sich doch heimisch zu fühlen. Und je besser sie die Sprache beherrschte, desto mehr spürte sie eine Veränderung in sich: Sie fühlte sich lebendiger, selbstsicherer und hatte mehr und mehr den Eindruck, wirklich sie selbst zu sein.
Ein paar Jahre vor dem Krieg hatte ein Kosakenorchester ein Konzert in Kragerø gegeben. Birgit hatte damals gerade »Anna Karenina« von Lew Tolstoi gelesen. Der Roman hatte starken Eindruck auf sie gemacht und sich in ihr festgesetzt, wie sie es nie zuvor erlebt hatte. Bei dem Konzert spürte sie intuitiv, dass die Kosaken ähnliche Geschichten über Lebensfreude, Leidenschaft und Trauer erzählten. Der akrobatische Tanz, die Musik, die schwarz-roten Trachten mit den großen Ledermützen, die Schwerter, die sie in den Händen hielten, die athletischen Körper und nicht zuletzt der mehrstimmige, mal melancholische, mal fröhliche Gesang hatten sie tief bewegt. Nein, mehr als bewegt, sie hatte das Gefühl gehabt, verführt worden zu sein, und die Musik wie der Roman verstärkten die Unruhe, die in der letzten Zeit in ihr aufgekeimt war. Sie sehnte sich danach, etwas Neues, anderes zu erleben, zu reisen und das Kleinstadtleben hinter sich zu lassen. Als Annelise dann erzählt hatte, dass sie eine Ausbildung zur Krankenschwester machen wolle, hatte Birgit gedacht, dass das auch ihr Ticket hinaus in die Welt sein könnte. Auf jeden Fall nach Oslo.
Es war ein Zufall gewesen, dass sie zu Ilja gekommen war, um Russisch zu lernen. Sie hatte im Schwesternzimmer in der Aftenposten geblättert, als ihr Blick auf eine kleine Anzeige fiel. Jemand bot Privatunterricht in Russisch an. Schon am folgenden Tag hatte sie nervös vor Iljas Tür gestanden. Der Mann, der ihr öffnete, war groß wie ein sibirischer Bär, kam es ihr vor. Haare und Bart hatten bereits einen Graustich, die Brust war breit, und er war älter, als sie es sich vorgestellt hatte. Sie musste die Zähne zusammenbeißen, um nicht zu jammern, als er ihre Hand drückte und sie mit einem breiten Lächeln hereinbat: »Dobro poschalowat.« Was das hieß, wusste sie damals noch nicht, sie hatte sich aber herzlich willkommen gefühlt.
Vor ein paar Monaten hatte er sie mit in ein Café genommen, um andere Russen zu treffen. Dabei hatte sie verstanden, dass er eine zentrale Figur im russischen Exilmilieu der Hauptstadt war. Und in der Toilettenkabine hatte sie dann ein Gespräch zwischen zwei russischen Frauen mitangehört.
»Da ist doch was zwischen denen«, sagte die eine. »Ich sehe es an den Blicken, die sie sich zuwerfen.«
»Aber sie ist doch viel jünger als er, er könnte ihr Großvater sein.«
»Das ist ihm egal, er hatte so viele Frauen, und das Alter hat dabei nie eine Rolle gespielt.«
»Stimmt, und ich kenne keine Frau, die ihn von sich stoßen würde.«
Lachend waren die beiden aus der Toilette verschwunden, ohne Birgit bemerkt zu haben.
Sie war noch eine Weile sitzen geblieben.
So viele Frauen. Von sich stoßen.
Sie selbst hatte noch keinen Mann gehabt. Nicht auf diese Weise. Er war ein Lebemann und Frauenheld, sie musste auf der Hut sein.
Im letzten Monat hatte Ilja immer wieder darauf bestanden, mit ihr zu tanzen. Und wenn er sie dann zärtlich an sich drückte, geschah etwas mit ihr. Seine Hand streichelte sanft über ihren Rücken, und mehrmals hatte sie dabei etwas Neues, anderes in seinem Blick wahrgenommen. Schließlich hatte sie auch von ihm zu träumen begonnen, von seinen Augen, dem Lächeln, den großen Händen, der tiefen Stimme, und beim Aufwachen hatte die Erinnerung an all das sie fast rot werden lassen. Jedes Mal, wenn sie seither zum Russischunterricht ging, kribbelte es in ihrem Bauch, und schon lange freute sie sich nicht nur auf den Unterricht.
Sie beobachtete ihn, als er aufstand und eine neue Platte auflegte. »Ich werde dir die Schritte zu diesem Tanz beibringen, Birgituschka«, sagte er und öffnete seine Arme. »Das ist Strauß, wir tanzen jetzt einen Wiener Walzer.«
Er löste ihre Haare aus dem langen, blonden Pferdeschwanz, nahm eine ihrer Hände und legte seine andere um ihren Rücken. »Dreh den Kopf, heb das Kinn und lehn dich etwas zurück. So, ja!«
Sie war schlank und feingliedrig, etwas über eins siebzig, und verschwand fast in seinen Armen. Er führte sie eine ganze Weile durch das große Zimmer, doch plötzlich waren sie im Raum nebenan und dann im Flur. Es kribbelte von ihrem Bauch bis hinunter in ihre Zehen, als sie realisierte, wohin er sie führte, und sie leistete keinen Widerstand, als sie ins Schlafzimmer tanzten. Die Musik war weit entfernt, sein warmer Atem dicht an ihrer Stirn. Sie schloss die Augen, als er ihr die Bluse aufknöpfte, den Kosenamen sagte, den nur er benutzte, und erst sie und dann sich auszog. Er legte sich neben sie aufs Bett, stützte sich auf den Ellenbogen und lächelte. »Gott, wie schön du bist, Birgituschka!«
Langsam streichelte er sie mit seinen Fingerkuppen, folgte den Linien ihrer Hüfte, fuhr an der Außenseite ihrer Schenkel entlang, dann zurück zum Hals und strich mit den Fingern durch ihre langen Haare, den Blick fest auf sie gerichtet. Seine Augen strahlten, als er sie küsste. Sein Atem wurde etwas schneller, als seine Hand zur Innenseite ihrer Schenkel glitt und ihre Beine sanft auseinanderschob. Nichts konnte ihn aufhalten, nichts sie. Sie legte die Arme um seinen Hals und zog ihn über sich.
Sie blieben im Bett liegen und redeten miteinander. Er holte Wodka, bestand darauf, dass sie seine Pfeife probierte, und lachte, als sie schrecklich husten musste. Vielleicht war es der Alkohol, vielleicht hatte sie sich in der kurzen Zeit auch so verändert, denn sie konnte ihre Finger nicht von ihm lassen. Und auch wenn er ihr Erster war, wussten ihre Hände und ihr Körper genau, was sie mit ihm tun wollte.
Sie lachte gedämpft, als er sie fragte, wie es sein könne, dass sie ihn liebte, wie nie eine andere Frau zuvor es getan habe.
Sie wurde seine Geschichten über das Leben in Russland nie müde, über die Datscha, den Roten Platz in Moskau. Und er erzählte ihr detailliert vom Bolschoitheater und den Vorstellungen dort.
Da möchte ich eines Tages hin, dachte sie.
Dann tanzte er mitten im Wohnzimmer Ballett, er nannte es Schwanensee, und sie krümmte sich vor Lachen. Beim letzten Akt sank er langsam zusammen und blieb ein paar Sekunden still liegen, ehe er sich auf den Rücken drehte und laut lachte.
Abends, als sie gehen wollte, umarmte er sie noch einmal und flüsterte ihr ins Ohr: »Das einzig wahre Glück im Leben ist es, zu lieben und geliebt zu werden. Vergiss das nie, Birgituschka.«
Als sie später in ihrem Zimmer im Bett lag, glaubte sie, seine Haut noch an ihrem Körper zu spüren. Sie sah das leidenschaftliche Blitzen seiner Augen vor sich, die großen, zärtlichen Hände. Nie zuvor hatte sie sich lebendiger gefühlt.
Wir gehören zusammen, der Altersunterschied ist mir egal, dachte sie. Wir sollten Arm in Arm durch den Schlosspark laufen, gemeinsam in Cafés und Restaurants sitzen und lachen, wenn Leute uns seltsam ansehen.
Als ihr der Gedanke kam, was ihre Eltern sagen würden, schob sie ihn beiseite. Sie war erwachsen, sie konnte tun, was sie wollte, sie würde Ilja lieben, solange sie beide auf Erden wandelten.
Das einzig wahre Glück im Leben ist es, zu lieben und geliebt zu werden.
Drei Tage später – sie war gerade in einem der Krankenzimmer – kam Oberschwester Gundersen zu ihr und sagte, dass ein Mann sie sprechen wolle.
»Ich habe ihm gesagt, dass du während der Arbeitszeit keinen Besuch empfängst, aber er hat darauf bestanden. Er hat sich draußen auf den Flur gesetzt und weigert sich zu gehen.« Die Oberschwester zog missbilligend die Schultern hoch. »Tja, ich denke, du musst mit ihm reden. Aber mach es kurz.«
Im Flur wartete einer von Iljas engsten Freunden. Er stand auf, als er sie kommen sah, und nahm ihre Hände.
»Birgit«, sagte er, stand dann aber nur schweigend da und sah sie mit schwerem Blick an.
»Ist … ist was mit Ilja?«
»Ilja hat uns verlassen.«
»Verlassen? Wie … ist er verreist?«, fragte sie verdutzt.
»Die Frau, die bei ihm putzt, hat ihn heute früh tot in seinem Bett gefunden.«
Einen Augenblick lang stand sie da und starrte ihn an, dann sammelte sie sich und strich mit den Händen über die Schürze ihres Kittels. Sie durfte nicht weinen, jemand könnte sie sehen. Patienten, Angehörige, Kolleginnen und nicht zuletzt Oberschwester Gundersen.
»Danke, dass du mir Bescheid gegeben hast«, flüsterte sie.
»Ich weiß, wie nah ihr euch gestanden habt. Du warst wie eine Tochter für ihn«, sagte Iljas Freund.
Die Beisetzung fand an dem Tag statt, an dem Annelise nach Deutschland ging. Birgit setzte sich allein auf eine Bank ganz hinten in der Kirche. Die Zeremonie war schön und voller Wehmut, bestimmt hatte er sich alles selbst so ausgesucht: die klassische Musik, das vorgetragene Gedicht und die Lieder des russischen Männerchores. Als der Sarg ins Grab herabgelassen wurde, schlich sie sich vom Friedhof.
Nie mehr würde er mit den Worten dobro poschalowat die Tür öffnen. Nie mehr würde sie seine tiefe Stimme hören, mit ihm tanzen oder über seine Witze lachen. Nie mehr ihren Kopf an seine Brust lehnen.
Als sie den Friedhof verließ, schaffte sie es nicht, die Tränen zurückzuhalten. Sie war auf eine Weise einsam, wie sie es nie zuvor gewesen war, verlassen von Ilja und nun auch von Annelise. Die beiden Menschen, die hier in Oslo die größte Bedeutung für sie gehabt hatten, waren aus ihrem Leben verschwunden.
In den Tagen und Wochen danach versuchte sie, Trauer und Sehnsucht in Extraschichten zu ertränken, doch nach ein paar Monaten wurde sie so krank, dass sie zurück zu ihren Eltern nach Kragerø fuhr. Ihr Elternhaus lag am Meer, und obwohl es auf den Herbst zuging, war es noch warm, weshalb sie sich jeden Tag voller Trauer und unerfüllter Sehnsucht an die Kaimauer setzte. Ihr Vater fragte sie, was geschehen sei, während ihre Mutter wie immer nur darauf wartete, dass es von allein vorbeiging. Zu ihr hatte sie nie ein vertrauensvolles Verhältnis gehabt.
Am dritten Tag war Tekla gekommen. Birgit hatte es nicht übers Herz gebracht, zu irgendwem Kontakt aufzunehmen, nicht einmal zu ihr. Doch als Tekla sie ohne ein Wort in die Arme nahm und nicht eine einzige Frage stellte, war sie voller Dankbarkeit, dass es noch jemanden gab, der sie halten konnte.
Nach einer Weile hatte Tekla eine Flasche Wein und zwei Gläser aus der Tasche gezogen.
»Die habe ich aus Vaters Weinkeller geklaut«, sagte sie mit einem kurzen, verschworenen Lachen. Dann wurde sie wieder ernst. »Also, was ist passiert, Birgit?«
Während sie an ihren Gläsern nippten, erzählte Birgit ihr von Ilja.
»Es fühlt sich an, als wäre tief in mir drinnen etwas zerrissen.«
»Es werden wieder bessere Tage kommen«, sagte Tekla. »Du musst nur daran glauben.«
»Du sagst gar nichts über den Altersunterschied?«
Tekla sah sie überrascht an. »Hattest du davor Angst? Warum sollte ich denn auf so eine Idee kommen? Ich würde meine beste Freundin doch niemals verurteilen. Außerdem, wer kann schon sein Herz steuern?«
»O Gott, ich bin so dankbar, dass ich dich habe«, sagte Birgit.
»Würdest du mich verurteilen, wenn ich an deiner Stelle wäre?«
»Nein.«
»Eben, so ist das einfach. Und wir werden immer füreinander da sein, nicht wahr?«
»Immer.«
Mit dem Sonnenuntergang kam der Wind.
»War er … dein Geliebter? Ich meine … so richtig?«
Birgit zog sich eine Haarsträhne aus dem Mund. »Es ist nur … nur einmal passiert. Aber wenn ich bei ihm war, habe ich mich so … wie soll ich das sagen? So anders gefühlt. Oder ich war …«, sie blinzelte in die Sonne, »… mit ihm gemeinsam war ich einfach mehr ich selbst, glaube ich. Ich war stärker, glücklicher, lustiger, klüger, hübscher.«
Sie sahen dem Liniendampfer nach, der über den Fjord tuckerte.
»Und … was hast du jetzt vor?«, fragte Tekla.
»Ich will etwas Sinnvolles tun.«
»Das machst du doch jeden Tag.«
»Ja, aber irgendwie ist jetzt alles anders. Ilja ist fort, Annelise hat die vollkommen falsche Entscheidung getroffen und ist ebenfalls fort. Die beiden haben eine so große Leere hinterlassen.«
»Was denkst du über Annelise?«
»Dass es mir nicht leichtfällt, eine Freundin zu haben, die mit dem Feind zusammenarbeitet.«
»Wir können verurteilen, was sie tut, aber nicht sie selbst«, sagte Tekla ruhig.
»Du warst schon immer so großzügig. Ich finde das ziemlich schwierig, aber wir werden sehen. Ich muss diese Leere auf jeden Fall mit etwas füllen, das mir wieder Kraft gibt. Ich brauche einen neuen Sinn im Leben, eine Herausforderung.«
»Und ich nehme an, dass du die hier nicht finden kannst?«
»In Kragerø? O Gott, nein. Was sollte das denn sein? Heiraten und Hausfrau und Mutter von vier Kindern werden, wie meine Eltern es sich wünschen? Nein, das würde ich wirklich nicht aushalten, das kannst du mir glauben.«
Tekla lächelte. »Das sieht dir wieder mal ähnlich, du bist immer deine eigenen Wege gegangen. Warst immer auf der Suche nach neuen Erlebnissen und Herausforderungen«, sagte sie und zog Birgit an sich.
Die Stille wurde nur von den heiseren Schreien der Möwen und dem Plätschern der Wellen unterbrochen. Sie blieben noch eine ganze Weile eng umschlungen sitzen, bis Tekla Birgit musterte.
»Sag mal, du hast doch schon eine Idee, oder?«
»Ja schon …« Birgit zögerte. »Also, oben in Bodø suchen sie Krankenschwestern. Da fehlen ihnen Leute, und ich glaube, dass ich da mehr ausrichten kann als in Oslo. Die Stadt wurde Anfang des Krieges bombardiert.«
»Du willst in den hohen Norden ziehen? Das ist schrecklich weit weg.«
»Vielleicht genau deshalb«, sagte sie – und dachte noch im selben Moment: Ich muss es tun, ich muss aufbrechen, eine neue Herausforderung finden, einen neuen Sinn im Leben. In Bodø.
Der lange Zug von Gefangenen und deutschen Soldaten verschwand wie ein Schatten im Schneetreiben, während Birgit sich mit ihren Koffern weiter vorankämpfte.
Einen Monat nach Iljas Beerdigung war sie von einem Anwalt kontaktiert worden, der glaubte, ihr eine gute Nachricht zu überbringen. Es zeigte sich nämlich, dass Ilja ihr seine Wohnung vermacht hatte.
»Nein … aber … nein«, hatte sie gestammelt.
Der Anwalt hatte ihre Überraschung falsch gedeutet: »Doch, doch, das hat alles seine Richtigkeit«, hatte er lächelnd gesagt.
»Ich will die Wohnung nicht haben.«
Ihr Unverständnis irritierte ihn. »Das steht so im Testament. Sie können nicht nein sagen.«
Sie hatte Ilja verloren, nun aber seinen größten Besitz geerbt – dabei wollte sie nicht daran denken, sich nicht damit auseinandersetzen, nichts damit zu tun haben. Diese Erbschaft war für sie nur ein weiterer Grund gewesen, das Weite zu suchen. Der Anwalt hatte die Wohnung für sie vermietet und dafür gesorgt, dass Iljas Freunde bekamen, was ihnen testamentarisch zustand. Sie selbst war nicht noch einmal in der Wohnung gewesen, der Geruch all der alten Bücher hätte die Erinnerungen physisch spürbar gemacht und sie innerlich zerrissen. Der Anwalt hatte aber dafür gesorgt, dass ihr ein paar Dinge gebracht wurden, die für sie von Bedeutung waren und die sie nach Bodø mitgenommen hatte.
Plötzlich trat jemand neben sie. »Brauchen Sie Hilfe?«, fragte eine Stimme.
Ein junger Mann, der die Strickmütze tief in die Stirn gezogen und den Mantelkragen hochgeschlagen hatte, sah sie neugierig an. »Wohin wollen Sie bei diesem Wetter denn mit den schweren Koffern?«
»Ich versuche, das Krankenhaus zu finden.«
»Sie sind doch hoffentlich nicht krank?«
»Nein, nein, ich soll dort eine Arbeit beginnen.«
Er nahm beide Koffer, bevor sie protestieren konnte, trug sie den ganzen Weg bis zum Krankenhaus, die Treppe hoch und öffnete ihr die Tür.
»Bitte«, sagte er mit einer Verbeugung und machte eine galante Bewegung mit dem Arm. »Wie heißen Sie?«
»Birgit Johansen.«
»Mein Name ist Sven Svendsen. Vielleicht sehen wir uns ja noch einmal wieder«, sagte er lächelnd. »Viel Glück mit der neuen Arbeit.«
»Vielen, vielen Dank für Ihre Hilfe. Sie waren wirklich meine Rettung. Was hätte ich ohne Sie nur gemacht?«, erwiderte sie lächelnd.
»Aber Liebes, sind Sie mit den schweren Koffern den ganzen Weg vom Kai bis hier herauf zu uns gelaufen? Bei diesem Wetter?«, fragte die Frau, die sie direkt hinter der Tür in Empfang nahm. »Unser Hausmeister sollte Sie doch abholen.«
Sie reichte Birgit die Hand. »Ich bin Oberschwester Pernille Stokke.«
»Birgit Johansen. Ich habe glücklicherweise einen Mann getroffen, der mir mit den Koffern geholfen hat.«
Im selben Moment ging die Tür auf, und die Oberschwester blickte den Mann, der hereinkam, streng an. »Wo waren Sie?«
»Ich sollte doch …« Er zeigte auf Birgit. »Ist das die aus dem Süden, die mit dem Schiff kommen sollte? Ja, also, ich hatte mich bloß ein bisschen verspätet, und …«
Stokke winkte verärgert ab. »Das ist Hausmeister Rasmussen«, sagte sie zu Birgit. »Tragen Sie ihre Koffer nach oben in die Wohnung«, befahl sie dem Mann, ehe sie sich wieder Birgit zuwandte. »Die Schwesternwohnungen sind im dritten Stock. Alles ist bereit. Wir treffen uns dann im Schwesternzimmer der chirurgischen Abteilung, wenn Sie ausgepackt haben. Es ist im Westflügel, zweiter Stock.«
Rasmussen nahm einen Koffer in jede Hand und ging vor Birgit her zum Fahrstuhl. Der Krankenhauseingang war im mittleren Flügel, und während sie versuchte, mit dem Hausmeister Schritt zu halten, sah sie sich auf den langen Fluren um. Sie passierten eine Tür, und sie sah einen Aufenthaltsraum mit ein paar Pfeife rauchenden Männern, die in Morgenmäntel gehüllt in tiefen Sesseln vor den großen Fenstern saßen. Es wirkte gemütlich wie im heimischen Wohnzimmer.
»Waren Sie vorher schon mal in Bodø?«, fragte Rasmussen im Fahrstuhl.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe die Ruinen gesehen. Ist die Stadt stark zerstört worden?«
»Mehr als die Hälfte«, sagte er und öffnete ihr die Tür des Aufzugs. »Für die Menschen sind aber Baracken gebaut worden. Und wir haben ja noch Svenskebyen.«
»Eine schwedische Stadt?«
»Das sind Fertighäuser, eine Spende des schwedischen Roten Kreuzes an die Stadt Bodø nach der Bombardierung.«
»Wie viele Schwesternzimmer gibt es hier im Krankenhaus?«
»Tja, etwas über dreißig, glaube ich. Teils einzeln, teils doppelt belegt. Sie bekommen ein Zimmer ganz für sich.«
Im dritten Stock ging er vor ihr in den Westflügel und öffnete eine Tür. Birgit trat in einen engen Flur mit Kleiderschränken auf beiden Seiten, die kaum Platz für sie, den Hausmeister und ihre beiden Koffer ließen. Das Zimmer dahinter war klein, aber gemütlich mit einem Schlafsofa, einem Tisch und einer Kommode. An der Wand über dem Sofa hing ein Gemälde. Es zeigte Berge, die steil aus dem Meer aufragten.
Rasmussen deutete auf das verdunkelte Fenster. »Tagsüber können Sie von hier aus die ganze Stadt überblicken«, sagte er.
Birgit packte ihre Kleider aus und stellte Iljas Bücher und Schellackplatten auf ein Regalbrett, dann hängte sie die russische Ikone in dem kleinen Flur an die Wand neben den Spiegel. Sie beugte sich vor, der Pfeifentabak war noch zu riechen. »Glaubst du, dass ich es hier gut haben werde, Ilja?«, murmelte sie für sich. »Werde ich hier einen neuen Sinn im Leben finden?«
Oberschwester Pernille Stokke führte Birgit durchs Haus und nannte ihr eine Unmenge von Zahlen und Fakten.
»Das Gebäude ist 136 Meter lang und reicht über drei Etagen. Zusätzlich gibt es Keller und Dachboden. Wir haben 150 Betten.«
»Wie viele Angestellte haben Sie?«
»Es gibt hier zehn Ärzte, drei Anwärter, zweiunddreißig Schwestern und etwa gleich viele Schwesternschülerinnen.«
Es mochte an dem singenden nordnorwegischen Tonfall liegen, aber alles, was die Oberschwester sagte, klang ganz einfach und natürlich. Doch gleichzeitig hatte sie den scharfen Blick von jemandem, dem nicht das Geringste entgeht. Sie führte Birgit über die langen Flure des Ost- und Westflügels in der ersten und zweiten Etage. Ihre Miene und ihre Körpersprache ließen dabei keinen Zweifel daran, dass sie sehr stolz auf ihr Krankenhaus war. Sie ging nicht, sie schritt. Und als sie erzählte, dass das Krankenhaus den Spitznamen Granitpalast am Rensåsen trug, weil die Außenwände aus dem schönen Granit eines lokalen Steinbruchs bestanden, dachte Birgit, dass Oberschwester Stokke so etwas wie die Herrscherin des Palastes war.
Zwangsarbeiterlager Langstranda, Bodø, 10. Februar
Nadia Vlasik stand zitternd an dem schmalen Fenster der Baracke am Rand des Lagers und starrte über den Stacheldrahtzaun in den Himmel, der tief über der Landschaft hing. Es hatte aufgehört zu schneien, und auch der Wind war abgeflaut, so dass ihr Blick bis zum Meer reichte. Die Wellen schlugen schwer an Land, als tose in ihnen noch immer der Sturm. Obwohl die Küstenlandschaft schneebedeckt dalag, wirkte alles in dem fehlenden Tageslicht grau und eintönig. Genau wie die Menschen um sie herum, dachte sie. Graue Menschen, graue Tage, graues Leben.
Zwei Monate war sie jetzt schon in diesem Lager, und seither hatte sie nichts anderes getan, als zu schlafen, zu essen und täglich zehn Stunden in der Fischveredelungsfabrik Frostfilet zu arbeiten. Tag- und Nachtschichten, sechs Tage die Woche. Sie war immer müde und fror den ganzen Tag, und abends lag sie zusammengerollt im Bett und dachte an ihren Bruder und ihre Eltern. Ob sie noch lebten? Was hatte der Krieg mit der Ukraine gemacht? Sie sehnte sich so sehr nach Hause, dass es sie körperlich schmerzte. Immer wieder stellte sie sich das verzweifelte Gesicht ihrer Mutter in dem Moment vor, als sie erfuhr, dass die Deutschen sie mitgenommen hatten. Sie weiß nicht, wo ich bin, niemand zu Hause weiß das, dachte sie, während der Kloß in ihrem Hals immer dicker wurde.
Sie war fröhlich erregt, aber irgendwie auch ängstlich gewesen, als sie an jenem Morgen im späten August des letzten Jahres zur Schule gelaufen war. Der Tag, an dem ihr Leben sich so dramatisch ändern sollte. Der alte Mann im Nachbarhaus hatte ihr zugerufen, dass die Rote Armee im Begriff sei, die Deutschen zurückzuschlagen.
Sieben Monate waren vergangen, seit sie erfahren hatten, dass Stalingrad vollständig dem Erdboden gleichgemacht worden war. Hunderttausende von Soldaten und Zivilisten waren getötet worden, trotzdem hatten die sowjetischen Streitkräfte die Stadt zurückerobert. Würde die Rote Armee die Deutschen durch Dnipropetrowsk in Richtung Westen jagen, bis ganz zurück nach Deutschland? Der Gedanke ängstigte sie, machte ihr aber auch Mut, denn das würde dann ja bedeuten, dass dieser Krieg bald vorüber war. Gleichzeitig fürchtete sie, dass es zu noch mehr Kämpfen, Tod und Leiden führen würde. Ihr Vater und ihr Bruder Andrej hatten sich den ukrainischen Nationalisten angeschlossen, und mittlerweile war es ein paar Monate her, dass sie und ihre Mutter etwas von ihnen gehört hatten.