Als Hitler das rosa Kaninchen stahl (Ein berührendes Jugendbuch über die Zeit des Zweiten Weltkrieges, Rosa Kaninchen-Trilogie, 1) - Judith Kerr - E-Book

Als Hitler das rosa Kaninchen stahl (Ein berührendes Jugendbuch über die Zeit des Zweiten Weltkrieges, Rosa Kaninchen-Trilogie, 1) E-Book

Judith Kerr

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Beschreibung

Ein jüdisches Mädchen flieht mit ihrer Familie vor den Nazis durch ganz Europa: die kindgerechte Aufarbeitung einer wahren Fluchtgeschichte Berlin, 1933: Die Nazis stehen kurz vor ihrem entscheidenden Wahlsieg. In letzter Minute reist die neunjährige Jüdin Anna mit ihrer Familie in die Schweiz. Doch vieles von dem, was zu ihrem Alltag gehörte, muss in Berlin bleiben – auch Annas rosa Stoffkaninchen. Und so beginnt für die Familie ein Leben auf der Flucht … Die gesamte Rosa Kaninchen-Trilogie: Band 2: Warten bis der Frieden kommt Band 3: Eine Art Familientreffen Zu diesem Buch gibt es "Materialien zur Unterrichtspraxis" der Ravensburger Verlag GmbH. Der Roman wurde verfilmt von Caroline Link.

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2015Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbHUngekürzte LizenzausgabeText copyright © Kerr-Kneale Productions Ltd 1971, 1975The author asserts the moral right to be identified as the author of this work.»Als Hitler das rosa Kaninchen stahl« erschien unter dem Titel »When Hitler Stole Pink Rabbit«© 1971 by Judith KerrUmschlagillustration: Henriette SauvantÜbersetzung aus dem Englischen: Annemarie BöllAlle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.ISBN978-3-473-47685-5www.ravensburger.de

1

Anna war mit Elsbeth, einem Mädchen aus ihrer Klasse, auf dem Heimweg von der Schule. In diesem Winter war in Berlin viel Schnee gefallen. Er schmolz nicht, darum hatten die Straßenkehrer ihn auf den Rand des Gehsteiges gefegt, und dort bildete er seit Wochen traurige, immer grauer werdende Haufen. Jetzt, im Februar, hatte sich der Schnee in Matsch verwandelt, und überall standen Pfützen. Anna und Elsbeth hüpften mit ihren Schnürstiefeln darüber weg.

Sie trugen beide dicke Mäntel und Wollmützen, die ihre Ohren warm hielten, und Anna hatte auch noch einen Schal umgebunden. Sie war neun, aber klein für ihr Alter, und die Enden des Schals hingen ihr beinahe bis auf die Knie. Der Schal bedeckte auch Mund und Nase, sodass nur die grünen Augen und ein Büschel dunkles Haar von ihr zu sehen waren. Sie hatte es eilig, denn sie wollte noch im Schreibwarenladen Buntstifte kaufen, und es war beinahe Zeit zum Mittagessen. Aber jetzt war sie so außer Atem, dass sie froh war, als Elsbeth stehen blieb und ein großes rotes Plakat betrachtete.

»Da ist wieder ein Bild von dem Mann«, sagte Elsbeth. »Meine kleine Schwester hat gestern auch eins gesehen und gedacht, es wäre Charlie Chaplin.«

Anna betrachtete die starren Augen, den grimmigen Ausdruck. Sie sagte: »Es ist überhaupt nichts wie Charlie Chaplin, außer dem Schnurrbart.«

Sie buchstabierten den Namen unter der Fotografie:

»Adolf Hitler.«

»Er will, dass alle bei den Wahlen für ihn stimmen, und dann wird er den Juden einen Riegel vorschieben«, sagte Elsbeth. »Glaubst du, er wird Rachel Löwenstein einen Riegel vorschieben?«

»Das kann keiner«, sagte Anna. »Sie ist Klassensprecherin. Vielleicht macht er es mit mir. Ich bin auch jüdisch.«

»Das stimmt nicht!«

»Doch. Mein Vater hat vorige Woche mit uns darüber gesprochen. Er sagte, wir seien Juden, und was auch immer geschähe, mein Bruder und ich dürften das niemals vergessen.«

»Aber ihr geht samstags nicht in eine besondere Kirche wie Rachel Löwenstein.«

»Weil wir nicht religiös sind.«

»Ich wünschte, mein Vater wäre auch nicht religiös«, sagte Elsbeth, »wir müssen jeden Sonntag gehen, und ich kriege einen Krampf in meinem Hinterteil.« Sie betrachtete Anna eindringlich. »Ich dachte, Juden hätten krumme Nasen, aber deine Nase ist ganz normal. Hat dein Bruder eine krumme Nase?«

»Nein«, sagte Anna, »der einzige Mensch in unserem Haus mit einer krummen Nase ist unser Mädchen Bertha, und deren Nase ist krumm, weil sie aus der Straßenbahn gestürzt ist und sie sich gebrochen hat.«

Elsbeth wurde ärgerlich. »Aber dann«, sagte sie, »wenn du wie alle anderen aussiehst und nicht in eine besondere Kirche gehst, wie kannst du dann wissen, dass du wirklich jüdisch bist? Wie kannst du sicher sein?«

Es entstand eine Pause.

»Ich vermute …«, sagte Anna, »ich vermute, weil mein Vater und meine Mutter Juden sind, und wahrscheinlich waren ihre Mütter und Väter es auch. Ich habe nie darüber nachgedacht, bis mein Vater vorige Woche anfing, davon zu sprechen.«

»Also, ich finde es blöd!«, sagte Elsbeth. »Das mit Adolf Hitler ist blöd, und dass Leute Juden sind und alles!« Sie fing an zu laufen, und Anna lief hinter ihr her.

Sie hielten nicht eher an, bis sie den Schreibwarenladen erreicht hatten. Jemand sprach mit dem Mann hinter der Theke, und Annas Mut sank, als sie Fräulein Lambeck erkannte, die in ihrer Nähe wohnte. Das Fräulein machte ein Gesicht wie ein Schaf und sagte: »Schreckliche Zeiten! Schreckliche Zeiten!« Jedes Mal wenn sie sagte »Schreckliche Zeiten«, schüttelte sie den Kopf, und ihre Ohrringe wackelten.

Der Ladeninhaber sagte: »1931 war schlimm genug, 1932 war schlimmer, aber lassen Sie sich’s gesagt sein, 1933 wird am schlimmsten!« Dann bemerkte er Anna und Elsbeth und sagte: »Was kann ich für euch tun, Kinder?«

Anna wollte ihm gerade sagen, dass sie Buntstifte kaufen wollte, da hatte Fräulein Lambeck sie entdeckt.

»Das ist die kleine Anna!«, rief Fräulein Lambeck. »Wie geht es dir, kleine Anna? Und wie geht es deinem lieben Vater? Ein wunderbarer Mensch! Ich lese jedes Wort, das er schreibt. Ich habe alle seine Bücher, und ich höre ihn immer im Radio. Aber diese Woche hat er nichts in der Zeitung – hoffentlich ist er nicht krank. Vielleicht hält er irgendwo Vorträge. Oh, wir brauchen ihn so in diesen schrecklichen Zeiten!«

Anna wartete, bis Fräulein Lambeck fertig war. Dann sagte sie: »Er hat die Grippe.«

Diese Bemerkung rief wieder ein großes Wehklagen hervor. Man hätte glauben können, Fräulein Lambecks liebste Angehörigen lägen im Sterben. Sie schüttelte den Kopf, bis die Ohrringe klirrten. Sie schlug Heilmittel vor. Sie empfahl Ärzte. Sie hörte nicht auf zu reden, bis Anna ihr versprochen hatte, ihrem Vater Fräulein Lambecks beste Wünsche für eine schnelle Besserung zu überbringen. An der Tür drehte sie sich noch einmal um und sagte: »Sag nicht, gute Wünsche von Fräulein Lambeck, kleine Anna – sag nur: von einer Verehrerin!« Dann fegte sie hinaus.

Anna kaufte eilig ihre Stifte. Dann standen sie und Elsbeth draußen im kalten Wind vor dem Schreibwarenladen. Hier trennten sich für gewöhnlich ihre Wege, aber Elsbeth zögerte. Sie hatte Anna schon lange etwas fragen wollen, und dies schien ein geeigneter Augenblick.

»Anna«, sagte Elsbeth, »ist es schön, einen berühmten Vater zu haben?«

»Nicht, wenn man jemandem wie Fräulein Lambeck begegnet«, sagte Anna und machte sich nachdenklich auf den Heimweg, während ihr Elsbeth ebenso nachdenklich folgte.

»Nein, aber abgesehen von Fräulein Lambeck?«

»Es ist eigentlich ganz nett. Zum Beispiel, weil Papa zu Hause arbeitet und wir ihn oft sehen. Und manchmal kriegen wir Freikarten fürs Theater. Und einmal wurden wir von einer Zeitung interviewt, und sie fragten uns, was für Bücher wir gern lesen. Mein Bruder sagte, Karl May, und am nächsten Tag schickte ihm jemand eine Gesamtausgabe als Geschenk.«

»Ich wünschte, mein Vater wäre auch berühmt«, sagte Elsbeth. »Aber das wird er sicher nie, denn er arbeitet bei der Post, und dafür wird man nicht berühmt.«

»Wenn dein Vater nicht berühmt wird, dann wirst du es vielleicht einmal. Wenn man einen berühmten Vater hat, dann wird man fast nie selber berühmt.«

»Warum nicht?«

»Das weiß ich nicht. Aber man hört fast nie von zwei berühmten Leuten aus einer Familie. Das macht mich manchmal ein bisschen traurig.« Anna seufzte.

Sie standen jetzt vor Annas weiß gestrichenem Gartentor. Elsbeth dachte fieberhaft darüber nach, wofür sie vielleicht berühmt werden könnte, als Heimpi, die sie vom Fenster aus gesehen hatte, die Haustür öffnete.

»Du meine Güte«, rief Elsbeth, »ich komme zu spät zum Essen!« – und schon rannte sie die Straße hinunter.

»Du und diese Elsbeth«, schimpfte Heimpi, während Anna ins Haus trat. »Ihr holt mit eurem Geschwätz noch die Affen von den Bäumen!«

Heimpis richtiger Name war Fräulein Heimpel, und sie hatte für Anna und ihren Bruder Max gesorgt, seit diese kleine Kinder waren. Jetzt, da sie größer geworden waren, versorgte sie, wenn die Kinder in der Schule waren, den Haushalt, aber wenn sie nach Hause kamen, musste sie sie immer noch bemuttern. »Wir wollen dich mal auspacken«, sagte sie und nahm ihr den Schal ab. »Du siehst aus wie ein Paket, an dem die Kordel sich gelöst hat.«

Während Heimpi Anna aus den Kleidern schälte, hörte diese, dass im Wohnzimmer Klavier gespielt wurde. Mama war also zu Hause.

»Sind deine Füße auch bestimmt nicht feucht?«, fragte Heimpi. »Dann geh schnell und wasch dir die Hände. Das Mittagessen ist gleich fertig.«

Anna stieg die mit einem dicken Läufer belegte Treppe hinauf. Die Sonne schien zum Fenster herein, und draußen im Garten konnte sie ein paar letzte Schneeflecken sehen. Von der Küche her stieg der Duft eines gebratenen Huhns herauf. Es war schön, aus der Schule nach Hause zu kommen.

Als sie die Badezimmertür öffnete, hörte sie drinnen eiliges Füßescharren, und gleich darauf fand sie sich ihrem Bruder Max gegenüber, der mit puterrotem Gesicht die Hände auf dem Rücken hielt.

»Was ist los?«, fragte sie, noch bevor sie seinen Freund Günther entdeckt hatte, der ebenso verlegen schien.

»Oh, du bist es!«, sagte Max, und Günther lachte. »Wir dachten, es wäre ein Erwachsener.«

»Was habt ihr da?«, fragte Anna.

»Das ist ein Abzeichen. In der Schule gab es heute eine Rauferei. Nazis gegen Sozis.«

»Was sind Nazis und Sozis?«

»Ich hätte doch gedacht, dass du in deinem Alter das wüsstest«, sagte Max, der gerade zwölf war. »Die Nazis sind die Leute, die bei den Wahlen für Hitler stimmen werden. Wir Sozis sind die Leute, die gegen ihn stimmen werden.«

»Aber ihr beiden dürft doch noch gar nicht wählen«, sagte Anna.

»Aber unsere Väter«, sagte Max ärgerlich. »Das ist dasselbe.«

»Jedenfalls werden wir sie schlagen«, sagte Günther. »Du hättest die Nazis laufen sehen sollen! Max und ich haben einen geschnappt und ihm sein Abzeichen abgenommen. Aber ich weiß nicht, was Mama zu meiner Hose sagen wird.« Er blickte traurig auf einen großen Riss in dem verschlissenen Stoff. Günthers Vater war arbeitslos, und sie hatten kein Geld zu Hause für neue Kleider.

»Mach dir keine Sorgen, Heimpi flickt das schon«, sagte Anna. »Kann ich das Abzeichen mal sehen?«

Es war eine kleine rote Emailscheibe mit einem schwarzen Kreuz mit umgebogenen Ecken.

»Das ist ein Hakenkreuz«, sagte Günther, »alle Nazis haben so eins.«

»Was wollt ihr damit machen?«

Max und Günther sahen einander an. »Willst du es haben?«, fragte Max.

Günther schüttelte den Kopf. »Ich darf nichts mit den Nazis zu tun haben. Mama hat Angst, sie könnten mir ein Loch in den Kopf schlagen.«

»Die kämpfen nicht fair«, stimmte Max zu. »Sie benutzen Stöcke und Steine und sonst allerhand.« Er drehte das Abzeichen mit steigendem Unbehagen in den Fingern. »Ich will es jedenfalls auch nicht.«

»Schmeiß es ins Klo!«, sagte Günther. Das taten sie denn auch. Als sie zum ersten Mal abzogen, wurde es nicht hinuntergespült, aber beim zweiten Mal, als gerade der Gong zum Essen rief, verschwand es zur Zufriedenheit aller.

Als sie nach unten gingen, konnten sie immer noch das Klavier hören, aber während Heimpi ihre Teller füllte, hörte die Musik auf. Einen Augenblick später kam Mama herein.

»Hallo Kinder, hallo Günther!«, rief sie. »Wie war es in der Schule?«

Jeder fing sofort an, es ihr zu erzählen, und das Zimmer war plötzlich voller Lärm und Gelächter. Sie kannte die Namen aller Lehrer und erinnerte sich immer, was sie ihr erzählt hatten. Als Max und Günther ihr erzählten, dass der Geografielehrer wütend geworden war, sagte sie: »Kein Wunder, wo ihr ihn vorige Woche so geärgert habt!« Und als Anna ihr erzählte, dass ihr Aufsatz in der Klasse vorgelesen worden war, sagte sie: »Das ist wundervoll – denn Fräulein Schmidt liest selten etwas in der Klasse vor, nicht wahr?«

Wenn sie zuhörte, so sah sie den, der gerade sprach, mit äußerster Konzentration an. Wenn sie sprach, so legte sie ihre ganze Kraft in das, was sie sagte. Sie schien alles, was sie tat, doppelt so heftig zu tun wie andere Leute; sogar ihre Augen waren von einem strahlenderen Blau, als Anna es je gesehen hatte.

Sie fingen gerade mit dem Nachtisch an, es gab heute Apfelstrudel, als das Mädchen Bertha hereinkam, um Mama zu sagen, es sei jemand am Telefon, und ob sie Papa stören solle. »Was für eine Zeit für einen Anruf«, rief Mama und stieß ihren Stuhl so heftig zurück, dass Heimpi danach greifen musste, damit er nicht umfiel. »Und dass keiner von euch wagt, meinen Apfelstrudel aufzuessen!«

Und sie stürzte nach draußen.

Es kam ihnen sehr still vor, nachdem sie gegangen war, obwohl Anna ihre Schritte hören konnte, die zum Telefon eilten und ein wenig später noch schneller zu Papas Zimmer hinauf. In die Stille hinein fragte Anna: »Wie geht es Papa?«

»Besser«, sagte Heimpi. »Die Temperatur ist ein bisschen gefallen.«

Anna aß zufrieden ihren Nachtisch auf. Max und Günther ließen sich dreimal nachgeben, aber Mama war noch immer nicht zurück. Es war seltsam, denn sie mochte Apfelstrudel besonders gern.

Bertha kam, um abzuräumen, und Heimpi nahm die Jungen mit, um nach Günthers Hose zu sehen. »Es hat keinen Zweck, sie zu flicken«, sagte sie, »sie würde wieder platzen, sobald du Luft holst. Aber ich habe noch eine, aus der Max herausgewachsen ist, die wird dir gerade passen.«

Anna blieb im Esszimmer zurück und wusste nicht, was sie tun sollte. Zuerst half sie Bertha. Sie schoben die benutzten Teller durch die Durchreiche in die Küche. Dann fegten sie mit einer kleinen Bürste und einer Schaufel die Krümel vom Tisch. Als sie dann das Tischtuch falteten, erinnerte sie sich an Fräulein Lambeck und ihre Botschaft. Sie wartete, bis Bertha das Tischtuch fest in den Händen hatte, und lief dann zu Papas Zimmer hinauf. Sie konnte Papa und Mama drinnen sprechen hören. »Papa«, sagte Anna, während sie die Tür öffnete, »ich habe Fräulein Lambeck getroffen …«

»Nicht jetzt! Nicht jetzt!«, rief Mama. »Wir haben was zu besprechen.«

Sie saß auf Papas Bettkante. Papa war mit Kissen im Rücken gestützt und sah blass aus. Sie runzelten beide die Stirn.

»Aber Papa, sie hat mich gebeten, dir zu bestellen …«

Mama wurde ganz böse. »Um Himmels willen, Anna«, rief sie, »wir wollen jetzt nichts davon hören! Geh weg!«

»Komm nachher zurück«, sagte Papa etwas sanfter. Anna machte die Tür zu. So war das also. Nicht, dass sie Lust gehabt hätte, Fräulein Lambecks blöde Nachricht zu überbringen. Aber sie ärgerte sich doch.

Es war niemand im Kinderzimmer. Sie konnte draußen Stimmen hören. Max und Günther spielten also wahrscheinlich im Garten. Aber sie hatte keine Lust, zu ihnen zu gehen. Ihr Ranzen hing über der Stuhllehne. Sie packte ihre neuen Farbstifte aus und holte sie alle aus der Schachtel. Darunter war ein schönes Rosa und ein ganz schönes Orange, aber am schönsten waren die Blaus. Es waren drei verschiedene Töne, alle schön kräftig, und auch ein Violett. Plötzlich kam Anna eine Idee.

Sie hatte in der letzten Zeit ein paar Gedichte gemacht und sie auch illustriert, und sie waren zu Hause und auch in der Schule sehr bewundert worden. Eins hatte von einer Feuersbrunst gehandelt, eins von einem Erdbeben und eins von einem Mann, der unter schrecklichen Qualen starb, nachdem er von einem Landstreicher verflucht worden war. Sollte sie es einmal mit einem Schiffbruch versuchen? Allerlei Wörter reimten sich auf »See«, und man konnte »Welle« und »helle« reimen, und für die Illustration konnte sie die drei neuen blauen Stifte benutzen. Sie holte sich ein Blatt Papier und fing an.

Bald war sie so in ihre Arbeit versunken, dass sie nicht bemerkte, wie die frühe winterliche Dämmerung sich im Zimmer verbreitete, und sie fuhr hoch, als Heimpi hereinkam und das Licht anknipste.

»Ich habe Plätzchen gebacken«, sagte Heimpi. »Willst du mir helfen, sie zu glasieren?«

»Kann ich das hier zuerst Papa zeigen?«, fragte Anna, während sie das letzte Stückchen blauer See ausmalte. Heimpi nickte. Diesmal klopfte Anna an und wartete, bis Papa »herein« rief. Sein Zimmer sah geheimnisvoll aus, denn nur die Bettlampe brannte, und Papa und sein Bett waren eine erleuchtete Insel mitten in den Schatten. Nur undeutlich konnte sie seinen Schreibtisch mit der Schreibmaschine erkennen und den Stapel Papier, der wie gewöhnlich vom Tisch auf den Boden überquoll. Weil Papa oft noch spät in der Nacht schrieb und Mama nicht stören wollte, stand sein Bett in seinem Arbeitszimmer. Papa sah nicht aus, als ginge es ihm besser. Er saß da und tat überhaupt nichts, sondern starrte nur mit einem angespannten Ausdruck in seinem schmalen Gesicht vor sich hin. Aber als er Anna sah, lächelte er. Sie zeigte ihm das Gedicht, und er las es zweimal durch und sagte, es sei sehr gut, und er bewunderte auch die Illustration. Dann erzählte ihm Anna von Fräulein Lambeck, und sie lachten beide. Er sah jetzt wieder mehr wie sonst aus, darum sagte Anna: »Papa, gefällt dir das Gedicht auch wirklich?«

Papa sagte Ja.

»Meinst du nicht, es sollte fröhlicher sein?«

»Nun«, sagte Papa, »ein Schiffbruch ist ja wirklich nichts Fröhliches.«

»Meine Lehrerin, Fräulein Schmidt, meint, ich sollte über fröhlichere Sachen schreiben, zum Beispiel über den Frühling und über Blumen.«

»Und möchtest du denn über den Frühling und über Blumen schreiben?«

»Nein«, sagte Anna traurig. »Im Augenblick scheine ich nur über Unglücksfälle schreiben zu können.«

Papa lächelte ein wenig schief und sagte, da wäre sie wohl ganz im Einklang mit der Zeit.

»Meinst du denn«, fragte Anna eifrig, »dass es richtig ist, über Unglücksfälle zu schreiben?«

Papa wurde sofort ernst.

»Natürlich«, sagte er. »Wenn du über Unglück schreiben willst, musst du es auch tun. Es hat keinen Zweck, das zu schreiben, was andere Leute hören wollen. Man kann nur dann gut schreiben, wenn man versucht, es sich selbst recht zu machen.«

Anna war von dem, was Papa sagte, so ermutigt, dass sie ihn gerade fragen wollte, ob er wohl glaubte, sie könne eines Tages berühmt werden, aber das Telefon an Papas Bett klingelte laut. Als Papa den Hörer aufnahm, war der gespannte Ausdruck wieder in seinem Gesicht, und Anna fand es seltsam, dass sogar seine Stimme verändert klang. Sie hörte ihn sagen: »Ja … ja …« Auch von Prag war die Rede. Dann verlor sie das Interesse. Aber das Gespräch war bald vorüber.

»Lauf jetzt lieber«, sagte Papa. Er streckte die Arme aus, als wollte er sie an sich drücken. Aber dann ließ er sie wieder sinken.

»Ich will dich lieber nicht anstecken«, sagte er.

Anna half Heimpi, die Plätzchen mit einem Zuckerguss zu versehen – und dann aßen sie und Max und Günther sie – alle außer dreien, die Heimpi in eine Papiertüte steckte, damit Günther sie seiner Mutter mit nach Hause nehmen konnte. Sie hatte noch andere Kleidungsstücke gefunden, aus denen Max herausgewachsen war, sodass ein ganz schönes Paket zusammengekommen war, das er nachher mit nach Hause nehmen sollte.

Für den Rest des Abends spielten sie zusammen. Max und Anna hatten zu Weihnachten eine Sammlung von Spielen bekommen. Sie hatten immer noch Freude daran, damit zu spielen. Die Sammlung enthielt ein Mühlespiel, Schach, Ludo, Domino, ein Damespiel und sechs verschiedene Kartenspiele, alles zusammen in einer wunderschönen Schachtel. Wenn man eines Spiels überdrüssig war, konnte man immer ein anderes spielen. Heimpi saß bei ihnen im Kinderzimmer und stopfte Strümpfe und spielte auch einmal Ludo mit. Nur zu bald war es Zeit, zu Bett zu gehen.

Am nächsten Morgen lief Anna in Papas Zimmer, um ihn zu besuchen. Der Schreibtisch war aufgeräumt. Das Bett war ordentlich gemacht. Papa war fort.

2

Annas erster Gedanke war so schrecklich, dass ihr Atem stockte. Papa war in der Nacht kränker geworden. Man hatte ihn ins Krankenhaus gebracht. Vielleicht … Sie rannte blindlings aus dem Zimmer und Heimpi direkt in die Arme.

»Es ist alles in Ordnung«, sagte Heimpi. »Es ist alles in Ordnung! Dein Vater hat eine Reise angetreten.«

»Eine Reise?« Anna konnte es nicht glauben. »Aber er ist doch krank – er hat Fieber …«

»Er hat sich trotzdem entschlossen zu verreisen«, sagte Heimpi bestimmt. »Deine Mutter wollte es dir alles erklären, wenn du aus der Schule kommst. Ich glaube, jetzt hörst du es besser gleich, und Fräulein Schmidt kann die Daumen drehen und auf dich warten.«

»Was ist denn los? Gehen wir nicht zur Schule?« Max erschien mit hoffnungsvollem Gesicht auf der Treppe.

Dann kam Mama aus ihrem Zimmer. Sie war noch im Morgenrock und sah müde aus.

»Es gibt überhaupt keinen Grund zur Aufregung«, sagte sie. »Aber ich muss euch einiges sagen. Heimpi, können wir noch etwas Kaffee haben? Und ich glaube, die Kinder könnten auch noch ein bisschen frühstücken.«

Als sie erst einmal bei Kaffee und Brötchen in Heimpis Küche saßen, fühlte Anna sich schon viel besser, und sie war sogar imstande, sich darüber zu freuen, dass sie jetzt die Geografiestunde verpassen würde, die ihr besonders verhasst war.

»Die Sache ist ganz einfach«, sagte Mama. »Papa glaubt, dass Hitler und die Nazis die Wahlen gewinnen könnten. Wenn das geschieht, möchte er nicht mehr in Deutschland leben, solange sie an der Macht sind, und keiner von uns möchte das.«

»Weil wir Juden sind?«, fragte Anna.

»Nicht nur, weil wir Juden sind. Papa glaubt, dass dann niemand mehr sagen darf, was er denkt, und er könnte dann nicht mehr schreiben. Die Nazis wollen keine Leute, die anderer Meinung sind als sie.« Mama nahm einen Schluck Kaffee und sah gleich etwas heiterer aus. »Natürlich kann es sein, dass es nicht so kommt, und wenn es so kommt, wird es wahrscheinlich nicht lange dauern – vielleicht sechs Monate oder so. Aber im Augenblick wissen wir es einfach nicht.«

»Aber warum ist Papa so plötzlich weggefahren?«

»Weil ihn gestern jemand angerufen und ihn gewarnt hat, dass man ihm vielleicht den Pass wegnehmen würde. Darum habe ich ihm einen kleinen Koffer gepackt, und er hat den Nachtzug nach Prag genommen – das ist der kürzeste Weg aus Deutschland hinaus.«

»Wer könnte ihm denn seinen Pass wegnehmen?«

»Die Polizei. In der Polizei gibt es ziemlich viele Nazis.«

»Und wer hat ihn angerufen und ihn gewarnt?«

Mama lächelte zum ersten Mal.

»Auch ein Polizist. Einer, den Papa nie getroffen hat; einer, der seine Bücher gelesen hat und dem sie gefallen haben.«

Anna und Max brauchten einige Zeit, um all das zu verdauen. »Nun«, sagte Mama, »bis zu den Wahlen sind nur noch zehn Tage. Entweder die Nazis verlieren, dann kommt Papa zurück – oder sie gewinnen, dann fahren wir zu ihm.«

»Nach Prag?«, fragte Max.

»Nein, wahrscheinlich in die Schweiz. Dort spricht man Deutsch. Papa könnte dort schreiben. Wir würden wahrscheinlich ein Haus mieten und dort bleiben, bis alles vorbei ist.«

»Auch Heimpi?«, fragte Anna.

»Auch Heimpi.«

Es klang ganz aufregend. Anna fing an, es sich vorzustellen – ein Haus in den Bergen … Ziegen … oder waren es Kühe? …

Da sagte Mama: »Und dann noch eins.« Ihre Stimme klang ernst.

»Dies ist das Allerwichtigste«, sagte Mama, »und wir brauchen dabei eure Hilfe. Papa möchte nicht, dass irgendjemand erfährt, dass er Deutschland verlassen hat. Ihr dürft es also niemandem verraten. Wenn euch jemand nach ihm fragt, müsst ihr sagen, dass er noch mit Grippe im Bett liegt.«

»Darf ich es nicht einmal Günther sagen?«, fragte Max.

»Nein, weder Günther noch Elsbeth noch sonst jemandem.«

»Also gut«, sagte Max. »Aber es wird nicht leicht sein. Die Leute fragen immer nach ihm.«

»Warum dürfen wir es denn niemandem sagen?«, fragte Anna.

»Warum will Papa nicht, dass es jemand weiß?«

»Sieh mal«, sagte Mama. »Ich habe euch alles erklärt, so gut ich konnte. Aber ihr seid beide noch Kinder. Papa glaubt, die Nazis könnten … könnten uns Schwierigkeiten machen, wenn sie wissen, dass er weg ist. Darum will er nicht, dass ihr darüber redet. Also, werdet ihr tun, um was er euch bittet, oder nicht?« Anna sagte, natürlich würde sie es tun.

Dann schickte Heimpi die beiden zur Schule. Anna machte sich Sorgen darüber, was sie sagen sollte, falls sie jemand fragte, warum sie zu spät kam, aber Max meinte: »Sag einfach, Mama hätte verschlafen – das hat sie doch auch.«

Aber es interessierte sich niemand sehr dafür. Die Klasse war in der Turnhalle und übte Hochsprung, und Anna sprang höher als alle anderen. Sie war so froh darüber, dass sie für den Rest des Morgens beinahe vergaß, dass Papa in Prag war.

Als es Zeit war, nach Hause zu gehen, fiel ihr alles wieder ein, und sie hoffte nur, dass Elsbeth keine unbequemen Fragen stellen würde – aber Elsbeth hatte wichtigere Dinge im Kopf. Ihre Tante wollte mit ihr am Nachmittag in die Stadt gehen und ihr ein Jo-Jo kaufen. Was für eins sollte sie sich wünschen, was riet ihr Anna?

Und welche Farbe? Die hölzernen taten es, im Ganzen gesehen, am besten, aber Elsbeth hatte ein leuchtend orangefarbenes Jo-Jo gesehen. Es war zwar aus Blech, aber die Farbe hatte es ihr angetan. Anna sollte nur Ja oder Nein sagen.

Als Anna zum Mittagessen nach Hause kam, war dort alles wie gewohnt. Am Morgen hatte sie erwartet, es werde alles anders sein.

Weder Anna noch Max hatten Aufgaben auf, und es war zu kalt, um hinauszugehen. Sie setzten sich darum am Nachmittag auf den Heizkörper im Kinderzimmer und schauten aus dem Fenster. Der Wind rappelte an den Fensterläden und jagte die Wolken in großen Fetzen über den Himmel.

»Vielleicht schneit es wieder«, sagte Max.

»Max«, fragte Anna, »möchtest du gern in die Schweiz gehen?«

»Ich weiß nicht«, sagte Max. Er würde so vieles vermissen. Günther … die Bande, mit der er Fußball spielte … die Schule … Er sagte: »Ich vermute, wir würden in der Schweiz auch zur Schule gehen.«

»Oh ja«, sagte Anna. »Ich glaube, es würde Spaß machen.« Sie schämte sich beinahe es zuzugeben, aber je länger sie darüber nachdachte, desto lieber wollte sie hin. In einem unbekannten Land zu sein, wo alles anders war – in einem anderen Haus zu wohnen, in eine andere Schule mit anderen Kindern zu gehen … Sie wünschte sich, das alles kennenzulernen, und obgleich sie wusste, dass es herzlos war, lächelte sie.

»Es wäre ja auch nur für sechs Monate«, sagte sie entschuldigend, »und wir wären alle beisammen.«

Der folgende Tag verlief normal. Mama bekam einen Brief von Papa. Er war gut in einem Hotel in Prag untergebracht, und es ging ihm viel besser. Dies machte allen das Herz leichter.

Ein paar Leute fragten nach Papa, waren aber ganz zufrieden, als die Kinder sagten, er habe die Grippe. Die Grippe war so verbreitet, dass sich niemand wunderte. Das Wetter blieb kalt, und die Pfützen, die beim Tauwetter entstanden waren, froren wieder fest zu – aber es schneite immer noch nicht.

Am Samstagnachmittag endlich wurde der Himmel dunkel, und plötzlich begann es in dichten, wirbelnden weißen Flocken zu schneien. Anna und Max spielten mit den Kindern der Kentners, die ihnen gegenüber wohnten. Sie hielten inne, um den Schnee fallen zu sehen.

»Wenn es nur etwas früher angefangen hätte«, sagte Max, »ehe der Schnee hoch genug liegt zum Rodeln, ist es dunkel.« Als Anna und Max um fünf Uhr nach Hause gingen, hatte es eben aufgehört zu schneien. Peter und Marianne Kentner brachten sie zur Tür. Der Schnee bedeckte die Straße mit einer dichten, trockenen, knirschenden Decke, und der Mond schien darauf.

»Wir könnten doch beim Mondlicht rodeln«, sagte Peter. »Glaubst du, das würde man uns erlauben?«

»Wir haben es schon früher getan«, sagte Peter, der vierzehn war. »Geht und fragt eure Mutter.«

Mama sagte, sie könnten mitgehen, müssten aber zusammenbleiben und um sieben wieder zu Hause sein. Sie zogen ihre wärmsten Sachen an und machten sich auf den Weg.

Der Grunewald lag nur eine Viertelstunde weit entfernt, und dort bildete ein bewaldeter Abhang eine ideale Schlittenbahn hinunter auf einen zugefrorenen See. Sie hatten hier schon oft gerodelt, aber da war es immer hell gewesen, und man hatte die Rufe der anderen Kinder gehört. Jetzt war nur das Singen des Windes in den Bäumen zu vernehmen, das Knirschen des frischen Schnees unter ihren Füßen und das sanfte Schwirren der Schlitten, die sie hinter sich herzogen. Über ihnen war der Himmel dunkel, aber der Boden glänzte bläulich im Mondlicht, und die Schatten der Bäume lagen wie schwarze Bänder darauf.

Am oberen Rande des Abhangs blieben sie stehen und blickten nach unten. Niemand war vor ihnen hier gewesen. Der schimmernde Schneepfad erstreckte sich unberührt und vollkommen weiß bis ans Seeufer hinunter.

»Wer fährt zuerst?«, fragte Max.

Anna hatte gar nicht die Absicht gehabt, aber jetzt tanzte sie auf und ab und rief: »Oh bitte, bitte, lasst mich!«

Peter sagte: »Also gut – die Jüngste zuerst.«

Damit war sie gemeint, denn Marianne war zehn.

Sie setzte sich auf ihren Schlitten, zog das Steuerseil fest an, tat einen tiefen Atemzug und stieß ab. Der Schlitten setzte sich ziemlich langsam in Bewegung.

»Los«, schrien die Jungen hinter ihr her. »Stoß dich noch mal ab.«

Aber sie tat es nicht. Sie behielt die Füße auf den Kufen und ließ den Schlitten sich langsam beschleunigen. Der pulvrige Schnee stäubte um sie herum in die Höhe. Die Bäume glitten vorüber, zuerst langsam, dann immer schneller. Das Mondlicht tanzte um sie herum. Schließlich war es, als flöge sie durch eine silbrige Masse. Dann stieß der Schlitten gegen die Schwelle am Fuß des Abhangs, schoss darüber hinweg und landete auf dem Eis des Sees. Es war herrlich.

Die anderen kamen kreischend und schreiend hinter ihr her. Sie kamen mit dem Kopf voran, mit dem Bauch auf dem Schlitten liegend, sodass der Schnee ihnen direkt ins Gesicht stäubte. Dann fuhren sie, auf dem Rücken liegend, die Füße nach vorn ausgestreckt, und die schwarzen Wipfel der Tannen schienen nach hinten wegzufliegen. Dann drängten sich alle auf einem Schlitten zusammen und kamen dadurch so in Fahrt, dass der Schlitten beinahe bis in die Mitte des Sees schoss. Nach jeder Fahrt stapften sie mühsam keuchend den Abhang wieder hinauf und zogen die Schlitten hinter sich her. Trotz der Kälte schwitzten sie in ihren Wollsachen.

Dann fing es wieder an zu schneien. Zuerst bemerkten sie es kaum, aber dann erhob sich ein Wind, der ihnen die Flocken ins Gesicht blies. Plötzlich blieb Max mitten auf dem Abhang, den sie gerade wieder mit dem Schlitten hinaufstiegen, stehen und sagte: »Wie spät ist es? Sollten wir nicht zurückgehen?«

Niemand hatte eine Uhr, und sie merkten plötzlich, dass sie keine Ahnung hatten, wie lange sie schon hier waren. Vielleicht war es schon sehr spät, und die Eltern warteten zu Hause. »Kommt«, sagte Peter, »wir wollen uns sofort auf den Weg machen.« Er zog die Handschuhe aus und schlug sie gegeneinander, um den verkrusteten Schnee abzuschütteln. Seine Hände waren rot vor Kälte. Auch Annas Hände waren rot, und sie merkte erst jetzt, dass sie eiskalte Füße hatte.

Auf dem Rückweg war es kalt. Der Wind blies ihnen durch die feuchten Kleider, und da der Mond jetzt hinter Wolken verborgen war, lag der Pfad schwarz vor ihnen. Anna war froh, als sie aus den Bäumen traten und wieder auf der Straße waren. Bald kamen Straßenlaternen, Häuser mit erleuchteten Fenstern, Läden. Sie waren beinahe zu Hause.

Das erleuchtete Zifferblatt einer Kirchturmuhr zeigte ihnen die Zeit. Es war doch noch nicht ganz sieben. Sie seufzten erleichtert auf und gingen jetzt langsamer. Max und Peter fingen an, über Fußball zu sprechen. Marianne band zwei Schlitten aneinander, hüpfte wild auf der leeren Fahrbahn vor ihnen her und hinterließ im Schnee ein Netzwerk sich überschneidender Spuren. Anna humpelte hinterher, weil ihr die kalten Füße wehtaten.

Sie konnte sehen, wie die Jungen vor ihrem Haus stehen blieben; sie redeten immer noch und warteten auf sie, und sie hatte sie fast eingeholt, als sie ein Gartentor knarren hörte. Jemand bewegte sich auf dem Gehsteig neben ihr, und plötzlich wurde eine Gestalt sichtbar. Einen Augenblick war Anna sehr erschrocken, aber dann erkannte sie, dass es nur Fräulein Lambeck in einer kurzen Pelzjacke war. Sie trug einen Brief in der Hand.

»Kleine Anna«, rief Fräulein Lambeck. »Dass ich dir hier im Dunkeln begegne! Ich wollte nur zum Briefkasten gehen und hätte gar nicht erwartet, einen verwandten Geist zu treffen. Und wie geht es deinem lieben Papa?«

»Er hat die Grippe«, sagte Anna automatisch.

Fräulein Lambeck blieb stehen. »Er hat immer noch Grippe, kleine Anna? Du hast mir schon vor einer Woche gesagt, dass er Grippe hat.«

»Ja«, sagte Anna.

»Er liegt immer noch zu Bett? Hat immer noch Fieber?«

»Ja«, sagte Anna.

»Oh, der arme Mann!« Fräulein Lambeck legte ihre Hand auf Annas Schultern. »Wird auch wirklich alles für ihn getan? Kommt der Arzt zu ihm?«

»Ja«, sagte Anna.

»Und was sagt der Arzt?«

»Er sagt … ich weiß es nicht«, antwortete Anna.

Fräulein Lambeck beugte sich vertraulich vor und sah Anna ins Gesicht. »Sag mir, kleine Anna«, sagte sie, »wie hoch ist die Temperatur deines lieben Vaters?«

»Ich weiß es nicht«, schrie Anna, und die Worte klangen gar nicht so, wie sie es eigentlich beabsichtigt hatte. Es war eher eine Art von Quieken. »Verzeihen Sie, aber ich muss jetzt nach Hause!« – und sie rannte so schnell sie konnte auf Max und die geöffnete Haustür zu.

»Was ist los?«, fragte Heimpi in der Diele. »Hat dich jemand aus ’ner Kanone geschossen?«

Anna konnte Mama durch die halb offene Tür des Wohnzimmers sehen. »Mama«, rief sie, »ich hasse es, alle wegen Papa anzulügen. Es ist schrecklich. Warum müssen wir es denn tun? Ich wünschte, das wäre nicht nötig.«

Dann sah sie, dass Mama nicht allein war. Onkel Julius (der nicht wirklich ihr Onkel, sondern ein alter Freund von Papa war) saß in einem Sessel auf der anderen Seite des Zimmers. »Beruhige dich«, sagte Mama in scharfem Ton. »Wir alle hassen es, wegen Papa zu lügen, aber im Augenblick bleibt keine andere Wahl. Ich würde es nicht von dir verlangen, wenn es nicht notwendig wäre.«

»Fräulein Lambeck hat sie sich geschnappt«, sagte Max, der hinter Anna eingetreten war. »Du kennst doch Fräulein Lambeck? Sie ist grässlich. Man kann ihre Fragen nicht beantworten, auch wenn man die Wahrheit sagen darf.«

»Arme Anna«, sagte Onkel Julius mit seiner hellen Stimme. Er war ein sanfter, kleiner und zarter Mann, den sie alle sehr gernhatten. »Euer Vater bittet mich, euch zu sagen, wie sehr er euch beide vermisst, und er lässt euch tausendmal grüßen.«

»Du hast ihn also gesehen?«, fragte Anna.

»Onkel Julius kommt gerade von Prag zurück«, sagte Mama. »Papa geht es gut, und er will, dass wir ihn am Sonntag in Zürich in der Schweiz treffen.«

»Am Sonntag?«, sagte Max. »Aber das ist ja schon in einer Woche. Das ist der Tag der Wahlen. Ich dachte, wir würden abwarten, wer gewinnt?«

»Dein Vater hat beschlossen, dass wir nicht abwarten sollen.«

Onkel Julius lächelte Mama an. »Ich glaube, er nimmt das alles zu ernst.«

»Warum?«, fragte Max. »Was befürchtet er denn?«

Mama seufzte. »Seit Papa davon gehört hat, dass man ihm seinen Pass wegnehmen wollte, hat er Angst, man könnte uns auch unsere Pässe nehmen, und dann können wir nicht mehr aus Deutschland hinaus.«

»Aber warum sollten sie das tun?«, fragte Max. »Wenn die Nazis uns nicht mögen, dann sind sie doch bestimmt froh, uns loszuwerden.«

»Genau«, sagte Onkel Julius. Er lächelte wieder Mama zu. »Dein Mann ist ein wunderbarer Mensch mit einer wunderbaren Einbildungskraft, aber – offen gesagt – ich glaube, in dieser Sache hat er den Kopf verloren. Aber wie auch immer – ihr werdet in der Schweiz herrliche Ferien verbringen, und wenn ihr in ein paar Wochen zurückkommt, gehen wir alle zusammen in den Zoo.« Onkel Julius war Zoologe und ging ständig in den Zoo.

»Lasst mich wissen, wenn ich euch mit irgendetwas behilflich sein kann. Natürlich sehen wir uns noch.« Er küsste Mama die Hand und ging.

»Sollen wir wirklich am Sonntag fahren?«, fragte Anna.

»Am Samstag«, sagte Mama. »Es ist eine lange Reise in die Schweiz. Wir werden unterwegs in Stuttgart übernachten müssen.«

»Dann ist dies unsere letzte Woche in der Schule!«, sagte Max. Es schien unfassbar.

3

Danach ging alles sehr schnell, wie in einem Film, der auf Zeitraffer gestellt ist. Heimpi war den ganzen Tag mit Aussortieren und Packen beschäftigt. Mama war fast immer fort oder sie telefonierte. Sie musste sich um die Vermietung des Hauses kümmern; die Möbel sollten, wenn sie abgefahren waren, eingelagert werden. Jeden Tag, wenn die Kinder aus der Schule kamen, sah das Haus leerer aus.

Eines Tages halfen sie Mama gerade, Bücher zu packen, als Onkel Julius vorbeikam. Er betrachtete die leeren Regale und lächelte: »Die werdet ihr alle wieder einräumen!«

In dieser Nacht erwachten die Kinder vom Lärm der Feuerwehrwagen. Es war nicht nur einer oder zwei, sondern mindestens ein Dutzend, die mit lautem Schellengeklingel die Hauptstraße entlangkamen. Als sie aus dem Fenster schauten, war der Himmel über der Innenstadt von Berlin leuchtend orangerot.