Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Putins Krieg zerstört all diese Werte eines zivilisatorischen Zusammenlebens. Entsetzt sehen wir Menschen sterben, wir hören von geflüchteten, gefolterten oder traumatisierten Kriegsopfern. Mit einigen von ihnen haben wir gesprochen und ihr Schicksal in diesem Buch aufgeschrieben. Um sie zu würdigen und ihre Geschichten festzuhalten, die dem anonymen Krieg ganz persönliche Gesichter verleihen. So wenig wir tun können, sehen wir es umso mehr als unsere Aufgabe an, mit diesem Buch auch daran zu erinnern, was es für uns alle zu verteidigen gilt: ein Leben in Freiheit, in einem demokratischen Land.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 349
Veröffentlichungsjahr: 2022
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Natasha Tkachenko
»Wenn Russen in ein fremdes Land kommen, verbrennen sie Geschichts- und Kunstbücher, schreiben die Geschichte um, töten oder foltern Identitätsstifter – Musiker, Schriftsteller, Künstler. Das war vor Hunderten von Jahren so, und so ist es auch heute. Deshalb kämpfen wir, die freiheitsliebenden Ukrainer, dafür, wir selbst zu sein. Denn der Aggressor ist gekommen, um unsere Identität zu zerstören, nicht um das Land zu erobern.«
»Coming to a foreign land, Russians burn history and art books, rewrite history, kill or torture identity bearers – musicians, writers, artists. It was hundreds of years ago, so it is now. That is why we as freedom-loving Ukrainians are fighting to be ourselves. Because the invader became to destroy our identity, not to take the territory.«
Regine Dee und Susanna Hegewisch-Becker
für den Vorstand der HIM
Einleitung
Introduction
Albina
Bomben statt Ballett – Flucht aus Charkiw
Bombs instead of ballet - Escape from Khariv
Bella
Ich kam als Russin, wurde zur Deutschen und lernte es, europäisch zu sein
I came as a Russian, became a German and learned how to be European
Oleksiy
Schwarz oder Weiß – der Krieg duldet keinen Mittelweg
Black or white – war tolerates no in-between
Olga
Aus dem Urlaub in die Ferne – von Hurghada über Leipzig nach Hamburg
From vacation to a foreign home – from Hurghada via Leipzig to Hamburg
Yulia und ihre Kinder / Yulia and her children
Alle wollen ihre Liebsten umarmen
All want to hug their loved ones
Oksana und Natalia
Geglückte Flucht, aber das schlechte Gewissen ist quälend
Successful escape but with a troubled conscience
Vlada und Konstantyn
Aus dem Fotostudio an die Front
From the photo studio to the front
Kateryna und Oleksandr
In der Folterkammer Europas
In the torture chamber of Europe
Vlad und Oleg
Todesangst im Gefängnis – Vlad (16) von Russen entführt
Fear of Death in prison – Vlad (16) kidnapped by Russians
Natasha
Ukrainische Kultur – warum wir so erbittert kämpfen
Ukrainian Culture – why we fight so fiercely
Anastasia
Bomben auf Mariupol – Tod auf offener Straße
Bombs on Mariupol – Death on the open road
Mariya
Unheilvolle Flucht aus der Hölle von Mariupol
Horrible escape from the hell of Mariupol
Valeriia
Trotz Krieg auf Heimaturlaub
Vacation back home despite the war
Albina und Oleksiy
Krieg und kein Ende – ein Update nach 216 Tagen Angriffskrieg
War and no end – an update after 216 days of a war of aggression
Danksagung
Acknowledgements
Nach Russlands Überfall auf die Ukraine wurde sehr schnell klar: Hier findet keine »Spezialoperation« statt, sondern ein Angriffskrieg, der mit unvorstellbaren Verlusten unter der Zivilbevölkerung einhergehen würde. Der Vorstand der Hamburger Initiative für Menschenrechte (HIM) hat daraufhin entschieden, sich den Opfern zu widmen, Einzelschicksalen ein Gesicht zu geben und dafür Sorge zu tragen, dass nicht nur gelungene oder auch misslungene Militäroperationen, sondern vor allem die menschlichen Kollateralschäden in der Aufarbeitung dieses Krieges im Gedächtnis bleiben. Die Waffen der Unbewaffneten sind ihre Worte. Kriegserfolge oder auch Niederlagen lassen sich nicht nur an Gebietsgewinnen oder –verlusten verdeutlichen, vor allem dann nicht, wenn Gebietsgewinne auf beiden Seiten kaum mehr als verbrannte Erde hinterlassen.
Wir haben daher auf unserer Homepage die Rubrik »Geschichten eines Krieges« eingerichtet und dort in loser Folge Berichte und Interviews mit Betroffenen eingestellt. Geschichten von Flüchtlingen, von Helfern, von Menschen, die den Aufbruch nicht wagen wollten oder aber in die Heimat zurückgekehrt sind, weil das Heimweh unerträglich wurde. Wir haben die Trennung von Familien dokumentiert und den Verlust von Ehemännern. Wir haben gefragt, was ist ukrainische Kultur und Identität? Zu Anfang glaubten viele Ukrainerinnen und Ukrainer, der Krieg werde innerhalb von zwei Wochen zu Gunsten ihres Landes entschieden sein. Die Verzweiflung, die Traumata und die Erfahrung des schieren Grauens, den dieser Krieg für viele Menschen bedeutet, sind in den letzten Monaten noch gewachsen. Viele Geflüchteten mussten eine schreckliche Odyssee auf sich nehmen, umam Ende irgendwo außerhalb der Grenzen der Ukraine sicheren Boden zu erreichen, auch wenn dies meist gleichbedeutend ist mit schmerzlicher Entwurzelung und komplettem Neuanfang. Bei unseren Interviews haben wir immer wieder auch Dankbarkeit erfahren, Dankbarkeit dafür, die eigene Geschichte erzählen zu können und damit Sichtbarkeit für das zum Teil Unvorstellbare zu erreichen.
Wir hoffen, dass diese Sammlung einen nachhaltigen Beitrag gegen das Vergessen leisten kann.
Regine Dee und Susanna Hegewisch-Becker für den Vorstand der HIM
In der Nähe von Nürnberg treffen wir die 22-jährige Balletttänzerin Albina und ihre Mutter. Sie mussten aus der Ukraine fliehen und kamen über Lwiw nach Deutschland. Der Kontakt zu Albina entstand mehr oder weniger zufällig. Weil jemand jemanden kannte, der jemanden kannte, dem wir unsere Idee für unser Projekt erzählten. So funktioniert im Moment vieles in der Ukraine. Das lernen auch Albina und ihre Mutter. Vieles funktioniert auf Zuruf, durch Netzwerke und durch die Solidarität von Freunden und Bekannten. Ohne sie hätten es Albina und ihre Mutter vielleicht nicht bis nach Deutschland geschafft.
Albinas Geschichte beginnt am Abend des 23. Februar in Charkiw. Wo, wann und wie diese Geschichte enden wird, weiß sie nicht. Weiß heute noch niemand.
An diesem Abend tanzt Albina. Sie tanzt die Königin Myrtha in Giselle – Phantastisches Ballett in zwei Akten und schwebt mit Zauberwesen, Feen und Geistern über die Bühne. Zwischen ihren Auftritten macht sie ein Selfie. Geschminkt und in einem weißen Kostüm lächelt sie in die Kamera. Die Vorstellung lief gut, mit viel Publikum und großem Applaus. Sie hat eine volle Woche vor sich, fast jeden Tag wird es eine Vorstellung geben. Als sie in ihrem Apartment ankommt, ist sie erschöpft, aber zufrieden. Sie schläft tief und fest. Bis 5:47 Uhr in der Früh. Da wacht sie auf und blickt auf ihr Handy: zwölf Anrufe von ihrer Mutter. Sie lebt nur ein paar Straßen entfernt. Albina erschrickt und ruft sofort zurück. Ihre Mutter sagt nur: »Der Krieg beginnt.«
Albina kann es nicht fassen. Sie weiß, was das bedeutet. Mit 19 Jahren musste sie zum ersten Mal fliehen, verlor zum ersten Mal ihr Zuhause. Von 2014 bis 2019 lebte Albina in Donezk, floh von dort nach Charkiw. Nicht schon wieder. Das ist alles, was Albina denkt, am Morgen dieses 24. Februar 2022.
Albina tanzt Königin Myrtha – dieses Foto entstand am Abend vor dem Krieg
Albina mit ihrer Katze Anfisa – auf der Flucht vor dem Krieg
Sofort zieht Albina sich an, um Geld, Wasser und Lebensmittel zu holen. Das hat ihr ihre Mutter aufgetragen. Sie muss eine Stunde anstehen, um Geld abzuheben und nochmal eine Stunde für die Lebensmittel. Man kann die Detonationen der Bomben bereits hören. Die Menschen in der Schlange für Geld und Lebensmittel sind unruhig, diskutieren, wo genau die Bomben wohl einschlagen, ob sie noch weit genug weg sind, ob bereits Soldaten in der Stadt sind. Albina hat keine Angst. Sie kennt diese Situation aus Donezk, sie kennt das Geräusch einschlagender Bomben. Und hatte versucht, es wieder zu vergessen. Sie holt aus ihrer Wohnung noch einige Sachen und läuft die acht Minuten zur nächsten U-Bahn-Station. Weder ihr Haus, noch das ihrer Mutter bietet genug Schutz vor den Bomben. In der U-Bahn verbringen sie die ersten zwei Tage dieses Krieges. Viele Menschen suchen unter der Erde Schutz, viele haben ihre Haustiere mitgebracht. Die Hunde haben Angst – das dumpfe Knallen macht sie nervös. Sie ziehen an den Leinen, ihre Besitzer knien sich daneben, versuchen sie zu beruhigen. Züge werden in die Stationen gefahren, damit die Leute hineingehen und dort schlafen können – zum Schutz vor der Kälte. Es ist eng, die Züge voll, schlafen geht nur im Sitzen. Albina und ihre Mutter haben keine Decken dabei, sie haben nicht daran gedacht. Erst am dritten Tag des Krieges bringen sie Decken und Teppiche mit in die U-Bahn – zum Schlafen und gegen die Kälte.
Zunächst gilt die Sperrstunde von 22 Uhr bis 6 Uhr. Dann von 18 Uhr bis 6 Uhr und am dritten Tag bereits von 16 Uhr bis 6 Uhr. In dieser Zeit kann niemand die U-Bahn-Stationen verlassen oder betreten. Sie werden von innen verschlossen. Zum Schutz vor Sabotage – die ersten russischen Soldaten sind in Charkiw angekommen. Den dritten und vierten Tag des Krieges verbringt Albina in ihrer Wohnung. Die Kälte in der U-Bahn, die Unruhe der vielen Menschen waren anstrengend. Albina ist so erschöpft, dass sie nur noch schlafen will. Und einmal duschen – wie in einem ganz normalen Leben. Ihre Mutter bleibt lieber unter der Erde – wo es sicherer ist. Am dritten Tag müssen sie wieder Lebensmittel besorgen. Sie stellen sich in einer Schlange für Brot an – für alles muss man sich anstellen. Stundenlang. Plötzlich schlagen die Bomben ganz in der Nähe ein, alle fangen an zu rennen und versuchen sich in Sicherheit zu bringen. Lebensmittel gibt es kaum noch. Die Regale sind leer. Zwei Flaschen Cola stehen noch herum. Brot ist bereits weg. Albina machtein Video von sich, wie sie vor der Sperrstunde Richtung U-Bahn läuft. Sie sagt: Das scheint jetzt mein Leben zu sein.
Für alles müssen die Menschen lange in Schlangen anstehen: Geld, Wasser oder wie hier: Brot und Lebensmittel
Albina weiß, wie sich Bomben anhören. Dieses laute Knallen, schnell und kurz hintereinander, minutenlang. Aus Donezk. Aber den ohrenbetäubenden Lärm der tieffliegenden Kampfjets, als würde jemand mit brachialer Gewalt die Luft in zwei Teile zerreißen, das kennt sie nicht. Es hört sich an, als würden sie direkt über ihr Haus fliegen. Jedes Mal folgt die Schreckenssekunde: Wird die Bombe in ihr Haus einschlagen? Jetzt bekommt Albina doch Angst. Sie ist in ihrem Apartment im sechsten Stock gefangen, kann nicht in die sichere U-Bahn – die Sperrstunde hat bereits begonnen. Sie weint, zittert am ganzen Körper. Sie kauert sich zwischen zwei Wände im Badezimmer, zum Glück ist ihr Freund bei ihr. Albina weiß, dass sie im Badezimmer am sichersten sind. Sie erinnert sich an Donezk. Die Küche ist nicht sicher wegen der Anschlüsse zum Kochen, und man muss von den Fenstern fernbleiben, wegen der Glassplitter, falls sie von den Druckwellen bersten. Sie versucht die Fenster zu sichern, klebt mit einem Tesafilm ein X ab. Die Bomben fallen permanent. Die Detonationen sind ständig zu spüren und zu hören. Aber sie haben Hunger, deshalb versucht Albina etwas zu kochen: Eier. Sie schaft es nicht einmal, das Wasser zu erhitzen. Immer wieder muss sie den Herd abdrehen und aus der Küche in den Flur fliehen. Dort wartet sie 10, manchmal 15 Minuten bevor sie es erneut versucht, zwei, drei, vier Mal. Albina schätzt, dass sie in den ersten drei Tagen des Krieges mindestens fünf Kilo abgenommen hat. So wie ihre Mutter, so wie vermutlich alle Ukrainer und Ukrainerinnen. Im Stress sagt sie, isst man nichts. Man kriegt einfach nichts runter.
Albina und ihre Mutter bleiben die ersten 10 Tage des Krieges in Charkiw. Die Zeit zwischen 16 Uhr und 6 Uhr verbringen sie in der U-Bahn, die restliche Zeit mit Anstehen in den Schlangen oder kurz in der Wohnung. Jeden Tag kommen die Bombeneinschläge näher. Einmal filmt Albina aus ihrer Wohnung in die Nacht. Es flimmert und blitzt hektisch am gesamten Horizont. Jedes Aufblitzen durchbricht die Einheit der Nacht, durchbricht die Schwärze, in der alles miteinander verschwimmt und zeichnet die Silhouetten der gegenüberliegenden Häuser und Baumwipfel vor einem tieforangen Himmel – es sieht aus, als würde die Stadt in Flammen stehen. Es knallt und donnert endlos lange Minuten.
Albina fotografiert den Nachthimmel über Charkiw aus ihrem Apartment.
Am 8. Tag des Krieges treffen sie die Entscheidung, die Stadt zu verlassen. Es wird zu gefährlich. Die Bombeneinschläge kommen näher, treffen immer häufiger zivile Ziele. Und sie haben Angst davor, dass die russischen Soldaten in die Stadt kommen. Albina weiß aus Donezk, dass die Soldaten Frauen und Mädchen vergewaltigen. Damals, an Albinas Geburtstag, wollte ihre Mutter ihr einen Geburtstagskuchen holen und musste vor zwei russischen Soldaten fliehen, die sie bedrängten. Damals ist nochmal alles gut gegangen. Aber nun haben sie gehört, dass vier Mädchen in der Seehafenstadt Cherson vergewaltigt und getötet worden sind. Und sie haben gehört, dass Frauen und Mädchen die Stadt verlassen sollen. Aber sie werden noch zwei Tage brauchen, bis sie sich tatsächlich auf den Weg machen. Sie wollen sich vorbereiten und sie wollen Kraft sammeln. Sie haben kein Auto und wollen den Zug nehmen. Niemand aber weiß, wann der Zug fahren wird. Wann überhaupt ein Zug in den Bahnhof von Charkiw einfährt. Und niemand weiß, wohin dieser Zug sie dann bringen wird. Aber das ist auch egal, Hauptsache erstmal raus aus der Stadt. Albina und ihre Mutter rufen im Bahnhof an und fragen, ob sie einen Koffer mitnehmen dürfen. Nein – nur eine kleine Tasche, lautet die Antwort. Doch eins ist wichtiger als alle Kleidung: die 16 Jahre alte Katze Anfisa. Sie soll auf keinen Fall zurückbleiben. Deshalb nehmen die beiden Frauen statt Tasche lieber eine Transportbox mit.
Albina zieht sich zwei Jogginghosen an, ein T-Shirt, darüber einen Pullover und eine Jacke. Sie stopft sich ein Paar extra Socken und eine Unterhose in die Taschen und packt Verbandsachen ein, für den Fall, dass einer von ihnen verwundet wird. Außerdem Geld und Ausweisdokumente. Mehr nicht. Und dann machen sie sich auf den Weg: Albina, ihr Freund, ihre Mutter und die Katze. Sie laufen zwei Stunden durch die U-Bahnschächte – es ist zu gefährlich oberirdisch durch die Straßen zum Bahnhof zu laufen. Sie sind nicht allein unterwegs, immer wieder begegnen sie anderen auf der Flucht, freiwillige Helfer verteilen sogar Wasser. Die Katze in ihrer Box ist so unruhig, dass Albinas Mama sie die ganze Zeit auf dem Arm trägt. Ein paar Mal machen sie kurz Pause – es ist anstrengend im Dunkeln zwischen den Gleisen in den endlos wirkenden Tunneln.
Auf dem Weg raus aus Charkiw: Die Flucht beginnt. Albinas Mutter trägt Katzendame Anfisa durch die U-Bahn-Schächte.
Szenen aus den ersten Tagen des Krieges. Die Menschen suchen Schutz vor dem anhaltenden Beschuss schwerer Artillerie. Es ist kalt und eng in den Zügen.
Sie erreichen den Bahnhof um etwa 13.00 Uhr und müssen sich in der Schlange für den Zug anstellen. 500 oder mehr Menschen, Albina kann sich nicht genau erinnern, warten darauf, die Stadt verlassen zu können. Nach etwa einer Stunde brüllt einer der Polizisten plötzlich: BOMBEN – RENNT! Und alle rennen. Mit ihren Kindern, Taschen, Tieren, manche fallen zu Boden, andere rennen über sie hinweg. Es herrscht Chaos. Aber Albina und ihre Familie erreichen die U-Bahnstation unverletzt. Nach etwa 10 Minuten wagen sie sich wieder hinaus, zurück in den Bahnhof. Da müssen sie sich wieder ganz hinten in der Schlange anstellen. Keine Chance, mit dem nächsten Zug aus der Stadt zu kommen – es sind zu viele Menschen. Aber es soll ein zweiter Zug fahren – nach Winnyzia. Endlich: In diesen Zug schaffen sie es. Winnyzja liegt etwa 260 Kilometer süd-westlich von Kiew. Doch der Zug fährt nicht los. Stattdessen steht er drei Stunden im Gleisbett. Albina versteht zunächst nicht, warum. Erst gegen 18.30 Uhr fährt der Zug dann sehr langsam und ohne Licht aus Charkiw. Auf die schützende Dunkelheit hat man gewartet. Nach etwa einer halben Stunde bleibt er schon wieder stehen. Ein technisches Problem. Albina kann aus dem Zugfenster das Blitzen und Leuchten der Bomben am Himmeln sehen – nicht weit weg. Bitte repariert den Zug schneller, betet sie. Aber es dauert etwa eine Stunde bis der Zug weiterfährt. Die Menschen im Zug flüstern nur, keiner bewegt sich viel oder macht irgendein Licht an, nicht einmal die Mobiltelefone. Fast auf jeder Sitzbank hat jemand eine Katze oder einen Hund im Arm. Und sie fluchen kollektiv. Sie fluchen über Putin. Sie alle hassen ihn. Hoffentlich stirbt er bald.
Fast 15 Stunden dauert die Zugfahrt nach Winnyzja. Um etwa 10 Uhr morgens erreichen sie die Stadt. Dort werden sie abgeholt. Von irgendjemanden, den irgendjemanden kannte, den man um Hilfe gebeten hat. Sie haben zwei Tagen lang kaum geschlafen und können keinen klaren Gedanken mehr fassen, so fertig und ausgelaugt sind sie alle. Gegessen haben sie die letzten Tage aus Plastikbechern, die von den Freiwilligen an den Bahnhöfen verteilt wurden. Die Katze wollte überhaupt nichts fressen. Bevor es weitergeht, müssen sie sich etwas erholen.
Warten an der Grenze zu Polen. 28 Stunden lang.
Aber sie sollen nur eine einzige Nacht Ruhe haben. Denn schon am nächsten Tag fallen auch hier die ersten Bomben. Der Krieg holt sie ein. Sie haben keine Zeit, müssen sich beeilen, die Stadt wieder zu verlassen. Sie wollen weiter in den Westen, in die Nähe der EU-Grenze nach Lwiw. Die Idee war, in der Ukraine zu bleiben, solange es irgendwie möglich ist, aber im Notfall die Grenze schnell passieren zu können. Ein Auto zu nehmen, war keine Option, zu teuer und viel zu gefährlich. Die Straßen zwischen den Städten wurden gezielt angegriffen, die zivile Infrastruktur zerstört. Der direkte Weg von Charkiw nach Kiew ist bereits in den ersten Tagen des Krieges unpassierbar gemacht worden. Sie wollen wieder den Zug nehmen. Jetzt nur noch Albina und ihre Mutter mit der Katze. Albinas Freund wird in Winnyzia bleiben. Er darf die Grenze nicht mehr passieren. Er ist ITler und wird der Armee helfen. Auch Albinas Bruder und ihr Vater werden in der Ukraine bleiben – in einem Vorort von Kiew. Sie helfen dort als Freiwillige, verteilen Essen, Wasser und Medikamente.
Auf dem Weg zum Bahnhof in Winnyzia. Den Mann kennen Albina und ihre Mutter nicht. Er ist jemand, den jemand kennt, den jemand gefragt hat. Er singt die ganze Fahrt über ein ukrainisches Heldenlied.
Albina, ihre Mutter und die Katze werden nun von irgendjemanden die 15 Kilometer nach Winnyzja in die Stadt zum Bahnhof gefahren. Sie sitzen zu dritt vorn im Transporter, die Katze auf dem Schoß. Es sind die dämmrigen Morgenstunden, der Himmel graublau und die Straße verschneit. Der Fahrer singt ein ukrainisches Heldenlied, Albinas Mutter wiegt dazu die Hände im Takt. Es klingt sehr melancholisch. Es gibt ein Video davon und die beiden Frauen kichern vergnügt, als sie es zeigen. Am Bahnhof angekommen heißt es aber zunächst wieder warten, die Situation ist die gleiche wie in Charkiw: Keiner weiß, wann überhaupt ein Zug fährt. Nach zwei Stunden ist es soweit, es folgt wieder ein ganzer Tag im Zug und sie müssen in Ternopil sogar nochmal den Zug wechseln. Aber sie erreichen schließlich ihr Ziel. Vier Tage bleiben sie in Lwiw, bei Bekannten eines Bekannten eines Bekannten. Nun ist klar, dass sie die Ukraine verlassen müssen. Ein Bus soll sie über die Grenze nach Polen bringen. Die Fahrt dauert 28 Stunden und zieht sich ins Unendliche. Albinas linkes Auge ist geschwollen. Vermutlich die Erschöpfung. An jedem Grenzübergang gibt es lange Wartezeiten, das erzählt ihnen der Busfahrer. Er hat Listen und muss alle Personen auf diesen Listen über die Grenze bringen. Deshalb darf niemand aussteigen und zu Fuß passieren. Viele Frauen mit Kindern sind hier an der Grenze, berichtet Albina. Was machen die Menschen für einen Eindruck? Erschöpft. Sie sind sehr müde und erschöpft.
Albina und ich werden in unserem Gespräch unterbrochen. Albinas Mutter ist zurück ins Zimmer gekommen, ihr Handy am Ohr. Albina übersetzt: Gerade wurde die Stadt von Bekannten, in der Nähe von Donezk, angegriffen. Das Haus wurde getroffen, ihr Hund war noch drin. Nichts ist mehr übrig. Das Haus ist zerstört, der Hund tot. Keine guten Nachrichten, sagt Albina. Es sind Freunde, die ihre Mutter noch aus Unizeiten kennt. Deren Großeltern wollten die Ukraine nicht verlassen und sind geblieben. Wie viele der Älteren. Wir sitzen in der Küche am Tisch in einer Ferienwohnung in einem kleinen Ort, circa 50 Autominuten südwestlich von Nürnberg. Hier sind die beiden Frauen untergekommen. Vorerst. Als ich an diesem Samstagnachmittag dort ankomme, empfängt mich Albina am Treppenabsatz. Ihre Mama wartet in der Küche auf uns – der runde Tisch ist bereits gedeckt. Albina spricht sehr gutes Englisch. Sie fragen mich, ob ich etwas essen will. Ihre Mutter hat Suppe gekocht. Auf dem Tisch stehen zwei Kuchen. Albina erklärt: Sie wissen genau, dass heute der 24. Tag des Krieges ist. Das ist momentan ihre Zeitrechnung. Datum und Wochentage hingegen verschwimmen. Dabei ist heute der Geburtstag von Albinas Mutter, das sei den beiden heute Morgen aufgefallen. Sie zündet die Kerze auf dem Schokoladenkuchen an und packt mir gleich zwei Stücke auf den Teller. Kekse bekomme ich auch noch, später Erdbeeren. Ich habe das Gefühl, sie würde mir am liebsten noch viel mehr anbieten. Albina verdreht lächelnd die Augen Ihre Mutter hat gefragt, ob ich Zigaretten hätte. Ich lege die Zigarettenpackung und mein Feuerzeug auf den Tisch. Später zeigt die Mutter mir Videos von Albina auf der Bühne. Sie ist stolz auf ihre Tochter, die Balletttänzerin.
Auch Albina zeigt mir viele Fotos und Videos. Von ihrer Flucht, von der Zerstörung, vom Krieg. Bilder, die sie selbst gemacht hat und Bilder und Videos, die sie von Freunden und Bekannten bekommt. Bilder von zerstörten Häusern, auch ihr Theater wurde von einer Bombe getroffen – ihr Regisseur hat ihr die Bilder gesendet. Und viele Bilder von Toten und Verletzten. Menschen die auf dem Weg waren, Wasser zu holen und nun tot auf dem Platz liegen, über den Albina jeden Tag auf dem Weg ins Theater in Charkiw gelaufen ist. Die Wasserflaschen liegen noch neben den Leichen. Sie zeigt mir ein Video von einem Haus, das gerade von Bomben getroffen wurde. Viele Menschen hatten hier Schutz gesucht. Das Video stammt von jemandem, der direkt nach der Detonation hinein ist, um zu helfen. Es sieht aus wie in einem Sandsturm. Die Luft ist voller umherwirbelnder Partikel, man hört Schreie und Rufe, sieht dann ein völliges zerstörtes Treppenhaus. Ein anderes Video zeigt eine Autokolonne auf einer verschneiten Straße. Es sind Menschen auf der Flucht. An den Autos sind weiße Stofffetzen zu erkennen. Trotzdem werden sie manchmal angegriffen, sagt Albina. Sie zeigt mir auch das Video von einem Mann, der in einer Ecke zwischen zwei Hausmauern kauert und dessen linker Fuß von einem Geschoss abgetrennt wurde und Meter weit weg an einem Treppenabsatz liegt. Man hört ihn stöhnen. Er ist später gestorben, sagt Albina.
Albina redet sehr sachlich über die Ereignisse. Erzählt ihre Flucht in chronologischer Abfolge. Berichtet über die Zerstörung und die Angst ohne größere emotionale Regung. Ihre Mutter hingegen schimpft. Albina will das zuerst nicht übersetzen. Ihre Mutter schimpft auf Putin. Sie schimpft darüber, dass er so viele Menschen getötet hat, die ihn nicht unterstützten wollten, so viele Leben zerstört hat. Sie schimpft über seine Schönheitsoperationen und sein Botox-Gesicht und sie schimpft auf die Soldaten und die Russen. Wie sehr sie sie hassen. Dass die Russen davon sprechen, sie seien Brüder. Nein, sie sind keine Brüder. Sie zeigt mir ein Foto von sich aus dem vergangenen Sommer. Ich erkenne sie nicht. So sehr hat sie der Stress gezeichnet und so sehr hat sie an Gewicht verloren.
Chaos und Zerstörung. Der Beschuss auf zivile Ziele zwingt viele ihre Heimat zu verlassen.
Das neue Einkaufszentrum in Charkiw wurde gerade mal vor sechs Monaten eröffnet. Albina bekommt diese Bilder auf ihrer Flucht von Freunden gesendet, die noch vor Ort sind.
Albina erzählt nun, dass sie, als sie in Polen ankamen zu allererst einkaufen wollten. Sie brauchten dringend frische Klamotten, vor allem Unterwäsche. Darauf folgte der erste richtige Zusammenbruch der beiden Frauen. Zu sehen, dass Menschen hier ganz normal ihren Alltag verbringen und einkaufen, als wäre nichts los und wenige Kilometer entfernt sterben Menschen, das war schwierig, sagt Albina. Die Frage nach dem Warum. Warum passiert das alles? Warum passiert es uns? Das brachte sie zum Weinen. Sie waren in Sicherheit, aber viele andere nicht. Ihr Bruder, ihr Vater und ihr Freund waren noch im Krieg. Und wir gehen hier einkaufen – das ist kein normales Gefühl, sagt Albina.
Ihr Kontakt in Polen berichtete dann, dass die Schwester eines Bekannten eine Wohnung für sie hätte, in der sie erstmal unterkommen könnten. In Nürnberg. Sie wollten mit dem Auto fahren, aber auch diesmal klappte es nicht, also nahmen sie wieder den Zug. Er fuhr über Wien, hatte aber soviel Verspätung, dass sie den Zug nach Nürnberg verpassten. Wieder mussten sie einen Tag warten – sie bekamen am Bahnsteig in Wien Hilfe von anderen Ukrainern und freiwilligen Helfern. Der Kontakt aus Polen zahlte ihnen die Nacht im Hotel, den Zug durften sie umsonst nutzen. Der Zug nach Nürnberg war voller Ukrainer und Ukrainerinnen. Schnell lernten die beiden Frauen das System der Platzreservierungen kennen, denn sie saßen auf den reservierten Plätzen von deutschen Mitreisenden und werden auch von ihnen darauf aufmerksam gemacht. Albina lacht, als sie das erzählt. Und sie erzählt auch, dass sie auf der Fahrt den Deutschen vom Krieg in der Ukraine erzählte und Bilder und Videos zeigte. Und dass die Deutschen völlig geschockt davon waren. Dass sie nicht wussten, wie schlimm es ist. In Nürnberg wurden sie abgeholt und mit dem Auto in die Wohnung gebracht. Albina war unglaublich müde. Sie wollte einfach eine Nacht ganz normal schlafen.
Albina hat Kontakt zu Freunden*innen und Kollegen*innen. Sie haben Whatsapp Gruppen und tauschen sich dort aus, senden sich Nachrichten, Bilder und Videos. Ihre Balletttruppe ist in alle Winde verstreut. Einige sind in Polen, andere in Ungarn. Viele sind geblieben, weil sie ihre Familien, ihre Ehemänner, Eltern, Großeltern nicht zurücklassen wollen. Aber Albina hat auch Bekannte, die den Krieg nicht sehen wollen. Die Putins Erklärungen glauben. Wenn Albina ihnen Videos sendet von Toten oder zerstörten Häusern, dann antworten sie, dass sei nicht die Wahrheit, dass das Schauspieler seien. Ein Bekannter aus Kasachstan lebt seit Jahren in den USA, hat sogar einen US-amerikanischen Pass. Er schreibt Albina, sie solle sich nicht so anstellen, Putin würde sie gerade befreien. Albina antwortet ihm mit einem Video aus ihrer Wohnung mit dem Lärm der Kampfjets. Die beiden reden nicht mehr über den Krieg. Eine andere Freundin hat sich bei Albina entschuldigt. Sie lebt in Moskau und hat dort gegen den Krieg demonstriert. Sie musste für eine Woche untertauchen. Danach schreibt sie Albina, dass es ihr Leid täte, sie aber nichts mehr für sie machen könne, sie hat Angst.
Albinas Flucht durch die Ukraine
Ich frage Albina, wie es ihrer Mutter geht. Albina sagt, ihrer Mutter geht es seit 2014 nicht mehr gut, seit sie Donezk verlassen musste und der Konflikt für sie begonnen hat. Sie hat sich verändert, ist nervöser, wird schneller laut, wenn Albina etwas falsch macht. Albina glaubt, das ist der Schmerz des Krieges. Dass das nicht normal ist. Albina hat versucht, sich ein normales Leben aufzubauen, hat gehofft, dass alles gut werden würde, dass sie eine Zukunft habe. Aber seit dem Sommer vergangenen Jahres haben sie damit gerechnet, dass etwas Schlimmes passieren wird. Es gab Stimmen in der Ukraine, Politiker, die anfingen, über den Krieg zu sprechen.
Albina sagt, sie sei überzeugt, dass sie den Krieg gewinnen werden. Das alles gut werden wird. Sie lacht, als sie das sagt. Wie lange es dauern wird, die Ukraine wieder aufzubauen – fünf Jahre, zwei oder zehn, das weiß sie nicht. So vieles sei zerstört. Und dass es jetzt sehr wichtig sei, dass die Menschen helfen. Und dass die Situation zeigt, wie sehr die Ukrainer sich gegenseitig unterstützen.
Letzten Monat sprach sie noch mit ihrem Freund darüber, dass sie gern irgendwann gemeinsam die Ukraine verlassen wollen, um zu reisen und die Welt zu sehen. Aber das war ein Plan für die Zukunft. Sie hat vieles zurücklassen müssen in der Ukraine. Zwei Wohnungen in Donezk. In Charkiw wollte ihre Mutter keine Wohnung kaufen, weil es zu dicht an der russischen Grenze liegt, aber Albina hat dort in der Mietwohnung noch sehr viele Sachen. Vor allem Ballettkleidung. Die würde sie gern wiederhaben. Konkrete Pläne hat sie aber nicht. Seit 2019 plant Albina nicht mehr für die Zukunft. Damals war sie 19 Jahre alt und alles änderte sich, als sie Donezk verlassen mussten. Seitdem plant sie nicht viel länger als zwei Monate im Voraus. Sie weiß, dass sie tanzen möchte. Das ist auch ihr Plan für jetzt. Egal wo. Hauptsache tanzen. Ihre Mutter wird sie dabei unterstützen und begleiten. Ihr Vater, Bruder und Freund sagen, sie solle ein normales Leben führen, es wird alles gut werden. Darum will sie sich jetzt bemühen, dafür sind andere im Krieg geblieben.
Albina wird sich direkt nach unserem Gespräch neue Ballettkleidung bestellen.
Albina und ihre Mutter machen Brotzeit auf einer Fahrradtour in der Nähe von Nürnberg. Es ist der 31. Tag des Krieges.
Albina schreib uns in einer Nachricht, dass sie auf dieser Fahrradtour besonders die Ruhe im Wald genossen hat. Die friedliche Stille.
Bella Gurevich ist Mitarbeiterin von Bettermakers, einem durch HIM geförderten kreativ-medialem Bildungsprojekt für Jugendliche, und wesentlich an der Organisation des jährlich stattfindenden Bettermakers Film-Festivals beteiligt. Sie wurde in Moskau geboren und zog mit 8 Jahren nach Hamburg. Aktuell lebt sie in Berlin und promoviert dort in Filmwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Sie hat weiterhin engen Kontakt zu ihren Familienmitgliedern in Russland.
Als Putin im Jahr 2000 zum Präsidenten Russlands ernannt wird, bin ich 7 Jahre alt und verstehe nicht, warum meine Mutter mich aus meiner geliebten Familie, meiner Klasse und meiner Heimatstadt Moskau »rausreißt« und Russland verlässt. Heute, nach 22 Jahren, in einer Warnweste am Hauptbahnhof in Berlin stehend und Geflüchtete aus der Ukraine empfangend, verstehe ich es. Die Angst meiner Mutter, mir könnte ähnliches widerfahren wie ihr, war berechtigt. Sie wollte als junge Frau Physik studieren, aber das wurde ihr aufgrund ihres jüdischen Nachnamens verwehrt. Heute ist es nicht der Antisemitismus, der die Schranken zum persönlichen Erfolg bildet, sondern der Putinismus. Äußert man eine oppositionelle Meinung oder liked auch nur eine oppositionelle Meinung über Facebook und Co., muss man in Russland mit schwerwiegenden Folgen rechnen.
Dank der Entscheidung meiner Mutter unser Recht als Juden wahrzunehmen und nach Deutschland auszuwandern, kann ich heute das studieren, was ich möchte. Und ich kann auf Demonstrationen und im Netz meine Meinung über Putins Politik äußern so viel ich will. Das ist Freiheit. Eine Freiheit, die die Hälfte meiner Familie, die in Russland blieb, nicht genießen kann. Während 15 meiner Familienmitglieder in den 90er Jahren nach Deutschland ausgewandert sind, blieben ungefähr gleich viele in Moskau und St. Petersburg. So kam es auch zu einer Trennung zwischen mir und meinen Großeltern, die mich, wie es sich in Russland häufig gehört, erzogen haben. Aus einem Mehrgenerationenhaushalt blieben nur meine Mutter und ich übrig – in einem unbekannten Land – aber überglücklich in Sicherheit und Freiheit schwebend. Nun promoviere ich in Filmwissenschaft an der Freien Universität Berlin, nachdem ich in Hamburg meinen Bachelor und in Berlin, Hong Kong und Manchester meinen Master gemacht habe. An diesem Tag am Hauptbahnhof will ich helfen, um zumindest etwas von der Hilfe, die meiner Mutter und mir damals entgegengebracht wurde, weitergeben zu können. An dieser Stelle: danke liebe Unbekannte!
Tausende Frauen und Kinder kommen täglich hier an. Wider Erwarten scheinen sie weder verängstigt noch niedergeschlagen zu sein. Stattdessen strahlen sie pures Glück aus, nach mehreren Tagen Flucht endlich in Sicherheit angekommen zu sein. Dass sie von hunderten Freiwilligen empfangen und mit Essen, Kleidung und Hygieneartikeln begrüßt werden, war niemandem von ihnen vorher bewusst. Und sogar ich, mit meinem ausgeschlafenen, ruhigen Gemüt, habe Schwierigkeiten mich in der Zone der Freiwilligen zurecht zu finden. Was mir sofort auffällt, sind die provisorisch aufgebauten Ladestationen für Handys. Dies ist womöglich das wichtigste, was vor Ort – ebenfalls von Freiwilligen – zur Verfügung gestellt wird. Denn die Menschen, die ankommen, haben zumeist nur einen Gedanken: Wie geht es meiner Familie, die zurückbleiben musste?
Als ich mich als freiwillige Übersetzerin (Russisch-Deutsch) anmelden möchte, kommt ein weiterer Zug aus Polen an und es bleibt keine Zeit für Bürokratie. Alle Freiwilligen eilen zum entsprechenden Gleis und lotsen die Ankömmlinge in die Versorgungszone. Ich stehe am Rand und halte mein Schild hoch: »Übersetzung: Russisch/Deutsch«. Die Ankommenden sind so irritiert durch den Empfang, dass sie sich einfach nur von den Freiwilligen in den gelben Westen leiten lassen. Plötzlich erhalte auch ich eine gelbe Weste von einer Freiwilligen und gehöre nun zu den inoffiziellen offiziellen Helfern am Hauptbahnhof. Während ich dafür dankbar bin, dass die HelferInnen auch aufeinander acht zu geben scheinen, so auch auf mich, frage ich mich, ob nicht schon das Gefühl, solch eine Weste zu tragen, einige dazu motiviert, hier, am kalten Hauptbahnhof, auf Züge zu warten. Wie selbstlos ist die Hilfe von Freiwilligen und sind nicht sie die wahren Helden, die (anonym) spenden und die Dinge, die es zum Anpacken gibt, überhaupt finanzieren? Ich bilde mir ein, dass jede/r tut, was in seiner/ihrer Macht steht. Am Ende funktioniert das Zusammenspiel wunderbar. Und hier entsteht mein zweiter Gedanke: Würden UkrainerInnen oder RussInnen das Gleiche für uns tun? Einerseits kenne ich die Scheuklappenpolitik älterer Generationen in Russland. Jede/r kümmert sich um seine eigene Familie. Doch jetzt gibt es die Generationen, die nach dem Zerfall der UdSSR geboren sind. Ich möchte mir einbilden, dass auch diese jungen Menschen auf uns warten und mit Spenden bereitstehen würden.
Diese Schere zwischen den Generationen spiegelt sich momentan auch in meiner Familie wider. Während meine Cousins, ein Professor für Bioinformatik (ausgezeichnet als ambitioniertester Wissenschaftler Russlands, U30) und ein Medizintechniker, nun mit ihren Familien aus St. Petersburg nach Deutschland und Israel auswandern, verharren die älteren Familienmitglieder auf ihrer durch die russischen Staatsmedien verzerrten Meinung: Es ist kein Krieg, sondern lediglich eine »spezielle Militäroperation«. Der Grund dafür: Entnazifizierung der Ukraine und die Bewahrung vor einem Genozid der Russen in der Ukraine. Und die Schuld an Allem haben sowieso die westlichen Mächte. Die Feindbilder des Zweiten Weltkriegs hallen laut nach.
Während Familien in der Ukraine physisch entzweit werden, werden russische Familien wie meine also psychisch entzweit. So bekomme ich eines Abends einen Anruf von meiner in Hamburg lebenden Mutter. Sie weint. Zum ersten Mal im Leben hat sie sich mit ihrer Mutter und ihrem Bruder in St. Petersburg wegen unterschiedlicher politischer Meinungen zerstritten. Mein Onkel, leitender Bauingenieur, meine Großmutter ebenfalls Ingenieurin, beide sehr intellektuelle, belesene Persönlichkeiten, sind der Propaganda Russlands schlussendlich verfallen. Jahrelang waren mein Onkel, meine Tante (Lehrerin des Jahres) und Großmutter mit der Regierung Putins nicht einverstanden. Meine Großmutter, die in ihrem Bezirk stets aktiv war, hatte einst sogar an Putin selbst einen Beschwerdebrief geschrieben – und eine Antwort erhalten. Es ging um das angelegte Geld für neugeborene Enkelkinder – ein Sparbuch. Hunderttausende von Großeltern haben Anfang der 90er Jahre große Teile ihrer Ersparnisse angelegt, weil landesweite Kampagnen dazu aufriefen. Als ich 18 Jahre alt wurde und das Geld abheben konnte, konnte ich von den Ersparnissen genau zwei Tassen Kaffee kaufen. Damals lachten wir vor Frust. Nun ist also auch sie, das Oberhaupt meiner Familie, der Putin-Propaganda erlegen, nachdem alle neutralen Medien in Russland zensiert oder ganz verboten wurden.
Noch bis zum vergangenen Jahr bin ich alle paar Monate nach St. Petersburg geflogen, um meine Familie zu besuchen. Auch meine Halbschwester lebt dort mit ihrer Familie. Meinen letzten sechswöchigen Aufenthalt verbrachte ich vor gut einem Jahr in der Stadt. Damals starben mein geliebter Großvater und einer meiner Onkel an Covid. Ich leistete meiner Großmutter Beistand und erinnere mich noch gut, wie zur gleichen Zeit Alexei Nawalny, für die russische Regierung Staatsfeind Nummer Eins, seinen Beitrag für die russische Oppositionsbewegung leistete. Nachdem er bei seiner Rückkehr verhaftet worden war, gingen in allen größeren Städten Russlands abertausende von Menschen auf die Straße. Die Lage spitzte sich zu, als immer mehr (vor allem junge) Menschen für ihren stillen Protest verhaftet wurden. Da saß ich nun, als mittlerweile Deutsche, an Versammlungsrecht und Meinungsfreiheit gewöhnte Bürgerin in meinem Heimatland und konnte nicht helfen. Zum einen beherrschte mich die Angst, verhaftet zu werden und meiner Familie noch mehr Leid zu bescheren, zum anderen hatte ich ein schlechtes Gewissen, zu Hause zu verharren, während hier die junge Generation für ihre Grundrechte ihr Leben riskierte.
Nur ein Jahr später ist nicht nur das Recht auf freie Meinungsäußerung komplett abgeschafft worden, auch der Luftverkehr nach Russland ist abgestellt und die Kreditkartenanbieter Visa und Mastercard stellen ihren Betrieb ein. Es wird uns klar, weder ich noch meine Mutter werden in nächster Zeit unsere Familie besuchen können. Meine Großmutter ist nicht mehr die jüngste und ich frage mich, ob es nicht Sinn macht, sie in ihrem Irrglauben zu lassen, der Ruhe im Herzen wegen. Denn womöglich ist ihre unumstößliche Überzeugung, man befände sich nicht in einem Krieg, ihrer bereits erlebten Kriegs- und Fluchterfahrung geschuldet. Womöglich suggeriert ihr das Unterbewusstsein täglich, dass es so etwas wie den zweiten Weltkrieg nicht noch einmal geben kann. Meine Großmutter ist stets mein Vorbild gewesen. Wir stehen uns seit meiner Geburt sehr nah. Dass Putin das Weltbild dieser starken Frau verzerrt hat, bringt mich zur schieren Verzweiflung.
Nun, da eile ich als Übersetzerin am Hauptbahnhof von einer Familie zur anderen. Es geht um die Vermittlung an Menschen, die Zimmer für Geflüchtete anbieten. Hinter einem Absperrband haben sich Hunderte von Menschen versammelt, die bereit sind, Geflüchtete bei sich aufzunehmen. Dabei sollte nicht außer acht gelassen werden, dass diese Freiwilligen mit ihren mit Strichmännchen-Bildern versehenden Schildern stundenlang am kalten Hauptbahnhof ausharren ohne zu wissen, wann überhaupt Züge mit Geflüchteten ankommen. Sie trauen sich nicht einmal, auf die Toilette zu gehen, um ja niemanden zu verpassen. Auch online haben sich unzählige Menschen registriert und ihre Zimmer angeboten, doch diese Menschen sind hier vor Ort und zu jeder Zeit bereit, nicht allein nach Hause zu gehen. Unter ihnen auch ein Mann, der auf den ersten Blick nicht unbedingt vertrauenswürdig aussieht. Dieser bietet ein Zimmer mit einem eigenen Bad in einer guten Gegend an. Der jungen Familie, die sich für ein Zimmer interessiert sage ich, dass es eine Menge Frauen gibt, die ebenfalls Zimmer anbieten und sie sich in Ruhe entscheiden können. Dabei habe ich nämlich die Fälle im Hinterkopf, bei denen junge Frauen an Menschenhändler geraten sind. Die Mutter scheint der Anblick des Mannes weniger zu beunruhigen, sie interessiert sich mehr für den Preis, den er für die Übernachtung verlangt. Natürlich verlangt er kein Geld, aber in diesem Moment wird mir die Verzweiflung klar. Wäre es nicht dringend, würde wahrscheinlich kaum jemand bei zwielichtig ausschauenden Männern übernachten wollen. Ich kläre sie darüber auf, dass all die Menschen ihre Unterkunft kostenlos anbieten und die meisten sogar auf eine unbegrenzte Zeit.
Erst in diesem Moment leuchtet mir ein, dass für viele Menschen solch eine Solidarität nicht selbstverständlich ist. Wie viele weitere UkrainerInnen wären gern bei dem/der einen oder anderen Freiwilligen untergekommen, wenn sie gewusst hätten, dass der Unterschlupf kostenlos ist? Ich frage mich, ob man diese Information ebenfalls auf die Schilder schreiben soll. Doch wer schaut schon nach einer mehrtägigen anstrengenden Fahrt, so genau auf die mit Liebe beschrifteten Schilder? Die Familie ist übrigens nach zwei Wochen noch immer bei dem großzügigen, gastfreundlichen und herzlichen Helfer untergekommen und möchte in Deutschland bleiben. Ich helfe ihnen dabei, sich hier zu registrieren und ihre Kinder in der Schule anzumelden. Auch meine Mutter leistet der Familie seelischen Beistand – sie verstehen sich.
Von vielen anderen Menschen, die an diesem Tag am Hauptbahnhof Obhut anbieten, habe ich Kontakte gesammelt, um sie anderen Familien, die von meinen Bekannten von der rumänisch/ukrainischen Grenze abgeholt werden, weiterzugeben. Zunächst habe ich befürchtet, dass aufgrund des Datenschutzes viele Freiwillige ihre Kontakte nicht teilen würden. Die Realität sieht jedoch so aus, dass mir die Liste zum Eintragen fast schon aus den Händen gerissen und zum Selbstläufer wird.
Was die selbstorganisierten Fahrten an die ukrainische Grenze angeht, bleibt zusammenzufassen, dass es einerseits bewundernswert ist, wie schnell etliche Telegram-Gruppen einander unbekannter Freiwilliger entstanden sind, die bereit waren, sofort und auf eigene Kosten an die Grenze zu fahren, um Geflüchtete abzuholen. Andererseits verursachte blinder Aktionismus Staus und Chaos. Zugleich entwickelte sich eine gewisse Kritik Freiwilligen gegenüber, sie seien erst jetzt zur Stelle und nicht, als die Millionen Geflüchteter aus Syrien, Afghanistan, Südsudan usw. ihre Aufmerksamkeit und Hilfe gebraucht hätten. Vorwürfe von Rassismus machen sich breit. Eine valide Kritik, die jedoch den Hilfesuchenden und Leidtragenden in dieser Situation nicht weiterhilft, sondern eher potenzielle Helfende vor ihrem Wunsch zu helfen abschreckt. An dieser Stelle möchte ich mein tiefstes Mitgefühl mit Menschen äußern, die bereits aus anderen Umständen fliehen mussten und nun aufgrund ihrer Herkunft, Hautfarbe oder Religion nur mit großen Schwierigkeiten die Ukraine verlassen können. Es reicht bereits, dass ein Mensch eine Fluchterfahrung zwei Mal durchleben muss. Vor allem die zweite Flucht darf diesen Menschen nicht noch zusätzlich erschwert werden.
Oleksiy, 42 Jahre alt, stammt aus dem Donbas, wo seine Eltern immer noch leben. Er ist Jurist, hat im Ausland studiert und lange Jahre in verschiedenen Ländern gearbeitet. Inzwischen ist er für eine Firma mit Klienten aus der ganzen Welt tätig. Bevor der Krieg ausbrach, lebten Oleksiy und seine Frau in Kiew. Ein HIM-Mitglied kennt Oleksiy und hat ihn um ein Interview gebeten. Oleksiy stimmte zu. Dann habe er wenigstens »das Gefühl, irgendwie nützlich zu sein«.
Wir haben das Gespräch am 23. März 2022 über ZOOM geführt.