Als wir schön waren - Ron Leshem - E-Book

Als wir schön waren E-Book

Ron Leshem

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Beschreibung

Daniel, ein junger Israeli, reist ziellos durch Südamerika, will sein altes Leben vergessen. Er beginnt eine stürmische Liebe mit der getriebenen Nora. Sie arbeitet angeblich am «Ozean», einem geheimnisvollen Projekt, das in fremde Erinnerungen eintauchen lässt. Dann ist Nora plötzlich tot. Warum? Und gibt es den «Ozean» wirklich? Daniel muss nicht nur Noras Geschichte auf den Grund gehen, sondern sich auch seiner eigenen stellen. Jahre zuvor: Daniels glückliche Kindheit nahe Gaza endet jäh, als seine Mutter bei einem Anschlag stirbt. Sein Freund Magouri kümmert sich um ihn, wird ihm alles, was zählt. Doch dann, bei der Armee, geht Daniel ganz als Soldat auf, während Magouri nicht nur lieber surft, sondern auch politisch völlig anders denkt. Immer tiefer zieht sich der Riss, bis ein furchtbarer Verrat die beiden für immer trennt. Für immer? Oder kann Daniel Magouri wiederbegegnen, ihn verstehen, wenn er Noras Projekt zu Ende bringt, den «Ozean» findet? Ron Leshem erzählt sinnensatt und mit großer Wärme von Liebe und zerbrechender Freundschaft, die nebenher den Nahostkonflikt begreiflich macht – und von der spannenden Suche nach einer verlorenen Erinnerung, in der vielleicht die Zukunft liegt.

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Seitenzahl: 518

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Ron Leshem

Als wir schön waren

Roman

 

 

Aus dem Hebräischen von Markus Lemke

 

Über dieses Buch

Daniel, ein junger Israeli, reist ziellos durch Südamerika, will sein altes Leben vergessen. Er beginnt eine stürmische Liebe mit der getriebenen Nora. Sie arbeitet angeblich am «Ozean», einem geheimnisvollen Projekt, das in fremde Erinnerungen eintauchen lässt. Dann ist Nora plötzlich tot. Warum? Und gibt es den «Ozean» wirklich? Daniel muss nicht nur Noras Geschichte auf den Grund gehen, sondern sich auch seiner eigenen stellen.

Jahre zuvor: Daniels glückliche Kindheit nahe Gaza endet jäh, als seine Mutter bei einem Anschlag stirbt. Sein Freund Magouri kümmert sich um ihn, wird ihm alles, was zählt. Doch dann, bei der Armee, geht Daniel ganz als Soldat auf, während Magouri nicht nur lieber surft, sondern auch politisch völlig anders denkt. Immer tiefer zieht sich der Riss, bis ein furchtbarer Verrat die beiden für immer trennt. Für immer? Oder kann Daniel Magouri wiederbegegnen, ihn verstehen, wenn er Noras Projekt zu Ende bringt, den «Ozean» findet?

Ron Leshem erzählt sinnensatt und mit großer Wärme von Liebe und zerbrechender Freundschaft, die nebenher den Nahostkonflikt begreiflich macht – und von der spannenden Suche nach einer verlorenen Erinnerung, in der vielleicht die Zukunft liegt.

Vita

Ron Leshem, 1976 bei Tel Aviv geboren, ist Roman- und Drehbuchautor. Er lebt heute in den USA und hat u. a. die international gefeierte Serie «Euphoria» mitentwickelt und das Drehbuch der Serie «No Man’s Land» mitgeschrieben. Seine Romane «Der geheime Basar» und «Wenn es ein Paradies gibt» standen in Israel monatelang auf der Bestsellerliste. «Wenn es ein Paradies gibt» wurde mit Israels wichtigstem Literaturpreis, dem Sapir-Preis, geehrt und unter dem Titel «Beaufort» verfilmt; der Film wurde mit dem Silbernen Bären der Berlinale ausgezeichnet und war für den Oscar nominiert.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Dezember 2022

Copyright © 2022 by Rowohlt · Berlin Verlag GmbH, Berlin

Copyright © 2020 by Ron Leshem

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung Anzinger und Rasp, München

Coverabbildung Ed Freeman/Getty Images

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-01368-1

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Die Erinnerungen werden durch das Vergessen geformt wie die Uferlinie durch das Meer.

Marc Augé, Die Formen des Vergessens

Sehnsüchte

In einer Hängematte im Mosquito-Pub verliebte ich mich in sie. Der Laden platzte aus allen Nähten von Forscherteams, die gerade zurück waren von der Suche nach einem verloren geglaubten Volksstamm, und Nora saß am Ufer des Beni Rivers mit einem Lächeln von der Sorte, die nach Tränen kommt und gegen das ich wehrlos bin. Von der Decke hingen leise säuselnde Keramikkännchen, wiegten sich im warmen Wind, der von den Bergen zum Regenwald hinabglitt, und beide waren wir verlegen. Wurden beschienen vom wilden Glanz eines Vollmondes. Sie hatte die Gabe, genau in den richtigen Momenten zu lachen, und sie liebte es, meinen Namen über die Zunge rollen zu lassen – Daniel. Sie zwang mich, alles von mir preiszugeben, und hütete sich, von sich selbst zu erzählen. Und ich wollte durch den Ozean in ihren Augen in sie eintauchen. Durchdringende Mandelaugen, die nicht sicher schienen, ob sie besorgt schauen oder lachen sollten. Wenn sie schwieg und ich kurz einnickte, hatte ich Angst aufzuwachen und festzustellen, dass sie verschwunden war. Ich bestellte uns an der Bar Sangria mit einem Schuss Wodka und versuchte erneut etwas zu fragen, über sie.

«Moment», wehrte sie ab. «Wovon lebst du eigentlich, Daniel?»

«Ich? Die meiste Zeit bin ich Hundetrainer. Gib mir einen verzogenen Familienwelpen, und ich bringe ihn dir als echten Kameraden zurück. Wie? Ich berühre ihn, ganz einfach. Gebe ihm eine Aufgabe, denke mir Rituale für ihn aus.»

«Und wenn gerade kein Welpe in der Nähe ist?»

«Dann improvisiere ich, verdiene mir etwas dazu. In Chile hab ich geholfen, alte Brücken zu sprengen. In Alaska hab ich Tauben von Dächern verscheucht und in einem Salon Haare gewaschen. Hab Bauernkindern in Kambodscha Englisch beigebracht, mit meinem Akzent, der Frauen immer zum Lachen bringt. Woher alle diese Begabungen? Aus der Armee, um ehrlich zu sein. Ich hab als Hundeführer gedient. David, mein Deutscher Schäferhund, war auf Sprengstoff abgerichtet. Zwei ganz Schneidige waren wir. Aber da es in Israel nun mal höllenheiß ist und staubig, hab ich uns beiden den Schweiß aus dem Pelz gewaschen und einen schönen Bürstenschnitt verpasst. Und vor lauter Repräsentativität und weil ich ja immerzu lächele, vor allem dann, wenn’s brenzlig wird, hat mich mein Vorgesetzter ausgewählt, die Besuche amerikanischer Marines auf unserem Stützpunkt zu begleiten. Und so hab ich mein dürftiges Englisch aufpoliert, bei den Marines. Aber jetzt bin ich unterwegs, zu Fuß. Schon seit ein paar Jahren. Einundfünfzig Länder, ein Viertel der Welt, hab ich schon gesehen, so plus/minus. Wäre ich begabt genug, um eine Karriere hinzulegen, die spannender wäre als das Reisen, hätte ich Karriere gemacht. Auch wenn ich mutig genug wäre, eine Karriere für wichtiger zu halten als die Freiheit. Ich würde hart arbeiten, bestünde nur die geringste Chance, dass ich Musik schreiben könnte, die Leute umhaut, oder wenn ich wüsste, ich könnte etwas auf der Welt besser machen, das kein anderer hinkriegt. Ich denke aber einfach, alles, was ich persönlich auf der Welt besser machen könnte, würden Abermillionen von Menschen genauso verbessern können wie ich. Ich bin in keinerlei Hinsicht besonders.»

Ich lächelte aufrichtig und hatte Angst, sie würde enttäuscht sein.

«Denkst du, du wirst am Ende nach Hause zurückkehren?», fragte sie. «Oder wirst du jemals ein Zuhause haben?»

«Liebe? Ich liebe, da herrscht kein Mangel. Partnerschaften? Nicht ganz so viele. Manchmal versuche ich mir vorzustellen, wie ich sesshaft werde. Stelle mir eine Frau vor, die ich liebe und die mich durch die Flure eines neuen Hauses führt, das wir gemeinsam entworfen haben, geflutet mit Licht. Die erste Nacht. Wir packen Kartons aus. Hängen den Duschvorhang im Bad auf. Beziehen das Bett mit Winterlaken, die nach Frühling riechen, vom Weichspüler. Sie wandert barfüßig von einem Fenster zum nächsten, schlägt vor, wir sollen einen Baum im Garten pflanzen, der hier Hunderte Jahre nach uns noch steht und alt wird. Und sie überlegt, ob wir uns einen Welpen lieber vor dem Baby zulegen sollen oder erst danach. Sie hat schon Weingläser gekauft, zieht mich aus, zwingt mich zu tanzen, eng umschlungen. Ihr Geschmack auf der Zunge setzt in meinen Blutgefäßen rote Flammen auf einem schwarzen Fluss aus Öl in Brand. Aber dann schaue ich zur Essecke und frage mich, wie ich mich nur von ihrer Freude anstecken lassen soll. Die Wände sind schon da, wollen das Leben rahmen, man kann sie berühren, sie schauen uns an, warten. Auf der Anrichte in der Essecke wird das Telefon klingeln, und hin und wieder werden auch Hiobsbotschaften kommen. Hier in der Fernsehecke werden wir sitzen, resigniert angesichts besorgniserregender Meldungen und Kriege. Werden schweigend dasitzen, weil wir jemanden verloren haben, weil jemand schwer erkrankt ist. Vielleicht sind wir es auch, die erkranken. Vielleicht haben wir ein Kind verloren. Werden wir bereuen, es überhaupt zur Welt gebracht zu haben? Schlaflose Nächte werden wir hier damit verbringen, Schicksalsschläge zu verdauen, werden uns fragen, wie man überhaupt noch weitermachen kann. Die Treppenstufen warten. Wir werden sie hinauf- und hinabsteigen, anfangs leichtfüßig, fast im Laufschritt, zwei auf einmal, bis wir irgendwann abbauen, zu schnaufen beginnen. Sie werden uns hier überleben, die Treppenstufen, denn zwischen einer Hiobsbotschaft und der nächsten wird die Zeit mit Lichtgeschwindigkeit verfliegen, die Muskeln werden schmerzen, die Hände faltig und trocken werden. Schau dir diese Essecke an. In einem Augenblick tummeln wir uns hier noch wie die Karnickel, du vernaschst mich auf diesem Tisch fünf Mal in einer Nacht. Und plötzlich, noch ehe ich deiner überdrüssig und von uns beiden gelangweilt bin, stehe ich hier allein auf der Türschwelle und warte auf den Notarztwagen, eine Ewigkeit lang; du wirst auf der Treppe liegen, doch ich habe keine Kraft mehr, dir zu helfen. Wer könnte das alles ertragen? Ich werde deine Hand halten, werde sagen, großer Gott, das ist so schnell gegangen, es endet viel zu früh.»

«Gott, das ist traurig, Daniel.»

«Bist du erschrocken?»

«Noch nicht. Aber warum denkst du nicht an all die guten Nachrichten, die kommen, wenn das Telefon auf der Anrichte klingelt?»

«Manchmal sind siebzig Jahre wie zwei Wochen. Am Tag darauf, in unserer Essecke, die auch in die Jahre gekommen ist, werde ich eine Scheibe Brot mit Quark bestreichen. Allein für mich, als Witwer. Werde in die Luft starren. Gurke schneiden. Eine Tomate waschen. Hinterher das Messer abspülen. Werde mich daran gewöhnen. Auch die Fenster werden uns überdauern. Werden mich anschauen, warten. Leute werden anrufen, werden mir sagen, lern neue Leute kennen, geh mal aus dem Haus, mach was, beleg Kurse, hör die Vorträge im Seniorenzentrum an. Aber wer hat die Kraft, auf einer organisierten Rentnerreise noch mal jemanden Neues kennenzulernen? Auch wenn ich dich schon längst überhatte, werde ich vollkommen abhängig von dir sein, werde nicht wissen, wie ich leben soll. So eine Art Symbiose. Als ob wir mit einer Lunge atmen. Nur die Erinnerungen werden ihre Farben verlieren und verblassen. Was wehtut.»

«Also läufst du einfach weg, nur um nicht zu erfahren, wo du alt werden wirst?»

«Meinst du nicht, ich bin ein Glückspilz?»

«Nein. Überhaupt nicht.»

«Ich denke, sollte ich auf demselben Fleckchen Erde sterben, auf dem ich geboren wurde, ohne zu wissen, dass das meine Entscheidung war, dass ich Sachen versucht, ausprobiert habe – dann hätte ich was versäumt. Als der Mensch zu sterben, der zu sein meine Mutter für mich entschieden hatte, mit den Ansichten meiner Mutter, im Haus meiner Mutter, als sei mein ganzes Universum ein kleines, umzäuntes Gärtchen, das ist natürlich und unlogisch zugleich.»

«Du kannst nicht aufhören, was?»

«Weißt du, was lustig ist? Meine Mutter hat mir immer gesagt, dass ich mit Fremden reden und Fehler machen soll. Sie sorgte sich, dass ich nicht gesellig, nicht offen für andere war. Aber bitte sehr, jetzt bin ich kontaktfreudig. Verliebe mich in jede Menge Leute. Die mir vielleicht in keinerlei Weise angehören mögen, aber jeder und jede von ihnen hat sich bei mir gehäutet, hat etwas von sich preisgegeben, weil sie wussten, ich würde ohnehin wieder weg sein, bevor die Magie des ersten Eindrucks verflogen wäre. Und wenn jetzt das Telefon klingelt und schlechte Nachrichten von einem von ihnen verkündet, dann werde ich traurig sein, aber nicht so traurig, dass ich nicht fähig wäre weiterzumachen. Ich hänge nicht von ihnen ab, gehe nicht ins Risiko.»

«Ich denke nicht, dass man das unter gesellig versteht», meinte Nora mit einem Bedauern, das eher zögernd, nicht verurteilend schien. «Mit Fremden reden und am nächsten Tag verschwinden.»

***

Die Bar hatte noch immer etwas Somnambules. Ihr Schweigen machte mich so nervös, dass ich einfach weiterredete. Normalerweise ist es andersherum: Ich liege hingestreckt neben einer Frau, die Müdigkeit lässt die Wachposten vor unseren Worten schläfrig werden, die uns vor Peinlichkeiten bewahren, und ich höre zu. Nie will ich erreichen, dass eine Frau ihr Innerstes offenlegt, nur um des Offenlegens willen. Ich liebe es einfach, in ihrer Geschichte zu ertrinken, besorgt von ihren Sorgen zu sein, ganz und gar, als wäre ich an ihrer Stelle.

«Du bist an der Reihe», sagte ich schließlich. «Wer bist du?»

«Wir sind so ziemlich das Gegenteil voneinander», warnte sie mich. «Ich liebe es, wenn das Telefon klingelt und Neuigkeiten verkündet. Ich liebe das Zuhause. Gewohnheiten. Jede Menge Dinge, die ich mag, verpasst du. Und ich denke nicht, dass ich in der Lage wäre, jede Nacht in einem anderen Bett zu verbringen, in dem schon Hunderte von Fremden geschlafen und ihren Geruch hinterlassen haben, wie auf einer Parkbank im Busbahnhof.»

«Bist du Studentin?»

«Nicht mehr.»

«Was hast du studiert? Was machst du? Dir die Antworten aus der Nase zu ziehen, ist echt nicht ohne.»

«Ich hab Computer Engineering und Biochemie studiert.»

«Du bist Ingenieurin?» Ich war baff. Hätte eher auf Musikerin getippt.

«Ich habe meinen Magister in Neurogenetik gemacht und danach in Biophysik promoviert. Hab ein Labor für kognitive Neuropsychiatrie geleitet.»

«Wovon redest du? Augenblick, wie alt bist du überhaupt?»

«Sechsunddreißig», antwortete sie in einem Ton, als sei das offensichtlich. Unglaublich. Ich hätte auf vierundzwanzigeinhalb gesetzt. «Aber jetzt mal ehrlich, ich bin noch immer auf der Suche nach Gemeinsamkeiten zwischen uns. Gib mir irgendwas», bat ich.

«Wir beide reisen allein, das ist schon mal ein Anfang. Und wir beide haben den ganzen Abend ohne unsere Handys zugebracht.»

«Nein», ich lächelte. «Du bist aufgekreuzt, um zu sehen, was hier läuft. Für dich bin ich ein Äffchen im Zoo. Jeden Augenblick wirst du verschwinden und dich wieder auf deiner gemütlichen Matratze zu Hause einkuscheln, wirst darauf warten, dass irgendein Boss um Mitternacht deine E-Mail beantwortet, und das Laptop und dein Smartphone leuchten auf dein Laken, bis dir die Augen zufallen. Und du schreibst dir in einer WhatsApp-Gruppe mit Leuten, die zu treffen du keine Lust hast.»

«Ich glaube allmählich, du bist ein Misanthrop», sagte sie lachend.

«Bist du verheiratet?» Die Frage rutschte mir so raus.

«Nicht mehr», antwortete sie.

«Ganz frisch?»

Nora zuckte mit den Schultern, als wüsste sie die Antwort nicht.

***

Wir lagen da, mein Arm um sie geschlungen und meine Hand auf ihrem Bauch, wärmend. Sie trug eine Kette mit zwei kunstvoll gearbeiteten Anhängern, die die betörende Haut ihres Dekolletés streichelten. Der eine war ein blauer Kristalltropfen, der andere aus Silber. Für mich sah er aus wie eine Muschel, aber Nora behauptete steif und fest, es sei der gebrochene Flügel eines Vogels.

«Hast du Erfahrung im Dschungel?», fragte sie.

«Reichlich.»

«Warst du schon mal im Alto Madidi?»

«Ja.»

«Bist du weit gekommen?»

«Das hängt davon ab, was bei dir weit ist.»

Sie zog eine topografische Karte hervor und deutete auf einen Punkt in der unzugänglichen Grenzregion zu Peru, die so tief im Amazonasgebiet lag, dass sie auf der Karte nur ein schwarzgrün changierender Fleck war. «Wie kommt man da am besten hin?», fragte sie. «Ich bin unschlüssig, wie lange ich auf dem Fluss bleiben soll und ab wo es nur noch zu Fuß weitergeht.»

«Willst du mich auf den Arm nehmen? Ich glaube nicht, dass irgendjemand so weit kommt», sagte ich und ließ meine Finger den braunen Fluss entlang nach Norden gleiten; ich versuchte, den Maßstab umzurechnen, die Route abzuschätzen. «Einhundertsechzig Kilometer ungefähr. Acht Tage auf dem Fluss. Und hier würde ich mich nach Westen wenden, auf den Seitenarmen in die Windungen des Reservats, und dann ab ins Dickicht, über die Bergkämme. Mindestens zwölf Tage zu Fuß. Pro Richtung. Warum?»

Nora ließ sich nicht aus dem Konzept bringen und meinte: «Man hat mich gewarnt, nicht zu versuchen, mit den Stämmen hier – und hier – in Kontakt zu treten. Denen werde ich also nicht zu nahe kommen. Freundliche Stämme habe ich mit Blau markiert.»

«Hör mal zu, du kannst da nicht alleine reingehen.»

«Willst du mitkommen?», fragte sie. «Von mir aus gern.»

Ich fühlte mich fast, als hätte ich gerade einen Heiratsantrag bekommen. Der typische Mochilero schippert ein bisschen den Tuichi runter, kommt zurück und chillt im Hostel. Macht sich irgendwann mit einem Grüppchen in die sumpfigen Steppen der Pampas auf, kommt zurück und chillt im Hostel. Und dann taucht plötzlich diese Amazone auf und will mich zu einer sechswöchigen Solonummer verführen, nur wir beide, auf einem Trail ohne markierte Routen.

«Kannst du fischen?», fragte sie.

«Treffer.»

«Kannst du giftige Pilze erkennen? Pflanzen, giftige Raupen?»

«Ich werde keinen Aal dich elektrisieren und keine Anakonda dich erwürgen lassen.»

«Ich mein’s ernst, Daniel. Kennst du den Schwimm- und Treibsand, den es hier gibt? Die Fallen?»

«Ich bin einer, auf den man sich wirklich verlassen kann», versicherte ich ihr. «Ich werde mitkommen, warum nicht.»

***

Ich mag Gegensätze. Mag Menschen, die sich an unpassenden Orten verlieren. Pinguine in der Sahara. Und ich mag es, mich richtig reinzuknien, um nach Geheimnissen zu schürfen. Ich liebe Frauen, insbesondere sechsunddreißigjährige, die sehr viel mehr wissen als die meisten von uns und sich trotzdem für mich interessieren. Ehrgeizig, zielstrebig, brillant – all das war sie. Und ich war bestenfalls ein ansprechender Typ – und zehn Nummern zu klein für sie. Warum sollte sie ausgerechnet mich rund um die Uhr ertragen wollen? Warum schlief sie in einem Hostel voller abgerissener Weltenbummlerkids ohne einen Dollar auf der Naht? Ich hatte keine Ahnung, ob sie versuchte, sich vollkommen zu verlieren, oder ob sie vielleicht süchtig nach Gefahr war. Nach Liebe suchte sie auf jeden Fall nicht, warum sonst sollte sie einen Mann mitnehmen, mit dem kaum Aussicht bestand, eine Familie zu gründen, einen Mann, der es noch nie geschafft hatte, in einer Beziehung zu leben? Ich habe mich schon immer leicht verliebt, aber bei Nora war es schon vor Sonnenaufgang um mich geschehen.

Wir versuchten einzuschlafen, warteten auf das Ende der Nacht. Ich streichelte sanft ihre Schulter, ihre Wangenknochen und Lippen, legte meinen Kopf auf ihrem roten Kleid ab und strich mit dem Finger über das gebrochene Flügelchen zwischen ihren Brüsten. Nora sah sich unruhig um, angespannt, als wartete sie auf jemanden, der jederzeit kommen konnte.

Im Morgengrauen überquerten wir barfuß den Schotterpfad, der Rurrenabaques Hauptstraße darstellte. Die Luft triefte schon vom süßlichen Duft gekochter Bananen, die in Brotöfen mit wackligen Schornsteinen und Strohdächern vor sich hin schmolzen. Alles in dem Kaff wurde aus Bananen gemacht. Die Milch war ein Bananendrink. Hühnchen in Bananensauce wurde mit frittierten Bananen und Bananensalat serviert. Das Einzige, was nicht Bananen war, war der Mais. Dreißig verschiedene Sorten von Mais – roter und violetter, blauer, schwarzer und weißer – bedeckten jedes freie Fleckchen Erde. Die Häuser, so bunt wie der Mais, standen auf Stelzen wie aufgespießte Holzwürfel, und jeder Raum hatte nur drei Wände, weil die vierte, zum Fluss hin, fehlte, da hing nur ein weißes Laken oder ein Moskitonetz. Auf der Türschwelle stand in der Regel eine Schale mit Fischen unter einer Salzkruste, um den Fang frisch und die Hunde fernzuhalten. Denn aus jedem Fenster guckte ein Hund; und Kartoffeln wucherten aus den Beeten über die Wege wie Wildblumen, wuchsen über die Zäune, dreihundert verschiedene Sorten. Die wenigen Steinhäuser, zumeist rot gestrichen, protzten mit reich verzierten, rosafarbenen Balkonen, und der Horizont badete in einem verschwommenen Streifen aus weißem Dunst. Abgerockte Fahrräder lagen überall, achtlos hingeworfen, und ich, wie ein kleiner Junge, der etwas Neuem entgegenradelt, konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen.

Als ich Nora zu ihrer Hütte begleitete, stellte sich heraus, dass sie das Zimmer teilte, ausgerechnet mit noch einem Israeli. Sie zog ihr Kleid aus, schlüpfte in eine weite, weiße Hose und ein langärmeliges Shirt, gegen die Yunga-Moskitos, und ich saß peinlich berührt auf dem einen Doppelbett im Raum und schaute zu, wie er ihr beim Packen half. Er stapelte ihre Kleidungsstücke gefaltet in den Rucksack, stopfte ein Moskitonetz und Plastikplanen hinterher, Waschzeug, ein paar vakuumverpackte Lebensmittel, Wasseraufbereitungstabletten und ein Erste-Hilfe-Set. Er lieh ihr auch seine Machete und bat uns, vorsichtig zu sein. Er hieß Kfir, aber alle nannten ihn nur Steak Songo, und er war nett zu mir wie ein um Aufmerksamkeit heischender Bruder. Die Korkenzieherlockenmähne fiel ihm über die Kinderaugen, ein Kind mit Bartstoppeln, und innerhalb von fünf Minuten hatte er mir geschickt seine ganze Lebensgeschichte untergejubelt, ohne dass ich danach gefragt hätte.

«Kennst du das, wenn jüdische Backpacker manchmal hungrig schlafen gehen müssen? Oder sie holen sich eine Lebensmittelvergiftung von Konserven oder Verstopfung von lauter Bananen.» Und für genau dieses Marktsegment hatte Steak Songo ein mobiles Ein-Mann-Schlachtteam gegründet. Denn er war Schächter, führte koschere jüdische Schlachtungen durch. Er kurvte mit dem Motorrad durch ganz Südamerika, wie Che persönlich, und bot unterwegs seine Dienste jüdischen Backpackern und abgelegenen Gemeinden an. Hühner, Schafe, Rinder, ja sogar bolivianische Büffel wurden von ihm fachmännisch für traditionelle Schabbattafeln zerlegt. Dabei stammte er gar nicht aus einer strenggläubigen Familie. Sein Urgroßvater Josef aber hatte ihm ein Hobby beigebracht, das bei ihnen schon seit über einhundert Jahren gepflegt wurde: die Kunst des Präparierens. In der Diaspora hatten seine Vorväter jedem schönen Körper ewiges Leben beschert, von Fischen und Kaninchen bis hin zu Antilopen und Bären. Insgeheim hatten sie sogar Kreaturen ausgestopft, die der HERR noch gar nicht erschaffen hatte: Wesen mit Löwenkopf auf einem Ziegenleib oder ein Schlangenschwanz unter Adlerschwingen. Oder schlicht ein Einhorn. Israel aber war klein, miefig und die Leute zu geizig, um ein präpariertes Tier als Zimmerschmuck zu bestellen.

Nach seiner Entlassung aus der Armee hatte Steak eine Zeit lang Geländewagen repariert. Aber dann hatte das Schicksal zugeschlagen, und Steaks Freundin Naomi verliebte sich in seinen kleinen Bruder. Worauf Steak beschloss, beiden adieu zu sagen, nach Südamerika flog und dort sein koscheres Schlachterbusiness aufzog. Als gäbe es in Israel niemanden, den man hätte schlachten können. Seitdem schächtete er immer einen Monat lang, um im nächsten umherzureisen, und manchmal tat er beides gleichzeitig. Bei seinem schmächtigen Körper und dem breiten Lächeln wirkten sogar seine Zähne glücklich.

«Mein Gott», verkündete er gerne, «wie groß sind Deine Werke! Bolivien ist so schön, zum Verlieben!»

Und ich musste an meine Mutter denken, die Angst vor Schlachtern gehabt hatte. Eine ihrer Thesen war, ein Kind, das seinen Vater einem Huhn den Kopf abschlagen sieht, würde später selbst keine Skrupel haben, einem Menschen das Leben zu nehmen.

«Wie lange kennt ihr beiden euch, Nora und du?», fragte ich behutsam.

«Drei lange Wochen», antwortete Steak. Er goss uns dreien ein Chicha ein, das vergorene Maisbier, das sie dort brauen. Wir hoben unsere Gläser – lehayim! Genießt eure Zeit auch für mich, bat er und versprach, in dem Kaff zu bleiben, bis wir zurück wären. Er schenkte Nora zum Abschied eine lange Umarmung und hörte gar nicht mehr auf, sie anzuschauen. Ich hatte keine Ahnung, was genau zwischen ihnen gewesen war und wieso er sie so einfach gehen ließ. Aber das tat er.

***

Kurz vor sieben marschierten wir runter zum Pier mit zwei Mochilas auf dem Rücken, jede gut dreißig Kilo schwer. Und dann schipperten wir nordwärts, nur wir beide. Ich angelte ihr einen fetten Piranha, den wir über unserem Gaskocher brutzelten. Nur in Unterhose sprang ich ins eiskalte Wasser. Nora kam mir nach, bereute es aber noch im selben Augenblick. Sie cremte ihren Schneewittchenkörper mit einer Anti-Mücken-Salbe ein und meinen auch.

Der Fluss wurde erst grün, später dann schwarz. Grellrote Ibisse tauchten und schwammen neben unserem Boot, und wir sahen riesige Tapire sich paaren, die uns mit herablassenden Blicken bedachten. Aras sprossen wie farbenprächtige Blüten auf jedem Ast, und Händler zogen auf einem Verband von Flößen an uns vorbei, sie kämpften sich nach erfolgreicher Jagd flussaufwärts, beladen mit Krokodilhäuten, die in der Sonne schwarz glänzten wie Pech. Ein verlassenes Kanu trieb unbeteiligt durch einen Nebenarm des verästelten Flusses, und Nora und ich hielten unsere Angelrute zusammen fest, während im Wasser tausend unterschiedliche Arten von Fischen schwammen. In der Dämmerung spielten ausgelassene Glühwürmchen Fangen, bis ein Gecko sein Maul aufklappte und sie alle verschluckte.

Drei Tage lang taten wir nichts anderes als lachen und einander zuhören. Schliefen eng umschlungen ein, um uns gegenseitig zu wärmen. Ich wollte lieber ganz langsam Feuer fangen, wollte nicht zu schnell sein und dann genug von ihr haben, also verkniffen wir uns eine Weile lang den Sex. Aber in dem Augenblick, in dem ich sie küsste, war meine Zunge gefangen, und wir konnten nicht mehr aufhören.

Mit sechzehn hatte ich am Strand hinter dem Haus, in dem ich aufgewachsen war, eine Soldatin getroffen, die mir mitteilte, mein Gesicht sei sehr viel weniger schön als mein Körper. Gesicht Durchschnitt, aber der Brustkorb eines Mannes, erklärte sie – so im Sinne von konstruktiver Kritik. Danach fing ich an, so spärlich bekleidet wie möglich herumzulaufen, tanzte mit freiem Oberkörper und lernte, mit meinen Instinkten zu leben. Beim Sex fühlte ich mich sicherer als in rein platonischen Beziehungen, und weil ich trotzdem Angst hatte, Frauen zu enttäuschen, gab ich mir große Mühe, damit sich jede sicher und geliebt fühlte. Bei einer neuen Bekanntschaft legte ich mich neben sie und fragte, was sie mochte. Auf meinen Reisen sprachen viele Frauen Sprachen, die ich nicht verstand, also schaute ich in ihre Gesichter und versuchte zu ergründen, was sie gern hatten. Mein aufmerksames Lauschen deuteten sie als Hingabe, und sie liebten mich für meine Offenheit, denn ich schreckte vor keiner Idee zurück und lehnte keine Fantasie ab. Ich lächelte einfach.

Als ich das erste Mal Sex mit Nora hatte, flüsterte ich ihr ein Ich-liebe-dich ins Ohr. Was mir manchmal passiert, unbeabsichtigt. «Halt die Klappe», sagte sie lachend. Als wir beide gekommen waren, noch ganz außer Atem, schaute ich sie an und sagte «Hey». Es rutschte mir einfach so raus, dieses Hey, mit einem Lächeln und in leicht fragendem Tonfall. Hey? Um zu sehen, ob sie es auch fühlte. Der Klang eines ersten, sich herantastenden Hey. Ein liebender, verletzlicher Laut. Von da an sagte Nora hey zu mir, jedes Mal, wenn wir Sex gehabt hatten, keuchend und noch immer erregt.

***

Die Gespräche wurden kürzer. Wie ein brünstiges Adlerpärchen überkam es uns, auf umgefallenen Bäumen, im Gras, auf den Holzplanken des Bootes und im Wasser. Ich wollte von ihrer Haut aufgesogen werden wie ein Wassertropfen. Streichelte sie mit einer Kondorfeder und wäre am liebsten in ihr gestorben. Normalerweise bin ich nicht auf der Suche nach besonders schönen Frauen, brauche das nicht, dass eine viel Aufheben um ihr Aussehen macht. Ich mag sie echt und nicht wie aus einem Modejournal. Sie soll sein, wie sie ist, mit Speckröllchen und Haaren, die leicht außer Form geraten. Sie soll lächeln, soll interessant sein. Sich begeistern lassen. Neugierig sein. Nora war all das, aber ihr Blick war immer hungrig und besorgt. Nachts machte ich Feuer mit Palo-Santo-Holz, und der süßliche Weihrauchduft färbte die Dunkelheit um uns mit einem feinen weißen Rauchfirnis. Ich improvisierte Gerichte und kochte in einem kupfernen Mokkakännchen Ayahuasca aus Lianensud mit bitteren Weidenblättern. Nora weigerte sich, davon zu probieren, erklärte, sie behalte lieber die Kontrolle und einen klaren Kopf. «Trau dich, trink», sagte sie lächelnd, «ich pass auf dich auf. Vorerst.»

Nach der gescheiterten Ehe fragte ich nicht weiter, aus Furcht vor der Antwort. Zu wissen, dass hier noch einige lange Tage auf Nora und mich warteten, machte die Rätsel weniger rätselhaft und die Geheimnisse zu einem Teil der Anziehung zwischen uns. Der Amazonas floss gemächlich unter uns dahin, dennoch fragte ich sie, warum wir ausgerechnet in ein unzugängliches Regenwaldgebiet an der Grenze zu Peru wollten. Nora geizte mit Antworten. Sie sagte, sie müsse für eine Weile einfach mal weg von allem. Wie lange?, fragte ich.

«Es gibt dort eine ökologische Community», sagte sie. «Du wirst es lieben, Daniel. Kein Strom, kein Empfang, komplett abgeschnitten.»

Abgeschnitten von wem? Für jemanden, der es liebt, wenn das Telefon in der Essecke klingelt, hatte sie es plötzlich ganz schön eilig, auf und davon zu sein. Die Möglichkeit, dass sie mir etwas Entscheidendes verschwieg, verdrängte ich.

Also nicht, dass ich nicht neugierig gewesen wäre zu erfahren, was genau sie gemacht hatte, als sie jeden Morgen als Doktor für Neuro-irgendwas aufgewacht war. Ich fragte: «Was genau erforschst du da, Madame?» Und nahm an, sie wich aus, um mich nicht mit Erklärungen verlegen zu machen, die ich ohnehin nicht verstehen würde. Sie arbeite in einem Forschungs- und Entwicklungslabor, sagte sie. Aber nicht an einer Uni, in der Privatwirtschaft. Das sei alles. Erinnerung. Sie sei auf Erinnerung spezialisiert. Wozu ins Detail gehen? Das menschliche Gehirn hat einhundert Milliarden Neuronen, wo solle sie da anfangen?, fragte sie unschuldig. Wartete offenbar noch, sich mir näher zu fühlen.

Ich war so sehr damit beschäftigt sicherzustellen, dass es ihr gut ging, dass ich nicht merkte, wie verängstigt sie war. Wir lachten darüber, wie angespannt sie war, und ich nahm an, sie hatte bloß so eine süße Angst vor wilden Tieren. Sie wollte immer schnell los, als hätte sie es eilig, bestand darauf, Frühstück und Mittagessen im Gehen einzunehmen und auch nach Sonnenuntergang noch weiterzumarschieren. Abgesehen von den Augenblicken, in denen der Sex uns in der Luft schweben ließ, war sie nervös, geballt wie eine Faust, schaute immer zurück, während ich nach vorne sah. Nachts, wenn ich kurz aufwachte und zu ihr hinüberblinzelte, fand ich sie meist hellwach.

Eines Nachmittags begann die Natur, verrückt zu spielen. Ein gewaltiger Regen brach los und wurde mit jeder Sekunde stärker. Die Wassermassen rissen Äste herunter und spülten Wege fort. Der Regen lag prasselnd auf uns wie ein dicker Wollteppich, und sumpfiger Matsch quoll in unsere Wanderstiefel, klebte an den Rucksäcken. Wir beeilten uns, einen Unterschlupf zu finden. Durchquerten ein Tal voller Wasserfälle und bahnten uns den Weg zwischen störrischen Leguanen und an Wasserschildkröten vorbei. Erst war alles ein grelles Grün, und dann brach mitten am Tag eine unendliche Finsternis an, hallte nur das Heulen der Affen durch die Dunkelheit. Ameisenarmeen hasteten panisch die Baumstämme hoch, auch Schwärme von Termiten wanderten in die Höhe. In einem Felslabyrinth fanden wir Schutz, kuschelten uns zusammen und spielten Karten.

«Wie lange wart ihr zusammen?», fragte ich.

Nora schwieg, in Gedanken versunken.

«Wie hieß er?»

«Adam», antwortete sie. «Fast zwanzig Jahre. Wir hatten uns bei den Pfadfindern kennengelernt, in der Mittelstufe saß er schon neben mir. Mit einundzwanzig haben wir geheiratet. Haben ein Haus gebaut, haben gemeinsam an unseren Karrieren gebastelt. Genau wie du gesagt hast: Wie mit einer einzigen Lunge haben wir geatmet.»

«Kinder?»

«All die Jahre habe ich ihm gesagt, ich sei überglücklich. Aus Sorge. Das Problem war, dass das Glück von Dutzenden kleinen, genauen Gewohnheiten abhing, die unsere Ehe ausmachten. Es war ein bisschen wie bei dir: Wir hatten eigentlich auch keine Freunde, hatten nur einer den anderen. Jede andere Beziehung war langweilig, jedes andere Gefühl verblasste im Vergleich zu uns. Gesellschaftliche Ereignisse, Familienfeiern – alles Pflichtaufgaben, die nach Zeitverschwendung schmeckten. Für eine Ungläubige wie mich ist Liebe das Heiligste überhaupt. Von Jahr zu Jahr habe ich ein größeres Bedürfnis nach Routine, Ruhe, nach vier Augen und Zuhausesein verspürt. Ich hatte solche Angst, auch nur ein Teilchen unseres Puzzles zu bewegen, etwas zu verändern, das all dieses Gute gefährdete, dass ich vorschlug, noch zu warten. Kinder – danach gibt es kein Zurück mehr. Ein Jahr wollte ich noch warten oder zwei. Ich war nicht sicher, wie viel Spannung das zwischen Adam und mir erzeugen würde und ob er dann weniger glücklich mit mir wäre.»

«Bereust du es?»

«Rückblickend würde ich sagen: Ein liebendes Paar braucht ein Kind. Nicht damit irgendwann jemand da ist, der einen im Alter pflegt. Auch nicht weil Gott gesagt hat, die Frau soll Kinder gebären. Oder weil Elternsein eine Lebenserfahrung ist, die man nicht verpassen darf. Nein, ich hätte ein Kind haben sollen, damit ich einen Adam junior gehabt hätte. Ein Andenken.»

«Er hat dich verlassen?» Ich war überrascht.

«Er ist mit zweiunddreißig gestorben, an Neujahr.»

«Woran?»

«Er hatte für eine Minute den Kopf in meinen Schoß abgelegt, war müde, hat gelächelt. Wir haben geredet, Pläne für die Feiertage gemacht. Er war ganz warm. Zwei Stunden später war er bewusstlos. Und dann plötzlich war er nicht mehr da. Leukämie. Innerhalb von fünf Tagen. Keine Zeit mehr, um Hoffnung zu haben, zu kämpfen, Abschied zu nehmen, uns für ein Kind zu entscheiden. Vielleicht, wenn ich noch eine so starke Liebe gehabt hätte, eine als Back-up gewissermaßen, dann hätte das den Verlust leichter gemacht. Vielleicht auch nicht. Aber ein Kind hätte mich gezwungen, am Leben festzuhalten, hätte mir einen Sinn gegeben, mir keine Wahl gelassen. Andererseits, ein Kind zu bekommen, nur damit man noch etwas hat, ein Back-up-Baby, eine Abhängigkeit, die sicherstellt, dass mir ein Sinn bleibt – das ist doch ein ziemlich verstörender Gedanke, oder nicht? Tatsache ist, ohne ein Kind und ohne Adam ist da eine innere Stimme, die mich ständig fragt, warum ich überhaupt weitermachen soll.»

«Und was antwortest du ihr?»

«Arbeit. Karriere. Das ist es, was mich weitermachen lässt. Deshalb verbessere ich mich unaufhörlich, versuche, hart zu sein wie ein Stein, glasklar wie ein strömender Fluss.»

Am nächsten Morgen wachten wir auf und stellten fest, dass wir nirgendwohin konnten. Die Tiere des Amazonas schrien nervös, und wir blieben da, zwischen Felsen und Wasserlachen, in unserem Versteck.

Und dort erzählte mir Nora zum ersten Mal von dem Projekt, an dem sie beteiligt war. Weihte mich ein in die Technologie, die sie entwickelte: den Ozean.

Sie erzählte mir von der Boje, die es eines Tages vielleicht in jedem Haushalt geben würde. Erzählte von den unterschiedlichen Betriebsmodi, die mich in «Marker» oder in «Quelle» verwandelten, mich in den blauen Wasserfall einspeisen würden.

Das war der Moment, in dem ich begriff, dass Noras Tun die Erde, auf der ich mich wähnte, erbeben ließ.

Wir waren nicht religiös, aber meine Mutter sagte immer, das Vergessen sei eine der wichtigsten Erfindungen des Schöpfers. Und dass die Erinnerung existiert, damit wir für die Zukunft lernen, aber nicht dafür, um an der Vergangenheit festzuhalten. Klammern wir uns an die, gehen wir unter. Und wenn wir Wut, Streit und Ekel nicht verdrängen, gelingt es uns nicht lange, unsere Geliebten zu lieben, nicht die eigenen Eltern und vielleicht nicht mal ein Kind. Das Vergessen lässt uns neugeboren werden. Wie könnten wir ohne es den Verlust von Liebe überwinden? Ich dagegen denke, anders als Mama, wenn die Evolution, oder der Schöpfer der Welt, die Erinnerungen nicht löschen lässt, sondern sie in den Tiefen der Zellstruktur bewahrt, wo sie auf ewig vor sich hin schlummern, dann muss das einen Zweck haben. Derselbe Kosmos, der uns eine offene Tür in den Weltraum gelassen und dafür gesorgt hat, dass wir zum Mond fliegen wollen, was wir ja auch geschafft haben, hat uns den Planeten der Erinnerungen vermacht, damit wir darin schürfen, tief und immer tiefer, hinabtauchen und ihn erhellen.

Meine Kindheit war salzig und nass, denn wir hatten die besten Wellen im ganzen Land. Bei Sonnenuntergang erschien immer eine Herde Ziegen auf den Sandsteinhügeln und kam herunter, um mit uns im Schaum der Dünung zu baden, und der stille Sand war ganz fein, unzählige Moleküle glitzernden Staubs. Ich aß gern Eis aus Kamelmilch, das Mama in Khan Yunis kaufte und das herrlich säuerlich schmeckte. Wenn ich die Boje und damit Noras Ozean gefunden habe, werde ich, als Allererstes, dorthin tauchen.

Auf dem Sand ruckelte ein gelblicher Pfad aus nichts als Krebsen dahin, und die schwarzen Kormorane zeigten ihre weißen Kehlen und ihr metallisch grün schimmerndes Gefieder, unermüdlich waren sie auf Beutezug, flogen an stürmischen Tagen flach über den Schaumkronen und jagten unter Wasser weiter. Immer blieben sie siegreich und standen dann hochgereckt auf den Felsen in der Sonne, breiteten ihre Schwingen aus, um sich trocknen zu lassen. Die Araber nannten sie die «Raben des großen Meeres». Ich aber war ein Vier-Augen-Kind und fühlte mich nie wohl in einer Gruppe. Der Wüstenwind rüttelte wild an den mageren Palmen, die zerfranst wie alte Schnürbänder waren, und das Meer spritzte Gischtwolken auf die Datteln hoch oben im Baum.

Mein Freund Noam Magouri grub immer mit seinen Klavierspielerfingern in der Erde und versuchte, einen hektisch sich windenden Wurm zu fangen, doch die Würmer kannten seine Tricks. Denn im nächsten Augenblick würde er ihnen das Mäulchen öffnen und sie über das bauchige Mittelteil des Angelhakens fädeln. Nur manchmal ließ er sich überreden, Gnade walten zu lassen, und dann angelten wir mit improvisierten Ködern aus Bamba, denn die Fische liebten Erdnussflips. Innerhalb von Minuten hüpften uns Marmorbrassen, kleine Thunfische und Meeräschen an Land. Wir vergruben sie im Sand, damit die Kormorane uns nicht den Festschmaus wegstahlen, und spät am Abend rieben wir uns den Teer von den Füßen und stapften zu meiner Mutter, barfüßig, unseren Fang in einer Plastiktüte.

In der neunten Klasse lernten wir, die Fische abzuschuppen, ihnen die Flossen abzuschneiden und sie zu entgräten. Gruben im matschigen Boden eine Mulde und legten ein rostiges Stück Eisenblech darüber, das vielleicht schon seit Moses’ Tagen im Viertel in Gebrauch oder vielleicht auch erst am Vortag entsorgt worden war. Dann sammelten wir Bretter von der Art, die sich leicht anzünden ließ, und zerhackten einen Klotz, um Holzkohle daraus zu machen zum Grillen. Ein weiteres Jahr verging, und wir lernten auch zu tauchen, um im tieferen Gewässer braune Zackenbarsche zu erwischen oder Torpedomakrelen und Doraden. Das heißt, Magouri erwischte, was wir brauchten, hackte dann eine Zwiebel klein und briet sie mit Peperoni an. Er war ein richtiger Robinson Crusoe der Wüste. Ich dagegen briet gar nichts an, hatte zwei linke Hände. Dafür rief ich bei Kamil an und bestellte, obwohl wir nur zu zweit waren, für fünfzig Schekel ein Taxi aus Gaza mit Hummus, Pommes frites und Pepsi in Mengen, die für eine Klassenfeier gereicht hätten. Denn die Welt damals war eine andere. Bei Geburtstagen luden unsere Eltern einen Zauberer mit Schimpansen aus Rafah ein. Auch den Führerschein machten alle in Rafah, im Gazastreifen, und im Restaurant am Tamariskenstrand hockten wir bei Goldstar-Bier zusammen mit Reservisten und Arabern, mit Soldatinnen, Religiösen und Atheisten, Touristen, Bauern und Kiffern.

Magouri reichte mir einen Granatapfel und fragte: «Du hast keine Ahnung, wie man den aufmacht, wie der innen aussieht, oder?» Dann wieder kriegte er einen Lachanfall, weil ich nur geschälte Sonnenblumenkerne kannte.

«Hast du in deinem Leben noch keinen Boden gewischt? Du machst ja mehr Dreck als sonst was. Wie, du kannst kein Omelett braten? Bei euch zu Hause gibt’s keinen Spüldienst? Du hast echt keine Ahnung, was deine Mama verdient? Und wieso magst du keine Oliven?» Er wurde noch wahnsinnig mit mir. Wer mochte denn keine Oliven?

In der Rettungsschwimmerhütte hatte er ein Bücherbord mit frommen Werken und eines mit Osho-Meditationsschriften, über freie Liebe und freien Sex, die er alle in einem Zug verschlang. Oft machte er mit einem Buch in der Hand einen Salto rückwärts von oben aus der Hütte und las uns am Lagerfeuer bei Gitarre und arabischem Mokka daraus vor, unter einem Highway von Sternen am funkelnden, nachtschwarzen Himmel. Die Hütte war eine vom heißen Wüstenwind durchlöcherte Bretterbude, das Dach eine ausrangierte Markise, und die Außenwände bildeten fettgetränkte Jutesäcke gegen die Unbilden des Wetters. Zwei wacklige Treppen führten hinab, die eine zum Frauenstrand und die andere zu dem der Männer. Nur wer mit dem Rettungsschwimmer auf gutem Fuß stand, kam in den Genuss, einen Blick auf die verbotene Seite hinter der Abtrennung zu werfen. Magouri kannte ihn so gut, dass er mit sechzehn zum unentgeltlich angestellten Hilfsrettungsschwimmer ernannt wurde.

Anfangs nannten ihn alle «Schlüpfer», weil er keine Badehose hatte. Jeden Tag bei Sonnenaufgang und Sonnenuntergang war er in Unterhose draußen, um die perfekte Welle zu erwischen. Allgemein galt er als der kleine Kriminelle des Guschs Katif. Das Surfen hatte er sich selbst beigebracht, mit Videobändern, er hatte einfach die Bewegungen der Hollywoodsurfer nachgemacht und nicht aufgegeben. Danach jagte ein Unglück das nächste, und Magouri half allen, aufs Board zu steigen, damit sie sich wieder beruhigten.

Wir surften. Bekamen Hunger, tauchten, angelten, brieten, aßen, surften, ließen uns von der Sonne trocknen, spielten Gitarre, schliefen, warteten darauf, jemanden vor dem Ertrinken zu retten, luden Mädchen ein, rauf zu uns in die Hütte zu kommen. Wenn wir nachts schwimmen gingen, waren oft welche splitternackt mit von der Partie, und wir brachten ihnen bei, keine Angst vor dem Wasser zu haben.

Über die wirkliche Welt lernten wir von den Soldaten. Sie kamen immer für zwei Wochen, um die Siedlungen zu bewachen, und verrieten uns alles, was die Erwachsenen uns nicht erzählten. Ich war schweigsam, während Magouri es verstand, das reine Glück zu verteilen, und sie hatten offenbar nichts Interessanteres zu tun, als sich auf tiefschürfende Gespräche mit halben Kindern einzulassen. Oder uns umzuerziehen: der richtige Musikgeschmack, wie man tanzt, trinkt, Verschwörungstheorien, die Börse und Immobiliengeschäfte, Joints drehen, Wissenschaft und Ratschläge für ein reines, unbeflecktes Leben. Jeder von ihnen öffnete uns Türen, durch die man auf ein anderes Leben blicken konnte. Nur zu gern redeten sie sich alles von der Seele. Der eine gestand, seine Frau zu betrügen, ein anderer brüstete sich, er sei mit seiner übereingekommen, eine offene Beziehung zu führen, und seitdem versorge er sie mit lustigen Dreiern, Vierern, was auch immer, nur hereinspaziert. Einer war arm und hatte vor, mit einer Kioskkette reich zu werden, ein anderer war offenbar schwerreich und plante, über die Kontakte seines Großvaters, der lange vor ihm das ganze Vermögen angehäuft hatte, irgendwann Regierungschef zu werden. Juden, Drusen, Beduinen, jedes Mal banden wir uns an einen Soldaten, und wenn er wieder abzog, waren wir enttäuscht und gespannt auf seine Ablösung, die bald eintreffen würde. Wir machten ihnen Abschiedsgeschenke, rahmten gemeinsame Fotos ein, schnitzten Holzschwerter, hofften, sie würden uns Briefe schreiben. Auch sie hinterließen uns Geschenke, vor allem Bücher, Gebetsriemen in Schautaschen, selbst aufgenommene Kassetten mit ihren Lieblingsliedern, Notenhefte, ein Motorradmagazin, Kondome, Lusttropfen und Ratschläge. Wir übernahmen alles, was der Anstrengung wert schien. Magouri entschied, sich vor allem die selbstlose Liebe zu eigen zu machen. Und er legte ein Gelübde ab, das ihm zum Lebensmotto werden sollte: Verleumdung und üble Nachrede sind nicht meins. Von da an achtete er penibel darauf, nichts mehr zu sagen, was jemanden verletzen konnte, und bestrafte auch mich für sprachliche Ausrutscher. Jeder Mensch verdiente seine Liebe. Er übte sich in Mitleid, bemühte seine ganze Vorstellungskraft, sich in die Haut von anderen zu versetzen, und dachte über täglich neue Herausforderungen nach, um ein guter Mensch zu sein.

***

Magouri wurde oben im Norden geboren, in Afula. Sein Vater war Verputzer, renovierte Wohnungen, arbeitete aber nur die Sommermonate über, wenn die Wände schnell trockneten. Im Winter lud er den Akku auf, wie er sagte, brachte also seine Ersparnisse durch. Aber er hatte seltenes Glück gehabt, sein Vater Yaakov, und gleich zweimal den Hauptgewinn im Lotto abgeräumt. Beim ersten Mal, als Magouri fünf war, hatte sich Yaakov spontan was gegönnt, einen Trip mit Freunden nach Tiflis. Bevor er aufbrach, machte er Aviva, Magouris Mutter, klar, dass auch ihm zustehe, wenigstens einmal im Leben an sich selbst zu denken, als Entschädigung dafür gewissermaßen, viel zu früh geheiratet zu haben; und außerdem, welches Recht habe sie, Aviva, überhaupt was zu sagen, sie, die andauernd seine Lottoscheine verflucht und verlangt habe, er solle aufhören, welche auszufüllen? Tatsache, jetzt hatte er gewonnen. Im Casino in Tiflis versuchte Yaakov zuerst, das Geld zu verdoppeln, danach, es sich zurückzuholen, und schließlich das Wenige zu retten, was noch geblieben war. Das Problem war, dass die in Tiflis alles Antisemiten waren, und so war das Geld weg.

Die Männer in der Nachbarschaft arbeiteten allesamt in der Klimaanlagenfabrik von Tadiran oder der Windelproduktion von Tiltulim, aber Yaakov war weder der Typ fürs Fließband, noch war er kleingläubig. Er füllte weiter seine Scheine aus, sowohl Lotto als auch Toto, und betete um Gerechtigkeit. Aviva ernährte die Familie, arbeitete immer, als Kindergärtnerin. Ihre Wohnung hatte lukenartige kleine Fenster, und nur die Farbe der vorgesetzten Betonbalkone unterschied ein Gebäude vom nächsten: lang gestreckte, schmale, schachtelförmige Wohnblöcke, alle einander zum Verwechseln ähnlich. Magouri war im orangenfarbenen geboren, gleich hinter dem grünen und noch vor dem himmelblauen, zwischen der Krankenkasse des Gewerkschaftsbunds und Herzl, dem Gemüsehändler. Beim zweiten Hauptgewinn seines Vaters war er schon zwölf. Aviva beeilte sich, das Geld still und heimlich vom gemeinsamen Konto abzuheben, bevor ihr Mann etwas merkte oder sich wieder spontan etwas gönnen konnte. Sie teilte die Summe auf drei Sparverträge auf, auf die Namen ihrer Kinder, und legte alles für fünfzehn Jahre fest. Yaakov verzieh ihr nie. Er ertränkte seine Gereiztheit in Alkohol und wurde arbeitslos, fühlte sich entehrt und depressiv, was alles nur ihre Schuld war. Zu Neujahr beschloss Aviva, ein neues Kapitel aufzuschlagen. Sie nahm Noam und seine beiden Schwestern und setzte sich drei Autostunden weit Richtung Süden ab, in unsere Siedlung.

Kindheit bei uns hieß, Schlangen entlang des Sicherheitszauns zu suchen und Leuchtgranaten zu finden, die die Armee verschossen hatte. Jedes Kind hatte welche zu Hause, an kleinen Fallschirmen hingen sie von der Zimmerdecke. Die Dünen brachen immer wieder in die Siedlung ein, und Hunderte Male surften wir sie hinunter, auf kaputten Fensterläden, Fassdeckeln oder Fahrrädern.

Ich hielt mich gern in Gesellschaft von Erwachsenen auf oder von Knirpsen, die in mir einen Erwachsenen sahen. Freunde in meinem Alter hatte ich keine. Auch brauchte ich Zeit für mich, jede Menge Zeit, ich war ein ziemlicher Eigenbrötler. Und wie eine Katze war ich grenzenlos neugierig, solange man mich nicht aus dem vertrauten Umfeld der Häuser und des Strands holte, das ich kannte. Von daher nahm ich nicht an, es bestünde die Aussicht, dass ich irgendwann mal ein anderer würde als der, der ich schon war, selbst wenn ich mir Mühe gäbe. Meine Ängste dagegen waren sehr spezifisch. Ich hatte zum Beispiel Angst, mit dem Bus zu fahren. Was, wenn ich von der Tür eingeklemmt würde, wenn der Fahrer vergäße, sie zu öffnen, wenn die Luft im Bus knapp würde oder ich neben einem unangenehmen Menschen säße? Besonders fürchtete ich mich davor, überfahren zu werden.

Bei Sonnenuntergang gingen Mama und ich immer spazieren. Seit ich zurückdenken kann, gab es keinen Abend ohne einen gemeinsamen kleinen Marsch, bei dem wir redeten und schwiegen, und jeden Tag wartete ich auf unseren abendlichen Ausflug. Bei einem davon, am verlassenen Strand bei Rafiach Yam am südlichen Ende des Guschs, begegneten wir Magouri. Ein neues Kind, sagte sie. Er braucht Freunde. Sie ermunterte mich, auf ihn zuzugehen, als sorgte sie sich um ihn, aber wir beide wussten, dass in ihren Augen ich derjenige war, der Freunde brauchte.

Magouri war das komplette Gegenteil von mir, wie Schoko und Vanille waren wir. Er gehörte genau zu der Sorte, die ich sein wollte. Am nächsten Tag war ich alleine wieder da, setzte mich etwas abseits und beschloss zu antworten, sollte er mich ansprechen. Nach ein paar Tagen wollte er wissen, ob ich mir keine Sorgen machte, dass meine Mutter mich zu sehr verzärtelte. Und er erzählte, wie er – fast noch ein Kind – zum Arbeiten geschickt und an den familiären Sorgen beteiligt worden war: wie viel seine Mutter verdiente und wie hoch die Schulden seines Vaters waren. Er würde als Erwachsener besser aufs Leben vorbereitet sein als ich, abgehärtet, das klang zumindest für uns beide absolut logisch. Ich fragte Mama, ob sie sich Sorgen machte, ich könnte verwöhnt sein. Sie erwiderte, es sei ihr fester Glaube, dass man ein Kind in Watte gepackt aufziehen müsse, vor allen Sorgen behütet, soweit das möglich war. Jedes Alter hat seine eigenen Sorgen und Aufgaben, sagte sie, und ein Küken wird gefestigter fürs Leben sein, wenn man es nicht zu früh mit Dingen konfrontiert, für die es noch nicht reif ist.

In jenem Winter übernachtete Magouri schon öfter bei uns als zu Hause. Mama las uns Bücher im Wohnzimmer vor, als wären wir sechs oder so. Und wir saßen vor ihr wie verzauberte Zwillinge. Unser Haus wurde zu seinem eigentlichen Zuhause. Wir putzten gemeinsam vor dem Spiegel die Zähne. Teilten uns die Dusche. Ich war Mamas Kind und Magouris Bruder, manchmal der kleine Bruder und manchmal der große. Und manchmal auch Magouris Enkel, weil er vor lauter Sehnsucht nach seiner Großmutter Masal, bei der er, bis er neun war, mehr aufgewachsen war als bei seinen Eltern, in ihrer Sprache mit mir redete. Oft rief er mich: Hayat Safta – Großmutters Leben –, komm endlich essen! Wenn ich genug vom Strand hatte und ihm mitteilte, yallah, Magouri, ich mach die Biege ab nach Hause, antwortete er immer: Und was machst du zu Hause? Oder bei: Ich geh in die Schule. Und was machst du in der Schule? Ich geh zum Minimarkt. Was machst du beim Minimarkt? Ich geh unter die Dusche. Was machst du unter der Dusche? Und dann stopfte er mich erneut mit Essen voll.

Magouris Lieblingswort aber war das arabische Ta’atuf. Wenn er müde war, zum Beispiel, dann lächelte er mir mit halb geschlossenen Augen zu und sagte: Ta’atuf. Hab Mitleid mit mir, bei deiner Mutter. Oder vielleicht nicht unbedingt Mitleid, eher Empathie oder Sympathie, fühl mit meinem Leid, sei ein Mensch. Komm runter, kurz gesagt.

***

Magouri veränderte mich, machte mich zu dem Menschen, der ich sein wollte und der ich heute bin.

Wenn du ein Kind bist und voller Erwartungen, und du hast einen besten Freund, der dir alles bedeutet, dann bist du sicher, dass deine einzige Berufung ist, ihm der allerbeste Freund auf der Welt zu sein, bist sicher, du wirst für ihn sterben. Und du könntest morden dafür zu erfahren, welches Schicksal euch erwartet. Wohin verschlägt es diesen Jungen, der mein Freund ist? Ist er für eine Überraschung gut, wird er alle enttäuschen, werden wir mehr oder weniger glücklich sein, ja werden wir den weiteren Weg überhaupt zusammen gehen? Und werden wir die wilden Fantasien wahr werden lassen, die wir hatten? Wird uns eine lange Lebensreise vergönnt sein, und wer von uns beiden wird als Erster sterben? Vielleicht warten auch tragische Schicksalsschläge auf uns. Und du wüsstest zu gern, was der Höhepunkt sein wird, der eine Augenblick im Leben, in deinem, in seinem, die Krönung, das absolut Beste, ohne dass du dabei eine Ahnung hast, dass danach nichts Vergleichbares mehr kommt. Liegt dieser Höhepunkt vielleicht schon hinter uns? Werden wir jemals schöner sein, als wir es jetzt sind? Immer bin ich gerne vorwärtsgestürmt, habe Schwierigkeiten überwunden und mich auf Verwandlungen eingelassen, die mich ohne Unterlass veränderten, habe nicht zurückgeschaut, war gespannt auf die Zukunft, habe mich vielleicht selbst ermutigt, alles zu vergessen. Erst in letzter Zeit will ich, dass sich die Welt langsamer dreht, und ich vermag am Horizont, der auf mich wartet, keine Vorteile mehr zu finden. Denn ich träume nicht davon, der Älteste meiner Generation zu werden, kein Oberrabbiner und kein Albert Einstein, und auch das Talent eines Picasso fehlt mir. Wie also wird mein Alter sein, wenn ich körperlich geschwächt und nicht mehr begehrenswert bin?

Und da taucht plötzlich Nora auf, gerade nachdem mir die Lust, immerzu voranzustürmen, abhandengekommen ist, und reicht mir die Hand, um kehrtzumachen und zurückzufliegen, und mit einem Mal scheint mir, ich hätte nichts dagegen, nochmals von Anfang an zu leben, von Neuem. Also beschloss ich zu tauchen, nicht aus Nostalgie, sondern um mich der unbeherrschbaren Kraft der Welle hinzugeben, ihr zu erliegen, dem Leben, mich Erinnerungen auszuliefern, die bereits ihre Frische verloren haben und verblasst sind. Ich wollte ihnen eine Infusion verpassen, ihren Herzschlag wiedererwecken.

Das ist der Grund, warum ich beschloss, Noras Ozean zu finden und darin jene Boje, die mich zu meinem jungen Ich zurückbringen würde. Nicht, weil ich es vermisst hätte. Im Gegenteil, ich wusste, ich würde peinlich berührt sein, wenn ich ihm begegnete. Und dass es mir wehtun würde, all das zu sehen, was das Hirn klugerweise entschieden hatte, nicht zu erinnern. Aber ich musste.

***

Unsere Häuser grenzten an die palästinensische Ortschaft al-Muwassi, am westlichen Ende des Guschs. Ganz in der Nähe, in Pe’at Sadeh, gab es einen Pub mit Billardtisch und Glücksspielautomaten. Die Soldaten genehmigten sich dort zwischen den Wachdiensten gern ein Bierchen und einen Bagel aufs Haus. Und die Araber aus al-Muwassi verdrückten einen ganzen Sack Bagel in einer halben Minute und machten die Soldaten beim Backgammon fertig. Ich schwöre, ich erinnere mich an Soldaten, die ihre Waffe einfach auf den Boden legten, unter den Stuhl. Am Dattelstrand, dem Strand der Religiösen, gab es einen palästinensischen Rettungsschwimmer, der vom Gemeinderat des Guschs Katif bezahlt wurde. Ein Muslim, der ertrinkende Juden retten sollte. Und die arabischen Fischer kannten wir alle mit Namen. Sie bettelten immer, dass wir ihnen eine Flasche Arak kauften, und brachten uns dafür kistenweise von ihren Kartoffeln und Erdbeeren mit. Und die Orangen aus ihren Gärten schmeckten wie keine anderen. Wir betrieben einen munteren Tauschhandel. Am Schabbat fuhren wir, wie andere Israelis nach Jaffa oder Akko, auf den Markt in Gaza, um Wasserpfeifentabak zu kaufen. Wir liebten ihre Süßigkeiten, gingen zu Fuß in das kleine Fischerdorf, damit sie uns ein Schaf schächteten, und buken riesige, hauchdünne Fladenbrote mit ihnen. Und jeden Freitag erschien Abu Azuz Arafat, um die Häuser der Siedlung zu putzen. Die Frauen bei uns teilten ihn sich und verabredeten, wer wann dran war. Zum muslimischen Opferfest trafen sich die Familien und saßen stundenlang zusammen. Und vom Dach unseres Hauses ging der Blick auf einen atemberaubenden, unberührten Küstenstreifen. Angst kannten wir nicht, inmitten von einer Million siebenhunderttausend Arabern um uns herum. Und wir waren höchstens achttausend Siedler.

Nachdem die zweite Intifada ausbrach, waren wir weiterhin zu Fuß unterwegs. Von rechts der Straße warfen die Araber Steine und Brandflaschen, von links schoss die Armee, und wir marschierten in der Mitte, um im Laden von Abu Wa’il Flutschfinger zu kaufen. Und wenn die Armee Ausgangssperre verhängte, gingen wir los, um Abu Azuz Arafat, den ich kannte, seit ich ein Baby war, einen Sack Mehl zu bringen.

Im darauffolgenden Monat erlaubte die Armee ihnen dann schon nicht mehr, zu uns in die Siedlung zu kommen, ließ sie auch nicht mehr an die Strände. Ein Zaun umgab uns, schützte uns vor der kaputten Welt da draußen. Doch innerhalb des Zauns machten wir, was wir wollten. Riesige Bulldozer räumten Häuser ab, die an den Zugangsachsen standen und in denen sich Heckenschützen versteckt hielten, rasierten Obstplantagen und Pflanzungen weg, in denen sich jugendliche Unruhestifter verbargen, und machten eine Tankstelle dem Erdboden gleich. Jede Fahrt zur Siedlung und von dort zurück wurde nun «Achseneröffnung» genannt und erforderte jetzt eine Eskorte aus Jeeps und Kettenpanzerwagen.

Die größte Angst meiner Mutter war, dass ich Angst hatte. Sie machte sich mehr Sorgen wegen meiner Ängste als ich selbst. Ich war durchaus bereit, mich ihnen hinzugeben, mir von ihnen Grenzen setzen, mich zu Hause bleiben zu lassen und mich zu zwingen, noch vorsichtiger zu sein. Mama dagegen achtete zwar darauf, sämtliche Sicherheitsvorschriften, die das Sekretariat der Siedlung und die Armee veröffentlichten, strikt einzuhalten, bestand aber ebenso darauf, dass wir so normal wie möglich weiterlebten, wegen mir.

Manchmal gingen Mörsergranaten nieder. Eines Nachmittags, Magouri und ich hockten auf dem Spielplatz, hörten wir erst ein schrilles Pfeifen und eine Sekunde später den Einschlag auf der Rasenfläche. Splitter flogen in alle Richtungen, und dann sagte Magouri, mein Gesicht sei voller Blut. Er war noch ruhiger als sonst, hocheffektiv in dieser Stresssituation. Eilte mit mir zur Krankenstation. Und auch ich war, überraschenderweise, ganz ruhig. Dachte, von jetzt an wäre ich gefeit gegen alles. «Yallah, dein erstes Mal, du hast deine Jungfräulichkeit verloren», meinte Magouri. Bis heute habe ich den feinen Streifen einer Narbe über der Stirn, und an der Stelle wachsen keine Haare mehr. Und wenn Magouri mir den Kopf mit der Maschine rasierte, kam dort immer dieser glatte, nackte Streifen zum Vorschein. Frauen sagen mir manchmal, das sei sexy.

Zur Schule fuhren wir jeden Morgen mit dem Bus, fünfundvierzig Minuten, zusammen mit denen aus der ersten Klasse. Auf dem Fernseher im Bus lief jeden Morgen Der König der Löwen oder Aladin, manchmal sogar Susi und Strolch, und draußen sicherten Panzer jede Kreuzung, und noch bevor der Morgen überhaupt richtig anbrach, hatten wir schon die Brote verputzt, die wir als Lunchpakete dabeihatten. An den Tagen, an denen Magouri darauf bestand, uns eigenhändig Sandwiches zu machen, gerieten die Dinger so lieblos wie nur was, ein Streifen Marmelade auf Toastbrot geklatscht, und dann quoll sie an den Seiten raus und verteilte sich im Brotbeutel. Trotzdem liebte ich sie.

Er war so der Typ, der morgens nur langsam in Gang kam, der bis zur ersten Welle des Tages vor sich hin döste. Aber es war ihm unangenehm, dass meine Mutter unseretwegen Arbeit hatte. An den Tagen, an denen er ihr ausnahmsweise gestattete, uns zu verwöhnen, traten wir die Fahrt mit gesunder Vollwertverpflegung aus Lachsscheiben mit Salat, Tomaten und Avocado und einer Dose Thunfisch an. Meine Mutter versuchte auch, mit sehr höflichen Andeutungen, Magouri davon abzubringen, in löchrigen T-Shirts und zerschlissenen Jeans zum Unterricht zu fahren, insbesondere nachdem unser Sportlehrer ihm gesagt hatte, er sähe aus wie ein kleiner Araberjunge. Sie verstand nicht, dass der Aufzug in seinen Augen der letzte Schrei war.

Oberhalb des Dattelstrands lag der Tel-Ridan-Posten der Marine. Wir hingen pausenlos bei denen in der Küche ab, schoben Schokorouladen in den Ofen, damit die Schokolade heiß und der Teig schön kross wurde, streuten Sesam und Mohn darauf, bestrichen das Ganze mit Honig und ließen uns damit vor deren Radarbildschirmen nieder, auf denen jedes einzelne Fischerboot zu sehen war, vor allem aber jedes Pärchen, das am Strand war, um es zu treiben. Denn die thermischen Kameras filterten das Bild nach Körpertemperatur, und die ging beim Sex in die Höhe. Tel Ridan war auch der einzige Posten bei uns in der Nähe, auf dem Soldatinnen dienten, und das erste Tattoo meines Lebens bekam ich bei einer von ihnen zu sehen. Auf dem Schulterblatt hatte sie einen blau schillernden Jerichonektarvogel, der zugleich eine wunderschöne Frau war. Sie zog ihr Uniformhemd herunter, um ihn mir zu zeigen, und schämte sich nicht, dabei auch ihren BH zu präsentieren, der violett war, das weiß ich noch. Einer der Soldaten bekam die Krise, als er es sah, meinte, es sei verboten, Juden mit einer Tätowierung zu begraben: Die von der Beerdigungsbruderschaft Chewra Kadischa schneiden dir das Tattoo raus, oder sie werfen dich gleich ins Meer. Und sie erwiderte, sollen sie doch, was ändert das? In dem Augenblick waren wir ihr beide verfallen, Magouri und ich. Wir gingen mit ihr und den Offizieren runter zum Strand, mit Kerzen, einer Flasche süßem Kiddusch-Wein und einem Teller Hummus mit Olivenöl. Wir spielten Karten mit ihnen, ließen den Doppelkassettenrekorder dudeln und stellten ihnen, dort in der Dunkelheit, all unsere üblichen brennenden Fragen.

Zu mir war sie hauptsächlich süß, schaute mich an wie ein Kind. Magouri dagegen sah sie an wie einen Mann. In den darauffolgenden Wochen schrieben wir ihr gemeinsame Liebesbriefe in Magouris Namen. Er hoffte, sie würde sich mit ihm auf was Festes einlassen, obwohl sie vier Jahre älter war als er. Erfahrung mit Frauen hatte ich keine, aber romantische Gedanken verstand ich offenbar in Worte zu kleiden, zumindest in Magouris Augen. Irgendwann schlief sie mit ihm, am Strand, im Wasser, während ich allein im Sand hockte und wartete, wobei mir das Herz bis zum Hals schlug und ich sie beide gleichermaßen vermisste. Am nächsten Tag erklärte sie ihm, sie hätte einfach ein bisschen Spaß mit ihm haben wollen. Er war beleidigt wie ein Hundewelpe, den man ausschimpft, es war das erste Mal, dass ich ihn schwach erlebte. Ich versuche mich zu erinnern, wie sie hieß, aber es will mir nicht einfallen.

Für die weibliche Anatomie begannen wir uns schon mit zwölf zu interessieren. Spitz wie sonst was fuhren wir mit dem Fahrrad kreuz und quer durch den Gusch auf der Suche nach Frauen und Mädchen, egal welches Alter, welche Herkunft. Mit den Mädchen spielten wir Merkball oder Völkerball mit einer Frisbeescheibe, und nachdem wir Kevin – allein zu Haus gesehen hatten, spannte Magouri ein langes Kabel von der höchsten Düne hinunter zum Strand und hängte einen Sessel dran. Darin runterzurutschen entlockte den Mädchen das breiteste Lächeln, das ich je gesehen habe. Frauen halfen wir beim Tragen der Einkaufstaschen, wuschen ihnen das Auto oder gaben ihren Kindern Fußballtraining. Wir liebten ihren Geruch, den Geruch von physischer Nähe, manchmal auch den einer Umarmung. Danach kehrten wir nach Hause zurück und erzählten alles meiner Mutter, unzensiert. Kinder haben ja für gewöhnlich Geheimnisse vor ihren Eltern. Ich aber verheimlichte bis zur elften Klasse rein gar nichts vor meiner Mutter. Sie schnitt uns immer Obst in eine Schale Joghurt, und dann aßen wir gemeinsam vor dem Fernseher und erzählten ihr, in wen wir uns diesmal verliebt hatten.

Damals bekam noch nicht jedes Kind eine Überschrift verpasst, Aufmerksamkeitsdefizit, Autismusspektrum, Hyperaktivität. Wir waren einfach Kinder, wie Kinder sein sollten. Einen Junge wie Magouri würden sie heutzutage mit Ritalin therapieren, damals waren die Wellen sein Ritalin.

***

Der Krieg war vor allem die Tonspur der Nacht. Maschinengewehrsalven und Abschüsse, das Pfeifen der Mörsergranaten und der Donner der Haubitzen. Leute, die wir kannten, wurden