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Feuer E-Book

Ron Leshem

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Beschreibung

Am 7. Oktober 2023 überzog die Hamas Israel mit Terror, seither hält die Welt den Atem an – und überschlagen sich die Ereignisse. Ron Leshem zeichnet in seinem bewegenden Text jenen Tag und die Entwicklungen seither nach – und führt ein zutiefst gespaltenes Land vor Augen. Gerade der liberale, auf Verständigung bedachte Teil der Gesellschaft wurde getroffen. Was werden die Folgen sein? Leshem, international bekannter Autor («Euphoria», «Beaufort»), Journalist und ehemaliger israelischer Geheimdienstoffizier, ist auch persönlich betroffen. Die Hamas ermordete seinen Onkel und seine Tante, verschleppte seinen Cousin, der auch deutscher Staatsbürger war, als Geisel. Ein Blick in die Wirklichkeit Israels, der uns das Land auf sehr persönliche Weise nahebringt und zugleich ein großes Bild vermittelt. Das Buch zur Stunde, das den Konflikt begreifbar macht.

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Ron Leshem

Feuer

Israel und der 7. Oktober

 

 

Aus dem Hebräischen von Markus Lemke und Ulrike Harnisch

 

Über dieses Buch

Am 7. Oktober 2023 überzog die Hamas Israel mit Terror, seither hält die Welt den Atem an – und überschlagen sich die Ereignisse. Ron Leshem zeichnet in seinem bewegenden Text jenen Tag und die Entwicklungen seither nach – und führt ein zutiefst gespaltenes Land vor Augen. Gerade der liberale, auf Verständigung bedachte Teil der Gesellschaft wurde getroffen. Was werden die Folgen sein?

Leshem, international bekannter Autor («Euphoria», «Beaufort»), Journalist und ehemaliger israelischer Geheimdienstoffizier, ist auch persönlich betroffen. Die Hamas ermordete seinen Onkel und seine Tante, verschleppte seinen Cousin, der auch deutscher Staatsbürger war, als Geisel. Ein Blick in die Wirklichkeit Israels, der uns das Land auf sehr persönliche Weise nahebringt und zugleich ein großes Bild vermittelt. Das Buch zur Stunde, das den Konflikt begreifbar macht.

Vita

Ron Leshem, geboren 1976 in Tel Aviv, ist Roman- und Drehbuchautor, ehemaliger israelischer Geheimdienstoffizier und Journalist. Er arbeitet in Hollywood und Tel Aviv, hat unter anderem die international gefeierte Serie «Euphoria» mitentwickelt und das Drehbuch der Serie «No Man’s Land» mitgeschrieben. Seine Romane «Der geheime Basar» und «Wenn es ein Paradies gibt» standen in Israel monatelang auf der Bestsellerliste. «Wenn es ein Paradies gibt» wurde mit Israels wichtigstem Literaturpreis, dem Sapir-Preis, geehrt und unter dem Titel «Beaufort» verfilmt; der Film erhielt auf der Berlinale den Silbernen Bären und war für den Oscar nominiert. Zuletzt erschien «Als wir schön waren» (2022).

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Mai 2024

Copyright © 2024 by Rowohlt · Berlin Verlag GmbH, Berlin

Dieses Buch enthält Darstellungen von Gewaltakten, wie sie sich am 7. Oktober 2023 ereignet haben.  

Covergestaltung Anzinger und Rasp, München

Coverabbildung Marcus Yam / Getty Images

ISBN 978-3-644-02130-3

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Vorbemerkung

In den Tagen und Monaten nach dem 7. Oktober 2023 war ich unfähig, an Drehbüchern oder Filmen zu arbeiten. Seit ich den Journalismus hinter mir gelassen hatte, war die Fiktion mein sicherer Zufluchtsort. Normalerweise bietet eine erfundene Geschichte großen Trost. Jedes Unglück geschieht aus einem bestimmten Grund. Alles Böse dient einem Zweck. Die Schmerzen sind erträglich, alles folgt einem eigenen Gesetz, und im richtigen Moment wird das Publikum dafür belohnt, dass es durchgehalten hat. Alles geht nach Plan und führt zu einem Abschluss; letztlich ist das erfundene Leben einfacher als die Existenz draußen in der Welt. Aber in diesem Krieg konnte ich mich zum ersten Mal in meinem Leben nicht in den Schutz der Fiktion flüchten.

Während wir in unserer Familie trauerten und um die Befreiung meines entführten Cousins kämpften, während meine palästinensischen Freunde in einer unerträglichen Tragödie versanken, ergriff mich die beunruhigende Erkenntnis, die weiter reicht als das Desaster im Nahen Osten: Die Welt ist bereits tief in eine Epoche eingetreten, in der die Wahrheit stirbt, eine Welt, in der jeder meint, sich selbst aussuchen zu können, an welche Fakten er glaubt und welche Wahrheit er leugnet. In einer Welt, in der jedes Video und jedes Bild gefälscht sein kann und sich keineswegs jeder, der sich in den sozialen Medien meldet, an ethische Grundsätze gebunden fühlt, verändert sich der Begriff Wahrheit grundlegend. Der Journalismus – der für mich immer heilig war – kämpft um seine Existenz. Die Welt tat sich nie schwerer damit, komplexe Geschichten zu bewältigen, für die es keine eindeutige Antwort, keine glatte Lösung gibt.

In den folgenden Monaten vertiefte ich mich in die Recherche. Mich beschäftigte, wie in Israel in den letzten Jahren die Demokratie erodierte und es deshalb seine Zukunft aufs Spiel setzt. Ich fühle mich wie vertrieben aus einem Land, das es nicht mehr gibt, und mein Schmerz um diese Heimat ist unermesslich.

Der Überraschungsangriff am 7. Oktober 2023 ist anders als andere Ereignisse, anders als frühere Terroranschläge oder Kriege. Und doch hat sich in den Monaten seither gezeigt, dass er uns viel über die Zukunft lehren kann, überall auf der Welt, und sogar über die Krise, die die freien Demokratien herausfordert. Ich hatte das tiefe Bedürfnis, diesen Tag zu dokumentieren. Da es so viele gab, die sogar unumstößliche Fakten leugneten, wusste ich bald, dass ich keine andere Wahl hatte, als auch die schier unerträglichen Bilder, die schrecklichen Ereignisse festzuhalten. Sie sind immer noch verstörend, aber ein Schlüssel zum Verständnis, auch wenn man die mentale Zerrüttung der ganzen Region begreifen will, die bekannten gegenseitigen Vorwürfe, die Traumata. Es ist nicht möglich, den Teufelskreis des Blutvergießens zu stoppen und zu einer Lösung des Konflikts zu gelangen, ohne die Geschichte in ihrer ganzen Komplexität zu kennen.

 

Ron Leshem, Anfang März 2024

1. Die Vernichtung der Besonnenheit

An diesem Mittwoch war meine Tante Orit Sabirski eine unter Tausenden jüdischer und muslimischer Frauen, die sich ganz in Weiß gekleidet am Strand von Neve Midbar am Toten Meer versammelt hatten. Die israelische Bewegung «Women Wage Peace» und ihre palästinensische Schwesterorganisation «Women of the Sun» hatten unzählige Friedensteppiche nebeneinander ausgebreitet – von Frauen aus fünf Kontinenten genähte Stoffquadrate. Im Zentrum der Fläche war ein Verhandlungstisch aufgebaut. Wir werden nicht weiter die Leichen unserer Kinder zählen, riefen sie dort in den Sonnenuntergang, die Berge von Edom im Königreich Jordanien und die Wüste Judäa im Blick, am niedrigsten Punkt der Erde. Und sie stimmten einen «Mothers’ call» an, eine Selbstverpflichtung, die Architektinnen eines neuen Versöhnungsentwurfs zu sein.

In der jüngeren Geschichte unseres Staates war es einer politischen Bewegung von Frauen schon einmal gelungen, einen Krieg zu beenden und eine Armee dazu zu bewegen, sich zurückzuziehen. Orit war auch dort, sie war überall, wo für Frieden und Menschenrechte gekämpft wurde, mal vergeblich, mal erfolgreich. Sie hatte lange Jahre als stellvertretende Personalleiterin eines renommierten Unternehmens gearbeitet und machte sich gleichzeitig einen Namen als Kunstkuratorin und Galeriegründerin. Später verlegte sie sich auf die spirituelle Begleitung von Palliativpatienten, und sie wurde Großmutter. Als ich Vater wurde, in der Spätphase der Coronapandemie, bat mich Orit, ich solle ihr versprechen, meinen mir angeborenen Pessimismus zu überwinden. Für die Kleine, beschwor sie mich: Hoffnung sei eine willentliche Handlung, sei wie ein Muskel – entscheide dich für den Optimismus. Ich erzählte ihr im Gegenzug, mein ganzes Leben schon gehe mir ein Satz des legendären Filmregisseurs Billy Wilder nach, der Deutschland gleich mit der Machtübernahme der Nazis verlassen hatte: Die Optimisten sterben gerade in den Gaskammern in Auschwitz, und die Pessimisten planschen in ihren Pools in Beverly Hills.

Wächst du als israelisches Kind auf, lehrt man dich, die Schlussfolgerung aus der Schoah sei, dass «wir keinen anderen Ort zum Leben haben. Es gibt keine andere Wahl, Juden werden nur hier sicher sein, in unserem eigenen Staat.» Ich jedoch hatte aus der Ermordung der sechs Millionen in Europa eine andere Schlussfolgerung für mich abgeleitet: Jeder Mensch muss sich immer fragen – hätte ich Deutschland und Europa rechtzeitig verlassen? Oder wäre ich geblieben, arglos und die Realität verdrängend? Ziehst du deine Kinder an einem unsicheren Ort groß, oder ist es an der Zeit, aufzubrechen, Ozeane zu überqueren und nach einem weniger gefährlichen Nest zu suchen, wo du deine Kleinen behütest? Als ich mich zusammen mit meinem Lebensgefährten entschied, Israel zu verlassen, zehn Jahre und drei Monate vor jenem Schabbat im letzten Oktober, und wir uns unser neues Zuhause in Boston errichteten, da wusste ich, wie sehr ich meine Großmutter enttäuschte und mit ihr die gesamte Gemeinschaft in Be’eri.

Orit wohnte, wie die ganze weitläufige Familie meiner Mutter, im Kibbuz Be’eri, dem Ort auf der Welt, dem ich meine magischsten Kindheitserinnerungen verdanke. In meiner Jugend war Be’eri ein Symbol für alles, was ich träumte zu sein – meine Altersgenossen dort waren Naturkinder, ihr Lächeln tiefer und befreiter als das von uns Städtern. Ihre Verbindung untereinander, als Freunde und Cousins, erschien mir intim, tief und sinnlich. Sie hatten ein Feuer der Erfüllung in sich, es loderte im Bestellen des Landes und in der gelebten sozialen Gerechtigkeit. Es handelte sich um eine politisch linksgerichtete Gemeinschaft, liberal, man war gegen die Besatzungspolitik und liebte zugleich Israel zutiefst. Benjamin Netanjahu, der Führer der Rechten, erhielt bei den letzten Wahlen im vergangenen Jahr nur drei Prozent aller Stimmen dort. Und auch das war noch zu viel für den Kibbuz. Be’eri war keine Siedlung, war nicht auf besetztem Land errichtet, obgleich in den Tagen danach viele auf der Welt den Kibbuz so bezeichnen würden, darauf beharrten, jeder Jude in Israel sei ein Kolonialist.

Am Freitagmittag war Orit wieder zu Hause. Feiertage standen an, und ihr Sohn Itai war aus Tel Aviv gekommen, um mit ihr, seinem Vater und seiner Großmutter das Wochenende zu verbringen, so wie es Dutzende von in der Stadt lebenden Kindern und Enkeln an jenem Freitag taten. In den Vierteln ringsum lebten viele meiner Verwandten und Freunde verstreut, und in dem kleinen Haus, von wo aus man auf den Friedhof des Kibbuz sowie auf ein Anemonen- und Mohnblumenfeld schaute, wohnte schon seit vierundsiebzig Jahren das Oberhaupt der Gemeinschaft, die siebenundneunzigjährige Aviva, zusammen mit ihrer liebevollen thailändischen Pflegerin Gracy, die längst zu einem Teil der Familie geworden war.

Am Samstagmorgen um halb sieben heulten die Sirenen, und Israels Ortschaften und Städte wurden von einem orchestrierten Überraschungsangriff getroffen, aus der Luft, vom Meer und an Land. Innerhalb von Sekunden war der Himmel bedeckt von Garben aus Tausenden Raketen und Geschossen, die von Gaza auf alle Landesteile Israels abgefeuert wurden. Drohnen warfen Sprengsätze und Handgranaten auf die Kameras des Grenzzauns ab und zerstörten sie. Dutzende von Paraglidern schwebten nach Israel ein, landeten auf Feldern und zwischen den Häusern. Palästinensische Kommandoboote stoben vom Meer heran. Schweres mechanisches Gerät riss an dreißig Punkten den Grenzzaun nieder, über eine Länge von sechzig Kilometern, und Hunderte von Fahrzeugen des Nukhba-Kommandos, der Hamas-Brigaden und des Islamischen Dschihad preschten auf die Ortschaften zu, die schwer bewaffneten Kämpfer auf den Ladeflächen ganz in Schwarz gekleidet, um den Kopf grüne Spruchbänder gebunden und «Allahu Akbar» brüllend. An Straßenkreuzungen legten kleine Einheiten Hinterhalte, um das Eintreffen von Rettungskräften oder die Flucht von Einwohnern zu verhindern.

Die Bewohner von Be’eri erwachten in einem irrealen Szenario: Kolonnen von Motorrädern kamen in Staubwolken angerast und umstellten den Kibbuz, gefolgt von Toyota-Pick-ups, beladen mit schweren Maschinengewehren, Antipanzerraketen und Granatwerfern, mit Hunderten von Sprengsätzen, Aerosolbomben und Funkausrüstungen. Mehr als einhundert Bewaffnete drangen aus drei verschiedenen Richtungen in den Kibbuz ein, sie verfügten über Landkarten und Luftaufnahmen, waren offenbar bestens vertraut mit den einzelnen Wohnvierteln, die sie voneinander trennten, um dann riesige Mengen von Munitionskisten, Sprengsätzen und Kamikazedrohnen abzuladen. Zuletzt verteilten sie sich auf die Hausdächer und warteten dort, ihre Maschinenpistolen und Gewehre im Anschlag. Andere hatten innerhalb von Minuten die Wachposten ermordet, sie wussten genau, wo der Sicherheitsoffizier des Kibbuz wohnte und wo die Waffen unter Verschluss gehalten wurden. Fünf Jahre lang hatten die Angreifer für diesen Moment trainiert, und obwohl die israelischen Nachrichtendienste von den Operationsplänen der Hamas bis ins kleinste Detail wussten, hatte niemand meine Familie gewarnt, hielt es niemand für nötig, die Ortsvorsteher zu informieren oder die Absicherung der Ortschaften zu verstärken. Denn Israels Regierung beharrte darauf, dass die Hamas es nicht wagen würde. Die Warnungen seien aus der Luft gegriffen.

Im Wohnviertel HaZaytim – das heißt «die Oliven» – verschanzten sich die Menschen in ihren Häusern, versperrten und verbarrikadierten Türen, die niemand in diesen landwirtschaftlichen Siedlungen sonst je abschloss. Orit und ihr Sohn Itai lagen eng beieinander unter einer Decke im Dunkeln und hielten uns in den nächsten Stunden, die eine Ewigkeit währten, über das Telefon mit Sprachnachrichten auf dem Laufenden. Sie riefen die Polizei an, um Hilfe zu erflehen, doch vergebens. Die Polizei antwortete nicht. An jenem Schabbat gab es keinen Staat – der Staat war wie ein Turm aus Sand in einer Staubwolke eingestürzt. Es gab keine Polizei, keine Armee, keine Generäle und keine politische Führung mehr. Nur Menschen, allein auf sich gestellt, einen ganzen Tag lang. Nicht eine der öffentlichen Institutionen funktionierte. Siebenundzwanzig landwirtschaftliche Siedlungen wurden preisgegeben, zwei ganze Städte und mehrere Tausend Feiernde auf zwei Musikfestivals. Ein Staat ließ seine Bürger im Stich und verriet sie. Israel trat in diesen Krieg in einer Phase, in der es zutiefst zerrissen von innerem Hass war, erschöpft von einem schwelenden Bürgerkrieg, der monatelang gewalttätig zu werden gedroht hatte, einem Bürgerkrieg zwischen rückwärtsgewandten, messianischen Populisten und ihren Gegnern, zwischen Religiösen und Säkularen, Endzeitideologen und Demokraten.

Von unserem Haus in Boston aus versuchten wir tief in der Nacht, Kontakt zu den Mitgliedern meiner Familie zu halten, von denen einer nach dem anderen nicht mehr zu erreichen war. Wir beteten, dass es nur an leeren Akkus lag, an einem zusammengebrochenen Stromnetz oder zerstörten Mobilfunkmasten. Gracy schickte uns ein Selfie von sich und der greisen Aviva, eng umschlungen im Bett mit einem warmherzigen Lächeln. Bald darauf schrieb sie: «Hilfe!» – «Viele Leute kommen ins Haus.» – «Was soll ich machen?» Avivas Enkel aus den umliegenden Straßen wären gewiss gekommen, um sie zu retten, hätten sie eine Chance gehabt oder wären sie bewaffnet gewesen. Doch Avivas kleines Haus, das nur aus einem Schlafraum und einem winzigen Wohnzimmer bestand, wurde von einem der Kommandeure der Hamas-Einheiten als Befehlszentrale in Beschlag genommen. Auf dem Rasen davor türmten sich schon bald Munitionskisten, während die siebenundneunzigjährige Greisin in ihrem Schaukelstuhl saß, vor sich einen Teller mit Obststücken, die Gracy geschnitten hatte. Gracy packte ihr auch eine Tasche mit Medikamenten, denn die Bewaffneten verkündeten, sie würden die beiden Frauen mit nach Gaza nehmen.

Dann wurde eine junge, schwer verwundete Mutter auf die Veranda des Hauses geschafft. Ihre zehn Monate alte Tochter war Augenblicke zuvor durch einen Kopfschuss ermordet worden, genau wie ihr Mann, und jetzt hielt sie ihre beiden verbliebenen Kinder im Arm. Später würde sie uns berichten, Aviva habe nicht aufgehört, vor sich hin zu plappern. Die Terroristen hätten mehrfach verlangt, sie solle ruhig sein, doch die demente Greisin habe das im nächsten Augenblick schon wieder vergessen. «Dieses endlose Plappern war es, das mich davor bewahrt hat, das Bewusstsein zu verlieren», sagte die Mutter. Ihr Sohn habe sich wegen des dichten Rauchs, den er in ihrem brennenden Haus eingeatmet hatte, übergeben müssen, und Aviva habe ihn beruhigt: «Nu, das macht doch nichts.» Dann seien immer mehr Nachbarn gefesselt auf dem Rasen vor dem Haus zusammengetrieben worden. Irgendwann hätten die Bewaffneten Gracy mitgenommen, ohne Erklärung, warum. Und sie wenig später ermordet. Aviva war ab da allein.

Vom anderen Ende des Kibbuz schrieb uns Orit: «Betet für uns», und bat, ehe sie schilderte, was sich dort abspielte, sicherzugehen, dass die Enkel nicht mithörten. «Draußen wird geschossen. Ich höre nur Arabisch. Entweder sind alle bei uns in der Straße tot, oder sie haben sie verschleppt.»

Wie bei der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl war auch hier ein ganzes Land in den darauffolgenden Stunden, Tagen und Wochen gelähmt von den Schreckensbildern. Und alle Israelis – Juden wie Muslime und Christen – nahmen den radioaktiven Niederschlag in Form von geschätzt sechzigtausend Videosequenzen in sich auf. Es ist der bis dato am besten dokumentierte Massenmord der Geschichte. Gefilmt von den GoPro-Kameras der Hamas, von Verkehrskameras auf Straßen und Überwachungskameras an Häusern, von Dashboard-Kameras in Fahrzeugen, Minikameras in Kindergärten und den Smartphones von Bürgern, die ihre letzten Augenblicke festhalten wollen, weil sie wissen, sie werden sterben. Mütter erhalten auf ihre Handys Bilder von der Hinrichtung ihrer Kinder, versehen mit «Goodbye»-Untertiteln, Väter entdecken im Internet Videoaufnahmen ihrer entführten Töchter, nur mit Slips bekleidet und blutbesudelt im Schritt, mit Männern, die sie schlagen und bespucken. Jugendliche flehen um ihr Leben und werden erschossen. Live auf Facebook, auf den Profilen der Opfer selbst dokumentieren die Henker die Misshandlungen. Köpfe werden abgeschlagen, unter Gesängen, frenetischem Jubel. Babys ihren Eltern aus den Händen gerissen. Eine Kindergärtnerin versucht, sich hinter einer Schlafmatte zu verstecken, doch dann ist zu sehen, wie Bewaffnete nach ihr suchen, sie erschießen und ihre Leiche fortschaffen. Busfahrer werden einfach so exekutiert, Panzerabwehrraketen auf Rettungswagen abgefeuert, Drohnen lassen Handgranaten fallen.

Während mehr und mehr Stimmen auf der ganzen Welt Zweifel an der Echtheit des Massakers anmelden oder sich jeglicher Empathie enthalten, ertrinken Israelis in Beweisen, klammern sich an ihr Wissen: das Bild der nackten Leiche einer jungen Frau, der man einen spitzen Gegenstand in den Unterleib gerammt hat. Drei Kinderköpfe, vom Rumpf getrennt. Ein Vater und eine Mutter neben ihren Kindern, allen sind die Hände gefesselt, dem Vater haben sie die Augen ausgestochen und der Mutter die Brust abgeschnitten, vor den Augen ihrer Kinder, ehe sich die Schlächter hinsetzten, um das Schabbatessen zu verspeisen, das auf die Familie gewartet hatte. Ein Vater, der nackt und gefesselt vor seine Familie gesetzt wird, bevor sie ihm sein Geschlechtsorgan abschneiden.

Durch den amerikanischen Geheimdienst verifizierte Beweise werden später belegen, dass Entmannungen und vorsätzliche Misshandlungen an Geschlechtsorganen keine spontanen Affekthandlungen waren, sondern von vorneherein geplant, um einen größtmöglichen Effekt der Erschütterung und Erniedrigung auf die israelische Gesellschaft zu erzielen. Kastration als ein Symbol für Eroberung und Unterwerfung. Andere dagegen wurden durch gezielte Schüsse in die Augen hingerichtet. Die Mörder machten Selfies mit den Leichen, dokumentierten, wie sie mit ihren Kampfstiefeln den Schädel eines ermordeten Jugendlichen zerstampften. Später sollten sie aussagen, auf Grundlage des Korans «juristisch» instruiert worden zu sein, sie sollten Schädel zertrümmern und innere Organe herausreißen. Ein Mädchen, dem die Hand abgetrennt worden war, und ein anderes, dem sie ein Bein abgeschlagen hatten. Kleine Leichname in Disney-Pyjamas. Eine vierundneunzigjährige Großmutter, die mit erstickter Stimme von den Misshandlungen bis zum Tod berichtete, die ihre Enkelin erlitten hatte, vor ihren Augen.

Über Kilometer dokumentierten Aufnahmen von Verkehrskameras die systematische Ermordung von Autofahrern. Ländliche Straßen, endlos Fahrzeuge mit Leichen. Eltern mit ihren Kindern, der Sohn fünf und die Tochter acht Jahre alt, die in ihrem Wagen auf dem Nachhauseweg von einem Campingausflug waren, werden hingerichtet. Ein anderes Elternpaar wird zwar lebend mit seinen dreijährigen Zwillingstöchtern entführt, in Gaza angekommen, entreißt man ihnen jedoch eines der Mädchen und übergibt es an eine Familie dort, allein, ohne Eltern. Vor laufender Handykamera verschleppen sieben Bewaffnete eine vierzigjährige Frau, die versucht hatte, sich in einem Kleiderschrank zu verstecken, prügeln auf sie ein und schleifen ihr mit letzter Kraft sich wehrendes Opfer an den Haaren über die Felder hinter sich her. Ein achtjähriges autistisches Mädchen wird zusammen mit seiner Großmutter ermordet. Genau wie eine hirngelähmte Sechzehnjährige, deren Vater sie mit unendlicher Hingabe versorgt, sie stets in seinen Armen gehalten und mit ihr getanzt, sie mit zu Konzerten genommen hatte. Und dort, auf dem Musikfestival, wird sie angeschossen, wird verletzt vom Ort des Massakers weggebracht, doch dann wird aus kürzester Distanz eine Panzerabwehrrakete auf den Rettungswagen abgefeuert.

Live auf Facebook filmen sich Kommandokämpfer der Hamas dabei, wie sie unter Waffenandrohung von einem Sechzehnjährigen und einer Zehnjährigen verlangen, die Nachbarn aus den Schutzräumen ihrer Häuser zu locken. Drohen, die Eltern der Kinder zu ermorden, wenn ihnen dies nicht gelingt. Oder als israelische Soldaten verkleidete Terroristen versuchen, sich als Retter auszugeben, etwas auf Hebräisch rufend. Eine Neunzigjährige wird aus dem Wohnzimmer ihres Hauses geschleift und aus nächster Nähe erschossen. Eltern sitzen mit zweien ihrer Kinder neben der Leiche ihrer achtzehnjährigen Tochter und warten bei laufender Kamera stundenlang darauf, dass die Terroristen über ihr Schicksal entscheiden.

Die Leichen der Ermordeten verminen sie mit Sprengstoff, um Helfer bei ihrem Eintreffen in die Luft zu sprengen. Auf unzähligen Handyvideos von dem Musikfestival, in einem Eukalyptushain südlich von Be’eri, sind scharenweise junge Leute zu sehen, die in mobilen, gegen Raketenangriffe gedachten Betonbunkern Schutz suchen. Hamas-Kämpfer kommen ins Bild, werfen Handgranaten ins Innere der Bunker, mähen Menschengruppen mit Maschinengewehrsalven nieder, werfen abermals Handgranaten. Zerren Überlebende auf Pick-ups, und einer der Kommandeure wählt immer wieder junge Frauen aus, greift sie sich aus der Gruppe von Geiseln und verfrachtet sie in sein Fahrzeug. «Sabaya», verkündet er – jener Begriff, den die Terroristen des Islamischen Staats für die von ihnen gehaltenen Sexsklavinnen verwendeten, mit denen sie auch Handel trieben. Die Leichen junger Frauen, deren Gefangennahme zuvor gefilmt worden war, werden später dokumentiert, nur noch mit Slip bekleidet, mit blutigem Schoß, gebrochenen Beinen und Becken, ihre Gesichter entstellt vor Schmerz, die Finger ihrer Hände im Tod verkrallt. Sechs Stunden lang kommt es auf dem Festivalgelände zu Gruppenvergewaltigungen. Mindestens eine junge Frau wird von Zivilisten, die überhaupt nicht zur Hamas gehören, auf einem Motorrad nach Gaza verschleppt.

Und doch finden sich schnell Influencerinnen, die ihren Millionen von Followern schreiben, die Hamas habe doch lediglich Verwundete von dem Festival zur medizinischen Versorgung in Krankenhäuser nach Gaza gebracht. Die dort Getöteten seien bei Feuergefechten mit der israelischen Armee ums Leben gekommen, ja, es sei gerade Israel, das unterdessen Palästinensern Organe heraustrenne. «It’s confirmed!», behaupten sie.

Die Israelis aber werden sich machtlos an jede Videoaufnahme klammern, an jedes Bild, werden sich verfolgt und unverstanden fühlen. Denn die Bewaffneten auf dem Festival machen Jagd auf ihre Opfer, die sich in Getränkekühlschränken versteckt haben, in Mülltonnen und Chemietoiletten, unter der Bühne und hinter den sich endlos stauenden Autos an der Ausfahrt oder auf der Flucht zu Fuß. Auf einem der Clips ist ein Kommandeur zu hören, wie er den Befehl erteilt, jeden nur mit einer Kugel zu töten, um keine Munition zu verschwenden. Auch die von den Opfern verschickten Sprachnachrichten hallen nach. Hamas-Männer hätten eine nackte junge Frau gepackt, sie im Stehen vergewaltigt, sie an den Haaren gezerrt und ihr dabei mit dem Messer die eine Brust abgetrennt, damit herumgespielt und sie schließlich auf die Straße geworfen.

347 Zivilisten wurden auf dem Festival ermordet und zwanzig Polizisten. Insgesamt etwa eintausend Leichen fanden sich innerhalb von Stunden über den gesamten Landstrich verteilt und dazu weitere annähernd zweihundert, die kaum mehr zu identifizieren waren. 139 Morde auf jede nur erdenkliche Art finden sich durch das Videomaterial dokumentiert, das später Journalisten vorgeführt wurde, doch dazu kommen noch Tausende weiterer Sequenzen, die auf Bitte der betroffenen Familien bei den Ermittlungsstellen unter Verschluss gehalten werden. Wenn ich den Vater eines kleinen Mädchens sehe, der panisch seine Tochter aus dem Wagen zieht, sie schützend an sich drückt und mit ihr losrennt, um ein Versteck zu finden, und die Bewaffneten ihm nachsetzen und wieder und wieder auf ihn schießen, bis er fällt, und seine Tochter aufsteht und alleine weiterflieht, kann ich nicht an mich halten und fange an zu recherchieren, wer das Mädchen ist und ob es überlebt hat. Um dann erneut mit der Freude der Schlächter konfrontiert zu sein.

Israel ertrank in Stimmen und Geräuschen, in Sprachnachrichten zum Abschied, im Flehen von Opfern, die verlangten, endlich umgebracht zu werden. Und andererseits in Lebenszeichen, im Weinen zehn Monate alter Zwillinge, die von ihren Eltern im Kleiderschrank versteckt worden waren und dort dreizehn Stunden überlebten, nachdem man ihre Eltern umgebracht hatte. Oder die Stimme eines kleinen Mädchens, das angeschnallt in seinem Kindersitz stundenlang hinten im Wagen blieb, während die Leichen seiner ermordeten Eltern auf den Vordersitzen lagen. Bald waren die sozialen Netzwerke voll von Menschen, deren Liebsten verschwunden waren.

Ziel des Terrors ist immer, unseren Glauben an die menschliche Natur zu vernichten. Millionen Israelis blickten in diesen brennenden Kernreaktor, wurden kontaminiert von der Radioaktivität einer Grausamkeit und Bestialität, die vermag, jede menschliche Seele zu verstrahlen, und nicht ohne Auswirkungen auf die Psyche und die Identität einer Gesellschaft bleiben kann. Ein toxischer Gefühlscocktail wurde gemixt – aus Angst, Ohnmacht, Frustration, Trauer, Hass und Zorn. Und Verzweiflung. Das Grauen vermag es, das Monströse aus einer Gesellschaft herauszuholen. Und dies ist kein Korken, der sich schon bald mit einem Knall lösen wird, das ist eine Lava, die wir über Jahre fließen sehen werden. In den darauffolgenden Wochen sollte ein ganzes Land wie bei einer grausamen, erschütternden Realityshow an den Bildschirmen hängen und das Schicksal von zweihundertvierzig Geiseln verfolgen. Eine ganze Nation sehnte die Rückkehr eines zehn Monate alten rothaarigen Säuglings herbei, der zusammen mit seinem vierjährigen Bruder entführt worden war, erlebte mit, wie sie auf dem Arm ihrer Mutter fortgeschafft wurden, und wartete jede Nacht, als es endlich ein Abkommen zur Freilassung der Kinder gab, auf ihre Rückkehr. Doch nach zwei Monaten sollte das Land eine Aufnahme aus der Gefangenschaft zu sehen bekommen, auf der der Vater der Kinder unter Tränen zusammenbricht, als die Entführer ihm mitteilen, seine Frau und seine Söhne seien nicht mehr am Leben. Wiederum zwei Monate später tauchte ein Video unbekannten Datums auf, in dem man die Mutter und die Kinder in Chan Yunis, Gaza, sieht, geführt von zwölf Männern. Eine Achterbahnfahrt, und niemand kennt die Wahrheit.

Heimat

Wie viel Leid, Schmerz und Gefühlsstürme Heimat bei einem Menschen wecken kann, darüber haben wir jahrelang gesprochen, mein Lebensgefährte und ich, zu Hause in Boston, doch nie hätten wir uns die Qualen ausmalen können, die nun gekommen sind. Eine zutiefst radikalisierte, polarisierte Gesellschaft versank in den Strudel von fünf Wahlen in weniger als vier Jahren, erlebte nicht nur einen Kampf zwischen liberal-demokratischer und religiös-messianischer Identität, sondern auch, je mehr Zeit verging und wie es in vielen anderen Staaten unserer Tage geschieht, zwischen einem hetzenden, chaotischen und marktschreierischen Populismus und einem immer stärker in die Defensive geratenden Realismus. Was verheerend für die nationale Psyche und jede Hoffnung war, nicht weniger desaströs aber für das Funktionieren öffentlicher Strukturen, die stark in Mitleidenschaft gezogen wurden.

In den neun Monaten vor dem Überraschungsangriff vom 7. Oktober sahen wir unsere Heimat sich verändern, mit atemberaubender Geschwindigkeit, wie sie niemand hätte voraussehen können. Verfehlungen und Irrtümer hatte es in Israel all die Jahre gegeben, das Land hatte in aller Regel jedoch immer nach einer humaneren und gerechteren Zukunft gestrebt, auch wenn es von Ängsten verfolgt und in einer Art posttraumatischer Störung gefangen war. Doch jetzt war die Heimat wie auf Steroiden, schien Amok zu laufen.

Tel Aviv, eine der liberalsten Städte der Welt, kämpfte gegen eine Koalition, die versuchte, nicht weniger als 225 Gesetze durchzupeitschen – mit dem Ziel, Menschenrechte einzuschränken, die Meinungsfreiheit und Unabhängigkeit der Justiz zu beeinträchtigen und eine missionarische Kontrolle über das Bildungswesen zu erlangen. Ich sah meine Mutter mit ihren neunundsiebzig Jahren fast jeden Tag demonstrieren und Straßen blockieren, im Glauben an die Kraft des zivilen Protests, um die Demokratie zu retten und nach Frieden zu streben, doch insgeheim war ich schon da der Auffassung, dass der Kampf verloren war. Israel rang mit um sich greifender Korruption, mit Ministern, die jede Scham verloren und eine Riesenorgie absurder, rein politisch motivierter Ernennungen gestartet hatten. Die Resultate der Fäulnis in allen Bereichen waren schnell zu spüren. Ein Staat ist sehr viel fragiler, als es von außen aussieht.

Auch das Verliebtsein in Boston, in unser neues Zuhause, löste sich mit der Zeit in Alltagsroutine auf, und ich fand mich irgendwann mit der Erkenntnis ab, dass ich auch hier für immer ein Emigrant sein und nirgendwo mehr ein Gefühl von Zugehörigkeit empfinden würde. Doch die Wurzellosigkeit fordert das Ihre, und so entwickelten wir für die Heimat jene Sehnsucht, wie sie Hinterbliebene kennen. Redeten uns ein, der Mensch sei seinem Wesen nach ein Sammler von Erlebnissen, er sei ein Glückspilz, wenn das Leben ihm beschert, die Meere zu überqueren. Auch wenn er sich am Ende entscheidet, in jenem Geviert von Straßen alt zu werden, in dem er als Kleinkind seine ersten Schritte gemacht hat, ist es gut für sein Bewusstsein, wenn er sich in der Welt umgetan und bewusst gewählt hat. Ich hatte mich bemüht, mich von der Heimat zu trennen, um zum Horizont zu blicken. Ihrer Vergehen war ich mir immer bewusst gewesen.

Radikalisierung

In den optimistischen Neunzigerjahren, als eine ganze Reihe von Friedensabkommen zwischen den Palästinensern und Israel unterzeichnet wurde, wurde ich mit Anfang zwanzig Geheimdienstoffizier, und meine Aufgabe lag darin, Informationen zusammenzutragen, die helfen sollten, die Verhandlungen nicht scheitern zu lassen; Dinge, die die roten Linien verstehen ließen, auf die sich die andere Seite, auch wenn sie derweil noch Nein sagte, zugunsten eines Kompromisses würde einlassen können, und umgekehrt, was die Gespräche zu platzen drohen ließe. Das bedeutete vor allem, Mythen freizulegen und falsche Vorstellungen zu zertrümmern, die jede Seite über die andere pflegte und die Vertrauen verhinderten.

Auf den Straßen dagegen setzten Extremisten beider Seiten alles daran, jeden Frieden zu sabotieren, der für sie Verzicht bedeutet hätte – die Hamas startete eine Welle von Selbstmordattentaten gegen Zivilisten und die israelische Rechte eine Hetzkampagne, die letztendlich zur Ermordung von Jitzchak Rabin führte, Israels Premierminister, der an der Spitze der Friedensbemühungen stand. Die Verhandlungen aber dauerten noch weitere fünf Jahre an, Israel zog sich aus allen Städten des Westjordanlandes zurück, und die neue palästinensische Selbstverwaltung errichtete dort Sicherheits-, Polizei- und Nachrichtendienstapparate. Auf dem Verhandlungstisch verblieben waren die Frage der Zukunft der palästinensischen Flüchtlinge, der Status Jerusalems und die Proklamation eines palästinensischen Staates. Als die Verhandlungen ein letztes Mal endgültig scheiterten, im Januar 2001, war ich ebenfalls dabei, diesmal als Journalist.

In jenen Jahren, in denen Fotorohmaterial von Anschlagsorten und Kriegsschauplätzen meinen Schreibtisch bedeckte und mir die Leichen von Kindern auf jedem Bild begegneten, lag meine Aufgabe als Nachrichtenredakteur darin, meine Leser eben davor zu schützen. Was mich letztendlich flüchten ließ. Flüchten in das Verfassen von Romanen, das Schreiben von Fiktion, wo alles Böse sich nicht in solch willkürlicher Banalität ereignet wie die Grausamkeiten im wirklichen Leben. Die Charaktere entwickeln sich, lernen dazu. Wut, Liebe, Verlust, Mitleid, Begehren – sie alle folgen einer Struktur von Recht und Ordnung, gehorchen dem Aufbau des Dramas und entschädigen uns im Moment der Wahrheit für unsere Beharrlichkeit, bringen den Helden zu einem Abschluss, einer emotionalen Transformation. Die Existenz ist in der Fiktion sehr viel leichter als im wirklichen Leben, und hier war es mir möglich, zu korrigieren und zu verbessern. Aus der Vogelperspektive, mit dem Blick eines Engels darauf, wer wir zu sein anstreben und was wir hätten sein können.

Anfangs jedoch war ich noch unterwegs, um nach wahren Geschichten zu suchen. Ich schlief nachts auf Bodenmatten, auf beiden Seiten des Krieges, mal bei einer palästinensischen Familie und mal bei einer jüdischen. Versuchte unterwegs mit Soldaten im Schützenpanzer verzweifelt, meine todmüden Augen offen zu halten, marschierte zwischen Olivenbäumen und dem grünen Neonlicht der Moscheen, zum Ruf des Muezzins morgens um vier. Es ist eine bekannte, irrige Suchterscheinung: zu glauben, dass, wenn man nicht jede Opfergeschichte irgendwo da draußen kennt und sie berücksichtigt, ja, wenn man nur für eine Sekunde den Griff um Wirklichkeit und Geschichte lockert, die Welt einstürzt.

Abends in meinem Schlafsack tauchte ich damals in die Lektüre des wundervollen palästinensischen Autors Elias Khoury ein, der in Beirut lebt, und je mehr ich – durch seine Stimme – vom Schmerz dieses Landes erfuhr, wusste ich: Es kann nicht sein, dass es keine Lösung für den Konflikt gibt, denn wir sind einander so ähnlich, das israelische Schicksal und das palästinensische sind derart ineinander verschlungen, dass man schon von ein und derselben, freilich zutiefst gespaltenen Persönlichkeit sprechen kann. Khourys Bücher waren mir ein Beweis, dass Literatur beiden Seiten Trost spenden kann. Sie ist auch der einzige Ort, an dem wir einen Dialog mit den Toten führen.

Die zweite Intifada jedoch, gewissermaßen der palästinensische Unabhängigkeitskrieg nach dem Scheitern der Verhandlungen, lieferte gleich zu Beginn Bilder einer aufgepeitschten Menge, die zwei israelische Soldaten, die sich in ihrem Privatwagen verfahren haben, gefangen nimmt, ihnen die Augen aussticht, ihnen die Organe aus dem Leib reißt und sie vor laufenden Kameras zum frenetischen Jubel des Mobs durch die Luft schwenkt. In Hebron erschoss ein Scharfschütze ein zehn Monate altes jüdisches Baby, das schlafend im Kinderwagen lag, nur weil seine Eltern Siedler waren. «Ihr habt Kampfflugzeuge und Panzer, wir nicht», bekam ich in Ramallah gesagt. «Das Morden zielt gar nicht auf die Toten, der Zweck ist, die Lebenden in Angst zu versetzen. Daher sind wir gezwungen, den Tod zu verherrlichen.»

Das Leben in Israels Städten, inmitten von Autobussen und Cafés, die bei Selbstmordattentaten in die Luft flogen, ließ nicht nur die militärischen Reaktionen immer härter ausfallen, sondern auch die Chance schwinden, die Israelis noch von einem Frieden zu überzeugen. Auf der anderen Seite wuchs eine neue Generation palästinensischer Kinder heran, die Israel nur noch kennenlernte als Armee, die mitten in der Nacht in Häuser eindrang, die immer neue Durchsuchungs- und Verhaftungswellen startete, die ihre Großmütter und Mütter erniedrigenden Leibesvisitationen an den Checkpoints unterzog, die einen zwang, dort stundenlang in endlosen Schlangen zu warten, die Ausgangssperren verhängte und Angst erzeugte.

Ich fuhr damals immer in einem gepanzerten, kugelsicheren Wagen nach Ramallah zu meinem Freund, einem palästinensischen Meinungsforscher. Dort saßen wir in seinem gemütlichen Wohnzimmer, nur einen Steinwurf entfernt vom Amtssitz des palästinensischen Rais, Jassir Arafat. «Es besteht Hoffnung», sagte mir mein Meinungsforscherfreund. «Die Mehrheit des Volkes wird einem Kompromiss zustimmen, auch jetzt noch.» Um dann mit einem Anflug von Resignation einzuschränken: «Wegen der jungen Leute sollten wir uns aber wirklich Sorgen machen.»

Der Journalismus ermöglichte es mir unter anderem, den Gazastreifen direkt kennenzulernen und palästinensische Freunde zu gewinnen. So war ich auch 2005 dort, als Israel sich bis auf den letzten Millimeter zurückzog und insgesamt einundzwanzig Siedlungen räumte. Meine Freunde vor Ort waren gemäßigte Muslime, Anhänger der palästinensischen Nationalbewegung. Kurze Zeit nach dem Abzug der israelischen Streitkräfte verloren sie bei den Wahlen gegen die Hamas, eine fundamentalistische, panislamische Bewegung. Doch der Hamas genügte der Wahlsieg nicht, sie riss die Macht auch militärisch an sich, brachte Oppositionelle um und rächte sich an den Gemäßigten.

Baha Baalusha war ein säkularer Verwaltungsfachmann. Nachdem der militärische Arm der Hamas ihn mehrfach erfolglos zu liquidieren versucht hatte, wurde entschieden, seine drei Kinder zu ermorden. Der Wagen, in dem die Drei-, Sechs- und Neunjährigen saßen, wurde von zweihundertvierzig Kugeln durchsiebt, vor den Augen ihres Vaters, der die Hinrichtung aus dem Fenster verfolgte. Das ist die Hamas.

Ihre Anführer stritten ab, die Absicht zu haben, den Gazastreifen in ein islamisches Kalifat zu verwandeln, doch innerhalb von zwei Jahren schon war die Talibanisierung tief eingesickert. Was als Verbot für Frauen begonnen hatte, Motorrad zu fahren oder in der Öffentlichkeit zu tanzen, fand seine Fortsetzung in sogenannten «Keuschheitspatrouillen», in gewalttätigen Razzien gegen Sportzentren, die nicht streng auf eine Trennung von Mädchen und Jungen achteten, in Versuchen der Justiz, die Bewegungsfreiheit von Frauen unter Berufung auf die Scharia stark einzuschränken, in brutalen Durchsuchungen von Geschäften, die sich im Besitz von Christen befanden, einschließlich der Verbrennung Tausender christlicher Bücher und eines strikten Verbots, Weihnachten zu feiern.

UN-Berichte dokumentierten das Schicksal von Homosexuellen, die bestialische Folterungen durch die Hamas-Polizei erlitten, über Tage an einem Haken an der Decke hängend geschlagen und unter Todesandrohungen gezwungen wurden, andere Homosexuelle zu denunzieren. Viele von ihnen wurden für Jahre weggesperrt. Der Iran, der Erkenntnissen des deutschen Nachrichtendiensts zufolge in den vergangenen Jahren in größerem Umfang Homosexuelle hinrichten ließ – es heißt, seit der Islamischen Revolution seien zwischen vier- und sechstausend Homosexuelle getötet worden –, ist der Patron der Hamas. Queere Menschen auf der ganzen Welt sollten, ganz nebenbei bemerkt, nach dem 7. Oktober eine der Gruppierungen sein, welche die Hamas am deutlichsten als Freiheitsbewegung anerkannten.

Unter der Hamas wurde Gaza zu einem Gebiet mit eigener Armee und eigener Administration, mit Milliarden Dollar Aufbau- und Reparationshilfe aus Katar und der ganzen Welt und mit starker, allgegenwärtiger iranischer Präsenz. Der Gazastreifen hat zwei Landgrenzübergänge, zu Ägypten und zu Israel, doch das dort rasant angehäufte Waffenarsenal und die immer wieder proklamierte Absicht der Hamas, den jüdischen Staat zu vernichten, hatte Israel bewogen, den Gazastreifen daran zu hindern, diese eigenständig kontrollieren zu können und einen eigenen Flug- und Seehafen zu betreiben – was letztlich die Rede vom «Größten Gefängnis der Welt» und «Ghetto Gaza» gebar.

Ich habe mein ganzes Leben gegen die Besetzung gekämpft. Doch es ist nicht leicht, sich als Friedensaktivist zu engagieren, wenn einem ein fundamentalistisches Regime gegenübersteht oder ein Opponent, der sich der Scharia unterwirft. Die Fähigkeit, an solche Partner zu glauben, kollidiert regelmäßig mit deren eigenen Verlautbarungen. Zutiefst frustriert aber war ich, als mir irgendwann bewusst wurde, dass es ausgerechnet Israels Regierungschef Netanjahu und mit ihm der gesamten Rechten durchaus gelegen kam, dass sich in Gaza eine Terrororganisation an der Macht befand und eben nicht die Fatah, die «Bewegung zur nationalen Befreiung Palästinas». Denn solange dies der Fall war, drängte die Welt Israel nicht, Fortschritte bei den Verhandlungen für einen Frieden zu erzielen. Kurzum, die Hamas war für die Rechten ein Faustpfand. So sagte Netanjahu etwa 2019: «Wer die Errichtung eines palästinensischen Staates verhindern will, muss sich für eine Stärkung der Hamas einsetzen und es Katar ermöglichen, Gelder an die Hamas zu transferieren. Das ist Teil unserer Strategie, die Palästinenser in Gaza von den Palästinensern im Westjordanland zu trennen.»

Als liberaler, im Nahen Osten geborener schwuler Mann habe ich mich jahrelang mit Gesellschaften beschäftigt, die etwa Homosexuelle an Baukränen aufhängen oder sie von Hausdächern werfen und die Frauen mit aller Grausamkeit unterdrücken, aber dennoch in den Genuss kommen, auf der Bühne der Vereinten Nationen zu stehen und innerhalb der Völkerfamilie als akzeptable Partner betrachtet zu werden. Vor allem habe ich mich mit den inneren Prozessen befasst, die islamistische Gesellschaften zu solchen werden lassen, und mit der Frage nach der Chance für eine Erhebung dagegen und Gesundung von innen heraus.

Der Beginn des 21. Jahrhunderts zeichnet sich durch ein Erstarken des politischen Islams und das Auftreten radikaler islamistischer Gruppierungen in den meisten Weltgegenden aus. Die Verwirklichung der maqasid ash-shari’a (der Zielsetzungen des islamischen Rechts) bringt zwar in aller Regel Gesellschaften nicht dazu, der Untreue beschuldigte Frauen zu Tode steinigen zu lassen. Dies mag zwar mitunter dem Gesetz nach erlaubt sein, wird aber nicht praktiziert, oder wenn, dann in ländlichen Regionen, fernab der öffentlichen Wahrnehmung; und zuweilen ist es wohl auch nur das ultimative Streben von Predigern eines radikalen Islams nach dem fernen, zukünftigen Tag, an dem die Scharia in ihrer ganzen Heiligkeit Anwendung finden wird. Zahlreich finden sich jedoch muslimische Gesellschaften, in denen das Leben von Frauen, die Sex vor der Ehe hatten, nichts mehr zählt. Zumeist sind es ihre eigenen Angehörigen, die sie umbringen, als gesellschaftlicher Brauch sozusagen, «um der Familienehre wegen». Auch ist dem Mann dort nach dem Gesetz erlaubt, seine Frau zu schlagen, während es ihr verboten ist, außerhalb der Stadt Auto zu fahren, wenn sie nicht von einem männlichen Aufpasser begleitet wird. Hält sie sich nicht an die Kleidervorschriften, kann sie geschlagen und eingesperrt werden. Einige dieser Staaten verbieten Frauen den Schulbesuch, da ihre Aufgabe lediglich darin bestehen soll, zu gebären und im Haus zu dienen. Mädchen, die darauf beharren, weiter zur Schule zu gehen, werden ermordet.

Linke sehen in Margaret Atwoods Roman Der Report der Magd gern ein abschreckendes Beispiel für alles, was uns, Gott bewahre, von der Rechten droht, zeigen sich erschüttert von den dystopischen Bildern auf der Mattscheibe. Sie scheinen zu vergessen, dass jede noch so entsetzliche Einzelheit, die im Buch oder in der darauf basierenden Fernsehserie geschieht, keine finstere Zukunftsvision ist, sondern in vielen Staaten schon heute Realität. Ja, meine linken Mitstreiter betonen vor allem den historischen Anteil des Westens an gesellschaftlichen Prozessen, die zum Aufstieg der Fundamentalisten führten: Die Verfehlungen des Westens hätten zum Beispiel zum Erstarken der Taliban beigetragen, jenen Taliban, die Frauen und Mädchen alle nur möglichen Rechte absprechen. Doch muss der Westen deshalb in ihrem Schreckensregime eine legitime, souveräne Herrschaft sehen, eine kulturelle Wahl, die einer Nation freisteht?

Das Bemerkenswerte ist, dass solche religiösen Führer dazu neigen, mit Verve und in aller Offenheit ihre Absichten kundzutun, während wir Liberalen die Tendenz haben, diese abzuwiegeln und darauf zu beharren, es handle sich um bloße Rhetorik, das sei religiöse Kasuistik zur Aufstachelung der Massen und reine Theorie, die der jeweilige religiöse Würdenträger so nicht meine. Doch so, wie sie sich für die Todesstrafe für Homosexuelle aussprechen, rufen sie auch dazu auf, Frauen, die nicht Musliminnen sind, zu Sexsklavinnen zu machen oder Glaubensfeinden den Kopf abzuschlagen. Ja, die Vorschriften des religiösen Rechts erlaubten den Terror der Selbstmordattentäter.

Und doch unterscheidet sich die Hamas vom Islamischen Staat. Sie hatte ihren Ursprung in wohltätigen Vereinen, erwuchs aus gemeinnützigen Kliniken und Armenküchen, ehe sie die politische Sphäre betrat. Von daher ist sie in den Herzen der Bevölkerung verwurzelt und hat versucht, auch die Säkularen für sich zu gewinnen, anders als der IS, der noch jeden Muslim, der nicht betete, abschlachten ließ. Aber ihre erklärte Ideologie, welche nach einer islamischen Hegemonie strebt, die frei ist von Juden und Christen und sich erstreckt von Katar bis Beirut und von Gaza bis Teheran, ist eine islamofaschistische, die für eine mörderische ethnische Säuberung in Form der Vernichtung Israels eintritt.

Die Entscheidung, am 7. Oktober das Wüten des IS nachzuahmen, war folglich eine ganz bewusste. Sie stützte sich auf eine junge Generation in Gaza, die von radikalislamistischen Strömungen beeinflusst ist, sodass, sollte es die Hamas tatsächlich irgendwann nicht mehr geben, dort noch extremistischere Akteure zu erwachsen drohen, wie es in Somalia, im Jemen, im Sudan und in anderen zerfallenden Staaten schon geschieht.

Im Jahr 2013, ein Jahrzehnt vor dem 7. Oktober, wurde in Syrien die amerikanische Menschenrechtsaktivistin Kayla Mueller vom IS verschleppt und achtzehn Monate lang vom damaligen Führer des IS, Abu Bakr al-Baghdadi, als Sexsklavin gehalten, wurde von seinen Männern vergewaltigt und gefoltert. Der IS ließ seinen Kämpfern Rechtsurteile ausdrucken, die eine Vergewaltigung erbeuteter Frauen erlaubten, von Mädchen, die zum Teil nicht älter als vierzehn Jahre waren, genauso wie den Weiterverkauf Hunderter junger Nichtmusliminnen als Sklavinnen. Al-Baghdadi ist schon nicht mehr am Leben, er beging Selbstmord, als die Amerikaner seinen Wohnsitz stürmten, doch nicht, ohne mit seinem Sprengstoffgürtel seine Kinder mit in den Tod zu nehmen.

Wenn die Mehrheit der jungen Menschen in den USA, wie Umfragen zeigen, nicht glaubt, dass es Vergewaltigungen im Namen des Fundamentalismus gegeben hat, nicht glaubt, dass Köpfe abgeschlagen wurden, und darauf beharrt, dies sei eine israelische Erfindung, dann resultiert dies nicht nur aus der Unkenntnis einer gerade mal zehn Jahre zurückliegenden Geschichte, sondern vor allem aus der Selbstdarstellung der Hamas als Befreiungs- und Freiheitsorganisation, die hier offenbar verfängt.

Da wir auf der Linken uns zumeist versagen, Kritik an Minderheitsgruppen und Kulturen zu äußern, und schweigen, als könnte jeder Wert an sich heilig sein, und nicht selbstgewiss auf die Werte der Aufklärung pochen, ignorieren wir echte Probleme. Und dieses Wegschauen überlässt das Feld den Faschisten, bis es den Anschein hat, als befassten allein sie sich mit dem Problem. Die Öffentlichkeit schenkt immer demjenigen Gehör, der etwas anprangert.

Verlust

An jenem Schabbat, dem Beginn des Simchat-Thora-Festes, ging die Hamas in unserer Gemeinschaft in Be’eri von einem Haus zum nächsten. Wenn sich eine Familie weigerte, die Tür des Schutzraums zu öffnen, brachen die Terroristen draußen ein Auto auf, holten das Reserverad aus dem Kofferraum und schleppten es brennend ins Wohnzimmer, um die Eingeschlossenen auszuräuchern und sie so zum Herauskommen zu zwingen. In anderen Häusern rissen sie mit einer Traktorschaufel Außenwände ein. Oder warfen Handgranaten ins Haus, die alle Familienmitglieder töteten.

Um fünf Uhr am Nachmittag entschied die greise Aviva, die da schon ihre Pflegerin Gracy verloren hatte, zu Fuß loszugehen. Sie stand einfach aus ihrem Schaukelstuhl auf, stützte sich auf ihren Rollator und wanderte, ohne Brille, zum anderen Ende des Kibbuz. Später würde sie sagen, dass sie sich an absolute Stille erinnert, eine Blase aus Geräuschlosigkeit, was daran lag, dass sie ihr Hörgerät nicht dabeihatte. Jemand, dem es gelungen war, mit dem Auto zu entkommen, wollte sie mitnehmen, nach Tel Aviv. Doch Aviva weigerte sich zu fahren, ohne etwas über den Rest ihrer Familie zu wissen. Unsere Verwandten und Freunde, zu denen der Kontakt abgebrochen war, konnten wir bald nur noch auf den Hamas-Kanälen des Messengerdienstes Telegram suchen, unter den Entführten und Getöteten, die dort gezeigt wurden. Und du verstehst erst, wie klein ein Staat ist, wenn ein Unglück zu viele deiner Bekannten trifft, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben. Als ich das Drehbuch für die Serie Euphoria schrieb, hatte mich Elkana Bohbot zur Figur des Nate inspiriert, ein siebzehnjähriger Badboy, ein ultramaskuliner, charmanter Macho, innerlich jedoch zerrissen. Ich war verstört, auf Telegram Videoaufnahmen zu entdecken, die ihn mit gefesselten Händen, unbekleidet, geschlagen und vollkommen verängstigt zeigten. Anscheinend war er auf dem Musikfestival entführt worden.

Etwas weiter nördlich, im Kibbuz Kfar Aza, gelang es meinem lieben Kollegen, dem Fotografen und Filmemacher Ro’i Idan, gegen 6:40 Uhr zu filmen, wie die Motorgleiter der Hamas beinahe beschaulich über ihn hinwegzogen. Ro’i war Naturfilmer, Starenschwärme und schäumende Flussläufe in der Wüste waren seine bevorzugten Motive, und außerdem Videokünstler, ehe er Fotograf in der Nachrichtenredaktion wurde, für die ich schrieb. Als die Motorgleiter im Sinkflug zur Landung ansetzten, schickte Ro’i noch eine Meldung an die Nachrichtenredaktion und eilte nach Hause zu seiner Familie. Sein Haus war eines der ersten, in die die Terroristen eindrangen. Sie schossen seiner Frau Smadar in den Kopf. Ro’i sagte seinem neunjährigen Sohn und seiner sechsjährigen Tochter, sie sollten sich im Schutzraum im Schrank verstecken. Die Jüngste, die dreijährige Avigail, zog er aus ihrem Bett, presste sie an sich und versuchte, sie zu schützen, als auch er erschossen wurde. Die kleine Avigail, die mit ansehen musste, wie ihre beiden Eltern ermordet wurden, rannte, beschmiert mit dem Blut ihres Vaters, in den Garten und wurde ganz allein nach Gaza verschleppt. Ihre älteren Geschwister blieben die nächsten vierzehn Stunden in dem Schrank, während die Leiche ihrer Mutter dort vor ihnen im Raum lag.