Als wir von Schönheit träumten - Ines Thorn - E-Book
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Als wir von Schönheit träumten E-Book

Ines Thorn

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Beschreibung

Zwei Schwestern und der Traum, die Modewelt zu erobern.

Leipzig, 1959: Annekathrin möchte Fotografin werden, Hanka Modedesignerin. Doch nicht nur die Stoffe, aus denen die Schwestern ihre Kleider nähen, sind in der DDR knapp, sondern auch die Möglichkeiten, ihre Träume zu verwirklichen. Dann wird die Gründerin der Modezeitschrift »Sibylle« auf Annekathrins Bilder aufmerksam und Hanka wird als Mannequin entdeckt. Während Hanka sich in ein Leben vor der Kamera und in eine Affäre mit dem Redakteur Hartmut stürzt, muss Annekathrin eine Entscheidung fällen: Kind oder Karriere? 

Kenntnisreich und authentisch erzählt Bestsellerautorin Ines Thorn von dem Weg zweier junger Frauen in der Modebranche der Sechziger.

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Seitenzahl: 389

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Über das Buch

Leipzig, 1959: Einst ging die Hautevolee der Stadt im Maßatelier Salomon ein und aus, doch seitdem es kaum Knöpfe, Reißverschlüsse und nur Stoffe aus Zell- anstatt Baumwolle gibt, kommt immer weniger Kundschaft vorbei. Dass Hanka, die wie ihre Eltern „Nadeln im Blut“ hat, einmal das Atelier übernehmen wird, scheint nahezu ausgeschlossen. Dennoch entwirft sie unermüdlich ihre eigenen Kleider und träumt von Paris und davon, sich einen Namen als Modedesignerin zu machen. Ihre ältere Schwester Annekathrin hingegen möchte Fotografin werden. Als Sibylle Gerstner, Gründerin der angesagtesten Modezeitschrift der DDR, bei einer Ausstellung Annekathrins Bilder entdeckt und Hanka als Mannequin anwirbt, scheint sich das Schicksal der beiden Schwestern zu fügen. Doch dann stellt Annekathrin fest, dass sie schwanger ist, und Hanka verliebt sich Hals über Kopf in den verheirateten Moderedakteur Hartmut. 

Über Ines Thorn

Ines Thorn wurde 1964 in Leipzig geboren. Nach einer Lehre als Buchhändlerin studierte sie Germanistik, Slawistik und Kulturphilosophie. Sie lebt und arbeitet in Frankfurt am Main.

Als Aufbau Taschenbuch sind lieferbar: „Die Walfängerin“, „Die Strandräuberin“ sowie „Ein Stern über Sylt“, „Ein Weihnachtslicht über Sylt“ und „Der Horizont der Freiheit“. Bei Rütten & Loening ist zudem erschienen „Die Bilder unseres Lebens“.

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Ines Thorn

Als wir von Schönheit träumten

Roman

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Erster Teil — 1959–1964

Kapitel 1: 1959

Kapitel 2: 1959

Kapitel 3: 1959

Kapitel 4: 1960 bis 1962

Kapitel 5: 1962

Kapitel 6: 1962

Kapitel 7: 1962

Kapitel 8: 1963

Kapitel 9: 1964

Kapitel 10: 1964

Kapitel 11: 1964

Kapitel 12: 1964

Zweiter Teil — 1964–1967

Kapitel 13: 1964

Kapitel 14: 1965

Kapitel 15: 1965

Kapitel 16: 1965

Kapitel 17: 1965

Kapitel 18: 1966

Kapitel 19: 1966

Kapitel 20: 1966

Kapitel 21: 1966

Kapitel 22: 1966

Kapitel 23: 1967

Kapitel 24: 1967

Kapitel 25: 1967

Kapitel 26: 1967

Kapitel 27: 1967

Kapitel 28: 1967 bis 1969

Dritter Teil — 1970–1971

Kapitel 29: 1970

Kapitel 30: 1970

Kapitel 31: 1970

Kapitel 32: 1970

Kapitel 33: 1970

Kapitel 34: 1971

Kapitel 35: 1971

Impressum

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Erster Teil

1959–1964

Kapitel 1

1959

Frau Hempel warf den Kopf in den Nacken. »Sie haben wohl vergessen, wer ich bin?«

Rudi Salomon unterdrückte ein Seufzen. »Natürlich habe ich das nicht, gnädige Frau. Ihr Mann sitzt im Stadtrat und ist für die Versorgung der Bürger zuständig. Trotzdem bekommen wir kaum noch Stoff, weil wir nicht in der Produktionsgenossenschaft des Handwerks sind. Sie könnten sich aber selbst den Stoff besorgen, den Sie gern möchten, und wir nähen Ihnen das Kostüm.«

Frau Hempel runzelte die Stirn. »Und nähen Sie mir dann auch das, was ich möchte?«

»Selbstverständlich.«

»Ich möchte nämlich ein Kostüm, wie es sie im Westen gibt. Und in Paris natürlich. Dior hat die ›Neue Mode‹ kreiert, das weiß ich von meiner Schwägerin aus München. Seine Entwürfe sind das A und O in Paris.«

Elli Salomon, Rudis Frau, blickte von ihrer Nähmaschine auf. »Was sagt denn Ihr Mann dazu, wenn Sie sich pariserisch anziehen? Der ist doch ein hohes Tier in der Partei.«

»Was soll der schon sagen? In unserer Familie pflegt jeder seine eigenen Vorlieben.«

»Aha.« Elli beugte sich wieder über die Nähmaschine, damit Frau Hempel ihr Grinsen nicht sah.

»Krieg ich nun mein Kostüm?«

»Wenn Sie den Stoff besorgen. Und vielleicht auch gleich noch die Knöpfe.«

Frau Hempel verzog den Mund. »Wenn ich das alles machen soll, kann ich es auch gleich selbst nähen.«

Darauf erwiderte Rudi Salomon nichts, obwohl er einige Antworten parat gehabt hätte.

»Na gut, aber nach dem Pariser Schnitt.«

»Liebe gnädige Frau Hempel, wo sollen wir denn diesen Schnitt herbekommen? Den gibt es nur im Westen. Bei Burda wahrscheinlich.«

»Was sind Sie denn für ein Maßatelier? Keinen Stoff, keine Knöpfe und noch nicht einmal einen Schnitt!«

»Ein sozialistisches Maßatelier sind wir«, erwiderte Rudi gelassen und sah aus dem Augenwinkel, wie seine Frau den Kopf noch tiefer sinken ließ, damit Frau Hempel ihr Kichern nicht bemerkte.

Aber schon wandte sich Frau Hempel ab, verließ das Atelier, nicht ohne die Tür ins Schloss zu pfeffern.

Elli tauchte wieder auf, ihre Augen funkelten. »Ein sozialistisches Maßatelier. Ich dachte, ich müsste mich totlachen.«

»Mal im Ernst, Elli. Sollten wir nicht auch in die Produktionsgenossenschaft eintreten?«, wollte Rudi wissen.

»Auf gar keinen Fall. Das Maßatelier Salomon gibt es seit vier Generationen. Gut, bis 1946 war es in der Innenstadt. Beste Lage. Wir hatten über zwanzig Angestellte und immer die schönsten Stoffe und Schnitte.«

»Und sieh uns jetzt an. Wir hocken in einem Hinterhof, von der Straße aus nicht zu sehen. Wir haben nur noch eine Angestellte, die bald in Rente geht. Wir bekommen die schlechtesten Stoffe, kaum noch Reißverschlüsse und Nahtband, kein Seidenfutter, und die Schnitte, Herrgott, die sehen alle aus wie Kolchosenkittel. Die Kunden laufen uns davon, und ich kann sie sogar verstehen.«

Elli seufzte. Ihre Heiterkeit war verflogen. »Das weiß ich doch alles. Aber dein Vater würde wie ein Brummkreisel im Grab rotieren, wenn er das wüsste. Und deine Mutter erst! Sie war die bestangezogene Frau in ganz Leipzig, an Eleganz nicht zu überbieten.«

»Doch. Eine hat sie überboten. Du nämlich.«

Elli lächelte. »Lieb, dass du das sagst. Aber den Standard werde ich wohl nicht mehr lange halten können.«

»Und wenn ich mal zum Hempel ins Rathaus gehe?«

»Der wird nichts ausrichten können. So viel hat er da sicher auch nicht zu melden.« Elli schüttelte den Kopf.

»Wenn man seiner Frau so zuhört, dann tanzen im Rathaus alle nach seiner Pfeife.«

»Ach, denk doch nur mal an früher. Da hat seine Frau in einer Wäscherei gearbeitet. Und der Hempel selbst! Bürstenmacher war er. Weißt du noch, wie er das erste Mal bei uns war, um sich einen Anzug anmessen zu lassen? Das war kurz nach dem Krieg. Ende 45 oder Anfang 46. Er wollte eine Weste mit fünf Knöpfen, dabei weiß jeder Mensch, dass eine Weste drei oder höchstens vier Knöpfe hat. Dann hat sich herausgestellt, dass er an seiner Arbeitsjacke fünf Knöpfe hatte und eben daran gewöhnt war. Na ja, du hast ihn ordentlich ausstaffiert; er hat eine gute Figur gemacht in dem Anzug. Das Futter war aus Ballonseide, das weiß ich noch.«

»Und wenn du zu ihm gehst? Er mag dich. Er hat sogar ein bisschen mit dir geflirtet.« Rudi lächelte.

»Einen Versuch ist es wohl wert.« Elli erhob sich und heftete zwei Stoffstücke an die Modellpuppe. »Am besten mache ich mich gleich auf den Weg.«

Sie nahm zwei Stecknadeln aus dem Mund – das Sprechen mit Nadeln im Mund war kein Problem für sie, das Sprechen überhaupt war kein Problem – und steckte sie in das Kissen, das sie am Handgelenk trug und nun auf den Arbeitstisch legte. Sie zog ihre Kostümjacke an, die Handschuhe, setzte einen kleinen Hut auf, nahm ihre Handtasche und küsste ihren Mann. »Ich beeile mich. Wenn die Mädchen aus der Schule kommen, sollen sie ihre Hausaufgaben machen. Womöglich mache ich nämlich noch einen kleinen Stadtbummel.«

Rudi blickte seiner eleganten Frau hinterher, wie sie durch den Hinterhof ging, den Angestellten der Heißmangel nebenan winkte. Er seufzte. Sie hat Besseres verdient, dachte er.

***

Hanka saß in der Schule und langweilte sich. Wie immer im Staatsbürgerkundeunterricht. Stets ging es um den Krieg und um die tapferen Antifaschisten und ihre Gegner. Als ob im Osten alle guten und im Westen alle schlechten Menschen leben würden. Sie zeichnete an den Rand ihres Lehrbuchs ein paar Entwürfe für ein Kleid, das sie sich gerade ausgedacht hatte. Oben eng mit einer schmalen Taille und unten mit einem wadenlangen fließenden Rock. Dazu einen Carmenkragen und am Saum rot eingefasst. Sie überlegte gerade, woher sie den Stoff für solch ein Kleid bekommen würde, als Herr Bänsch, der Lehrer, sie aufrief. »Nun, Hanka, was sagst du dazu?«

Hanka schrak auf. »Wozu?«

»Zu meiner Frage. Wie würdest du sie beantworten?«

Hanka spürte, wie sie rot wurde. Hinter ihr kicherten ein paar Klassenkameraden. »Könnten Sie die Frage bitte noch einmal wiederholen?«

»Warum? Spreche ich so undeutlich, oder hast du nicht zugehört?«

Zähneknirschend gab sie zu: »Ich habe nicht zugehört.«

»Also gut: Welche Vorteile hat die Planwirtschaft gegenüber der Marktwirtschaft?«

»In … in der … in der Planwirtschaft werden die Ressourcen gerechter verteilt«, stammelte Hanka.

Herr Bänsch nickte. »Das Argument ist neu, aber nicht falsch. Weitere Vorteile?«

Hanka schluckte. Sie wusste, dass sie im Staatsbürgerkundeunterricht besser aufpassen musste. Ihre Note stand auf der Kippe. »Wenn alles geplant ist, gibt es keine Überraschungen«, fügte sie hinzu. »Dann müssen unsere Werktätigen keine Überstunden leisten, dann ist das Angebot in den Geschäften immer gleich gut.«

Alle in der Klasse wussten natürlich, dass das Unsinn war. In den Geschäften gab es regelmäßig und verlässlich nicht das, was gerade gebraucht wurde. Und die Werktätigen leisteten zuweilen Überstunden und hatten dafür an anderen Tagen gar nichts zu tun, weil es an Material fehlte. Ob das im kapitalistischen Westen auch so war, das wusste Hanka nicht.

»Du denkst sehr pragmatisch, Hanka, das gefällt mir. Trotzdem sind das nicht die Antworten, die ich hören wollte. Was sagen die anderen?«

Er ließ seinen Blick über die Klasse schweifen und rief dann Sibylle Scheuer auf, die immer alles wusste. Und schon schwafelte Sibylle etwas von der Herrschaft über die Produktionsmittel und von kapitalistischer Ausbeuterei. Hanka dachte neidvoll an Annekathrin, ihre Schwester, die den ganzen Schulstress schon bald hinter sich haben würde.

Annekathrin stand auf dem Schulhof und biss in ihr Pausenbrot. Leberwurst mit einer Scheibe saurer Gurke obendrauf. Sie hielt Ausschau nach Hanka, weil sie ihren Schlüssel vergessen hatte und deshalb mit Hanka nach der Schule nach Hause gehen wollte. Und da entdeckte sie auch schon ihre Schwester. Ganz in Gedanken versunken, hin und wieder angerempelt von anderen Schülern, ging sie auf die alte Linde zu, die mitten im Schulhof stand.

»Hanka!«, rief sie und sah, wie ihre Schwester den Kopf hob. Hanka winkte und stand schon bald neben Annekathrin. »Hast du den Rock gesehen, den Gabriele Schmaus heute anhat? Garantiert aus dem Westen.«

Annekathrin nickte. Natürlich hatte sie den Rock gesehen. Das Interesse an Mode lag in der Familie, und in jeder Pause führte sie ihre Studien durch. »Hab ich. Aber ich habe auch Susanne Hilfers Bluse gesehen. Wahrscheinlich selbst genäht. Mit Abnähern und allem. Ich werde sie nachher mal nach dem Schnitt fragen.«

»Den gibt sie dir niemals«, vermutete Hanka. »Zumindest wäre sie schön blöd, denn dann hätte nächste Woche die halbe Schule so eine Bluse.«

»Hast recht.« Annekathrin seufzte. Dann fragte sie nach dem Hausschlüssel, verabredete sich mit der Schwester nach dem Unterricht am Schultor und schlenderte dann hinüber zu den Mädchen aus ihrer Klasse, die sich tuschelnd und kichernd unterhielten.

***

Eleonore Salomon landete in einem ewig langen Flur im Neuen Rathaus in der Lotterstraße. Neben ihr wartete ein halbes Dutzend Leute. »Wollen Sie alle zu Herrn Hempel?«, fragte sie freundlich. Die Leute nickten. Eine ältere Frau mit roten Wangen sagte: »Nicht, dass das was nützen würde. Aber man will ja nichts unversucht lassen.«

Elli setzte sich. »Ach, haben Sie auch Probleme mit der Versorgung?«

»Wer nicht? Alle Lebensmittel sind knapp. Wir haben eine Metzgerei, wissen Sie, schon in der vierten Generation. Das Fleisch, das wir bekommen, reicht hinten und vorne nicht. Wir müssen die Leute wegschicken. Wären wir eine Konsumverkaufsstelle, hätten wir es leichter, aber wir waren immer selbstständig.«

»Ich habe eine Gärtnerei«, mischte sich ein junger Mann ein. »Aber Pflanzen gibt es keine, sind alle ausverkauft. Saatkartoffeln gehen am besten. Jeder, der ein Stück Land hat, baut selbst Gemüse an.«

Elli nickte. Sie hatten einen Schrebergarten, der eigentlich ihren Eltern gehörte. Aber jetzt zog sie dort Zwiebeln und Salat, Kohlrabi und Möhren.

Über eine Stunde musste sie warten, bis man sie endlich in das Büro von Helmut Hempel vorließ. »Guten Tag«, grüßte sie freundlich.

Hempel erhob sich und kam Elli entgegen. »Schön, Sie zu sehen, Frau Salomon.«

»Was haben Sie denn mit Ihrer Krawatte gemacht?«, wollte Elli wissen.

»Der Knoten ist aufgegangen, und ich habe ihn nicht wieder hingekriegt.«

»Darf ich?« Elli löste den Binder und band Hempel einen ordentlichen Windsorknoten.

»Danke.« Er betrachtete sich in einem kleinen Spiegel, der über einem Waschbecken hing. »So gut saß der Knoten bei mir noch nie.«

»Das bringt die Erfahrung.«

Hempel deutete auf einen Stuhl. »Was führt Sie zu mir?«

»Ihre Gattin.«

»Meine Frau?«

»Sie möchte ein neues Kostüm. Aber weil wir nicht in der Produktionsgenossenschaft sind, bekommen wir keine Stoffe. Was sollen wir jetzt tun?«

Hempel seufzte. »Alle, die zu mir kommen, wollen etwas. Aber ich kann mir weder Fleisch noch Kartoffeln und schon gar nicht Stoffe aus den Rippen schneiden. Wo soll ich das Zeug denn hernehmen?«

Darauf wusste auch Elli keine Antwort.

Hempel blickte sie an, fummelte an seinem Krawattenknoten.

»Nicht!«, rief Elli. »So geht er doch gleich wieder auf.«

Hempel ließ erschrocken die Hand sinken.

»Es gibt Stoffe. Die PGHs haben welche. Nur wir Privaten nicht.«

»Wir haben Vorgaben. Im Januar ist der zweite Fünfjahresplan in Kraft getreten. An den müssen wir uns um jeden Preis halten. Die Plankommission in Berlin hat errechnet, welchen Bedarf jeder Industriezweig hat. Das gilt natürlich auch für die Textilindustrie und zwangsläufig für die Abteilung Handel und Versorgung. Die PGHs haben Vorrang, weil sie am ›Sozialistischen Wettbewerb‹ teilnehmen. Da kann ich nichts machen.«

Elli erhob sich. »Tja, lieber Herr Hempel, dann müssen wir das Ihrer Frau wohl so ausrichten.«

Hempel seufzte gequält. »Was will sie denn für Stoff?«

»Gute Baumwolle. Tuchstoff.«

Hempel schüttelte den Kopf. »Baumwolle geht nicht. Dafür müssen wir Westgeld bezahlen. Ich könnte Ihnen Zellwolle geben.«

Elli verzog den Mund. Zellwolle war weiß Gott nicht für ein Kostüm geeignet. Sie wusste jetzt schon, dass es an Stellen Falten schlagen würde, an denen keine sein sollten. »Haben Sie nichts anderes?«

»Nein. Ich bedaure. Und ich kann auch keinen Stoff für meine Frau abzweigen. Wenn das herauskäme, müsste ich mich vor den Genossen verantworten.«

»Dann bitte Zellwolle in Schwarz.«

»Der ist auch aus. Im ganzen Bezirk. Rot habe ich noch, da hatten wir noch Reste aus der Nazizeit.«

»Ein rotes Kostüm für Ihre Frau?« Elli sah ihn ungläubig an.

»Was soll ich denn machen? Sagen Sie ihr einfach, das trägt man jetzt in Paris so, dann wird sie auch ein rotes Kostüm wollen.«

Elli nickte. »Und Knöpfe.«

»Sie brauchen auch noch Knöpfe?«

»Ja.«

»Wie viele Knöpfe hat denn so ein Kostüm?«

»Meistens vier. Und manchmal noch ein paar an den Ärmeln dazu. Und einen Ersatzknopf, falls mal einer verloren geht.«

Hempel seufzte wieder, und Elli sah, welch schwere Last er für die gesamte Stadt auf seinen Schultern trug.

»Lassen Sie das mit den Knöpfen. Ich kümmere mich selbst darum.«

Dankbar blickte Hempel sie an. »Wenn Sie in der PGH wären, dann könnte ich, aber so? Private Unternehmen sind überholt. Die sozialistische Produktionsgenossenschaft und die volkseigenen Betriebe sind die Wirtschaftsformen unserer neuen Zeit.«

Elli nickte, lächelte noch einmal und verabschiedete sich dann. Draußen auf dem Gang atmete sie tief durch. Herr Hempel, sosehr sie ihn mochte, war mit seiner Aufgabe überfordert. Das ging den meisten so, die hier im Rathaus saßen. Die alten Mitarbeiter, die Mitglied in der NSDAP gewesen waren, hatte man gleich nach Kriegsende entlassen. Danach hatte es erheblichen Personalmangel gegeben. Etliche Männer waren noch nicht aus der Gefangenschaft zurückgekehrt, und überdies wollte man echte Sozialisten auf den Posten haben. So wurde der kommunistische Bürstenmacher Hempel kurzerhand zum Stadtrat.

Elli verließ das Rathaus und stromerte durch die Petersstraße. Sie gelangte zum Centrum-Warenhaus und blieb stehen. Sie glaubte nicht, dass es dort etwas gab, was sie brauchen konnte, aber als gelernte Bürgerin der DDR trug sie nicht nur stets einen Einkaufsbeutel bei sich, sondern ging auch nie an einem Geschäft vorüber, ohne wenigstens in die Auslagen zu schauen. Es könnte ja sein, dass es ausgerechnet jetzt und hier gutes Bier, Bettwäsche, Tomatensoße oder sonst was gab, wonach man sonst verzweifelt, und meist vergebens, suchen musste.

Im Erdgeschoss stand eine größere Gruppe von Frauen um einen Wühltisch. Elli trat näher. Schlüpfer. Es gab heute Damenschlüpfer. Sie hatte genug davon, aber ihre zwei Töchter wuchsen so schnell, sie hatten bestimmt welche nötig. Sie drängelte sich an den Tisch, suchte nach den richtigen Größen, wurde von der Frau neben ihr angerempelt, während eine andere ihr die letzten Schlüpfer in Hankas Größe vor der Nase wegschnappte.

Elli zuckte mit den Schultern und begab sich in den ersten Stock zur Damenkonfektion. Sie erblickte ein französisches Kostüm, das man ohne Bluse unter der Jacke trug. Der wadenlange Rock sollte eigentlich weit fallen, aber auf dem Bügel wirkte er eher schlapp. Sie nahm den Stoff zwischen Daumen und Zeigefinger und rieb ein wenig. Auf der Stelle bildeten sich Knitter. Das Tuch war viel zu leicht für das Kostüm, befand sie und ging weiter. Auf einem Ständer hingen die ersten Sommerkleider. Elli nahm einen Bügel mit einem rot-weiß gepunkteten Kleid von der Stange und hielt es sich an. Auch hier fand sie den Stoff zu dünn, doch mit Bügelstärke würde es vielleicht gehen. So gut wie ihre selbst genähten Kleider war es jedoch lange nicht. Elli schlenderte weiter bis zur Abteilung Miederwaren und Nachtwäsche. Da hing ein bodenlanges Perlonnachthemd mit Spitzeneinsatz. Elli betrachtete es von vorn und von hinten. Annekathrin, ihre ältere Tochter, würde im Sommer die Schule abschließen und brauchte für die Abschlussfeier ein Ballkleid. Das würde ihr Elli natürlich nähen, aber da es keine Spitze gab, würde das Perlonnachthemd dafür herhalten müssen, obwohl es so teuer war.

Elli ging zur Kasse, bezahlte 32 DDR-Mark und verließ die Abteilung, fuhr mit der Rolltreppe hinauf in den dritten Stock zu den Stoffen. Die Ballen prangten grau, dunkelblau und schlammgrün im Regal. Elli befühlte sie und erkannte auf der Stelle, dass sie aus Zellwolle hergestellt waren. Zellwolle konnte bei Nässe reißen. Jeder Regenguss war gefährlich und jede Wäsche ebenso. Ansonsten war der Stoff nicht schlecht. Elli würde wegen seiner hohen Saugfähigkeit Tischdecken daraus schneidern. Das klang wie ein Widerspruch, aber die Tischdecken waren ja nicht für die Ewigkeit bestimmt. Sie hatte noch gute Leinentücher mit Lochstickerei. Die legte sie nur bei besonderen Gelegenheiten auf den Tisch. Für den Alltag musste die Zellwolle reichen.

Plötzlich erschien eine Verkäuferin mit einem Ballen Tweedstoff.

»Kann man den kaufen?«, wollte Elli eilig wissen.

»Natürlich kann man«, raunzte die Verkäuferin. Und dann geschah etwas, das Elli schon oft erlebt hatte, aber wofür sie keine Erklärung hatte. Von allen Seiten strömten die Frauen herbei. Woher wissen die, dass die Verkäuferin gerade jetzt den Tweed zum Verkauf bringt?, überlegte Elli, aber dann musste sie ihre Ellenbogen einsetzen, um nicht weggedrängt zu werden.

»Ich nehme zehn Meter«, erklärte sie laut.

»Es gibt pro Person nur drei Meter.« Die Verkäuferin rollte den Ballen aus, maß drei Meter ab und schnitt den Stoff. Hinter ihr tuschelte es aus etlichen Mündern: »Drei Meter pro Person.«

Eine Frau rief nach ihrer kleinen Tochter, stellte sie vor sich. »Sechs Meter bekomme ich, wir sind zwei Personen.«

Unmut wurde laut, die Ersten begannen zu schimpfen: »Das nächste Mal bringe ich die ganze Familie mit. So geht’s aber nicht. Drei Meter pro Familie.«

»Woher wollen Sie denn wissen, wie groß meine Familie ist?«, entgegnete eine andere Frau kampflustig. »Ich habe sechs Geschwister.«

Jetzt langte es der Verkäuferin: »Jeder, der über den Ladentisch gucken kann, bekommt drei Meter.«

Die Frau hob ihre kleine Tochter hoch, und wie es weiterging, erfuhr Elli nicht mehr, denn sie verließ mit ihrem Tweedstoff unter dem Arm das Kaufhaus.

Sie schlenderte über den Markt, dabei fiel ihr ein, dass sie gar nicht nach Knöpfen geschaut hatte. Am Bahnhof stieg sie in die Straßenbahn, warf zwanzig Pfennige in den Fahrscheinautomaten, drehte an einer Kurbel und riss ein Billett ab. Sie fuhr mit der Linie 1 über den Klingerweg bis in den Stadtteil Schleußig, stieg aus und begab sich in die Brockhausstraße. Vor einem Zeitungskiosk blieb sie stehen. Eine Zeitschrift lag dort aus, eine, die sonst immer vergriffen war und die man sich innerhalb des Freundeskreises nur widerwillig auslieh. »Sibylle« hieß sie.

»Ich hätte gern eine ›Sibylle‹.«

Die Verkäuferin strich beinahe zärtlich über das Papier. »Ist wieder toll geworden. Die Mode ist phänomenal. Und über Kultur ist auch etwas dabei. Für die moderne Frau.«

»Wie kommt es, dass Sie heute noch eine haben? Sonst ist sie doch regelmäßig nach ein paar Stunden ausverkauft.«

»Die Ersten werden schon im Urlaub sein, denke ich. Es ist die beste Zeitschrift, die unsere DDR hat. Meine Meinung jedenfalls.«

»Das mag wohl sein. Geben Sie mir bitte auch noch eine ›Modische Maschen‹ und eine ›Leipziger Volkszeitung‹.«

Mit ihren Schätzen ging Elli fröhlich nach Hause. Sie freute sich, die Modezeitschrift ergattert zu haben. Ihr gefielen nicht nur die darin vorgestellten Modelle, von denen man kein einziges im Handel kaufen konnte. Sie erfreute sich auch an den tollen Fotostrecken und den Berichten über außergewöhnliche Frauen. Aber als sie nur noch drei Häuser von ihrem Heim entfernt war, blieb sie stehen. Das Haus, vor dem sie innehielt, beherbergte noch bis vor Kurzem eine Putzmacherei. Sie hatte die Inhaberin gut gekannt und alle ihre Hüte bei ihr gekauft, aber vor ein paar Wochen war Lenchen Schwarz in den Westen gegangen. So wie viele, die sie kannte.

Ihre gute Laune war wie weggewischt. Dann dachte sie auch noch an das frühere Maßatelier Salomon, das weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannt gewesen war. »Eine Schande ist es, wie sie die Privaten behandeln«, schimpfte sie vor sich hin. »Es ist wirklich kein Wunder, dass so viele in den Westen gehen.«

Kapitel 2

1959

Sie hörte schon im Treppenhaus, dass ihre Töchter zu Hause waren. »Rock Around the Clock« von Bill Haley & His Comets erschallte. Elli seufzte, schloss die Wohnungstür auf und stürmte direkt in das Zimmer der Mädchen. »Macht die Musik aus!«, schrie sie, um den Lärm zu übertönen. »Sofort. Sonst setzt es was vom Watschenbaum!«

Hanka erhob sich und stellte das Radio aus. »Wir haben doch nur Musik gehört«, maulte sie. Und Annekathrin fügte hinzu: »Wir sind jung. Wir lieben Musik. Und jeder, der das nicht versteht, ist ein Spießer!«

Annekathrin würde bald sechzehn Jahre alt werden und war die meiste Zeit auf Krawall gebürstet. Die vierzehnjährige Hanka war nur wenig friedlicher.

»Es geht hier nicht um eure Jugend, es geht darum, dass ihr Westradio hört. Und das auch noch laut! Ihr wisst genau, dass Herr Ohlmann wahrscheinlich bei der Stasi ist. Also hört leise die verbotenen Westsender. Die Ostmusik könnt ihr meinetwegen aufdrehen.«

»Der Ohlmann hängt bestimmt sowieso den ganzen Tag mit dem Ohr an der Wand und lauscht«, moserte Annekathrin. »Zu dumm, dass er unser Nachbar ist.«

»Wenn es nicht Herr Ohlmann wäre, dann wäre es jemand anderes«, erklärte Elli. »Ist euer Vater schon zu Hause?«

Hanka schüttelte den Kopf. »Er muss noch eine Hose umsäumen, dann kommt er, hat er gesagt.«

Elli eilte in die Küche. Hanka und Annekathrin hatten in der Schule zu Mittag gegessen. 2,75 Mark pro Woche für insgesamt fünf Mahlzeiten und noch einmal eine Mark für fünf Milchtüten, das war nicht nur günstig, sondern ersparte Elli auch sehr viel Arbeit. Nicht immer war das Essen nach dem Geschmack ihrer Töchter, vor allem wenn es Graupensuppe gab oder Piepen und Lappen, wie die Leipziger zum Kutteleintopf sagten. Aber meist war das Mittagbrot nahrhaft und schmeckte. Rudi und sie aßen zu Mittag meist Bemmen, belegte Brote, und am Abend etwas Schnelles.

Heute hatte Elli vier Koteletts beim Fleischer erwischt und würde sie rasch braten, Eier darüber, und fertig war die Mahlzeit.

Sie nahm gerade das Fleisch aus der Pfanne, als Rudi nach Hause kam. Er wusch sich die Hände und setzte sich an den Abendbrottisch, den die Mädchen gedeckt hatten. Auf dem Tisch standen außerdem ein Glas selbst gemachte Leberwurst von einer dankbaren Kundin, ein Stück weißer Käse, ein Schälchen Kräuterquark, dazu ein paar rohe Möhren und Äpfel und natürlich ein aufgeschnittenes Mischbrot, 3 Pfund zu 78 Pfennigen.

Hanka nahm sich eine Scheibe Brot und bestrich sie dünn mit Margarine, während Annekathrins Teller leer blieb.

»Was ist mit dir? Warum isst du nichts?«, wollte Elli wissen.

»Ich habe keinen Hunger«, erklärte Annekathrin, aber sie klang missmutig.

»Wieso hast du keinen Hunger?«

»Eben so. Weil ich nichts essen will.«

»Die Begründung überzeugt mich nicht.«

Annekathrin schwieg, und Elli schaute fragend zu Hanka.

»Einer aus ihrer Klasse hat gesagt, sie hätte einen dicken Hintern«, half Hanka weiter.

»Und deshalb isst du nichts?« Elli schüttelte den Kopf.

»Das verstehst du nicht!« Elli sah, wie Annekathrins Augen sich mit Tränen füllten. Von einer ausgelassenen Mahlzeit wird sie nicht sterben, dachte Elli und drängte ihre Tochter nicht weiter, nahm sich aber vor, in den nächsten Tagen mit ihr zu sprechen. Einen dicken Hintern! Woher denn? Butter hatten sie seit Ewigkeiten nicht mehr gegessen, von Kuchen und Schokolade ganz zu schweigen, wenn nicht gerade mal ein Westpaket von Ellis Schwester Betty eingetroffen war.

Nach dem Abendbrot halfen die Mädchen beim Abwaschen, dann gingen sie in ihr gemeinsames Zimmer, und Elli setzte sich zu Rudi in die Wohnstube.

Rudi las in der »Leipziger Volkszeitung«, und Elli war dabei, ein Stück Borte zu besticken, als sie plötzlich die Handarbeit sinken ließ. »Es geht so nicht mehr weiter«, sagte sie kopfschüttelnd.

Rudi sah von seiner Zeitung auf. »Was sollen wir denn machen?« Er wusste sofort, wovon seine Frau sprach.

Elli seufzte. »Am liebsten würde ich auch in den Westen gehen. Zu Betty nach Frankfurt. Aber wir können meine Eltern nicht im Stich lassen. Mit Mutters Hüfte wird es nicht besser, und wie Vater ist, seit er aus der Gefangenschaft heimgekommen ist, weißt du so gut wie ich. Letzte Woche hat er nur zehn Sätze mit meiner Mutter gesprochen, hat sie mir erzählt.«

»Schweigsamkeit ist nicht immer schlecht«, warf Rudi ein.

»Ja, aber doch nicht so! Mein Gott, wenn ich an früher denke. Keine Feier ohne Meier. Er hat gesungen und Witze erzählt. Er hat getanzt und gelacht.«

»Ja, das waren wahrhaft andere Zeiten«, erwiderte Rudi. »Vielleicht sollten wir doch noch einmal über die PGH nachdenken.«

»Unsere Unabhängigkeit aufgeben?« Elli schüttelte den Kopf. »Nähen nach Plan? Keine eigenen Entwürfe? Früher hast du ganze Kollektionen hergestellt. Deine Kleider wurden auf Modenschauen gezeigt. Die Hautevolee von Leipzig stand Schlange bei dir.«

»Die Zeiten ändern sich eben.«

»Das heißt aber nicht, dass wir uns ändern müssen.« Elli schob die Unterlippe ein wenig vor.

»Doch, Elli. Genau das heißt es. Du bist nicht zufrieden, ich bin es nicht. Die Leute wissen, dass wir keine Stoffe haben. Sie lassen sich Röcke kürzen und Hosen säumen. Mehr nicht. Wir sind von einem Maßatelier zu einer Änderungsschneiderei abgestiegen. Ich möchte endlich wieder das machen, was ich am besten kann: Anzüge und Kostüme schneidern, Kleider entwerfen.«

»Und du bist sicher, dass du das in einer PGH kannst? Du denkst, du wärst freier dort? Nein, mein Lieber. Da heißt es: diesen Monat zehn Hosen, nächsten Monat zehn Kostümjacken, übernächsten achtzig rote Fahnen für den Tag der Republik.«

Rudi lachte über die roten Fahnen. »So weit wird es nicht kommen. Auch die Republik will sich modisch kleiden. Wir werden wieder so arbeiten können wie zuvor.«

Elli seufzte. Es gab noch mehr, was für die PGH stand: geregelter Lohn und nicht wie jetzt ewig darauf hoffen, dass am Monatsende etwas übrig blieb. Bezahlter Urlaub, freie Wochenenden und pünktliche Feierabende. Sie hätten wieder mehr Zeit für sich. Sie hätten weniger Sorgen. Aber sie wären unfrei.

Als hätte Rudi ihre Gedanken gelesen, sagte er plötzlich: »Die PGH bietet uns mehr Freiheiten. Wir sind nicht mehr abhängig von Kunden und Aufträgen, von Stofflieferungen und Knöpfen. Es gäbe kein Gefeilsche mehr. Denk nur an Frau Hempel, an den Mantel, den wir im Winter für sie schneidern sollten. Schwarz, mit weißem Kragen und Armaufschlägen. In A-Linie, wie in Paris. Du hast den Schnitt erst herstellen müssen. Das hat Zeit gekostet. Und als Frau Hempel dann diese Zeit nicht bezahlen wollte – ›Es ist doch nicht meine Schuld, dass Sie so etwas nicht auch ohne Schnitt hinkriegen‹ –, haben wir gerade mal für ein Butterbrot gearbeitet.«

»Du hast ja recht«, gab Elli zu und biss mit den Zähnen einen Faden der Stickerei ab. »Und trotzdem! Die PGH widerstrebt mir so. Wenn es wieder genug Stoffe zu kaufen gibt, geht es uns auch besser.«

»Wenn …«

Elli seufzte. »Jetzt haben wir Mai. Lass uns noch ein Jahr warten. Wenn sich bis dahin nichts geändert hat, gehen wir in die PGH.«

Rudi legte die Zeitung auf den Tisch und nahm Ellis Hand. »Du weißt, wie sehr ich dich liebe, oder? Aber wenn du unbedingt in den Westen gehen möchtest, dann tun wir das.«

Elli schüttelte den Kopf. »Meine Eltern.«

»Es muss ja nicht gleich sein. Nach ihrem Tod vielleicht.«

»Nein, so will ich nicht denken. Sie sollen hundert Jahre alt werden.«

»Dann machen wir es so, wie du vorgeschlagen hast. Wenn wir weiterhin weder Schnitte noch anderes Zubehör bekommen, wenn der Stoff so knapp bleibt wie jetzt, dass wir die Wünsche unserer Kunden nicht erfüllen können, dann reden wir erneut. Und, Elli, es geht nicht nur um deine Eltern, wir müssen auch an unsere beiden Töchter denken.«

Elli seufzte. Das war es ja gerade. Was sollte aus ihnen mal werden? Studieren konnten sie sicher nicht, denn die wenigen Studienplätze waren den Arbeiter- und Bauernkindern vorbehalten. Rudi hatte zwar die Lehrerlaubnis zur praktischen Ausbildung von Lehrlingen, aber Annekathrin würde niemals Schneiderin werden wollen. Sie hatte andere Hobbys, auch wenn sie wie Elli ein Gespür für Visuelles hatte. Bei Hanka dagegen sah die Sache ein wenig anders aus. Sie nähte, wann immer sie Zeit dafür fand. Und sie entwarf Klamotten für sich. Andere, als Elli entworfen hätte, aber sie stellte sich dabei recht geschickt an. Doch wenn sie ihre jüngste Tochter tatsächlich zu einer Maßschneiderin ausbilden würden, was geschah danach? Hanka müsste in eine PGH eintreten. Und ob sie dort so arbeiten konnte, wie sie wollte, das stand in den Sternen. Im Westen dagegen war alles möglich. Sie hatte von der Nachbarin gehört, dass Lenchen Schwarz bereits ein neues Hutgeschäft in Bad Hersfeld aufgemacht hatte.

Kapitel 3

1959

Annekathrins Kleid war ein Traum. Rudi hatte es für seine Tochter entworfen. Allerdings hatte Elli den Rocksaum von wadenlang auf mini gekürzt. Am Hals von einem runden Kragen gehalten, fiel das ärmellose Kleid in zahlreichen Plisseefalten bis zur Mitte der Oberschenkel. Es war aus weißer Brillantseide, und Annekathrin gefiel es so gut, dass sie verkündete, darin eines Tages auch heiraten zu wollen. Rudi hatte sich ein wenig über die Länge, nein, vielmehr die Kürze des Kleides beschwert, aber seine drei Frauen überstimmten ihn lautstark.

»Papa!«, hatte Annekathrin ausgerufen. »Wadenlang trägt kein Mensch mehr. Nur noch alte Frauen. Eine neue Zeit bricht an. Rock ’n’ Roll.«

»Beim Rock ’n’ Roll reichen die Kleider mit den weitschwingenden Röcken bis zum Knie«, erklärte Rudi grummelnd. »Diesen Mini da, den haben noch nicht mal alle Mädchen im Westen. Du wirst auffallen damit.«

Hankas Blick verriet, dass sie ein kleines bisschen neidisch war auf das Kleid ihrer Schwester.

Annekathrin warf ihre langen Haare über die Schulter. »Ich habe einen Ruf zu verlieren. Ich war immer die modernste in der Klasse.«

Hanka nickte bekräftigend, aber gegen ein Minikleid für sie erhob Rudi noch stärkeren Einspruch. »Mini ist etwas für junge Frauen. Du bist noch ein Kind. Sei froh, wenn ich dich nicht in einen Matrosenanzug stecke.«

»Papa!« Hankas Stimme überschlug sich vor Entrüstung.

Zu Annekathrins Abschlussball trug sie dann ein knielanges Kleid aus Acetatseide, das sehr schön fiel. Elli gefiel sich in einem schmalen Kostüm aus Streichgarnwolle, das alle Frauen neidisch betrachteten, und Rudi hatte einen Anzug an, dazu ein weißes Hemd mit schwarzer Fliege.

Der Ball fand in der Aula von Annekathrins Schule statt. Tische und Stühle standen in Bankettbestuhlung, die Bühne war mit Blumen geschmückt. Der Direktor hielt eine Rede, in der von sozialistischen Persönlichkeiten, der Freundschaft zur Sowjetunion und allen Kräften gegen den Kapitalismus gesprochen wurde, was insbesondere die Verwandten aus dem Westen amüsierte. Schließlich waren sie es, die die Nylonstrümpfe zu den Kleidern mitgebracht hatten, die Krawatten der Jungs und noch so manche Bluse für die Mütter.

Die Abschlussschüler wurden einzeln auf die Bühne gerufen und erhielten ihre Zeugnisse.

Annekathrin glänzte mit einem Durchschnitt von 1,4, und die Salomons waren sichtlich stolz auf sie.

»Sie hätte das Abitur mit Leichtigkeit geschafft«, raunte Elli ihrem Mann zu.

»Ja, das hätte sie wohl«, bestätigte Rudi und seufzte, als er daran dachte, dass man Annekathrin trotz ihres einwandfreien Zeugnisses in der achten Klasse nicht auf die Erweiterte Oberschule geschickt hatte, weil es in ihrer Klasse zwei Jungen gab, die zwar schlechtere Zensuren, aber eingewilligt hatten, Berufsoffiziere in der Nationalen Volksarmee zu werden.

Nach der Zeugnisvergabe wurde das Essen serviert, das traditionsgemäß die Schüler des nächsten Abschlussjahrganges in der Schulküche fabriziert hatten: Kartoffelsalat, Würstchen, Buletten und als Nachspeise Vanillepudding mit Kirschsoße.

Anschließend wurde getanzt. Rudi wirbelte Annekathrin, Hanka und seine Frau über das Parkett, unterhielt sich zwischen den Tänzen mit den Tischnachbarn. Annekathrins Freundin Elke würde eine Lehre zur Werkzeugmacherin beginnen, Anita Eckstein wollte Kindergärtnerin werden. Annekathrin war die Einzige, die eine Lehre bei einem Fotografen machen würde.

Kurz nach Mitternacht war das Fest vorüber, und die Salomons gingen zu Fuß nach Hause. Annekathrin hatte rote Wangen vor Aufregung, während Hanka gähnte. »Anneliese hat einen Plattenspieler zum Abschluss bekommen und Elke ein Zelt. Freddy ein Moped und Isolde Geld«, erzählte Annekathrin. Elli lächelte ihren Mann an. Sie hatten Annekathrin ihr Geschenk noch nicht überreicht, aber sie freuten sich schon jetzt auf ihr Gesicht bei dem, was sie ihr zu geben gedachten.

Zu Hause öffnete Rudi noch eine Flasche Wein und goss drei Gläser voll. Hanka protestierte, sie wollte auch Wein haben, und schließlich schenkte Rudi ihr einen Schluck ein. Sie stießen noch einmal auf Annekathrins Abschluss an, dann räusperte sich Rudi. »Du hast dich sicher schon gefragt, ob wir auch ein Geschenk für dich haben.«

Annekathrin schüttelte den Kopf. »Nein, ich brauche kein Geschenk. Ich habe dieses tolle Kleid bekommen.«

Elli schluckte gerührt. »Wir haben trotzdem noch etwas für dich. Bald beginnt ein neuer Lebensabschnitt. Du bist kein Kind mehr. Und deshalb haben wir uns überlegt, was dir wohl auf deinem weiteren Weg nützen könnte.«

Rudi brach ab und betrachtete liebevoll seine Tochter. Ihre Augen blitzten, ihre Lippen waren vom Rotwein leicht verfärbt.

Er nahm einen Briefumschlag aus dem Wohnzimmerbüfett und reichte ihn Annekathrin. Diese nahm ihn entgegen, blickte unschlüssig zu ihrer Mutter.

»Na, los. Mach ihn auf.«

Annekathrin lächelte, öffnete den Umschlag und holte einen Geldschein hervor. 100 Westmark! Das waren in DDR-Mark mindestens 500!

Fassungslos betrachtete sie den Schein.

»Wir haben alle zusammengelegt. Deine Oma und dein Opa, Hanka und wir. Nächste Woche fahren wir nach Westberlin. Du kannst dir dort einen Fotoapparat kaufen.«

Ein paar Sekunden stand Annekathrin da wie vom Donner gerührt, dann stürzte sie jubelnd zu Rudi und warf sich in seine offenen Arme, flog zu Elli, umarmte sie, und auch Hanka bekam ihre Freude zu spüren.

»Eine Kamera. Eine echte eigene Kamera«, flüsterte sie und streichelte den Geldschein.

***

Annekathrin ging gleich am Montag in das Fotoatelier Rosner, in dem sie im September ihre Lehre beginnen würde.

»Na, Annekathrin, bist du nicht ein bisschen früh dran?«, fragte Herr Rosner, als sie den Laden betrat.

Annekathrins Blick glitt von den holzgetäfelten Wänden, die über und über mit Fotografien glücklicher Hochzeitspaare bedeckt waren, zu den Babybildern und von dort auf die Fotowand hinter der Verkaufstheke, auf der Herr Rosner immer wieder eigene Fotografien ausstellte. Zurzeit hingen dort Landschaftsaufnahmen vom Leipziger Auwald. Gern hätte sich Annekathrin die Fotos näher angesehen, aber deshalb war sie heute nicht hier.

»Herr Rosner, ich bin gekommen, um Sie etwas zu fragen.«

»Dann schieß mal los.«

Annekathrin stammelte ein wenig herum, ehe sie es wagte zu sprechen. Die Rosners waren mit den Salomons befreundet, und nur deshalb getraute sich Annekathrin überhaupt diese Frage: »Ich habe 100 Westmark bekommen. Welche Kamera soll ich mir davon kaufen? Zu welcher raten Sie mir?«

Der Besitz von Westgeld war in der DDR verboten, doch sie vertraute Herrn Rosner.

»Hm, schwierige Frage. Es gibt gute Geräte von Agfa. Aber dafür brauchst du mit der Zeit auch die Objektive. Und unsere ORWO-Filme passen auch nicht überall. Ich denke, du solltest dir mal ein paar Apparate von Carl Zeiss aus Jena ansehen.«

»Zeiss-Kameras gibt es im Osten kaum. Die gehen alle in den Export«, meinte Annekathrin ein wenig verzagt.

»Ja, ich weiß. In Westberlin liegen sie aber in den Geschäften. Sie kosten nicht die Welt. Die Objektive kannst du immer mal wieder bei uns bekommen, und die Filme passen auch. Die Pentacon F ist zwar nicht aus Jena, aber die würde ich mir an deiner Stelle auch ansehen. Und wenn du Geld übrig hast, kauf dir ein paar Filme dazu.«

Die Ladenklingel ertönte, und eine junge Frau betrat den Laden. Höflich wartete sie, aber Herr Rosner sprach sie gleich an. »Was kann ich für Sie tun?«

»Ich hätte gern Passbilder. Ein halbes Dutzend, wenn es geht.«

»Sehr gern, es geht gleich los. Da hinten hängt ein Spiegel, falls Sie sich noch einmal kämmen wollen.«

Die junge Frau nickte lächelnd und holte einen Kamm und einen Lippenstift aus ihrer Handtasche.

Herr Rosner wandte sich an Annekathrin. »Hast du sonst noch Fragen?«

Annekathrin wusste, dass sie nun nicht mehr über Kameras aus Westberlin sprechen durfte. »Nein, das wäre alles. Danke schön. Ich werde Ihre Ratschläge beherzigen.«

***

Eine Woche später fuhren Annekathrin, Hanka und Elli mit dem Zug nach Westberlin. Vom Hauptbahnhof Leipzig bis zum Bahnhof Lichtenberg brauchten sie zwei Stunden. Dann nahmen sie die S-Bahn und fuhren auf direktem Weg nach Westberlin. Am Bahnhof Zoo stiegen sie aus, und gleich als sie den Bahnhof verlassen hatten, blieben Hanka und Annekathrin staunend stehen.

Überall hingen blinkende Lichtreklamen. Auf den Straßen fuhren blitzende Autos, ein Zeitungsjunge rief sein Angebot aus. Alles war sauber und bunt, sogar die Menschen. Die Häuser waren frisch verputzt, die Fahrbahn wies keinerlei Löcher auf. Oberleitungsbusse fuhren vorbei, in den Schaufenstern prangte eine nie gesehene Pracht.

»Und? Gefällt es euch?«, fragte Elli.

»Und wie!«, rief Hanka entzückt, doch dann fiel ihr Lächeln zusammen. »Schade nur, dass wir kein Geld zum Einkaufen haben.«

Elli seufzte, strich Hanka leicht über den Kopf. »Ja, das ist wirklich schade. Aber heute sind wir ja sowieso wegen Annekathrin hier.«

Elli lotste ihre Töchter über die Fahrbahn zum Kurfürstendamm. Vor dem Schaufenster eines Fotogeschäftes blieben sie stehen. Lange betrachtete Annekathrin die Auslagen. Darin wurden die ersten Spiegelreflexkameras ausgestellt sowie eine Vielzahl an Objektiven und Stativen und anderem Zubehör.

Nach einer Weile, Hanka trat schon ungeduldig von einem Bein auf das andere, drehte sich Annekathrin um. »Können wir woanders hingehen?«, fragte sie ihre Mutter. »Dieses Angebot überfordert mich. Ich kann mich nicht entscheiden.«

Elli verstand das. Hanka aber schlenderte an den Schaufenstern entlang. »Da!«, rief sie. »Die Schuhe! Solche habe ich mir immer gewünscht.« Und: »Dort, die Tasche. Mein Gott, sie ist so schön.«

Endlich fanden sie in einer Seitenstraße des Kurfürstendamms ein kleines Geschäft für Fotozubehör. Aufgeregt betrat Annekathrin den Laden, gefolgt von ihrer Mutter und Hanka.

Sie holte ganz tief Luft und sagte: »Ich hätte gern eine Pentacon F und dazu vielleicht noch das passende Zeiss-Objektiv.«

»Sie meinen das Tessar-Objektiv?«

»Ja, genau das meine ich.«

»Eine gute Wahl. Sie kennen sich aus, oder?«

»Noch nicht«, erklärte Annekathrin. »Das ist meine erste eigene Kamera.«

Der Verkäufer nickte, dann holte er die beiden Geräte hervor und erklärte Annekathrin geduldig, was sie wissen musste.

Annekathrins Mutter und Schwester saßen auf zwei Stühlen, und Hanka blätterte lustlos in einem Fotomagazin.

Als der Verkäufer das bemerkte, wandte er sich an sie. »Interessierst du dich auch für Fotografie?«

Hanka verneinte.

»Dann warte einen Augenblick, ich habe noch andere Zeitschriften da.«

Er ging nach hinten, holte ein paar Exemplare der »Bravo« hervor. »Hier, die liest meine Tochter immer, wenn sie bei mir im Laden ist.«

Hanka hatte natürlich schon von der »Bravo« gehört, die seit August 1956 im westdeutschen Handel erhältlich war. Ihre Freundin Angela hatte ein Exemplar, von ihrer Cousine aus Hannover, in die DDR geschmuggelt. Und jetzt lagen vier »Bravos« vor ihr. Ein Schatz! Sie wünschte, ihre Schwester würde sich noch ewig Zeit lassen.

Der Verkäufer wandte sich wieder an Annekathrin. »Was wollen Sie fotografieren?«

»Alles!«, erklärte Annekathrin mit leuchtenden Augen.

Der Verkäufer lächelte. »Auch in Farbe?«

Das junge Mädchen nickte. »Würd ich gern, aber dazu brauche ich Farbfilme.«

»Was halten Sie von der Pentacon F?«

»Sie gefällt mir gut. Und wenn sie einmal kaputtgeht, kann ich sie in Leipzig reparieren lassen. Und unsere ORWO-Filme passen auch. Wie viel kostet sie samt Objektiv?«

»120 Mark.«

Annekathrin schluckte. »So viel habe ich nicht.«

Der Verkäufer überlegte. »Na ja, ich habe noch eine Kamera im Schaufenster liegen und auch das Objektiv dazu. Morgen werden unsere Auslagen neu gestaltet. Dann könnte ich sie Ihnen für den halben Preis überlassen. Sagen wir, 60 Mark? Sind Sie damit einverstanden?«

Annekathrin stiegen Tränen in die Augen. »Morgen sind wir nicht mehr hier. Wir kommen aus Leipzig. In ein paar Wochen werde ich eine Lehre als Fotografin beginnen.«

»Ich verstehe. Mir ging es zu meiner Zeit ähnlich. Ich wollte unbedingt eine bestimmte Kamera haben. Also gut, ich nehme die Pentacon heute schon aus dem Fenster.«

»Wirklich?« Annekathrin schluckte die Tränen hinunter.

»Ja. Jetzt gleich.«

Er kam hinter dem Ladentisch hervor und stellte eine Minute später Kamera und Objektiv auf den Tisch. Vorsichtig berührte Annekathrin das Gehäuse, streichelte es. Der Verkäufer lächelte wieder.

Dann legte Annekathrin den Hundertmarkschein auf den Tisch, steckte das Wechselgeld sorgfältig in ihre Geldbörse und sah sich nach Mutter und Schwester um. Hanka war vollkommen in die »Bravo« vertieft und nahm nichts ringsum sie wahr. Ihre Mutter lächelte, aber Annekathrin sah, dass das Lächeln eines der Höflichkeit war, nicht der Freude. Ihr Atelierlächeln, das sie aufsetzte, wenn sie schwierige Kunden vor sich hatte.

Der Verkäufer kam aus seinem Lager zurück und drückte Annekathrin ein Zweierpack mit Kodak-Farbfilmen in die Hand. »Da, die schenke ich dir.«

»Nein!« Elli erhob sich und trat an den Ladentisch. »Nein, danke schön. Das können wir nicht annehmen. Sie haben schon so viel für uns getan.«

»Ich habe Töchter im selben Alter wie Sie. Und ich freue mich über jeden jungen Menschen, der sich für Fotografie interessiert. Lassen Sie mir die Freude.«

Wieder schüttelte Elli den Kopf. »Sie müssen uns nichts schenken, weil wir aus dem Osten sind.«

»Das hat mit Ost und West nichts zu tun. Es ist ein Gefallen unter Kollegen. Außerdem habe auch ich die Filme selbst geschenkt bekommen. Von Kodak höchstselbst. Ich soll sie ausprobieren und dann den Kunden empfehlen.«

Da sah Annekathrin endlich auch auf den Lippen ihrer Mutter ein richtiges Lächeln, und kurz darauf standen sie wieder auf der Straße. Hanka zog ein langes Gesicht; sie hätte lieber noch weiter in der »Bravo« gelesen. Annekathrin, die ihren neuen Fotoapparat sorgsam in ihrer Tasche verstaut hatte, holte ihre Geldbörse hervor, nahm die übrigen 40 Westmark heraus, reichte einen Zwanzigmarkschein ihrer Mutter und den anderen ihrer Schwester.

»Ich bin so froh über den Fotoapparat«, erklärte sie. »Und deshalb möchte ich, dass ihr euch auch etwas Schönes kauft.«

»Oh, Annekathrin!« Elli war so gerührt, dass sie ihre Tochter umarmte.

Hanka dagegen wusste schon genau, was sie mit ihren 20 Mark anstellen würde. »Ich kaufe mir ›Bravos‹ und vielleicht noch eine Bluse.«

»Nein, mein Schatz. Das ist Annekathrins Geld. Es ist lieb von ihr, dass sie es mit uns teilen will, aber das lasse ich nicht zu.«

Hanka zog einen Flunsch, aber schon bald war sie wieder von den Auslagen in den Schaufenstern gefangen. Im KaDeWe zeigte Elli ihren Töchtern die Stoffe, mit denen sie früher gearbeitet hatte: echte Seide, Brokat, Organza. Hanka war hingerissen. Sie wollte die Stoffe gar nicht mehr loslassen. Sie hat Nadeln im Blut, dachte Elli nicht zum ersten Mal. Früher hatte sie sich darüber gefreut, denn es schien sicher, dass Hanka einmal das Maßatelier übernehmen würde. Sie seufzte, wenn sie daran dachte, dass die Geschichte des kleinen Unternehmens vielleicht schon bald ihr Ende finden würde. Doch dann kehrte ihr Lächeln zurück, als sie sah, wie Hanka Wildseide an ihre Wange schmiegte. Sie zeigte den Töchtern echtes Leinen, Musselin, Chiffon, Cord und Viskose. Hanka hörte mit großen Augen zu, bestaunte mit offenem Mund die zahllosen Knöpfe, Borten, Verschlüsse und Spitze. Dann seufzte sie, strich noch einmal über die Wildseide und sagte leise: »Solche Stoffe möchte ich auch tragen. Ein blaues Kleid aus Wildseide. Das würde mir gefallen.«

Am frühen Nachmittag landeten sie in einem kleinen Park. Sie packten die Brote aus, die Elli geschmiert hatte, tranken Wasser aus Rudis alter Feldflasche. Als sie gegessen hatten, erhob sich Annekathrin. »Wartet ihr hier auf mich? Ich muss noch etwas erledigen.«

Sie eilte zurück zur Wilmersdorfer Straße, in der sie vorhin ein Kaufhaus entdeckt hatte. Sie kaufte für 10 Mark zwei Meter von einem seidenähnlichen Stoff in Weiß, der mit blauen Segelbooten bedruckt war, dazu sechs Ankerknöpfe. Hanka konnte sich eine Bluse daraus nähen.

Für Elli erstand Annekathrin zwei Nylonstrumpfhosen und fünf Burda-Schnitte. Sie nahm sich Zeit für die Auswahl, kaufte einen Rockschnitt, einen für eine Hose, einen für einen Mantel und einen für ein Kostüm. Alles nach Pariser Fasson.

Dann eilte sie weiter zu einem großen Lebensmittelmarkt und lief langsam durch die Gänge. Konservendosen mit Pfirsichen und Ananas standen da, Haarshampoo in einer endlosen Reihe, duftendes Waschpulver, nach Pfefferminz schmeckende Zahncreme. Sie sah sechs verschiedene Honigsorten und sogar einige Dinge, die sie aus der Werbung vom RIAS kannte.

Hier kaufte sie Onko-Kaffee für ihre Eltern, Sarotti-Schokolade, echte amerikanische Wrigley-Kaugummis und für den Vater ein Päckchen Camel-Zigaretten. Sie bewunderte in der Obstabteilung Bananen, Apfelsinen und andere Sorten, die sie noch nie gesehen hatte. Sie staunte über die zahlreichen Süßwaren, als wären es Schätze aus tausendundeiner Nacht.

Am Ende ihrer Einkaufstour hatte sie gerade mal 38 Pfennig übrig, aber ihr Herz war voll Glück, das sie nur zu gern geteilt hatte.

Kapitel 4

1960 bis 1962

Ein Jahr später kauften Rudi und Elli Salomon einen Kühlschrank der Marke Kristall für 1350 Ostmark. Sie hatten zwei Jahre darauf warten müssen, und nun konnte Elli sich gar nicht sattsehen an dem Eisschrank.

Im Juni des Jahres 1961 verkündete Walter Ulbricht, Generalsekretär des ZK der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands und höchster Regierungsvertreter der DDR