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Es sind immer die Töchter, die fragen! Die drei ›Mädchen aus Ostpreußen‹, Anni, Else und Hannelore, sollen für eine Imagekampagne ihrer Seniorenresidenz Modell stehen. Während ›Germany's Next Topmodel‹ läuft, verhandeln die drei Mittneunzigerinnen, was sie über ihr Leben erzählen wollen – und was nicht. Im Auto unterwegs nach Polen schickt Gudrun eine Sprachnachricht. Ihre Nichte soll vom Tod der Großmutter erfahren. Doch Gudrun schweift ab, erzählt von der Flucht bei Kriegsende, ihrer Kindheit in den 1950ern. Plötzlich wird klar: Sie muss etwas gestehen. Undine, Jenny und Thao verbringen ein Wochenende in Berlin, bevor Jenny ihr erstes Kind bekommt. Neben den Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend in den 1980ern und 1990ern treten auch die sozialen Unterschiede wieder ans Licht. Während sie ihre Lebensentscheidungen neu bewerten, setzen die Wehen ein. In drei Teilen, »Marjellchen«, »Neue Heimat, altes Haus« und »MILF«, porträtiert Julia Wolf drei Frauengenerationen, indem sie den Wunden, Werten und Erfahrungen der Kriegszeit nachspürt. Mit Alte Mädchen ergänzt Julia Wolf die deutsche Nachkriegsgeschichte um eine wichtige Erzählung weiblicher Subjektivität, die uns die Augen öffnet: dafür, woher wir kommen, wohin wir gehen, was wir mitnehmen und was wir loslassen sollten.
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Seitenzahl: 349
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Es sind immer die Töchter, die fragen! Die drei ›Mädchen aus Ostpreußen‹, Anni, Else und Hannelore, sollen für eine Imagekampagne ihrer Seniorenresidenz Modell stehen. Während ›Germany’s Next Topmodel‹ läuft, verhandeln die drei Mittneunzigerinnen, was sie über ihr Leben erzählen wollen – und was nicht.
Im Auto unterwegs nach Polen schickt Gudrun eine Sprachnachricht. Ihre Nichte soll vom Tod der Großmutter erfahren. Doch Gudrun schweift ab, erzählt von der Flucht bei Kriegsende, ihrer Kindheit in den 1950ern. Plötzlich wird klar: Sie muss etwas gestehen.
Undine, Jenny und Thao verbringen ein Wochenende in Berlin, bevor Jenny ihr erstes Kind bekommt. Neben den Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend in den 1980ern und 1990ern treten auch die sozialen Unterschiede wieder ans Licht. Während sie ihre Lebensentscheidungen neu bewerten, setzen die Wehen ein.
In drei Teilen, »Marjellchen«, »Neue Heimat, altes Haus« und »MILF«, porträtiert Julia Wolf drei Frauengenerationen, indem sie den Wunden, Werten und Erfahrungen der Kriegszeit nachspürt. Mit Alte Mädchen ergänzt Julia Wolf die deutsche Nachkriegsgeschichte um eine wichtige Erzählung weiblicher Subjektivität, die uns die Augen öffnet: dafür, woher wir kommen, wohin wir gehen, was wir mitnehmen und was wir loslassen sollten.
IMarjellchen
IINeue Heimat, altes Haus
IIIMILF
Steht in der Tür, ist die Tochter von jemand. Immer die Töchter, die fragen. Das Mädchen lächelt verlegen, klopf klopf. Sie wünschen? Steht wie ein Fragezeichen mitten im Raum. Mit ihrer Tasche, der Brille. Dem fahlen Haar. Knetet die Finger: Ihre Großmutter habe uns vielleicht schon erzählt –
Deine Oma, ja ja. Tochter der Tochter von jemand. Wir hängen nicht an ihren Lippen, hören nicht zu. Uns interessieren nur die Zähne! Wir sehen das Töchterlein reden und denken: Nicht schlecht. Sind ziemlich weiß. Sind gerade, einigermaßen, nur unten steht einer leicht schief. Wir lassen sie quatschen, wir warten. Im rechten Moment, Else kneift Anni. Triumph der Dritten, wir grinsen: Unsere Zähne sind schöner!
Äh, das Mädchen versteht’s nicht, es ist verwirrt: Heißt das, ich darf Sie fotografieren?
Erst später, wir dämmern vorm Bildschirm, wir schlummern, da Moment mal!, schreckt eine hoch. Was war das? Und wer? Im Fernsehen Bräute, wir reagieren nicht gleich. So viel Spitze und Seide, Tränen, Tamtam. Gab’s alles nicht zu unserer Zeit. Falsche Wimpern. Doch so einfach lässt Hannelore nicht locker. Hallo? Sie dreht den Ton leiser. Die Stimmen der Bräute weichen aus unserem Kopf, ihr Juchzen und Ja. Machen Platz für andre Gedanken. Unser Nicken. Wir entsinnen uns. Das war recht verbindlich.
Die kommt morgen wieder, sagt Hannelore.
Erbarmung!, ruft Anni. Was haben wir uns da eingebrockt?
Wir müssen doch bloß, setzt Else an.
Nuscht müssen wir nicht, unterbricht Hannelore. Das ist das Gute! Wir können uns tot stellen, oder schlafend. Wir können so tun, als wären wir taub.
Aber, sagt Else.
Wie aufs Stichwort, Aber, aber, die Damen!, stiefelt auch schon die Nächste herein. Schlappt. Schleppt einen Ball, einen großen. Biggi, wie heißt die, immer im Jogging? Die Fiffi. Scheucht uns durchs Haus. Auf, auf!, flötet die Fiffi, sie trillert es, auf ihrer Pfeife. Knackend und knirschend brechen wir auf. Die Dompteuse treibt uns in den Turnraum. Wir kennen den Weg. Der lange Flur. Wie ein Tunnel. Und die Fiffi immer schon da, Fiffi immer schon am anderen Ende. Hält uns die Tür auf. Prächtige Türen. Flügel in eine andere Welt. Früher war das ein Ballsaal. In besseren Zeiten. Als das Heim noch ein Kurhotel war. Den Kronleuchter haben sie hängen gelassen. Der hängt noch und ziept, wenn wir hereinkommen, immer ein klein wenig an Elses Herz. Was hat Else getanzt als junge Frau! Wenn wir den Ballsaal betreten, juckt’s Else jedes Mal in den Beinen. Doch wir kennen den Drill. Wir versuchen zu stehen. Frei. In Reihe, in Glied. Wer kann, breitbeinig. Die Damen! Der Ball wird durch die Beine nach hinten gereicht. Über die Köpfe nach vorn. Wir schließen die Augen. Sind wieder Mädels. Einen Moment lang. So viele Arme und Beine. Fächern sich auf. Einen Moment lang knackt nichts und knirscht nichts. Anmut. Aber auch Kraft. Und Bälle. So viele Bälle. Immer im Kreis. Ein riesiger Kreisel aus Armen und Beinen und Bällen sind wir. Unsere Kleider wie Fähnchen. Weiß, vor grauem Himmel. Damals natürlich blau. Das wissen wir noch. Der Himmel war blau und das Gras grün. Jedes Mädel kann schön sein, selbst Hannelore. Wenn es sich bemüht. Wenn es an sich arbeitet. Doch da pfeift Fiffi. Und etwas zerplatzt. Zurück ins Schwarzweiß. Das war anders, wann anders. Das ist lange her. Anmut. Ertüchtigung. Heute dauert das. Bis der Ball hinten ankommt. Doch Fiffi kennt keine Gnade. Wir müssen die Augen aufschlagen. Wir müssen uns strecken und bücken. Und eins, und zwei! Ein halber Hampelmann ist besser als kein Hampelmann, findet Fiffi.
Zurück zum Brocken, sagt Else bei Tisch. Wir stochern im Frikassee, denken an Suppe. Wer löffelt die aus? Hätten wir nicht so schöne Zähne, wäre das nicht passiert. Ohne Gebiss hätten wir nicht gegrinst. Nicht genickt. Unsere Zähne sind uns zum Verhängnis geworden.
Versprochen ist nun mal verspro–, versucht es Else erneut. Doch da sagt Anni: Das war doch die Tochter von Amelie! und blickt dabei auf. Ihre Augen. Immer wenn wir in Annis Augen schauen, fällt uns etwas ein. So blau. Annis Augen so weit wie der Himmel über Masuren. Uns fällt etwas ein, wir segeln dahin, in Annis Blick. Und haben’s gleich wieder vergessen.
Und wenn schon, sagt Hannelore. Auch für die mach ich nicht den Affen, ich spiel doch für die nicht den Clown! Und überhaupt. Immer die Töchter!
Da hat sie recht. Wir sehen sie ja. Sonntags, wir sitzen am Fenster, sehen die Schwiegersöhne und Enkel vorbeiziehen. Dolle Kerle. Von denen kommt keiner zu uns. Fragt, ob wir mitmachen wollen. Eine Schande. Allerdings zupft uns von denen auch keiner das Barthaar. Das eine, das pikt. Elses Tochter mit ihrer Pinzette. Wenn die ihre Lesebrille aufsetzt, unseren Kopf zum Licht dreht. Entgeht der kein Härchen.
Härchen, dass ich nicht lache!, sagt Else. Ne richtige Borste war das!
Da muss Anni prusten. Eine Erbse springt aus ihrer Nase direkt auf den Tisch. Wir sehen ihr nach, wie sie kullert, über das Tischtuch, zwischen den Gläsern hindurch. Auf die Kante zu. Soll sie ruhig fallen. Anni mag keine Erbsen. Das haben wir nun wirklich oft genug angemerkt!
Erbse hin oder her, versprochen ist nun mal versprochen. Darauf besteht Else. Später, als alle im Bett sind. Nur wir sind noch wach. Wir sitzen im Aufenthaltsraum. Zwischen Topfpflanzen, Brettspielen. Unter der tickenden Uhr. Im Fernsehen die Gänse. Ein Geschnatter ist das. Ständig wird da gewinkt, ständig hüpfen die rum. Das schauen wir gern. Verpassen wir nie. Am Ende ist eine die Schönste, die bekommt den Vertrag. Und ein Auto! Doch bis dahin ist es ein weiter Weg. Ein Steg. Den muss man laufen können. Nämlich so. Auf und ab. Wie die Giraffen. Die Kamera gleitet die Beine hinauf. Meine Mädels, das sind ihre Girls. Die Kamera gleitet durch Häuserschluchten. Hotel unter Palmen, aber dass eins gleich mal klar ist: Die Girls sind nicht zum Relaxen hier! Diese Woche ist wichtig, schnattert die Gans, das ist die Chefin: Meine Mädels müssen lernen, mit der Öffentlichkeit umzugehen. Und Else ruft: Ha! Da habt ihr’s! Die Mädels! Das sind doch wir!
Wir drehen die Köpfe, so weit wir können. Sehen Else da sitzen. Wann hat die denn ihren Mantel geholt? Else sitzt im Nerz überm Nachthemd, ganz Dame. Rouge hat sie auch aufgelegt. Längst hat sie beschlossen: Wenn wir nicht wollen, sie will. Sie wird! Else mit ihren fettigen Fingern. Schwört auf Nivea. Cremt sich mehrmals am Tag damit ein. Wir haben das Nachsehen, an den Schränken und Klinken, überall Fettflecken. Die Illustrierten versaut. Doch wir schimpfen nicht mehr mit unserer Freundin. Die Ärzte geben ihr nur noch sechs Wochen. Und Else will halt bis zum Ende gut aussehen. Also cremt sie, und nicht erst seit gestern. Wir waren skeptisch zunächst. Doch wenn wir ehrlich sind, es hat sich gelohnt. Else ist schön, wie sie da sitzt. Schaurig schön, vom Tode gezeichnet. Leider riecht sie auch so. Wir drehen die Köpfe noch ein Stück weiter und schnuppern an ihr. Nicht mehr ganz frisch, riecht etwas nach Keller.
Lavendel!, sagt Else und reckt das schmierige Kinn. Gegen die Motten!
Aha, murmeln wir. Stinkt wirklich bestialisch. Aber Hauptsache, Else hält sich die Motten vom Leib. Und damit uns. Das ist alles, was zählt. Alles was zählt, ist ein Foto. Und wir wollen wissen, wer heute keines bekommt. Wer fliegt heute raus? Langsam drehen wir uns wieder dem Fernseher zu. Im Gerät Heidi, schnattert mit Elses Stimme. Stellt euch mal vor!, schnattert sie. Unser Gesicht auf einem Plakat! Unser Gesicht auf der Broschüre! Auf einem Bus, der durchs ganze Land fährt, was sag ich, durch ganz Europa! Auf dem Bildschirm ein weinendes Mädchen. Und wir müssen sagen, vielleicht klingt das verlockend. Vielleicht klang das ein wenig verlockend, wie die Tochter von Amelie das gesagt hat, vorhin, mit riesigen Augen: SO SCHÖN KANN DAS ALTER SEIN! Denn das wäre der Spruch. Zu unseren Gesichtern. Der Spruch unter und über und neben unseren Köpfen. Auf dem Plakat. Der Broschüre. Auf dem Bus. Durch ganz Europa. Ob das ein Spanier versteht? Der Italiener. Und wer war noch mal Amelie? So ist das mit Annis Augen. Die vergessen immer gleich alles. Die sehen nur: Das Mädchen im Fernsehen weint. Vor Freude! Tränen, Zeitlupe, dann kommt die Werbung. Plötzlich sind überall Haare. Schwarz, Rot, Blond. Ein einziges Strahlen und Wippen. Zweimal mehr Volumen und Sprungkraft. Offene Münder. Was so ein Shampoo vermag. MEIN HAAR, MEINE STÄRKE, auch das ist ein Spruch. Aus der Werbung. Wir fühlen uns fluffig. So schön ist das Alter. Was die Mädels im Fernsehen können. Können wir schon lange. Wir müssen nur den Kopf richtig schwingen.
Und als wir uns umdrehen. Steht Else auf ihrem Stuhl. Wie ist sie da raufgekommen? Wir haben keinen blassen Schimmer. Unsere Freundin hat schon immer die große Geste geschätzt. So groß, Else breitet die Arme aus, und plötzlich ist es, als wär sie schon Engel. Schwarz und pelzig, ihre Stimme belegt: Ich frage euch, was haben wir zu verlieren?
Da hat sie recht. Wir gehen stracks auf die Hundert zu. Immerzu zwickt es und beißt es. Ei! Mitunter sind die Finger so schwach, dass sie die Tasse kaum halten. Und dann die Verkalkung, Tumore. Schwelendes Zeug.
Ein letztes Mal glänzen, wir nicken.
Noch einmal wer sein, das wollen wir auch.
Eben noch waren wir uns einig. Und im nächsten Moment. Lässt der Engel die Flügel hängen. Weicht aller Glanz, und unsere Freundin schaut kläglich. Wie komm ich hier nur wieder runter?, klagt sie. Hannelore, Frau der Tat, springt ihr zur Seite. Packt sie beim Ärmel, Hüpfen musst du!, zerrt Hannelore. Else soll sich nicht anstellen. Ist ja nicht hoch! Doch da kippelt der Stuhl, und wir erschrecken. Ein Wort steht im Raum: Oberschenkelhalsbruch. Herrjechen. Das fehlte uns noch. Das braucht wirklich keine. Was machen wir nun? Alleine und heil schafft Else das nicht. Und uns fehlt der Schwung. Von einem Gedanken zum nächsten. Engel. Else. Fehlt nur noch. Der Esel! Und wer reitet ihn? Über die Brücke? Die Sissi. Mit Krönchen! Mit Krönung. Ein Tässchen Kaffee? Das ist die Fiffi. Die fragt: Wie wär’s mit einem Schluck Wasser? Die schimpft: Sie müssen mehr trinken! Sonst vertrocknet Ihr Hirn! Das ist doch die Fiffi? Rosine. In rosa Uniform? Wir können uns die Namen nicht merken. Eine von denen hat uns zusammengeschoben. Das ist eine Weile her. Vorher war immer jede für sich. In ihrem Zimmer, vorm Fernseher. In ihrem eigenen Kopf. Und eine von denen hat sich gedacht: Wäre doch schöner zusammen. Drei Mädchen aus Ostpreußen. Welche war das? Die Trixi. Hat behauptet, sie hätte uns gleich erkannt. Die Körbe an unseren Wagen. Sind immer so voll. Quellen über!, sagt Trixi. Wir haben halt immer alles dabei. Weil man nie weiß. Wann’s losgeht. Äpfel, Klopapier, Handschuhe. Auch Kuchenstücke und Stullen, in Servietten gewickelt, fahren wir mit uns herum. Weiter unten im Korb dann die Schatullen und Schachteln, der Schmuck. Ohne unsere Wertsachen gehen wir nirgendwohin.
Verdammich!
Was da wackelt und klappert, ist nicht der Stuhl. Das sind Elses Knie. Runter heißt rauf, wir blicken auf. Und sehen: Oh je. Else sitzt in der Patsche. Steht immer noch oben. Ihr Gesicht ganz verzerrt. Wir wollen sie beruhigen. Mit einem Spiel. Was ist das Gegenteil von Angst, Else?
Aber Else plärrt nur: Verdammich! Verdammich!
Nein, das Gegenteil von Angst heißt nicht verdammich. Das Gegenteil von Angst ist ein Pfeifen im Wald. Wir spitzen die Ohren. Ein Pfeifen im Flur. Kommt immer näher. Wir lauschen und ahnen es schon. So klingt die Rettung. Die Nachtschicht. So klingt unser Prinz. Dann geht die Tür auf, und richtig: blauschwarzes Haar. Ein Kopf erscheint, die Stimme dazu hören wir gern:
Na, wen haben wir denn hier? Meine drei Grazien!
Hilfe!, quiekt Else, statt einer Antwort. Schon ist er bei ihr. Hebt sie herunter. Stellt sie auf ihre Füße. Sanft, so unendlich sanft. Wir erröten. Wir richten uns auf in unserem Stuhl. So ist der Prinz. Will immer wissen, ob uns was wehtut. Was wo wehtut. Was wo wie seit wann wehtut. Darf ich, soll ich, ist es so gut? Wer würde da nicht. Wir sind ja auch nur Menschen. Sind nur Frauen aus Fleisch und Blut. Frauen mit Armen und Beinen aus Gummi. Gliedmaßen aus Holz, steif und brüchig, wir kommen nicht hoch. Kommen nicht runter. Ganz gleich, welche Richtung, der Prinz hilft uns. Das sind Augenblicke, wie Märchen. Wir seufzen: Würde er nie. Uns berühren auf eine Art, die nicht professionell ist. Da können seine Hände noch so warm sein. Und wir. Nur manchmal, ganz selten, fassen wir in sein Haar. Sein blauschwarzes Prinzenhaar, wenn er uns anzieht.
Sollten Sie nicht längst im Bett sein?, fragt er und schenkt uns ein Lächeln. Wir schütteln den Kopf, noch läuft unsere Show. Wir wollen unbedingt in die nächste Runde! Wir deuten auf den Fernseher, und der Prinz nickt: Heidi, verstehe. Aber wenn das vorbei ist, schalten Sie aus? Dabei geht er schon rückwärts. Er hat so viel zu tun. Nächtelang hören wir ihn flitzen. Mit Bettpfannen, Schlafmitteln über den Flur. Flitzen und pfeifen, unser Prinz hat keine Angst. Er lächelt, dann fällt die Tür hinter ihm zu. Und wir. Nur Frauen, aus Gummi. Sacken in uns zusammen. Spüren in unserer Brust. Ein Kneifen. Kommt ja nicht oft vor. Kommt viel zu selten vor. Dass uns ein Mann. Und dann auch noch so einer. Die Kerle. Ackern wie blöde, halten nicht durch. Bleiben im Krieg. Und die, die leben, verstummen. Schier unmöglich, mit dem Hans einen Schnack anzufangen. Oder dem Hermann. Von denen kommt höchstens ein Grunzen. Und der Heinz. Geht ja mit Clara. Den Flur rauf und wieder runter gehen die. Der Herbert sägt und hämmert, feilt und bemalt. Jedem Piepmatz ein Heim. Im Park hängt Herbert die Häuschen auf, und im Garten. Wo bleibt da die Würde? Gilt auch für den Georg mit seinen Videokassetten. Denkt wohl, er wäre diskret. Aber wir sehen ihn ja klopfen. Wir sehen sie grinsen, Trixi und Co, wenn sie die Kassetten aushändigen. Wir hören sie lachen hinter der Tür.
Die eine: Der alte Lustmolch, steht auf Stewardessen!
Die andere: Solang er die Finger von mir lässt!
Pfui Deiwel, nein. Mit so einem würden wir nie! Wir strecken das Kinn. Im Fernsehen tritt eine vor den Spiegel und schreit. Der wurden die Haare gefärbt. Von Maus auf Tomate. Sie schlägt die Hände vor den schreienden Mund. Und das soll schön sein? Dann blitzt’s hinüber zur Werbung. Und unser Blick schweift. Über Topfpflanzen, Porzellankätzchen. An der Wand hängt ein Kalender. Da steht ein Kreuz. An einem Tag, mitten im Monat. Irgendwas war an dem Tag. Aber was? Wir lassen den Blick schweifen und erblicken das Nest. An Annis Hinterkopf liegt das Haar platt. Wenn die Tochter von Amelie kommt. Morgen. Wird sich aber gekämmt, Ruschelinchen! Wir sehen Amelies Tochter vor uns stehen, mit ihrer riesigen Tasche. Da ist die Kamera drin. Ob ein Kamm reicht? Ein Schwups Wasser? Wann waren wir das letzte Mal beim Frisör? Hat uns Marcel mit seinen breiten Fingern den Kopf durchgeknetet? Wir erinnern uns dunkel an das Gefühl. Wenn die Gedanken in Wallung kommen. Das muss lange her sein. Zu lange vielleicht? Wallung und Welle, Vanille. Noch einmal wer sein. Das Prinzengefühl. Prinzessin. Noch einmal ein Kavalier. Durchs Spalier. Da gab’s noch mal einen. Kam zwischen den Tischen entlang. Wie war das? Wir saßen im Speisesaal. Das ist noch nicht lange her. Wir saßen bei Tisch, es gab Rouladen. Nein. Wir sitzen bei Tisch und lächeln wie blöde. Nein. Wir senken den Blick. Stippen die Krümel vom Teller. Wir sitzen bei Tisch, und irgendwer schmatzt. Wir sitzen bei Tisch und. Wir brauchen mehr Schwung! Wir sitzen bei Tisch, als die Tür auffliegt. Ja! Wir sitzen bei. Anni! Wir sitzen bei Tisch, und Anni fragt: Gehen wir jetzt?
Wir sagen: Nein, Anni, nein. Wir gehen nirgendwohin.
Aber wenn ihr geht, nehmt ihr mich mit?
Aber Anni, nie würden wir ohne dich gehen.
Versprochen?
Versprochen. Wir sitzen bei Tisch und nicken. Immer der gleiche Tisch mitten im Raum. Unsere Gehhilfen stehen am Eingang. Die Trixis führen uns an unseren Platz. Rücken und ruckeln so lange an unseren Stühlen, bis. Wir sitzen. Wir sitzen mit roten Wangen bei Tisch. Wir sitzen bei Tisch, das Tischtuch hat Flecken. Rücken und ruckeln, wie war das? Wir sitzen bei Tisch. Wie viel Uhr? Mittag. Wir sitzen bei Tisch und fummeln am Salzstreuer. Fast Mitternacht. Wir sitzen bei Tisch und haben unsere Zähne vergessen. Ja. Wir sitzen bei Tisch, zum Glück gibt es Kuchen. Zerfällt im Mund. Aber bitte mit Sahne!, pfeift Trixi, die Flitzi, von Tisch zu Tisch. Sahne wie Sand in unseren Mündern. Wir kauen, wir kauen. Genau! Als die Tür auffliegt.
Hoppla und huch, schluckt Hannelore.
Und auch wir, ei kiek dem, ein Fremder!, wenden den Kopf. Der schwänzelt herein, seine Sohlen wie Zungen auf dem Parkett. Seine Hosenbeine wippen im Takt. Wir sehen sofort: Die Falte sitzt. Der hat keine Flecken. Nicht im Schritt, nicht auf dem Wanst. Hat keinen Wanst! Eine gewisse Straffheit über dem Gürtel, die Streifen sehr gerade auf seinem Hemd. Und über dem Hemd. Kein Barthaar sprießt aus der Reihe. Rasiert, mit scharfer Klinge. Seine Haut blitzt. Sehen wir gleich und sind uns ei, ei, einig. Wie ein Knopf sieht der aus. Wie ein Knöpfchen, poliert. Keine von uns guckt ihn an. Wo kämen wir hin? Wenn jeder dahergelaufene, nur wegen der Schuhe? Hatten halt lang keinen Mann ohne Schlorren gesehen. Und was tut der Kerl? Lüftet den Hut! Scharwenzelnderweise, in unsere Richtung. Der Schäker, schlawinert. Im Vorbeigehen. Keines Blickes, aber das sehen wir doch. Geknickst hat keine, vielleicht genickt. Vielleicht hat Elses Kinn kurz gezuckt. Und Anni. Streckt die Hände aus, will das Wölkchen einfangen, das sein Hut freigesetzt hat. Pomade, vanillig, schwebt hinter ihm her. Darf ich vorstellen?, brüllt da die Flitzi, und Anni haucht: Ja!
Doch ehe wir versinken können in diesem Gefühl. Entzücken. Haut Hannelore mit der Faust auf den Tisch:
Alles olle Kamellen, wen interessiert denn das?
Was heißt hier oll, das sehen wir anders: Unsere neueste Kamelle ist das. Wir spitzen die Münder und lutschen, kein süßer Bonbon. Eher bitter. Wir legen den Kopf schief. Betrachten den Tisch. Darauf ein Deckchen, mit Vase. Schöne Blumen, die haben Sie mitgebracht? Wie reizend. Aber das wäre wirklich nicht nötig –
Morgen kommt die Tochter von Amelie. Mit ihrer Kamera. Was ziehen wir an? Wir sollten schlafen. Wir sollten ins Bett gehen und tun es nicht. Die Melodie hält uns auf. In unserem Kopf tobt ein Tänzchen. Ein putziger Mann. Bedeiwelt hat der uns. Mit seinem Ciao, seinem Schuh. Seinem Dudeludelu. Was haben wir gesummt! Und gesurrt. Schlimme Kamelle. Bella bella bella Marie. Hinter verschlossenen Türen. Haben wir einen Schritt gewagt, oder zwei. Eine jede von uns in ihrem Zimmer. Hat sich vorgestellt, wie es wäre. Wie was wäre? Verschiedene Bilder, in allen der Mann. Ein Seufzen ging durch den Flur: Ach, Salvatore!
Spieglein, Spieglein, an der Wand, wer hat das schönste Zimmer? Nun ja. Darüber ließe sie streiten. Das größte Zimmer hat Hannelore. Hängt voller Bilder. Bilder von Bildern, Gemälden. Freundin Hannelore hat Ahnung von Kunst. Meint sie zumindest. Nur weil ihr langweilig war. Aus reiner Langeweile hat sich Hannelore ins Museum gestellt. Eine Frage der Ehre. Frage der Zeit, davon hatte sie plötzlich sehr viel. Als es hieß: Rente. Als es auf einmal nicht mehr gereicht hat, Steno zu können. Plötzlich hat’s nicht mehr gereicht, die Schnellste zu sein. So viel Ehre, bezahlt wurde sie nicht, im Museum. Hannelore als Wärterin, hat eine Menge gelernt. Vom vielen Stehen und Schauen. Seerosen, Sonnenblumen. Krähen überm Weizenfeld. Die Wände in ihrem Zimmer hängen voll von solchen Motiven. Und wäre das nicht das perfekte Ambiente. Für unser Foto? Die Tochter von Amelie, wenn die morgen kommt. Die schnappen wir uns. Posieren für sie auf dem Sofa. Hannelore in der Mitte, groß wie ein Gebirge. Wir anderen beiden an ihren Hängen. So viel Landschaft. Und mittendrin: Die drei Marjellchen. Der lebende Beweis. Für die Schönheit des Alters. Und so kultiviert! Wir sind die beste Werbung. Was sollen wir sagen? Wahre Schönheit kommt nun mal von innen. Wobei Else ja, strenggenommen. Unter ihrem Nerz ist Else Icke. Keine Marjellchen, nur eine Maid. Kommt aus Berlin. Zwei Sommer hat sie in Ostpreußen verbracht. Hat bei der Ernte geholfen. In der Nähe von Eylau. Wie heißt es so schön? Die Zeit ihres Lebens. Mit den anderen Mädchen im Lager. Das Singen und Schwitzen, im Stroh. Fahnenappell, weit weg von daheim. Ihre Mutter war ja dagegen. Wollte das Mädchen nicht ziehen lassen. Doch wenn der Führer ruft. Das Mädchen gebraucht wird. Da ist es ganz gleich, wie gut das Haus, wie reich die Eltern. Ganz gleich, wie behütet. Das Mädchen wird arbeiten lernen, fürs, wie sagt man so schön. Völkchen. Noch heute schwärmt Else davon. Trägt die Wälder in sich, sagt sie, und die Weite. Dass sie nicht echt ist, lässt sie nicht gelten. In Momenten wie diesem. Wenn Stille einkehrt, und der Zweifel. Wenn unsere Gedanken abschweifen. Unser Blick sich vergräbt, in Annis Haar. Ruschelinchen. Und uns die Frage quält, ob uns ein Kamm zum Erfolg bringen kann. Das sind hohe Erwartungen an einen Kamm. In solchen Momenten holt Else gern den Bernstein aus ihrer Tasche. Hält ihn ins Licht. Seht ihr?, fragt sie, und wir sagen: Nein. Nicht so richtig. Wir kneifen die Augen zusammen. Etwas ist eingeschlossen im Gelb. Else hält den Stein so, dass er das Licht bricht und uns blendet. Und da spüren wir die Hitze. Wir riechen den Schweiß. Hören den Gesang. Klipp, klapp, klipp, klapp, immer im Kreis. Wir dreschen das Korn und Else ist glücklich. Mit dem Tuch um den Kopf und ihrer Brosche. Mit Schwielen an den Händen, so weit weg von zu Haus. Else lächelt, was für ein Strahlen, was für ein Leuchten! Steht uns gut, das goldene Licht. Hoffnungsvoll, auch noch im Alter. Ein Herz aus Bernstein haben wir uns bewahrt. Gelb strahlt es auch von den Bildern. Sehen Sie nur, wie schön, das Weizenfeld! Wir spüren die Sonne vom brennenden Himmel, spüren die Pinselstriche wie Halme auf unsere Haut. Das kitzelt. Sehen das Wogen der Ähren und wiegen uns mit. Wir haben Ahnung von Kunst. Und von vielem anderen. Brot zum Beispiel. Wir dreschen das Korn, wir packen an. Wir sind nicht von der faulen Sorte. Ja. Wollen sagen: Klipp, klapp. Wollen sagen: Wir mahlen. Wir kauen gern! Hauen mit dem Flegel zu, immer wieder. Die Kraft in unseren Armen. In unseren Kiefern. Unfassbar. Noch einmal wer sein. Unser Brot selbst schneiden! Doch davon wollen die Trixis nichts hören. So viel zum Thema Würde: Wir würden unser Brot selbst schneiden, ließe man uns. Doch die Messer sind stumpf, und das auch mit Absicht. In der Teeküche ist kein scharfes Messer zu finden. Mitunter tappeln wir, tapsen, rollen durchs Haus, auf der Suche nach einem Messer. Stehen plötzlich im Keller. Was machen wir hier? Haben wir uns verlaufen? Was wollten wir? Kauen. Und kauen. Auf Sand. Richtig. Mit Sahne. Fliegt die Tür auf. Die Tür fliegt auf, und herein marschieren die Models. Stampfen auf hohen Hacken, Hände in die Hüften gestemmt, die reinste Stampede. Und uns verschlägt’s kurz den Atem.
Wenn alles stillsteht. Nichts passiert, nur die Töchter vorbeischauen. Eine Illustrierte bringen, oder ein Nachthemd. Wir haben Nachthemden in Hülle und Fülle, aber es war nun mal Schlussverkauf. Das ein oder andere Härchen entfernen die Töchter, richten die Stützstrümpfe. Doch während sie noch reden und zupfen, klimpern schon die Autoschlüssel in ihren Händen. Sie brausen davon. In die Welt da draußen. Die Welt da unten. Nur eine Lichtschranke trennt uns von ihr. Und wenn wir früh genug aufstehen, hindert uns niemand. Dann ist die Rezeption noch nicht besetzt. Die Tür gläsern, dezent. RESIDENZ. Wir lieben es, wenn das Wort an uns vorbeiquietscht. Und die kühle Luft uns umarmt. Die Sonne. Wir lieben die Stiefmütterchen neben der Tür. Die könnten auch etwas Wasser vertragen, wie wir. Daneben der Aschenbecher. Im Sand die Stummel. Mit Lippenstiftrand. Verglommen. Die deutsche Frau raucht nicht. Ein Echo. Wie das Geschnatter in unserem Kopf. Bikini? Bikini! Die Stühle sind hübsch, aber fürchterlich hart. Weshalb Anni ihr Kissen mitbringt. Hart, aber herzlich, dort sitzen wir gern. Das Licht steht uns gut. Leicht gestreift. Das ist die Markise. Und die frische Luft. Der frühe Vogel. Nein, wir sind der Wurm. Irgendeine Trixi fängt uns immer ein. Führt uns zum Frühstück. Will mit uns die grauen Zellen trainieren. Uns auf Trab bringen. Unser Gedächtnis. I-ah. Der Esel muss über die Brücke. Lauter Spielchen. Eine gibt immer das Nummerngirl. Mit so einer Stimme. Die Fipsi. Nur ohne Zahlen. Ein Mädchen mit Buchstaben, in der Mitte vom Stuhlkreis. Wir beginnen mit A! Eine Stadt, ein Land, einen Fluss. Und natürlich sagt Anni nichts. Anni guckt nur, wer bin ich? Keine Stadt, eher ein Dorf. Eine Ansammlung von Höfen. Aber wir anderen brüllen: Allenstein, Angerburg! Wir brüllen Aachen! Afrika! Aller! Allerhand. Allerballer. Albanien!, lachen wir, und die Fipsi findet uns gut. Lobt unser Hirn. Ihres ist aber auch nicht schlecht. Der fällt immer noch ein Spiel ein. Und jetzt Gegenteile!, ruft sie. Ehe wir B sagen können. Sie so schnell, wir so. Langsam. Fipsi sagt: Jung!, wir sagen: Alt. Fipsi sagt: Hell!, wir sagen: Dunkel. Das klappt doch prima, freut sich die Fipsi. Und legt einen Gang zu. Klar? Trüb! Mangel, sagt Fipsi. Und wir, sind nicht blöd, sind nicht auf den Kopf gefallen: Überfluss! Nur Anni sagt leise: Bügeln. Wir beachten sie nicht, jetzt geht’s Schlag auf Schlag. Frieren? Schwitzen! Locker? Fest! Dann sagt Fipsi: Kopf!, und ehe wir antworten können, brüllt Anni schon: Arsch! Was denn, was denn, wir lachen. Füße natürlich. Und während wir noch auf unsere Füße starren. Unsere krumpligen Zehen in den Sandalen. Während wir kurz an unserer Schönheit zweifeln, hat Fipsi bereits ein neues Spiel. Drei Tiere, die Damen!, ruft sie. Nennen Sie mir drei Tiere im Stall! Und wir, automatisch: Hase, Huhn, Kuh. Drei Tiere, auf denen man reiten kann? Pferd. Weiter kommen wir nicht. Drei Pferde im Schnee, theoretisch. Doch die Gäule wanken vor Müdigkeit, ihnen bluten die Hufe. Geblähte Nüstern, wer bin ich? Wir sehen uns an. Sollen unsere Füße etwa auch mit aufs Bild? Wir haben nicht zugehört. Waren Z, zu sehr beschäftigt mit ihren Zähnen. Zürich und Zypern, aber kein Fluss. Wenn das so einfach wäre. Oben und unten, links oder rechts. Mitunter stehen wir im Park, und alles ist gleich. Wo waren wir stehengeblieben? Die Fipsis kennen immer die Antwort. Hier!, sagen sie und führen uns mit harten Fingern davon. Ein Wort quietscht vorbei, und wir sind wieder daheim. Daheim. Ein dunkler Klang. Wie oft stehen wir am Fenster! Wenn nichts passiert, nur die Strümpfe kneifen, und irgendwer stirbt. Bitterer Bonbon, der Drops ist gelutscht. Heißt es nicht so? Der Keks ist gegessen. In den Kaffee getunkt, zerfällt er im Mund. Wenn gar nichts geschieht. Nur die Uhren ticken. Im Park blühen die Hortensien. Die Enten führen ihre Küken spazieren. Irgendwer ist tot, und wir überlegen, wer wohl als Nächstes rausfliegt. Bitte nicht Else. Wie wär’s mit der Kraushaarigen? Die mögen wir nicht. Eine muss gehen, so viel steht fest. Die Tote stand uns nicht nahe. Wohnte auf einem anderen Flur. Ihren Namen haben wir vergessen, vielleicht nie gekannt. Wir sitzen am Fenster und sehen den Leichenwagen vorm Haus. Anni winkt, da winken wir mit. Letztes Geleit. Haben ja sonst nichts zu tun. Der Wagen gleitet davon, ist auch schon verschwunden. Ein leises Schnipsen ertönt, holt uns zurück. Wir erinnern uns wieder. Wir saßen bei Tisch. Haben beraten, wer kriegt den Braten? Wir erinnern uns gut.
Welchen Braten?, fragt Anni. Oh Wölkchen, da war uns klar, Anni hat kein Interesse. Keine Verwendung für Salvatore. Und natürlich hat vieles für Else gesprochen. Vor allem: ihr Nerz. Elegant und ein bisschen gefährlich. Unsere Freundin trägt nichts weiter als ein Nachthemd darunter. Das schreit doch Affäre. Affääääre?, schreit Else. Ist sich, äh, nicht so sicher, was das Äffchen will. Sie vom Affen? Äh. Zucker. Äh. Umrühren. Es gibt Kaffee. Wir sitzen bei Tisch, und Else runzelt die Stirn: Was bittschön glaubt ihr, mach ich mit dem? Wir sitzen bei Tisch, und Else möchte eins klarstellen: Eins sollen wir, soll alle Welt wissen. Ein für alle Mal: Die schöne Else fasst keiner an! Die ist genug angefasst worden in ihrem Leben. Ist gestoßen worden, auch wenn sie geschrien hat. Gebissen und bespuckt wurde sie auch. Die haben nur von ihr abgelassen, weil sie gedacht haben, sie wäre hinüber. Frau kaputt!, die haben Else einfach liegen gelassen im Keller. Und als Elses Mann. Irgendwann stand er vor der Tür. Als der Krieg längst vorbei war, ist er gekommen. Wollte seine Else zurück. Hat’s erst mit Flehen versucht, dann mit Schimpfen. Elses Mann ist ein Guter, schimpft nur ganz leise, an ihrem Ohr: Was tust du mir an? Ein geduldiger Mann. Es vergehen Wochen, Monate, ehe er brüllt: Dass er ein Recht darauf hat. Er als Gatte. Und Else? Gibt nach, lässt sich bewieseln. Noch ein paar Jahre lang. Weil sie ja Kinder will. Was heißt schon wollen, gehört doch dazu. Was wären wir ohne Kinder! Muss ja weitergehen, irgendwie weiter. Immer nach vorn. Und das eine gibt’s nun mal ohne das andere nicht. Also schön. Aber beeil dich. Nach dem dritten Kind beschließt Else, es reicht. Von nun an muss reichen, dass Else schön ist. Kaputt, aber schön. Mehr kann kein Mensch von ihr verlangen. Pffff!, hat da Hannelore gewiehert: Nu, wenn du nur tanzen willst! Unser Stütchen. Klang ein klein wenig bissig. Hannelore auch Wanze, will tanzen, will aber noch mehr. Hannelore will küssen und knutschen, will bützen und butschen, will –
schnipsen. Wir erinnern uns gut. Wie sie, Hört euch das an!, vor uns stand und geschnipst hat: Hannelore-Salvatore! Und tatsächlich, das, cha-cha-cha, hat was. Das kann was: Hannelores Hufe werden ganz leicht. Else legt den Kopf schief, auch sie muss erkennen: Hannelore ist fällig, die hat sich den Frühling redlich verdient. Wir haben die Schmetterlinge in ihrem Bauch regelrecht rumpeln gehört. Wie lange ging das? Wochen, oder auch Tage. Schwer zu sagen, wenn die Uhr tickt und nichts weiter passiert. Was haben wir gelächelt. Bis uns die Mundwinkel wehtaten. Die Wangen. Beim Frühstück, beim Mittag, beim Abendbrot. Wie blöde gelächelt, wenn der an uns vorbei ist. Das Mannchen. Salvatore Esposito heißt er, so viel haben wir in Erfahrung gebracht. Kommt aus Mannheim. Mannchen stammt aus Neapel. Kam zum Schaffen nach Monnem und blieb. An unserem Tisch hat er nie haltgemacht. Hat nur den Hut gelüftet. Ist immer schön freundlich weiterschlawinert. Ganz ehrlich. Wir hatten schon so eine Ahnung. Haben wirklich alles versucht. Um Hannelore vom Kurs abzubringen. Der ist wirklich sehr klein! Je näher du kommst, desto kleiner. Der schrumpft! Seien wir mal ehrlich, die Hosen sind schön, aber sein Deutsch? Wir haben Gründe gefunden für unser Gefühl. Irgendwas mit seinem Lächeln. Mit dem stimmt doch was nicht! Wie aus Pappe ist der. Würde umfallen, wenn man ihn anstupst. Stüpste! Wenn den ein Weib wie Hannelore auch nur berührt. Pappkamerad, leise und böse die Ahnung. Das könnte nicht ausgehen, wie wir es uns wünschen. Wie es Hannelore verdient, braves Mädchen. Armes Mädchen!, hat Feuer gefangen, schnipst immer weiter. Seufzt: Neapel! und brennt lichterloh. Das Reisen war immer ihr Ding. Jetzt kaut sie auf ihrem Nagel. Dämliches Däumchen. Hannelore ist eine Dame. Ist ein Dampfer. Volle Fahrt voraus. Hannelore hört nicht auf uns, die fährt große Geschütze auf: Parfüm und Perlen. Mit nur einem Ziel. Sie will ihn treffen. Salvatore. Unter den Kirschblüten im Park. Die Blätter rieseln, glühende Blicke –
Mit dem glubschen Gesicht wird das aber nuscht!, sagt da jemand.
Wir erschrecken. Traum in Rosa, wir waren kurz weg. Müssen kurz eingenickt sein. Die Stimme kennen wir doch? Wir blicken zum Fernseher. Und richtig, Heidi sieht uns geradewegs an. Schüttelt den Kopf. Ist nicht überzeugt. Und als wäre das noch nicht eindeutig. Senkt Heidi den Daumen nach unten. Wie jetzt? Was soll das? Wir sind hellwach. Immerhin. Geht’s hier um die Ehre! Die Ehre von unserer Freundin, und somit auch unsere. Und ja, sicher. Hannelore ein dralles Mädchen, so viel Gesicht. Schaut immer ein wenig finster. Aber das macht sie doch wett. Durch ihren Eifer! Die braune Bluse zum Beispiel, abendelang hat Hannelore genäht. In ihrer braunen Bluse steht Hannelore am Straßenrand. Als die Jungs in den Krieg ziehen. Tritt auf der Stelle, im Gleichschritt. Steht am Straßenrand, wenn die Kerle sich prügeln. Der Schönste der Boxer hat es ihr angetan. Der tänzelt und tanzt, hüpft wie ein Hase. Wenn ihm das Haar in die Stirn fällt, wirft er mitten im Kampf den Kopf in den Nacken. Abends im Bett, beim Gedanken daran, tanzen Hannelores Füße unter der Decke. Unsere Freundin könnte selbst einen umhauen, so groß sind ihre Hände. Hannelore haut links einen um, rechts, über der Decke tanzen die Fäuste. Aber nur in der Dunkelheit. Tagsüber übt sich unsere Freundin in Anmut. Steht am Fenster. Flicht sich Zöpfe mit ihren riesigen Pranken. Nu. Was wollten wir sagen? Steno kann Hannelore, und schwimmen! Sie sollten mal sehen, wie unsere Freundin sich in die Fluten stürzt. Die krault wie ein Kerl. Hängt alle ab. Endlose Sommertage sind das, auf der Kurischen Nehrung. Salzig und glitzernd. Auch wenn man ihr das nicht ansieht. Glubsches Gesicht, nun ja. Wir geben zu, früher war unsere Freundin auch nicht viel hübscher. Hat aber Scharen von Mädels geführt! Hat sie angesteckt mit ihrem Eifer. Jede Woche haben die sich getroffen. Um Briefe zu schreiben. Ermunternde Worte für die Jungs an der Front. Am Anfang. Später sind sie ins Lazarett. Waren zur Stelle, als Hände gebraucht wurden, und Herz. Das muss doch auch zählen?
Wir blicken zum Fernseher, doch Heidi hebt nur die Brauen. Also, um hier weiterzukommen, gehört schon etwas mehr! Bei der Konkurrenz!
Heidis Daumen bleibt unten.
Konkurrenz? Wir schauen uns an, wir schauen uns um. Topfpflanzen. Darauf sind wir noch gar nicht gekommen. Dass auch andere. Buhlerinnen. Könnten uns in die Quere kommen? Widersacherinnen. Wild gewordene Weiber, wollen alle die Schönheit des Alters beschwören! Da rast unser Herz. Tick-tack-tick-tack. Ein Blick auf die Uhr. Der kleine Zeiger, der große. Es ist schon sehr spät. Die Konkurrenz schläft nicht. Falsch! Die Konkurrenz schläft. Schläft den süßesten Schönheitsschlaf, um morgen früh honigblond und frisch dem Bett zu entsteigen!
Honigblond!, aus Hannelores Brust löst sich ein Knurren, ein Name steigt auf: Ottilie! Und auch wir sehen sie vor uns. Im Park, unter Kirschblüten. Es rieselt rosa, Ottilie am Arm von einem Mann. Aber das ist doch. Wir sind überrumpelt. Während wir noch beraten, hat Ottilie längst. Hippe, die olle. Ihren Charme spielen lassen. Angebandelt hat die, mit unserem Mannchen! Und seit diesem Tag. Seit Hannelore von ihrem Spaziergang im Park zurückkam, aufs Kanapee sank. Grau und schlapp vor lauter Enttäuschung. Keines Blickes würdigen wir Ottilie mehr. Höchstens aus dem Augenwinkel nehmen wir die Schnepfe noch wahr. Wenn sie in den Speisesaal kommt. Ein seidiges Flattern. Auch dass sie beim Rommé immer gewinnt. Ottilie am Nachbartisch. Ottilie bei den Sofas am Eingang. Unsere gläserne Tür. RESIDENZ. Die haben wir im Auge. Nachmittagelang behalten wir den Eingang im Blick. Am Bildrand, aber recht deutlich. Überdeutlich sehen wir sie. Ottilie mit Kind. Ottilie mit Bengel. Wo hat die denn den Pimpf her? Wir schnauben. Wahrscheinlich ihr Enkel, der Haarfarbe nach. Ottilie Wange an Wange mit ihm. Was für ein Bild. Tick-tack-tick-tack macht unser Herz. Wir hören den Spruch schon blinken und schreien. Den Spruch zu diesem Bild: IN DIESER RESIDENZ KOMMEN DICH DEINE ENKEL GERNE BESUCHEN! In schmissiger Schrift, leuchtenden Farben. Welch ein Versprechen! Genau das, oje. Genau das wollen die Leute hören! Das glauben alle gerne, ehe sie ihre Möbel verscherbeln, die Wohnung auflösen. Ganz deutlich und kalt. Ein Gefühl. Hat sich ausgebuhlt. Ganz deutlich und klar sehen wir Ottilie. Ihr Gesicht auf der Broschüre, auf unserem Plakat. Auf dem Bus, durch ganz Europa! Uns fehlen die Worte, wir schnauben erneut. Von wegen Schönheit des Alters, höchstens achtzig ist die! Kein Kunststück, mit neunundsiebzig so auszusehen! Und außerdem. Wieso schenkt uns der Frisör keinen Honig? Etwas klebt, wir sind beleidigt. Wir sind empört. Gönnt uns der Marcel denn gar keine Farbe? Bei uns wäscht der nur. Knetet uns den Kopf, bis uns ganz schwummerig wird. Frauen aus Gummi. Bis wir vergessen haben, was unten ist, und was oben. Gestern und heute. Hilfe. So belämmert können wir unmöglich vor die Enkelin treten.
Papperlapapp!, Hannelore winkt ab. Wer weiß, ob die wirklich kommt!
Die kommt!, sagt Anni. Und wir wundern uns kurz. Über so viel Gewissheit. Doch da steht sie auch schon in der Tür, die Tochter der Tochter. Sieht Anni irgendwie ähnlich. Nur in zerrissenen Jeans. Mit grünen Haaren. Giftgrün! So haben wir das nicht gemeint mit der Farbe. Butter oder Karamell, Gold oder Platin, aber doch nicht. Grün. Wie läuft das Kind nur herum? Das riecht nach Zersetzung. Wo ist der Kamm, wenn man ihn braucht? Wir wollen das Kind flicken und kämmen, sofort. Doch man zischt uns nur an. Wir sollen es lassen, das Mädchen. Gefälligst. Die Enkelin will hässlich sein, mit zottligen Haaren und diesen rußigen Augen –
Sie hat russische Augen?
Nein, Gott bewahre! Der Russe kommt mir nicht ins Haus!
Da kreischt das Kind sofort los: Was heißt hier DER Russe? Schimpft uns ewig gestrig. Will aufstampfen. Doch Hannelore kommt dem Kind zuvor. Die Leier kennt sie, will sie nicht hören. Wo der Pfeffer wächst, soll die Enkelin bleiben.
Wieder weiß Anni es besser: So zänkisch und hässlich war die Enkelin früher! Heute ist sie ganz anders. Eine erwachsene Frau, selbst schon Mutter. Ihr habt sie doch gesehen! Bisschen müde, aber eigentlich recht freundlich.
Hannelore ist nicht überzeugt. Was, wenn sie Fragen stellt? Die falschen, die dummen? Wie dies Mädchen, wisst ihr nicht mehr?
Wir schütteln die Köpfe.
Die Tochter von XY. Wie hieß die gleich wieder?
Ach. Und ganz leise: Ja. Jaaa. Da war mal eine. Von den Trixis. Xenia Yvonne. Mit Brillant im Zahn. Mit rosa Strähnen im Haar. Ihre Tochter war auch noch sehr jung. Musste Sozialstunden ableisten. Hatte Schminke geklaut. Langfinger, Fliegenbein. Wir erinnern uns an ihre Wimpern, die waren schön. Gar nicht schön ihre Fragen. Die hat uns gelöchert. Mit Wörtern und Nullen. Wollte alles wissen von früher. Für irgendein Schulprojekt. Dies bockige Mädchen. So viele Nullen! Als könnten wir das erklären. So viele Tote, wir schütteln den Kopf. Immer noch eine Rechenaufgabe und noch eine. Und nie hat unsere Antwort gestimmt. Schönen Dank auch. Unsere grauen Zellen halten andere auf Trab. Verstehst du? Die Zahl ist zu groß. Drei, das begreifen wir noch. Können wir uns vorstellen: drei Blumen. Sonnenblume, Narzisse, Gerbera. Auf dem Tisch steht ein Strauß. Unter der Vase ein Deckchen. Die Dompteuse treibt uns voran. Klipp, klapp, I-ah. Die Schritte, ein Trampeln in unserm Kopf. Tick-tack. Wo ist die Brücke? Ein Stapfen im Schnee. Das knirscht nur so laut. Kannst du bitte mal still sein? Danke. Jetzt noch mal, ganz ruhig: Wie lautet die Frage? Was willst du von uns? Langfinger klimpert uns an mit diesen ewigen Wimpern. Das ist ein Tosen, ein dunkler Klang, wir sind wieder daheim. Nein, nein, wir ducken uns. Wir blicken zu Boden, sehen die Spuren im Schnee. Sehen unsere Füße, in Strümpfen, gestützt und geschnürt. Wir sind so weit gekommen.
Ein harmloses Frauenzimmer!, ruft Hannelore.
Stimmt ganz genau. Hat nämlich der Richter gesagt. Sonst hätten wir wohl kaum unseren Stempel bekommen! Von wegen Nazi. Das sind große Worte, die du da spuckst. Gelacht hat der Richter, als er unsere Akte zuschlug: Da gibt es ganz andere als Sie, wertes Fräulein! Hörst du? Ganz andere als uns. Bleib uns bloß weg mit deinen Nullen. Wir können doch auch nichts dafür. Bleib uns weg mit deinem Daumen! Nach unten, na und? Wir haben unseren Stempel. Sonst säßen wir heute nicht hier. Mit reinem Gewissen.