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Belfast, 1992. Der ehemalige Detective Inspector Sean Duffy hat sich unlängst mit seiner Familie nach Schottland abgesetzt. In Belfast ist er nur noch tageweise. Doch als ein Landschaftsmaler ermordet wird, muss Duffy ein paar Extratage dranhängen. Alles sieht nach Autodiebstahl mit tödlichem Finale aus: Jemand hatte es auf den Jaguar des Opfers abgesehen, wurde überrascht, eine Waffe ist losgegangen. Doch ein Blick auf die Werke des Malers wirft die Frage auf, wie er damit genug Geld für einen Luxuswagen hatte verdienen können. Und wieso hat er regelmäßig eine Telefonnummer in der Republik Irland angerufen? Eine Nummer, die zu IRA-Funktionären im Exil führt. Duffy lässt sich nicht mit einfachen Lösungen abspeisen und gräbt tiefer. Bis er selbst von allen Seiten unter Beschuss gerät …
Im Belfast der Neunziger ist plötzlich alles anders: Der Milchmann hat seinen Dienst quittiert, die Musik kommt von CD, und der katholische Bulle Sean Duffy ist ein Familienmensch mit Hauptwohnsitz in Schottland. Doch als er von einem dubiosen Mordfall auf den Plan gerufen wird, will Duffy unbedingt beweisen, dass ein alter Hund sehr wohl neue Tricks lernen kann.
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Seitenzahl: 432
Veröffentlichungsjahr: 2020
Adrian McKinty
Alter Hund, neue Tricks
Thriller
Aus dem Englischen von Peter Torberg
Suhrkamp
Hang on St. Christopher with the hammer to the floor, Put a high ball in the crank case, nail a crow to the door, Get a bottle for the jockey, gimme a 294, There’s a 750 Norton bustin down January’s door …
Tom Waits, Hang On St. Christopher, 1987
Der Mensch vergisst, dass er ein Toter ist, der mit Toten verkehrt.
Jorge Luis Borges, Das Sandbuch, 1977
1
Die Buchhandlung war gesteckt voll. Alle acht Stühle waren besetzt, an der hinteren Wand standen weitere sechs Personen. Ciaran Carson kam mit einer Tasse Tee, ein paar DIN-A4-Blättern und einem Gedichtband aus einem Nebenraum. Er trug einen dunkelblauen Anzug, ein weißes Hemd und eine rote Krawatte. Er war ein schlanker, selbstbewusster Mann mit kurzen schwarzen Haaren und ovaler Brille. Er sah aus wie ein Gelehrter der alten Sprachen, und das war er natürlich auch. Er sagte Guten Abend und begann mit seinem ersten Gedicht.
»Als die Bereitschaftspolizei aufmarschierte, regnete es plötzlich Ausrufezeichen. Muttern, Schrauben, Nägel, Autoschlüssel. Ein Satz kaputter Schrifttypen. Und die Explosion selbst – ein Asterisk auf der Landkarte …«
Die Veranstaltung lief sehr gut. Seamus Heaney, Derek Mahon und Paul Muldoon saßen im Publikum, und auch alle anderen waren entweder ernsthaft poesieverrückt oder Möchtegerndichter. »Hier drin ist es ja so wie damals, als die Sex Pistols in der Lesser Free Trade Hall in Manchester gespielt haben«, wollte ich zu jemandem sagen, aber keiner von diesen Leuten hätte verstanden, worüber ich da laberte.
Carson las aus The Irish for No und Belfast Confetti und aus seiner hervorragenden Übersetzung der Táin Bó Cúailnge.
Die Fragerunde wurde eröffnet, doch befiel uns die übliche peinliche Zurückhaltung der Einwohner von Ulster.
»Worin bestehen die Schwierigkeiten bei der Übersetzung von irischen Versen ins neuzeitliche Englisch?«, hörte ich mich fragen, und nachdem mir das entfleucht war, war ich ziemlich erleichtert, von Carson und dann Heaney nur freundliche Antworten zu erhalten, dazu eine lustige und recht gelehrte Bemerkung von Muldoon.
Ich ließ mir ein paar Bücher signieren und trat zufrieden auf die Ormeau Avenue hinaus.
Es war noch früh, erst sieben Uhr abends, und meine Fähre ging um Mitternacht. Vielleicht noch ein ruhiges Bier in der Crown Bar oder in Kelly’s Cellars? Oder Kino?
Ich fand eine Telefonzelle und rief Beth in Portpatrick an.
»Hi, wie geht es dir?«, fragte sie.
»Gut. Ich bin zu dieser Lesung gegangen.«
»War es gut?«
»Sehr gut.«
»Und was machst du jetzt?«
»Ich schlage nur die Zeit tot. Ich nehme die Fähre um Mitternacht.«
»Wie war’s denn auf dem Revier?«
»Richtig, richtig langweilig.«
»War ja nicht anders zu erwarten.«
»Ja.«
Ich ging jetzt sechs Tage im Monat zur Arbeit, das Minimum, das man brauchte, um nach der Pensionierung die vollen Bezüge zu erhalten. Normalerweise blieb ich drei Tage, machte dann zwei Wochen frei und war Ganztags-Dad in Schottland, um danach die Fähre zu nehmen und weitere drei Tage zu arbeiten. Bis vor einem Jahr war die langweilige Büroarbeit nur meine Tarnung gewesen, weil ich in Wahrheit der Sachbearbeiter für einen Agenten der IRA bei der Polizei war, den wir in einen Doppelagenten umgedreht hatten: Er fütterte die IRA mit falschen Informationen und versuchte, Hinweise für uns aufzuschnappen. Allerdings hatte sich diese Mehrfachbelastung von Assistant Chief Constable John Strong gerächt. Er hatte in seinem Hinterhof einen Birnbaum mit der Kettensäge gestutzt und dabei einen Herzinfarkt erlitten. Zwar hatte die Kettensäge ihn nicht umgebracht, dafür aber eine Reihe seiner geliebten Gartenzwerge dahingerafft, bevor die Kettenbremse auslösen konnte.
Eine Stunde lang hatte er nach Luft schnappend zwischen den abgetrennten Köpfen seiner Gartenzwergarmee in der Sommerhitze gelegen, bis er starb; ausgleichende Gerechtigkeit, wenn es nach jenen ging, die von seinen Verbrechen und seinem Geheimnisverrat gewusst hatten.
Er war im Beisein einer Ehrenwache der Royal Ulster Constabulary und mit allem Brimborium zu Grabe getragen worden; ein paar Tage später hatte eine kleine Gruppe maskierter IRA-Leute für »einen der Unseren« Salut über seinem Grab abgefeuert.
Nach Strongs Tod hatte sich der falsche Papierkram in echten Papierkram verwandelt. Als Teilzeitpolizist durfte ich keine Kriminalfälle mehr bearbeiten, was bedeutete, dass ich bis zum glorreichen 31. August 1994, meinem letzten Arbeitstag, in der Verwaltung arbeiten und gelegentlich als Verkehrspolizist eingesetzt werden würde; danach konnte ich nach zwanzig Dienstjahren bei der RUC in Pension gehen. Und wenn ich es irgendwie lebend bis zum 31. März 1995 schaffen sollte, würde ich die Bezüge erhalten, die mir nach voller Dienstzeit zustanden.
Wir würden ja sehen.
Rein instinktiv wollte ich so bald wie möglich den Dienst quittieren.
»Langweilig finde ich gut«, meinte Beth. »Langweilig höre ich gern. Langweilig heißt, dass du nicht bei Sondereinsätzen oder zur Fußstreife an der Grenze eingesetzt wirst.«
»Nichts dergleichen. Dafür habe ich ein Attest. Meine Knie sind zu kaputt für Sondereinsätze und Fußstreife«, entgegnete ich.
»Gehst du heute Nacht aufs Revier?«
»Ja. Aber nur kurz. Ich muss meinen Stundenzettel abgeben.«
»Grüß Crabbie und Alex von mir.«
»Mach ich, falls sie da sind. Wie geht’s Emma?«
»Bestens.«
»Gibst du sie mir?«
»Sie ist schon ins Bett gegangen. Aber ich kann sie ja wecken.«
»Nein, nein. Lass die Kleine schlafen.«
»Soll ich auf dich warten?«
»Nein, geh ruhig schlafen. Ich bin leise, wenn ich nach Hause komme«, sagte ich. Die neue SeaCat-Fähre von Larne nach Stranraer in Schottland brauchte nur eine Stunde über den Nordkanal, wenn also alles gutging, würde ich um halb zwei zu Hause in Portpatrick im Bett sein.
»Okay, ich liebe dich, Sean … bye!«
»Ich liebe dich auch.«
Ich legte auf und ging zum Kino an der Great Victoria Street.
Es handelte sich um ein Multiplex mit einem großen Angebot. Merkwürdigerweise gehörten zu diesem Angebot gleich vier Filme mit irischen Themen: In einem fernen Land mit Tom Cruise und Nicole Kidman; Die Stunde der Patrioten mit Harrison Ford; Cal mit Helen Mirren und The Crying Game mit Stephen Rea. In einem fernen Land war die Geschichte eines hin- und hergerissenen irischen Rebellen, der nach Amerika flieht, um den bösen Briten zu entkommen; Die Stunde der Patrioten handelte von einem hin- und hergerissenen irischen Rebellen, der sich mit Harrison Ford und den bösen Briten anlegt; Cal handelte von einem hin- und hergerissenen irischen Rebellen, der einen bösen Briten umbringt und sich in dessen Freundin verliebt, und The Crying Game handelte von einem hin- und hergerissenen irischen Rebellen, der einen bösen Briten umbringt und sich in dessen Freundin verliebt, die sich dann als Mann entpuppt. The Crying Game war der aus künstlerischer Sicht interessanteste Film, allerdings war ich selbst in eine Honigfalle der IRA getappt, deshalb ging mir die Geschichte etwas zu sehr an die Nieren.
Also beschloss ich, in der Crown Bar in Ruhe ein Glas zu trinken.
Ein gut eingeschenktes Pint Guinness im abgewetzten Hinterzimmer der wunderbaren Crown Bar in Belfast ist für viele der Inbegriff vom Himmel auf Erden. Ich durchlief allerdings gerade das bei mir übliche existentielle Stadium, das mich immer nach Abschluss meiner paar Diensttage überkam, und war keineswegs dem Ort angemessen entspannt.
Es war das Schicksal so vieler langgedienter Polizisten, einen Erlöser-Komplex zu entwickeln und die jugendlichen Versuchungen, die missionarischen Reisen, die Offenbarungen und schließlich das Martyrium zu durchlaufen. Ich war offenkundig im Stadium des Martyriums angelangt. Mit dem Ableben des von mir geführten Agenten war ich zu einem nutzlosen Teilzeitpolizisten in der Reserve geworden. Papierkram, Kleinscheiß und Revierdienst, so lauteten die Strafen, die überqualifizierten Teilzeitpolizisten drohten, welche nur ein paar Tage im Monat zum Dienst kamen.
Ich saß also gemütlich hinten rechts in der Crown Bar, als ich das unmissverständliche Zischen von Molotow-Cocktails hörte, die durch die Luft flogen und beim Aufprall auf der Straße in einer Stichflamme aus Benzin explodierten.
Ich stand auf und trat an die lange Theke aus rotem Granit. »Was ist denn los, John?«, fragte ich den bulligen Barkeeper.
»Irgendwelche Unruhen. Die Polizei hat den Marsch des Oranier-Ordens über die Ormeau Road gestoppt, also haben sie die guten alten Steine und Flaschen wieder herausgeholt. Spiel und Spaß, du verstehst?«
Und so ging es heutzutage in jedem Juli in Belfast zu.
Früher mal konnte der Oranier-Orden in Nordirland marschieren, wo er wollte, und die Polizei schützte den Marsch, doch in den letzten paar Jahren hatte sie sich bemüht, unparteiischer zu sein, und hatte nicht zugelassen, dass die Parade der Oranier durch die vorwiegend katholischen Teile von Belfast zog. Manchmal nahmen die Oranier und deren Sympathisanten die Umleitung ihrer traditionellen Marschroute gelassen hin, andere Male hingegen versuchten sie, die Straßensperre der Polizei zu durchbrechen, wogegen sich die Polizei wehrte, und schon gab es Unruhen. Häufig tauchten dann noch Wachmannschaften aus den katholischen Vierteln auf, um die Oranier anzugreifen, die Polizei steckte zwischen zwei Fronten, und dann griffen natürlich alle die Polizei an, wie immer.
Als Teilzeitinspector, der dienstfrei hatte, war es wohl meine Pflicht, nachzuschauen, ob ich helfen könnte, oder nicht?
Scheiß drauf.
Ich bestellte mir noch ein Pint Guinness und kehrte an meinen Platz zurück. Ich las die Gedichte von Ciaran Carson, die ich gekauft hatte, und einen neuen Versband von Paul Muldoon. Eine angenehme Art, eine Stunde zu verbringen: Guinness trinken, während sich die Polizisten und Randalierer draußen gegenseitig bewarfen.
Als ich mein Bier ausgetrunken hatte und die Crown Bar verließ, war es unheilvoll still draußen.
Polizei- und Armeehubschrauber schwebten über dem Westteil der Stadt, und überall hing der Qualm brennender Reifen und geklauter Fahrzeuge. In der Nähe des Kinos lag ein nagelneuer Mercedes stumpf und schmachvoll auf dem Dach. Herausgeputzte Männer in Sturmhauben und Jeans stolzierten über den Mittelstreifen auf der Great Victoria Street, Ecke Glengall Street.
Ich schaute mich nach der RUC um und entdeckte sie weit außerhalb des Unruhegebiets hinter einem Kordon aus Land Rovern an der Belfast City Hall. Dort standen mit glitzernden Schilden und Helmen die bis an die Zähne bewaffneten thebanischen Legionen auf den dürren Feldern von Leuktra.
Ich musste über diesen romantischen Einfall lächeln, doch war die Szene durchaus verstörend.
Wenn die Polizei dort hinten stand, wer kontrollierte dann die Straßen?
Das sollte ich bald herausfinden.
Ich ging zum mehrstöckigen Parkhaus neben dem Kino, stellte fest, dass die Sicherheitsschranke abgebrochen worden war; der Typ hinter dem Schalter war schon längst verschwunden, und offenkundig waren mehrere Fahrzeuge von der ersten Etage geklaut worden. Autodiebe auf der ganzen Welt liebten BMWs, deshalb war ich ziemlich erleichtert, meinen schwarzen 325i, Baujahr 1991, unversehrt vorzufinden. Ja, ich weiß schon, andauernd rede ich über den 3er BMW, aber dieses Monster brauchte von 0 auf 100 nur siebeneinhalb Sekunden und brachte es auf dem Motorway auf 240 km/h, und manchmal war es in schwierigen Situationen schon gut zu wissen, dass man auf dem Motorway 240 fahren konnte.
Ich schaute unter dem Wagen nach einer Quecksilberzündvorrichtung, fand keine und stieg ein.
Ich drehte den Schlüssel im Zündschloss, Motor und Radio gingen an. Aus den Lautsprechern kam Nirvana. Man kann ja über Nevermind sagen, was man will, ein schwaches Punkalbum mit Riffs, die nach Pixies, Rainbow und Boston klingen, aber es war gut, nach einem Jahrzehnt voller musikalischer Finsternis aus Synthesizern und Bubblegum-Pop mal wieder ordentliche Musik auf BBC Radio 1 zu hören. Zwar waren die meistverkauften Alben in Großbritannien immer noch die von Simply Red, Annie Lennox und Michael Bolton, aber es hatte schon was zu bedeuten, dass Nevermind in den USA Michael Jackson vom ersten Platz der Billboard Charts verdrängt hatte.
Nach einer halben Meile auf der Great Victoria Street stieß ich auf die erste Straßensperre der Paras. Ein Dutzend Männer mit Sturmhauben hatten brennende Reifen auf die Straße gelegt und hielten Fahrzeuge an, die nach Norden wollten. Sie trugen passende Jeansjacken und waren mit Aluminium-Baseballschlägern, Messern und Macheten bewaffnet, und mindestens zwei von ihnen hielten abgesägte Schrotflinten in den Händen.
Ich konnte nicht genau erkennen, was da vor sich ging, doch war es offenkundig. Die Paras befragten an der Straßensperre jeden Fahrer: Gefielen ihnen die Antworten, ließen sie ihn weiterfahren, wenn nicht, dann zwangen sie ihn auszusteigen, nahmen ihm den Wagen weg und ließen ihn zu Fuß nach Hause gehen.
Ich schaute mich um, ob ich wenden konnte, aber die Straße hinter mir war dicht.
Alle versuchten, die Stadt zu verlassen.
Polizei und Armee waren nirgendwo zu sehen.
Ich saß in der Klemme.
Handelte es sich um protestantische Paras und sie bekamen mit, dass ich Katholik war, würden sie mir befehlen auszusteigen und vielleicht versuchen, mich umzubringen. Handelte es sich um Männer der IRA und sie fanden heraus, dass ich ein katholischer Polizist war, würden sie mir befehlen auszusteigen und ganz bestimmt versuchen, mich umzubringen.
Belfast im Juli: eine Dichterlesung, ein gemütliches Pint von dem schwarzen Zeug, ein Lynchmob mit Baseballschlägern und Gewehren …
Der Wagen vor mir rollte auf die Straßensperre zu. Der beißende Gestank der brennenden Reifen drang durch die Lüftung.
Wahrscheinlich hätte ich aussteigen, eine Szene machen und den ganzen Haufen verhaften sollen. Und wenn ich einer dieser Bullen aus dem Fernsehen gewesen wäre, die sich immer auf dem Kreuzzug befinden, dann hätte ich wohl genau das getan. Aber das war nicht meine Rolle.
Der Wagen vor mir wurde durchgelassen, und nun kam ich an die Reihe.
Ein untersetzter Kerl mit Sturmhaube klopfte mit behandschuhten Fingern an die Scheibe auf der Fahrerseite. Er hielt ein Armalite-Sturmgewehr in der Hand. Sein Kumpel hatte eine Pistole Kaliber 9mm.
»Kurbel mal die Scheibe runter!«, befahl er mir.
Ich tat wie geheißen und machte das Radio aus.
»Ja bitte?«, fragte ich.
»Wo willst du hin?«, fragte der Mann.
»Und wer will das wissen?«
Der Mann drehte sich zu einer schemenhaften Gestalt in grauer Jeansjacke hinter sich um, der eine Repetierflinte in den Händen hielt.
»Er fragt, wer das wissen will«, sagte der Mann.
»Was ist denn das für einer, dass er uns Fragen stellt?«, wollte der Mann mit der Flinte wissen.
»Ich will nur wissen, ob Sie von der IRA oder der UVF sind. Dass Sie nicht die Polizei sind, sehe ich«, sagte ich.
Der Mann mit der Flinte trat vor und schlug gegen die Windschutzscheibe. »Wir stellen hier die Fragen, verdammt noch mal!«
Alle Männer an der Straßensperre drehten sich um und schauten mich an.
Himmel, mit meinem losen Mundwerk hatte ich alles versaut.
Die Arme des Mannes mit der Flinte waren mit Tattoos übersät, die zu schlecht gemacht waren, um sie lesen zu können. An seinem dicken, schmalzfarbenen Hals baumelte allerdings ein Goldkettchen, auf dem die Buchstaben ULSTER prangten. Es handelte sich also um einen loyalistischen Para. Und das waren sie alle. UVF oder UDA. Ein köstlicher Schauder blanker Angst fuhr mir langsam die Wirbelsäule hinunter. Wenn sie besonders schlechter Laune waren und Ausschau nach einem beliebigen Katholiken hielten, den sie umlegen konnten, dann war ich vielleicht ihr Mann des Tages.
Ich war natürlich bewaffnet, aber eine sechsschüssige Pistole gegen ein Dutzend Männer mit Schrotflinten und M16-Sturmgewehren? Das sah nicht gut aus.
Falls sie mich mitnahmen, hatte ich noch eine Karte im Ärmel. Fast buchstäblich.
Seit dem Zwischenfall vor zwei Jahren, als eine Zelle der IRA versucht hatte, mich auf dem Hochmoor zu exekutieren, hatte ich eine Rasierklinge und einen Dietrich im linken Ärmel meiner Lieblingslederjacke stecken; in einer extra dafür angefertigten Tasche. Wenn sie mir Handschellen anlegen und mich mitnehmen würden, hatte ich zumindest eine klitzekleine Chance. Wenn sie beschlossen, mich einfach auf der Straße umzunieten wie einen tollwütigen Hund, hatte ich gar keine Chance.
»Also, Kumpel, beantworte uns mal die Frage, wohin du willst«, sagte der erste Mann, setzte seinen großen, dreckigen Stiefel auf die glänzende blaue Motorhaube meines BMW und richtete seine Flinte auf mich.
Ich streckte die Hand nach meiner Waffe aus. Scheiß auf die klitzekleine Chance – wenn der Kerl weiter so an meinem Wagen herumsaute, würde ich das Arschloch abknallen.
»Carrickfergus«, antwortete ich wahrheitsgemäß.
»Carrickfergus?«, wiederholte der Mann mit der Flinte.
»Aye.«
»Ein Drecksloch«, verkündete die Flinte.
Darauf erwiderte ich nichts.
»Und, was hast du dazu zu sagen?«, hakte der Mann nach.
»Selbst wenn ich für die Handelskammer arbeiten würde, würde ich den Teufel tun, einem Mann zu widersprechen, der eine Schrotflinte auf mich richtet«, sagte ich in die freudlose Stille hinein.
»Wo in Carrickfergus?«, wollte der erste Mann wissen.
»Coronation Road, Victoria Estate«, antwortete ich.
»Victoria Estate? Kennst du Bobby Cameron?«
»Den kenne ich gut.«
»Wie sieht er aus?«
»Wie ein fetter Brian Clough.«
»Ha! Ja! Das ist er. Also gut. Du kannst fahren. Ach übrigens, nettes Auto«, sagte der Mann mit der Flinte.
»Danke sehr«, sagte ich und fuhr langsam durch den Korridor aus brennenden Reifen.
Ein Kerl aus Carrickfergus, der Bobby Cameron kennt? Nicht gerade das ideale Opfer. Wenn sie meinen Wagen klauten, würde ich mich vielleicht bei Bobby beschweren und die Beschwerde würde die Befehlskette entlang weitergereicht …
Das alles ging mir durch den Sinn, als ich zweihundert Meter weiter an einer weiteren Straßensperre der Paras angehalten wurde.
»Wo wollen Sie hin?«, fragte ein maskierter Mann mit Axt.
»Carrickfergus.«
»Carrickfergus? Alles Irre da«, sagte er mit einem Hauch von Neid in der Stimme. »Woher haben Sie den Wagen?«
»Ayr BMW in Schottland.«
»Schottland«, sagte er ungläubig, als hätte ich einen weißen Fleck auf einer Landkarte des 16. Jahrhunderts benannt, der mit der Anmerkung »allhier seind Dragone« versehen war.
»Schottland«, wiederholte ich zur Vergewisserung.
»Schottland, hm? Was arbeiten Sie denn so?«
»Ich bin Buchhalter.«
»Buchhalter? Ein langweiliger Sesselpuper?«
Seine Angewohnheit, das letzte Wort, das ich gesagt hatte, zu wiederholen, hatte komische Qualitäten, aber ich wusste, wenn ich mir irgendeinen Witz erlauben würde, dann würde das nicht gut für mich enden, oder letzten Endes für ihn.
»Ja. Ich bin ein langweiliger Sesselpuper.«
Der Axtmann lachte. »Sesselpuper. Das hier ist doch bestimmt das Aufregendste, was Sie das ganze Jahr über erlebt haben, hm?«
»Ja«, antwortete ich.
»Aye. Wusste ich’s doch. Na, fahren Sie schon, bevor Sie sich in die Hose machen!«, sagte er, und all die anderen Maskierten lachten. Das war wahrscheinlich auch für sie das Aufregendste, was sie das ganze Jahr über erlebt hatten. Eine Gelegenheit, Macht über Männer und Frauen auszuüben, die von der Arbeit nach Hause fuhren, Männer und Frauen, die tatsächlich eine Arbeit hatten, Männer und Frauen, die tolle Autos fuhren …
Nach der dritten Straßensperre beschloss ich, die Stadt nach Westen zu verlassen, nicht nach Norden. Also durch die katholischen Viertel, wo die UVF nicht den Mut hatte, brennende Reifen auf der Straße aufzureihen.
Ich fuhr die Divis Street und die Falls Road entlang.
Dann die Sebastopol Street und die Odessa Street hoch.
Hier war es ruhiger. Diese Gegend wurde von Männern in langen Mänteln bewacht, die in den Hauseingängen standen …
Über mir war plötzlich ein Lärm, als würde sich Lemmy von Motörhead räuspern; tatsächlich handelte es sich um einen Chinook-Armeehubschrauber, der tief über die Dächer flog. Das war nur eine Machtdemonstration. Auf gar keinen Fall würde die Armee gegen dieses Pack auf der Great Victoria Street aufziehen. Das Pack würde vielleicht die Soldaten angreifen, die Soldaten würden zurückschießen, und schon gäbe es ein verfluchtes Blutbad.
Schließlich kam ich auf die Springfield Road, von der aus es jede Menge Möglichkeiten gab, die Stadt hinter sich zu lassen. Das Straßenlabyrinth, die Straßensperren und die Aggressivität hatten ihre Spuren hinterlassen. Mir zitterten die Hände. Ich betrachtete mich im Rückspiegel. Angst stand in diesen graublauen Duffy-Glubschern. Du hast doch sonst nie Angst gehabt, oder? Das kommt davon, wenn man ein Kind hat. Plötzlich geht es um etwas. Man hat etwas zu verlieren.
Ich schaltete das Radio ein, doch ein Song mit dem Titel »Achy Breaky Heart« von jemandem namens Billy Ray Cyrus regte mich derartig auf, dass meine Angst beim zweiten Refrain verflogen war.
Schließlich entkam ich Belfast auf der guten alten Crumlin Road ganz im Westen der Stadt. Ich fuhr durch die relativ ungefährlichen nördlichen Vororte und hielt bei einem friedlich wirkenden Pub aus Porenbetonsteinen in Jordanstown an.
Der Schuppen wurde nur von Ortsansässigen frequentiert; zähen Burschen, die sich an Pints mit Harp festhielten (immer ein schlechtes Zeichen) und sich Folk auf einem uralten Tonbandgerät anhörten.
Trotzdem, ich brauchte einen Drink, um meine Nerven zu beruhigen und den Durst zu stillen. Ein halbes Pint Bass würde schon langen.
Ich setzte mich auf den Barhocker und weckte die Aufmerksamkeit des Barkeepers.
Es handelte sich um einen großen Kerl mit Schnurrbart und einem abgeschnittenen weißen T-Shirt, das seine Knasttattoos noch betonte. Die Tattoos verrieten mir, dass er seine Mutter liebte, ein Mädchen namens Denise, Manchester United und Ulster.
»Alles okay, Kumpel? Nur ein kleines Halbes Bass, bitte, ich muss noch die Fähre kriegen«, sagte ich und legte einen Fünfer auf den Tresen. Ein paar Männer schauten von ihren Gläsern auf und schauten wieder weg.
In der Bar gab es einen Zigarettenautomaten, aber ich hatte seit über einem Jahr nicht mehr geraucht, und ich wollte diesen Strolchen hier nicht das Vergnügen bereiten, miterleben zu dürfen, wie ich rückfällig wurde.
»Die Zeiten ändern sich, hm?«, fragte der Barkeeper und wischte den Tresen ab.
»Was meinen Sie damit?«
»Wenn früher ein Fremder ins Pub gekommen wäre und sich ein kleines Halbes bestellt hätte, dann hätte ihn jeder als Schwuchtel beschimpft.«
»Aye, und heutzutage erntet man nur ein paar schmutzige Blicke und eine nervige Unterhaltung mit dem Barkeeper. Ein halbes Pint, Mann, und zwar zackig, ich muss die Fähre noch kriegen«, entgegnete ich.
Der Barkeeper legte sich das Putztuch über die Schulter.
»Dann sollten Sie sich vielleicht aus dem Staub machen und die Fähre nehmen, Mann«, sagte er.
Ich seufzte. Warum kostete in dieser Stadt eigentlich alles eine solche Mühe?
Ich war nicht in der Stimmung dafür. Vielleicht wäre ich ja nach einem Vormittag, an dem ich nichts anderes getan hätte, als ein paar Tassen Kaffee zu trinken und Strafzettel wegen Falschparkens zu sortieren, in der Stimmung für ein wenig Hickhack gewesen, aber doch nicht bei abklingendem Adrenalinspiegel.
Ich fragte mich, wie ich diese Szene in der düsteren Komödie meines Lebens am besten anlegen sollte. Am einfachsten wäre es zu gehen. Nimm dein Geld und verschwinde. Am zweiteinfachsten wäre es, meinen Dienstausweis zu zücken und ihn zu zwingen, mir das verfluchte Bier zu zapfen. Doch wie der alte Marc Aurel schon sagte: »Πρὸ ἔργου γίνεται τὸ τοῦ ἔργου τούτου ἐφεκτικὸν καὶ πρὸ ὁδοῦ τὸ τῆς ὁδοῦ ταύτης ἐνστατικόν.« Ja, ich weiß, das kommt einem leicht von der Zunge, oder? Schlagen Sie es doch mal nach. Marc Aurel hat eine Menge von sich gegeben, aber im Grunde heißt das: Was im Weg steht, wird zum Weg.
Also beschloss ich, weder meinen Ausweis zu zücken noch zu gehen. Nein, der Barkeeper und seine Kumpane waren gerade zu einem meiner Sonderprojekte geworden.
Ich schob den Fünfer näher zu ihm hin und beugte mich über den Tresen.
»Sie müssen mich mit jemand anderem verwechselt haben, Mann.«
»Das hier ist mein Lo…«
»Tun Sie mir einen Gefallen, schauen Sie mir in die Augen und sagen Sie mir, was Sie da sehen«, sagte ich langsam und deutlich.
»Wie bitte?«
»Schauen Sie mir in die Augen, aber richtig, und sagen Sie mir, was Sie da sehen.«
»Sind Sie so eine Art Schwuchtel?«
»Schauen Sie.«
Zögernd blickte er auf und schaute mir in die Augen. Grünblaue Iris mit einer Spur von etwas Dunklem. Doch sein Dunkles konnte sich mit meinem nicht messen. Ich war niemand, der sich gewohnheitsmäßig vergackeiern ließ, und für heute reichte es schon lange.
Ich ließ ihn einen Blick auf all die Männer werfen, die ich verfolgt hatte, die ich hinter Gitter gebracht hatte und die ich umgebracht hatte.
Man wird nicht Barkeeper – auch in einem solchen Schuppen nicht –, ohne ein wenig über die Natur des Menschen zu lernen.
Er sah.
Er wusste Bescheid. Ich mochte vielleicht über vierzig sein, ich mochte vielleicht nur ein Teilzeitpolizist sein, ich mochte vielleicht einen weichen Kern haben, ich mochte vielleicht seit einem Jahr nicht mehr an einem Fall gearbeitet haben, aber ich war der am meisten Schrecken einflößende Mistkerl, dem er seit Langem begegnet war.
Ich lächelte ihn an und entspannte mich.
Der Film meines Lebens wechselte von Nahaufnahme zur Zwei-Personen-Einstellung. Der Barkeeper tat einen Schritt zurück, nahm ein leeres Glas aus dem Regal und zapfte ein halbes Pint.
»Geht aufs Haus«, sagte er.
»Vielen Dank«, sagte ich und trank es in einem Zug leer.
Ich ging hinaus zum BMW, schaute nach einem Sprengsatz und stieg ein.
Ich schaltete Radio 1 an. »Und als nächstes Michael Bolton, Kylie und Simply Red.«
So viel zur musikalischen Revolution. Ich machte das Radio aus und gab dem BMW auf der A2 in Richtung Polizeirevier Carrickfergus Zucker, wo unglaublicherweise ein Mordfall auf mich wartete, falls ich ihn denn haben wollte.
2
Ich stellte den BMW auf dem Parkplatz ab und ging nach oben, um meinen Stundenzettel abzugeben. Als Teilzeitreservist hatte ich kein Büro mehr. Nur einen Schreibtisch im Einsatzraum des CID, den ich mir mit Sergeant McCrabban teilte, noch so einem Teilzeitler. Crabbie war ein pflegeleichter Schreibtischpartner, es war kein Problem, sich mit ihm den Platz zu teilen, solange man sich nicht am Pfeifendunst störte, was ich nicht tat.
Ich gab den Zettel bei Mabel in der Verwaltung ab.
»Ach, Inspector Duffy, alle haben schon nach Ihnen gesucht«, sagte sie.
»Wirklich?«
»Oh ja, Chief Inspector McArthur hat angerufen. Er war sehr bestimmt. ›Wo ist denn Inspector Duffy?‹, hat er gesagt.«
»Er hat nach mir gefragt?«
»Ja.«
»Was habe ich denn ausgefressen?«
»Ich bin über die Einzelheiten nicht informiert. Mir geht’s wie den Champignons, Sean. Mich lässt man im Dunkeln.«
Ich sah auf die Uhr. Es war neun. »Tut mir leid, Mabel, aber ich muss die Mitternachtsfähre nach Stranraer erwischen. Ist das eine Aufgabe für das CID?«
»Er hat nach Ihnen gefragt, mehr weiß ich nicht.«
Ich schüttelte den Kopf. »Wie ich schon sagte, ich bin nicht mehr im Dienst. Sergeant Lawson ist der Vollzeitbeamte, wie Sie wissen, also …«
»Der ist im Urlaub.«
»Tatsächlich?«
»Ja. Auf Teneriffa.«
»Teneriffa? Wer fliegt denn schon nach Teneriffa?«
»Alle, Sean. Alle fliegen nach Teneriffa. Er kommt erst nächste Woche zurück.«
»Na, dann werden Sie wohl Sergeant McCrabban holen müssen. Ich nehme die Fähre.«
»Er hat dezidiert nach Ihnen gefragt«, beharrte Mabel. Sie schob die Ärmel ihres roten Pullovers hoch und verschränkte die Arme auf eine Weise, dass sie wie Thelma aus Scooby Doo aussah. Die bezaubernde Thelma der frühen Siebziger, nicht die neugezeichnete Thelma aus den Neunzigern, die sich bemühte, nicht ganz so ein Trottel zu sein.
»Mabel, hören Sie, ich muss gehen, Sie haben mich nicht gesehen, okay?«
»Jetzt kommen Sie mir nicht so, Sean«, sagte sie und runzelte die Stirn.
»Wie? Das ist doch unser Running Gag. Sie tun so, als wären Sie verärgert, aber wenn ich fort bin, murmeln Sie vor sich hin: ›Ts, ts, dieser Sean Duffy ist mir vielleicht einer …‹«
»Es reicht. Warten Sie im Büro des Chief Inspector, und ich schaue, ob ich ihn finden kann«, sagte sie mit strenger, unangenehm frömmlerischer Stimme.
Wenn ich in dem Büro warten würde, wäre ich verloren. Ich schüttelte den Kopf und wies auf meinen Stundenzettel. »Sorry. Ich bin nicht mehr im Dienst. Ich muss die Fähre erwischen!«, erklärte ich.
Schnell hinunter zum Wagen.
Ich fuhr zur Coronation Road 113, wo das Zu-verkaufen-Schild im Vorgarten gepflanzt war, und zwar schon seit einem Jahr. Es handelte sich um ein nettes Mittelreihenhaus mit drei Schlafzimmern in einer ziemlich netten Straße in einer ziemlich netten Gegend. Das Problem war nicht das Haus – das Problem war der Preis. Ich wollte fünfundzwanzig Riesen haben, um mir eine der schicken neuen Wohnungen kaufen zu können, die sie unten am Hafen bauten, und ein paar Pfund übrig zu behalten. Bis auf sechs Tage im Monat lebte ich in Schottland und brauchte nicht mehr als eine kleine Ein-Zimmer-Wohnung mit Blick aufs Wasser, wo ich ein paar ausgewählte Schallplatten, ein paar Dosensuppen und ein paar Klamotten lassen konnte. Doch niemand wollte mir fünfundzwanzig Riesen für ein Mittelreihenhaus mit drei Schlafzimmern in einer netten Straße geben.
Na ja, insgeheim wusste ich, dass das alles Blödsinn war: Wenn ich das Haus verkaufen wollte, konnte ich das ganz leicht tun, indem ich den Preis um sechstausend Pfund senkte. Doch die eigentliche, die zutiefst freudianische Frage war doch, ob ich das Haus tatsächlich verkaufen wollte. Ich hatte Beth gesagt, ich wolle verkaufen, ich hatte es dem Makler gesagt, und ich hatte es sogar zu mir selbst gesagt. Ich stellte mir vor, wie toll die kleine Wohnung am Hafen sein würde. Doch um ehrlich zu sein, ich liebte dieses Haus, diese Straße und diese Leute. Wir hatten eine Menge miteinander durchgemacht: ein Bombe unter meinem Wagen, die entschärft werden musste, mehrere Fälle von häuslicher Gewalt, bei denen ich um Hilfe gebeten worden war, ein Angriff der Loyalisten und der IRA …
Ich stieg aus dem Wagen und half einem schwankenden Harry Blackwell zu seiner Haustür.
»Ist noch ein wenig zu früh, um schon in diesem Zustand zu sein, Harry«, sagte ich zu ihm, denn die Pubs waren ja noch geöffnet.
»Hochzeit. Die Frau ist noch da. Hat mich heimgeschickt.«
»Eine Hochzeit? Wer von deiner Nachkommenschaft ist denn die Glückliche …«
»Irina. Der Rotschopf. Die Schwierige. Bin froh, dass sie aus dem Haus ist«, meinte Harry in einer schlechten Imitation von Tevje, dem Milchmann.
Ich half ihm durch die Haustür und ging die Straße zurück.
Ja, wir hatten eine Menge miteinander durchgemacht, die Coronation Road und ich. Das war das erste Haus, das mir gehörte. Verrückte Idee von einem katholischen Polizisten, sich ein Haus in einer protestantischen Arbeitersiedlung zu kaufen, aber als ich es 1980 gekauft hatte, war es perfekt für mich gewesen. In der Nähe des Reviers, ein großes Wohnzimmer für meine Platten, drei Schlafzimmer im oberen Geschoss und ein Schuppen draußen, wo ich ungestört meinen Schwarzen Afghanen rauchen konnte. Außerdem war es in den frühen Achtzigern die allerletzte Straße im Großraum Belfast gewesen, was irgendwie romantisch war. Die letzte Straße in Belfast – wer würde nicht dort wohnen wollen. Richtung Süden war man gleich in den Belfaster Vororten, Richtung Norden auf dem unberührten, uralten irischen Land. Das hatte sich seitdem geändert. Carrickfergus war auf die Felder nördlich der Coronation Road hinausgewachsen, und es waren viele neue Leute in die Straße gezogen, die ich nicht kannte, aber trotzdem, wie die Katze in diesem Katzen-Musical zu singen pflegt: Erinnerung …
Ich ging den Gartenweg entlang, schloss auf und ging hinein.
Vorsichtsmaßnahmen, um in Ulster zu überleben: Dietrich und Rasierklinge in der Ärmeltasche, stets unter dem Wagen nach Sprengsätzen schauen, sich niemals mit dem Rücken zum Fenster oder zur Tür setzen, stets Haus- und Hintertür kontrollieren, ob eingebrochen worden ist.
Keine Bomben, keine Einbrüche.
Ich hob ein paar Briefumschläge vom Fußboden im Flur auf und schaute nach, ob es etwas Interessantes gab.
Nichts.
Ich ging ins Wohnzimmer und schaute bei meinen Platten nach. Ich hatte etwa ein Fünftel meiner Sammlung hiergelassen (um die vierhundert Stück), damit ich in den sechs Nächten im Monat in Ulster etwas Anständiges zum Hören hatte.
Ich schaute auf die Küchenuhr.
21.15 Uhr.
Genug Zeit für eine Dose Suppe und eine Plattenseite vor der Fahrt nach Larne.
Die Suppe war Tomate, das Album Brian Enos Music For Airports, gute Musik, um sich auf den Teppich zu legen und zu entspannen.
Ich aß die Suppe, legte mich auf den Boden und entspannte mich gerade, als es laut an meiner Haustür klopfte.
Instinktiv griff ich nach meinem Dienstrevolver, außerdem nahm ich die erheblich wirkungsvollere Glock 17 9mm Safe-Action vom Couchtisch. Ich kauerte mich hin und linste mit beiden Waffen in den Händen durch das Wohnzimmerfenster. Ich sah niemanden im Garten und erkannte von der Person, die vor der Tür stand, nur den Rücken. Normalerweise kamen Attentäter zu zweit, wenn auch nicht immer.
Ich schlich durch den Flur und linste durch den Türspion.
Bei der Person handelte es sich um Chief Inspector McArthur, meinen Boss.
Ich tat einen Schritt zurück und ging auf Zehenspitzen den Flur zurück.
»Ich weiß, dass Sie da sind, Duffy, ich sehe Ihren Wagen und ich höre Ihre Musik!«, sagte McArthur.
Ich versteckte mich im Wohnzimmer und blieb mucksmäuschenstill.
»Duffy, machen Sie auf! Ich weiß, dass Sie da drin sind! Niemand sonst würde so eine Musik auflegen!«
Ich ging ein drittes Mal den Flur entlang.
Öffnete die Haustür.
»Ja?«
»Da sind Sie ja! Ich wusste doch, dass Sie zu Hause sind und dass Sie nicht ans Telefon gehen würden!«, rief er aus.
»Sie sind ja der reinste Uri Geller. An welche Spielkarte denke ich gerade?«, fragte ich und öffnete die Tür.
»Kreuz Drei.«
»Nein, Hau ab Bube. Ich muss die Fähre erwischen.«
McArthur trug Jeans, Anorak und Gummistiefel. Er hatte irgendetwas im Freien gearbeitet, als er zu einem Tatort gerufen worden war. Was bedeutete, dass es sich um etwas Ernstes handelte. Mord. Und der Grund für sein Hiersein bestand darin, mich dazu zu überreden, in diesem Mordfall zu ermitteln, jetzt, wo Lawson weg war und all das.
Auf keinen Fall.
»Darf ich hereinkommen?«, fragte er.
»Das dürfen Sie, es hat aber nicht viel Sinn. Ich bin auf dem Weg zur Fähre.«
Darauf ging er nicht ein, sondern betrat das Wohnzimmer. Ich steckte den Revolver wieder ins Schulterhalfter unter meinem Jackett und legte die Glock auf den Couchtisch zurück.
McArthur setzte sich auf die Couch; ich blieb stehen, und wir sahen uns äußerst ungemütliche fünfzehn Sekunden lang an.
»Ich habe Ihnen viele Male aus der Patsche geholfen, Duffy, als die Oberen schon auf Sie angelegt hatten«, lautete seine erste Salve.
»Ich habe das anders in Erinnerung: Ich habe Sie viele Male bei unseren Oberen rausgehauen, und als es um meine Probleme bei den Oberen ging, haben Sie den Kopf eingezogen und mich ganz allein schwimmen oder untergehen lassen«, entgegnete ich.
»Schön und gut, wir könnten jetzt die ganze Nacht darüber raschomonisieren, wenn wir wollten, der Punkt ist doch, wir haben uns gegenseitig geholfen.«
Das Verb »raschomonisieren«, das höchst unerwartet über diese Lippen kam, faszinierte mich derart, dass ich mich hinsetzte.
McArthur sah mich weitere fünfzehn Sekunden lang an und zog eine Packung Silk Cut aus der Tasche. Er bot mir eine Zigarette an, doch ich schüttelte den Kopf. Ich reichte ihm den Tuborg-Aschenbecher, den ich für Gäste hatte, die ich nicht leiden konnte.
»Was zum Teufel ist das für Musik? Ist das überhaupt Musik? Können Sie das ausmachen, bitte?«
Ich machte die Musik aus.
Ich sollte ihn wohl fragen, ob er Tee wollte. In Nordirland muss man jeden fragen, der ins Haus kommt, ob er oder sie einen Tee möchte. Und wenn es dein Erzfeind ist, kann man der zeremoniellen Frage nach Tee und Keksen nicht entgehen.
»Tee?«, fragte ich.
»Keine Zeit. Hören Sie, Duffy, es hat einen Mord gegeben.«
»Ich kann nicht. Ich bin nicht mehr im Dienst. Meine Schicht war um zwölf Uhr zu Ende. Ich habe meine sechs Tage diesen Monat rum und bis nächsten Monat frei. Ich wollte eigentlich die Nachmittagsfähre nehmen, bin aber für eine Dichterlesung in Belfast geblieben.«
»Duffy, Sie verstehen nicht. Es hat einen Mord gegeben, und unser leitender Beamter des CID, Ihr Schützling, ist nicht mal im Land. Er kariolt durch Italien.«
»Spanien.«
»Ist doch egal wo, oder? Er ist außer Landes, und wir haben keine Detectives, um in einem Mordfall zu ermitteln. Was sollen wir machen?«
»WPC Warren. Ich weiß, dass Lawson sie für das CID vorgeschlagen hat, und soweit ich mitbekommen …«
»Sie ist noch in Belfast in der Ausbildung. Wird erst gegen Jahresende verfügbar sein.«
»Wie schade. Sie ist schlau wie ein Fuchs.«
»Jedenfalls ist sie nicht hier und Ihr gewünschter Nachfolger auch nicht.«
»Nehmen Sie Sergeant McCrabban.«
»Sergeant McCrabban hat ebenfalls alle seine Tage diesen Monat erfüllt, und außerdem ist er auf irgendeiner Farmauktion in Ballymena.«
»Klingt recht plausibel.«
»Jedenfalls hat seine Frau das gesagt.«
»Ich bin also der einzige Detective in ganz Carrickfergus?«
»Ja.«
»Und genau wie Aschenputtel bin ich um Mitternacht verschwunden.«
»Sie müssen das übernehmen, Sean.«
»Es geht nicht. Ich habe Sean Duffys letzten Fall bereits gelöst. Alles andere wäre doch eine Enttäuschung. Ein Soufflé kann man nicht aufwärmen, wie schon Paul McCartney sagte.«
»Wenn Sie es nicht übernehmen, muss ich Larne CID einschalten«, sagte er und sah mich mit seinen dunklen Augen fest an.
»Larne CID?«
»Ich habe keine andere Wahl.«
»Aber … Larne? Sie wissen doch, wie die sind.«
»Ich habe das bereits überprüft. Chief Inspector Kennedy ist verfügbar.«
»Aber der ist … Sie kennen ihn doch …«
»Wenn Sie es nicht machen, wird er es machen müssen.«
»Sie versuchen, mich zu ködern.«
»Das tue ich nicht. Wenn Sie den Fall nicht übernehmen, muss ich Larne RUC anrufen.«
Immer mit der Ruhe, Sean, lass dich da nicht reinziehen, das ist nicht dein Problem, das hat nichts mit dir zu tun.
Andererseits konnte ich auch nicht zulassen, dass Larne CID in unser Haus gelatscht kam und direkt unter unserer Nase einen Mordfall versaute.
»Worum geht es?«
»Sieht nach einem ziemlich unkomplizierten kleinen Mord aus. Jemand wollte einem Mann vor seinem Haus in der Belfast Road den Wagen stehlen. Offenbar hat er Widerstand geleistet, und sie haben ihm in die Brust geschossen. Die Nachbarn glauben, dass er Maler ist oder so was.«
»Handwerker-Maler?«
»Maler-Maler. Wie Hitler, verstehen Sie?«
»Interessant, dass Sie ausgerechnet mit Hitler ankommen, wenn Sie an einen Maler denken. Nicht Monet oder van Gogh. Hitler.«
»Du meine Güte, Duffy, müssen Sie eigentlich immer so ein Arschloch sein?«
»Sie haben ihm also in die Brust geschossen und seinen Wagen geklaut. Was für eine Marke?«
»Jaguar.«
»Aye, das ergibt Sinn. Heute Nacht hat es jede Menge Autodiebstähle gegeben. In Belfast ist es zu Unruhen gekommen. Die Jungs fahren wohl aus Spaß Rennen gegeneinander. Dafür ist ein Jaguar gerade richtig.«
»Eine Schande, dass dafür jemand sterben musste.«
»Aye.«
»Übernehmen Sie den Fall?«
»Kriminaltechnik schon vor Ort?«
»Ja.«
»Und wann kommt Lawson zurück?«
»Sonntag, glaube ich.«
»Okay, ich muss erst die Dame des Hauses fragen, ob das in Ordnung geht. Und für die Dauer der Ermittlungen kriege ich die Stunden anderthalbfach angerechnet. Jede Minute, die ich an der Sache arbeite, sind Überstunden.«
»Anderthalbfach?«
»Aye.«
»Also gut.«
»Und wenn ich Crabbie dazu bringe, mit mir an dem Fall zu arbeiten, kriegt er ebenfalls das Anderthalbfache berechnet. Bei Überstunden oder Sonderschichten wird es mehr. Sie kennen ja die Gewerkschaftsregeln.«
»Du meine Güte. Was wird mich das alles kosten?«
»Ich habe nicht gesagt, dass ich es machen werde. Erst muss ich hören, was Beth dazu sagt.«
»Könnten Sie sie also bitte anrufen?«
Ich ging in den Flur, benutzte unbemerkt mein Asthmaspray und rief Beth an.
»Hallo?«
»Hi, ich bin’s.«
»Hi Sean, wo bist du?«
»In der Coronation Road.«
»Ach, gibt es einen Interessenten?«
»Nein. Beth, hör mal, es hat einen Mord gegeben, aber Lawson ist im Urlaub, also wollen die, dass ich den Fall übernehme.«
»Ein Fall. Schau mal an, dein Traum wird wahr. Ein Fall. Und dann auch noch ein Mordfall.«
»Ich hab denen gesagt, ich nehme die Mitternachtsfähre. Aber die sind ganz verzweifelt. Der Chief Inspector steht direkt neben mir.«
»Ach, sag Peter einen schönen Gruß von mir.«
Ich drehte mich zu McArthur um. »Schöne Grüße von Beth.«
»Und einen schönen Gruß von mir an Elizabeth.«
»Er grüßt zurück. Sie zahlen mir den anderthalbfachen Stundensatz, solange ich an dem Fall arbeite, wenn ich ihn denn übernehme.«
»Und wie lange wirst du da drüben bleiben?«
»Das weiß ich nicht. Bei einem Mordfall kann man das nie wissen. Aber Lawson kommt am Sonntag zurück, dann kann ich ihm den Fall übergeben, falls es überhaupt so lange dauert.«
»Ich werde dich vermissen und Emma auch, aber Nein sagen kann ich ja nicht, oder? Das kann man sich doch nicht mit ansehen, wie du im Haus hockst und Trübsal bläst. Dir juckt’s doch seit mindestens einem Jahr in den Fingern nach einem Fall.«
»Tut es nicht. Ich vermisse die Arbeit als Detective überhaupt nicht.«
»Ha! Du bist ein schlechter Lügner. Na, übernimm schon den Fall. Und komm her, wann immer du kannst.«
»Vielleicht habe ich den Fall morgen schon geklärt.«
»Okay, Sean, wenn du das sagst.«
»Gib Emma einen Kuss von mir.«
»Mach ich. Ich liebe dich.«
»Ich liebe dich auch, bye.«
Ich legte auf und sah McArthur an.
»Und, hat die Dame des Hauses die Erlaubnis erteilt?«
»Na, das sagt gerade der Richtige, der seine Formulare in dreifacher Ausfertigung von Tina unterschreiben lassen muss, bevor er mal mit den Jungs einen saufen gehen kann.«
»Das ist eine bösartige Unterstellung.«
»Ein Anruf noch«, sagte ich, rief bei Crabbie an und sagte zu Helen, dass ich die Hilfe des großen Kerls bei den Ermittlungen in einem Mordfall bräuchte.
»Er hat damit abgeschlossen, Sean«, entgegnete Helen.
»Es dauert nur ein paar Tage, und sie zahlen uns das Anderthalbfache«, erklärte ich. »Doppelt, wenn es mehr als acht Stunden werden.«
Der Chief Inspector verzog das Gesicht, und Helen klang hörbar freundlicher.
»Na ja, das Geld könnten wir gut brauchen«, sagte sie.
Ich gab ihr die Anschrift des Tatorts durch und trug ihr auf, Crabbie solle mich so bald wie möglich dort treffen.
Ich rief bei der KT an, um zu fragen, wer den Fall übertragen bekommen hatte, und war erleichtert zu hören, dass es sich um Frank Payne handelte, der trotz seiner sauertöpfischen Art einer der besseren Kriminaltechniker in der Branche war.
Ich legte auf und ertappte mich dabei, wie ich in den Flurspiegel grinste. Ein Mann war tot, der Tote schrie nach Gerechtigkeit, und Inspector Sean Duffy von der Carrickfergus RUC würde losziehen und ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen. Detective Inspector Sean Duffy, Carrickfergus RUC.
Ich versetzte McArthur einen Klaps auf den Rücken. »Also gut, alter Knabe, schauen wir uns doch mal den Tatort an, oder?«
3
Es gibt viele Möglichkeiten, diese Geschichte zu erzählen. Ich könnte davon erzählen, wie rot alles auf dieser Welt war. Der rote Wind. Die rote Erde. Die roten Flecken auf dem Boden, wo Mr Townes mit Schrotkugeln in der Brust zu Boden gegangen war. Ich könnte von dem blauen Qualm erzählen, der aus den Schornsteinen stieg, von den eisig blauen Augen des Kriminaltechnikers, dem blau-weißen gepanzerten Polizei-Land-Rover, der mit drehenden Rädern auf der Seite lag, dessen blaues Innere Männer in das vernichtende Feuer eines Maschinengewehrs ausspuckte. Ich könnte von der gelben Sonne erzählen, die über den Sumpf-Seidenpflanzen an der Chesapeake Bay unterging, oder von den gelben Flügeln der Goldzeisige in ihren Nestern entlang der Portpatrick Road oder von den hellen Hunden des Mannes, der Beth damals mit der blanken Faust gedroht hatte. Es gibt natürlich viele Möglichkeiten, all die Geschichten zu erzählen. Halten wir uns allerdings für den Augenblick an die Chronologie, damit uns die Fakten nicht im Kopf durcheinandergeraten, okay? Denn aus diesem ziemlich unkomplizierten kleinen Mord wurde natürlich etwas erheblich Komplizierteres …
Ich ging aufs Revier, um den Einsatzraum des CID herzurichten und mir einen Dienstausweis als »Detective Inspector« ausstellen zu lassen. Dann folgte ich in meinem BMW McArthur, der seinen Volvo Kombi fuhr, zum Tatort. McArthur war ein zögerlicher, nervöser Fahrer, der andauernd auf die Bremse trat, also ließ ich reichlich Abstand.
Eigentlich brauchte ich ihn nicht. Bei all den Blaulichtern auf den Land Rovern, all den Polizisten, die hin und her liefen, und einem halben Dutzend Kriminaltechniker in weißen Overalls, die ihrer sorgfältigen Arbeit nachgingen, war der Tatort nun wirklich nicht schwer zu finden.
Das Haus des Opfers war ein großes, altes edwardianisches Anwesen am Ufer des Lough. Weiden, Kastanien und ein gepflegter Rasen. Ähnliche Häuser links, rechts und gegenüber.
Hier wohnte man, wenn man ein kleines Erbe angetreten hatte oder ein aufstrebender Arzt oder Anwalt war. Vielleicht nicht gerade die Gegend, in der man ständig Gewaltverbrechen sah, aber wenn man auf der Suche nach einem netten Wagen war, um ihn zu klauen, dann war das hier eine gute Gegend dafür.
McArthur stellte seinen Wagen ab und stieg aus. Er streckte mir seine Hand hin, also schüttelte ich sie. »Nun, da wären wir. Kann ich das alles in Ihre fähigen Hände legen, Duffy?«
»Ich denke schon.«
»Sie erinnern sich noch an alle Formalitäten?«
»Schätze, das ist wie Fahrradfahren, Sir.«
»Wirklich? Also gut, dann bin ich mal weg. Ich bringe die Kinder zu Bett und schaue in ein, zwei Stunden noch mal vorbei, ob alles in Ordnung ist.«
»Sie können ruhig schlafen gehen, Sir. Ich bringe das hier zum Abschluss. Alles ziemlich offensichtlich, wie Sie schon sagten, da bin ich mir sicher«, sagte ich.
Da konnte man mal sehen, wie eingerostet ich schon war. So etwas sagte man nicht, wenn die Götter, das böse Omen und das Schicksal zuhörten. Niemals. Was hast du dir dabei gedacht, Duffy? Du Blödmann.
»Nein, nein, ich komme noch mal vorbei, Duffy«, entgegnete er und senkte die Stimme. »Meine Schwiegereltern aus Stirling sind hier. Mein Schwiegervater ist … na ja …«
»Ich verstehe, Sir.«
Ich winkte zum Abschied, schaute zum Ende der Zufahrt hinüber und entdeckte dort das phlegmatische, blasse Gesicht und die hagere, an Raymond Massey erinnernde Gestalt von Sergeant John »Crabbie« McCrabban, der gerade aus einem Land Rover Defender stieg. Wenn man eine hiesige Version von Millers Hexenjagd besetzen wollte, würde man Crabbie nicht die Rolle von Reverend Hale geben, weil er dafür ein wenig zu furchteinflößend und ernst wäre. Doch wenn man ihn genauer kannte, dann ging einem auf, dass sich unter diesen mürrischen presbyterianischen Zügen ein Kerl verbarg, der einen nie im Stich ließ und der einen trockenen — sehr trockenen — Humor hatte.
Ich hatte ihn schon eine Weile nicht mehr gesehen. Einen Monat etwa. Ich winkte ihm zu. Er nickte zurück.
»Wie geht’s, Mann?«, rief ich.
Crabbie kam herüber. Ich wollte den großen Tölpel schon umarmen, aber ich wusste, das wäre ihm peinlich, also gaben wir uns nur die Hand.
»Wie geht’s, Sean?«
»Nicht schlecht, und selbst?«
»Kann nicht klagen.«
»Klagst du denn jemals?«
»Hab ja keinen Grund dazu. Der Herr war gnädig mit mir.«
»Aber nicht mit dem da«, sagte ich und wies auf die Leiche.
»Ein Mord«, betonte Crabbie.
»Ein Mord«, bestätigte ich.
»Das ist mein erster Fall im letzten halben Jahr«, gab Crabbie leise zu.
»Worum ging es denn da?«, fragte ich.
»Ich habe Sergeant Lawson bei einem bewaffneten Raubüberfall assistiert.«
»Und wie ist es ausgegangen?«
»Wir haben sie erwischt.«
»Wie denn? Mit Hilfe der KT?«
»Viel einfacher. Lawson hat die Autohändler abgeklappert und nachgefragt, wer sich kürzlich einen protzigen Wagen gekauft hat. Wie eine Spur Brotkrumen bis zur Haustür der Bande.«
»Tja, Mann, da hast du mehr Praxis als ich. Das ist mein erster richtiger Fall seit über einem Jahr. Bin ein bisschen nervös, um ehrlich zu sein.«
»Wie geht es Beth und Emma?«
»Gut. Und deiner besseren Hälfte und den Kindern?«
»Gut.«
Ein, zwei Sekunden standen wir stumm da.
»Ich hoffe, wir wissen, was wir hier zu tun haben, Sean«, meinte Crabbie schließlich.
»Das hoffe ich auch. Nach dem ersten Augenschein handelt es sich um einen Autodiebstahl, der schiefgelaufen ist, das sollte ja eigentlich unsere begrenzten geistigen Fähigkeiten nicht überstrapazieren.«
»Wenn du es sagst, Sean.«
»Sagen wir Frank mal Hallo, hm?«
Frank Payne, der Chef der KT, hatte seine Arbeit offenbar erledigt, denn er stand Tee trinkend und rauchend unter dem kleinen Baldachin, den sein Team aufgestellt hatte.
Wie ich schon sagte, war Frank ein großer, griesgrämiger Mann, der mit Riesenschritten auf einen massiven Herzinfarkt zumarschierte. Er hatte keine Haare mehr auf dem Kopf, und seine blassen Wangen hatten einen rotblauen Schimmer angenommen. Die winzige Zigarette in seinen Riesenpranken wirkte irgendwie komisch.
Ich schüttelte ihm die freie Hand.
»Na, wenn das nicht der gute alte Sean Duffy ist«, sagte er.
»Schön, dich zu sehen, Francis.«
»Hab mich schon gewundert, was aus dir geworden ist. Ich hab schon seit Jahren weder Crabbie noch dich an einem Tatort gesehen! Sergeant Lawson schon, aber euch beide nicht. Was ist denn mit dir passiert, Mann? Hast du die Frau des Deputy Chief Constable flachgelegt, oder was? Haben sie dich erwischt und dir einen Selbstmordjob an der Grenze verpasst?«
»Na ja, das Ganze ist ein wenig prosaischer als …«
»Also, was hast du angestellt? Spuck’s aus!«
»Ich bin jetzt in der Teilzeitreserve.«
Er machte ein verdutztes Gesicht. »Teilzeit? Du? Nein, ehrlich, Mann, was ist passiert?«
»Nichts. Ich bringe nur die Zeit bis zur Pensionierung rum.«
Frank begriff langsam und nickte. Daran war nichts Ungewöhnliches. Die Hälfte der Polizisten, die er kannte, saß die Zeit ab, bis sie in Pension gehen konnten. »Und die haben dich als Detective behalten?«, fragte er.
»Nein. Ich bin nur sechs Tage im Monat bei der Arbeit. Mit so einem Einsatzplan kannst du keine Fälle lösen.«
»Und was machst du stattdessen?«
»Papierkram meistens. Verwaltung und Straßenverkehr.«
»Und was ist mit dir, McCrabban?«
»Dasselbe. Teilzeit bis zur Pension.«
»Du meine Güte, ihr beiden. Wenn ihr in dieser Firma keine Detectives seid, seid ihr nichts. Ich weiß, du hast deine Farm, Crabbie, aber du erstaunst mich, Sean. Das war doch dein Leben.«
»Früher mal, Mann. Ich hab mich anders entschieden. Beth und ich sind nach Schottland gezogen und …«
»Die, die wie ein Junge aussieht?«
»Sie hat eine gewisse knabenhafte Art, aber sie ist ganz …«
»Hast du sie geheiratet?«
»Noch nicht, ich …«
»Kluger Mann. Wenn du Nachforschungen anstellst, wirst du sicher herausfinden, dass sie nicht als Frau geboren wurde, da wette ich. Geschlechtsumwandlung. Klug von dir, wenn du mich fragst. So kann sie nicht schwanger werden und dich damit an sich fesseln.«
»Wir haben ein kleines Mädchen.«
»Aye, na ja, die Wunder der Medizin, hm?«
»Woher kommt das nur, Frank, das jeder es nur eine halbe Minute mit dir aushält, bevor er dir eins auf die verfluchte Schnauze geben will?«
»Keine Ahnung. Mein Dad war ein Arschloch, vielleicht ist der Apfel ja nicht weit vom Stamm gefallen«, antwortete er.
»Und wie geht’s deiner Frau?«, fragte ich.
»Du weißt doch, dass sie mich verlassen hat, Sean.«
»Richtig. Und sie lässt Grüße ausrichten«, sagte ich.
Frank grinste und schlug mir plötzlich auf die Schulter. »Meine Güte, gut, dich zu sehen. Teilzeit oder nicht Teilzeit, nett, es mal wieder mit einem richtigen Polizisten zu tun zu haben!«
»Sergeant Lawson ist ein richtiger …«
»Sergeant Lawson ist der Job zu Kopf gestiegen, und alle anderen hier in der Gegend sind der reinste Witz. Von Newtownabbey RUC oder Larne RUC oder — Gott bewahre uns — Ballyclare RUC ganz zu schweigen. Ich schwimme in einem Meer grassierender Unfähigkeit, Duffy.«
»Na, zumindest hast du genügend Auftrieb dafür, Mann.«
»Witze über Dicke sind unter deiner Würde, Duffy. Als Nächstes kommst du noch mit ›Deine Mutter‹-Gags an.«
»Deine Mutter hat so wenig Klasse, dass ich sie mit einer marxistischen Utopie verwechselt habe … Und? Keiner?«
Frank sah mich von oben bis unten an und seufzte.
Crabbie starrte auf seine Schuhe.
»Und Lawson ist also im Urlaub oder so was?«, fragte Frank.
»Dir entgeht aber auch nichts, Mann. Er ist auf Teneriffa.«
»Teneriffa? Meine Güte, wer will denn da hin?«
»Anscheinend alle.«
Frank nickte. »Na, da habt ihr Glück, oder vielleicht Pech, falls ihr gehofft habt, eine Woche lang Überstunden zu schieben. Die Sache ist ziemlich offensichtlich. Die wollten das Auto von dem Kerl. Er wollte es nicht rausrücken. Sie haben ihn erschossen und den Wagen geklaut. Habt ihr schon mal was von ›Carjacking‹ gehört?«
»Ja.«
»Tja, darum handelt es sich hier.«
»Welche Beweise hast du eingesammelt?«
»Schrotkugeln.«
»Sonst noch was?«
»Nicht viel.«
»Erzähl mir was über den Schrot.«
»Kaliber 12, beide Läufe, aus weniger als anderthalb Metern. Er hatte keine Chance.«
»Name des Opfers, Beruf und all das?«
Frank schniefte. »Geht mich nichts an, ist dein Job. Willst du die Leiche sehen?«
»Eigentlich nicht, aber das lässt sich wohl nicht vermeiden.«
Frank führte mich den Gehweg entlang zu einem weißen Laken, das die Leiche bedeckte. Kriminaltechniker (und eine Technikerin) hatten die Schrotkugeln, die in den Boden gedrungen waren, mit Kreide markiert und machten Fotos von den Reifenspuren des gestohlenen Wagens, der mit ziemlicher Geschwindigkeit davongerast war.
»Man kann an den Reifenspuren erkennen, dass es sich um einen Jaguar handelt«, sagte Frank.
Ich runzelte die Stirn.