Cold Water - Adrian McKinty - E-Book
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Adrian McKinty

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Beschreibung

Umzugswagen, Umzugshelfer, Eltern, die im Weg rumstehen, glückliche Freundin, glückliche Tochter, entsetzte Katze kurz vor dem Kollaps – der katholische Bulle Sean Duffy verlässt seine evangelischen Nachbarn in Carrickfergus, lässt das Pulverfass Nordirland hinter sich. Die 80er sind vorbei, nun heißt es, auf die 90er hoffen, sich mit den Nachbarn in Schottland arrangieren – und schnell noch einen Mord aufklären.

Bevor Detective Sean Duffy sich aus dem aktiven Dienst verabschiedet und die letzten Jahre bis zur Frührente als Reservist und Verbindungsmann eines Spitzels runterreißen kann, muss er noch seinen allerletzten Fall lösen: Ein junges Mädchen ist verschwunden, leider keine Seltenheit im Nordirland am Rande der Neunziger. Ihr Auto wird in einem Fluss gefunden, doch von dem Mädchen gibt es keine Spur – wahrscheinlich wurde ihre Leiche von der Strömung weggetrieben. Eine Liste mit drei Männernamen taucht auf, alle drei standen in zweifelhaftem Kontakt zu der Vermissten. Und sie sind bei Weitem nicht die einzigen Verdächtigen …

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Adrian McKinty

Cold Water

Thriller

Aus dem Englischen von Peter Torberg

Suhrkamp

Cold Water

Ich biete dir hagere Straßen, verzweifelte Sonnenuntergänge, den Mond der schartigen Vorstädte … ich versuche dich zu bestechen mit Unsicherheit, mit Gefahr, mit Niederlage.

Jorge Luis Borges, Der Tod und der Kompass, 1934

I’m the detective up late.

Tom Waits, Bad As Me, 2011

Vorspiel in Es-Dur: Sean Duffy im Jahr null

Die Nacht schlängelt sich über den Horizont im Osten.

Eine verborgene Sonne versinkt in einem fremden Meer.

Der Nebel riecht nach Rost und Fäulnis wie ein altes Fahrrad.

Das Boot, dessen 25-cm3-Motor kaum die Schraube dreht, gleitet über das unsichtbare Wasser. Belfast bedeutet auf Irisch Schwarzer Mund, und wir befinden uns in der Kehle der Stadt, wo der River Lagan vom Lough erstickt wird.

Putt, putt, putt macht der kleine Außenborder. Der Constable im Bug fährt mit einer Xenonlampe hin und her, während ich das Boot durch das graue Zwielicht steuere. Der Abend bricht herein, dabei ist es noch nicht mal drei Uhr nachmittags.

Wir sind auf der Suche nach einer Leiche. Das Mädchen wurde zuletzt gesehen, wie es an der Queen’s Bridge herumlungerte, und ist nirgendwo zu finden.

Wir gleiten durch das dunkle Wasser, dessen Oberfläche unter einem dünnen Ölfilm und einer Algenschicht verborgen liegt. Der gelbe Schein der Lampe, der durch die Dunkelheit oszilliert, enthüllt nichts.

Constable Cathcart ist ein ernster, nervöser junger Mann, der nicht in der Stimmung ist für ein Gespräch, aber das passt mir gut.

Von hier aus wirkt Belfast verlassen – Land und Wasser vermischen sich an der Mündung – wie nach der Sintflut. Eine Stadt in Doggerland oder Herakleion oder Atlantis.

Eine Schar zeternder Silbermöwen fliegt vor uns davon und landet auf dem schmierigen Deck der HMS Caroline, eines kleinen Kreuzers aus dem Ersten Weltkrieg, der schon so lang am Dock festgemacht ist, dass er nun das zweitälteste Schiff in der gesamten Royal Navy ist. (Das älteste ist natürlich die HMS Victory in Portsmouth.)

Die Stille breitet sich aus. Der Geruch von moderndem Holz weht von der verfallenden Titanic-Werft herüber.

Belfast lauert in der Nacht, hat sich in schwarze Dunkelheit gehüllt, wirkt so schweigsam und mürrisch und schroff wie seine Bewohner. Selbst der Gazelle-Helikopter, der unentwegt über der Falls Road schwebt, wirkt gedämpft, müde und weit, weit weg.

Ruhig ist das Wasser. Ruhig ist der Himmel. Ruhig ist die Stadt.

Doch unter der Oberfläche der sichtbaren Welt liegt eine andere aus Familienkämpfen und Blutfehden und Tod. Eine ältere Ordnung uralter Gesetze und Verpflichtungen, Sitten, die zurückreichen bis zu den Schritten der ersten Menschen durch die Steppen des Great Rift Valley in Afrika.

Ich steuere das Boot die Piers und Anlegestege entlang, überall dort vorbei, wo ich vermute, dass eine Leiche angespült werden könnte. Pommestüten, Zeitungen, Coladosen, Bierdosen, aber nichts Sachdienliches.

»Mir ist kalt«, sagt Constable Cathcart schließlich. »Können wir zurückfahren?«

Obwohl wir denselben Rang bekleiden, fragt er mich, weil ich der ältere von uns beiden bin. Außerdem ist das alles hier – das Boot, die Taschenlampe, die Suche – eine rein formelle Angelegenheit. Seit drei Stunden zieht sich das Meer zurück, eine Leiche wäre jetzt schon meilenweit draußen auf See.

Dennoch würde eine so frühe Rückkehr pietätlos und unprofessionell wirken.

»Wenn Ihnen kalt ist, setzen Sie die Kapuze auf«, sage ich zu ihm.

Das tut er, was sein Sichtfeld auf etwa dreißig Prozent beschränkt.

Ich lenke das namenlose Boot der Royal Ulster Constabulary in die tiefe Fahrrinne.

Ein Strandläufer erhebt sich mit einer im Schnabel zappelnden Krabbe aus dem Trüben. Er fliegt direkt durch den Lichtstrahl der Lampe, und Cathcart erschreckt sich.

Die tiefe Fahrrinne ist viel zu unruhig für das kleine Boot, und Wasser dringt über die Dollborde. Wir sitzen hier draußen in Uniform, ohne Rettungsweste, dafür in Panzerung, und sollten wir über Bord gehen, werden wir versinken wie Steine.

Ich wende und fahre zurück in den Hafen zur Werft von Harland & Wolff, wo die Gezeiten und die Strömung eine Leiche vielleicht in eine der Hellingen gespült haben könnten. Lichter gehen an, und eine Meile südlich über dem Kanal sind die kreideweißen Umrisse von Hochhäusern und Kirchtürmen zu sehen.

Wir kommen unter den Kränen, Derricks und Gerüsten vorbei. Bei dem Schiff, das sich im Trockendock abzeichnet, handelt es sich um die SS Ravenscraig, einen knapp dreihundert Meter langen Stückgutfrachter, der für British Steel gebaut wird. Es wird eines der letzten Schiffe sein, die H&W noch auflegen wird. Ohne den Kreuzfahrtboom der Neunziger vorauszuahnen, wird die Tory-Regierung die Werften in Belfast und in Glasgow dem Vergessen anheimfallen lassen. Früher mal wurden hier ein Drittel aller Schiffe auf der Welt gebaut, doch innerhalb eines Jahrzehnts wird diese altehrwürdige Tradition nahezu vollständig ausgelöscht sein.

Doch davon weiß der Duffy jener Nacht noch nichts. Der Duffy jener Zeit weiß so gut wie gar nichts.

Der Duffy jener Nacht fängt an zu pfeifen. Erst seine Freundin Beth wird ihn aufklären, dass es Unglück bringt, auf einem Boot zu pfeifen. Die Melodie ist »Lament of the Lagan Valley«, und die letzten beiden Zeilen lauten: »Vergib uns, oh Herr, die Sünden alten / und lass in Deiner Gnade Milde über Belfast walten«, was, um ehrlich zu sein, ein wenig zu offensichtlich, ein wenig zu platt ist, um diese Szene zu untermalen.

Selbst der Duffy jener Zeit erkennt das, und in seinem Hinterkopf setzt eine andere Wassermelodie ein: das Vorspiel in Es-Dur zu Das Rheingold, dem Höhepunkt von Wagners Werk romantischer Dudelmusik.

Ich steuere an den Anlegeplätzen entlang, während ich im Kopf die bedächtige Version Karajans abspiele, die die Spannung innerhalb des Kontrapunkts so intensiv einfängt, während Wagner seine Hassliebe zu Heine zu leugnen versucht. Liebe, denn wie kann man Heines Gedicht nicht lieben, und Hass, weil Heine nun mal Jude ist.

Das Polizeiboot fährt langsam durch das ruhige Wasser zurück, während die Musik sich zu ihrem Höhepunkt aufschwingt. Das Weiß graut sich zu den Umrissen von Gebäuden ein. Ruinen. Gebäude, die Verzweiflung heraufbeschwören. Diese Stadt ist nach zehn Jahren voller Bombenexplosionen und Morden und religiösem Bürgerkrieg zerbrochen. Eine Stadt aus der aphotischen Zone. Eine Stadt der Apoka…

»Wir sind doch schon bald eine Stunde hier draußen, wie lange denn noch? Ich will noch auf eine Party«, murmelt Cathcart.

Party? Was für eine Party? Wovon redet er?

»Eine Stunde reicht nicht. Der Sergeant wird uns vorhalten, dass wir unsere Sorgfaltspflicht nicht erfüllt hätten.«

»Dem Sergeant ist doch irgendein Mädchen, das sich vielleicht in die Fluten gestürzt hat, oder auch nicht, völlig schnurz. Wir haben größere Sorgen, jetzt, wo wir uns um die Butchers kümmern müssen.«

Cathcart nimmt die Kapuze ab, und ich sehe die Gänsehaut auf seinem weißen, jungen Nacken. Er hat natürlich Recht. Die ganze Angelegenheit stinkt nach blanker Formalität. So tun als ob.

Unsere ganze Abteilung ist dem Team zugeordnet worden, dem Detective Chief Inspector Jimmy Nesbitt vorsteht, Chef der Mordkommission beim Criminal Investigation Department auf dem RUC-Revier Tennent Street. Nesbitt ermittelt im Fall der Shankill Butchers – eines loyalistischen Totenkults, der in den vergangenen drei Jahren bei willkürlichen Überfällen mindestens zwanzig Menschen niedergemetzelt hat. Fast alle Opfer waren Katholiken, die von der Straße geholt und mit Fleischermessern und -beilen zu Tode zerhackt worden sind.

Die Shankill Butchers sind zu einer Berühmtheit geworden, Volkshelden für einige der durchgeknallteren Bewohner des protestantischen West-Belfast und Feindbilder für alle anderen in der Stadt. DCI Nesbitt hat unbeschränkte Vollmacht, die Mistkerle zu kassieren. Und tatsächlich sind die Anführer alle bekannt, aber keiner hat den Mumm, gegen sie auszusagen; entweder wir erwischen sie auf frischer Tat oder finden Spuren – beides keine sonderlich Erfolg versprechenden Aussichten. Am Ende werden sie sie wohl reinlegen müssen, um sie von der Straße zu holen.

Ich schaue auf die Uhr. Wir sind jetzt tatsächlich seit über einer Stunde auf der Suche und haben nichts Ungewöhnliches gefunden. Ich drücke die Pinne nach rechts und fahre den Lagan hinauf.

Am Steg wartet ein älterer Polizist auf uns und wirft mir ein Tau zu.

»Was gefunden?«, fragt er.

»Nein.«

Wir machen das Boot fest und klettern hinaus.

Die erschütternde Plötzlichkeit von Land. Die Luft vibriert vom Geruch des Regens.

Cathcart und ich gehen mürrisch zum Revier. Die Gehwege sind schlüpfrig. Das Vorspiel in meinem Kopf umkreist den Es-Dur-Akkord, um dann anzuschwellen, nachzuhallen und in Stille zu verströmen.

Wir halten unsere Gesichter in die Sicherheitskameras, betreten das Revier und melden uns bei O’Neill, dem großen rotgesichtigen Sergeant der Einsatzzentrale.

»Was gibt’s Neues, Duffy?«

»Keine Spur von ihr, Sir.«

»Reinste Verschwendung meiner Zeit. Reine Verschwendung der Zeit meiner Leute. Denken Sie dran, Duffy. Bei der Polizeiarbeit muss man Prioritäten setzen. Nein, nein, lassen Sie die Panzerweste an, wir haben einen Einsatz.«

»Jetzt sofort?«

»Aye, jetzt sofort. Das Böse ruht nie. Wir werden die Ersten vor Ort sein. Nesbitt und die verfluchten Fernsehleute sind direkt hinter uns. Ich hoffe für Sie, dass Sie kein Ulster Fry zum Frühstück hatten.«

Wir fahren zur Montague Street, wo man die Leiche einer Schwesternschülerin mit neunzehn Stichwunden in Brust und Rücken gefunden hat.

»Sie wurde erst vergewaltigt, ein neuer Tiefpunkt für die Butchers«, sagt O’Neill. Man hat ihr die Kleidung vom Leib gerissen und sie ausgeweidet.

Sie hat rote Haare und zarte Gesichtszüge. Ein freundliches Gesicht. Hätte eine wunderbare Krankenschwester abgegeben.

Wir bauen die Absperrung auf und klappern die Häuser in der Nachbarschaft ab.

Als Jimmy Nesbitt mit den Teams von BBC und ITN und den Tintenklecksern der englischen Presse auftaucht, haben wir die Routinearbeiten bereits erledigt.

»Sie war natürlich katholisch«, flüstert mir O’Neill verschwörerisch ins Ohr, als wir eine Zigarettenpause machen.

»Woher wissen Sie das?«, frage ich ihn.

»Der Rosenkranz in der linken Hand. Wenn sie einen verfluchten Hammer gehabt hätte, wäre es ihr besser ergangen.«

Ich nicke und sage nichts.

»Haben Sie mich gehört, Duffy?«

»Ja, Sergeant.«

Er schaut mich an. »Himmel, Sie sind erledigt. Gehen Sie zurück zum Revier, der Chef will ein Wort mit Ihnen wechseln, und wenn er sein Wort gewechselt hat, gehen Sie schlafen. Haben Sie mich verstanden, Junge?«

»Ja, Sergeant.«

Durch verwüstete Straßen zurück zum Revier. Vorbei an Trümmergrundstücken, die zu Parkplätzen umgewandelt worden sind, an baufälligen Gebäuden und riesigen, mit Regenwasser gefüllten Kratern. Ich werde von Männern in Türen und Seitengassen beobachtet. Ein Bulle ganz allein. Ein verlockendes Ziel. Der Tod ist hier nah.

Das Blau weicht.

Die Sterne schleichen sich an.

Dunkelheit.

Geh eine Stunde zurück und sieh, was die Engel gesehen haben. Was die Engel gesehen und wogegen sie nichts unternommen haben. Die Schwesternschülerin auf dem Weg zur Arbeit. Die betrunkenen Männer, die aus dem Wagen steigen und sie davonschleppen. Zeugen, die davoneilen, nichts sehen, nichts hören.

Geh vier Stunden zurück zu der Ausreißerin an der Brüstung der Queen’s Bridge. Welche Dämonen haben sie dorthin getrieben? Trunkenheit, häusliche Gewalt, sexueller Missbrauch?

Jede Zivilisation, die ihre Frauen nicht zu schätzen weiß, ist verloren. Sie verdient es nicht besser.

Rosemary Street. High Street. Das Revier. Ein halbes Dutzend Bullen hängen um den Fernseher herum und schauen Olivia de Havilland dabei zu, wie sie Errol Flynn zuschaut, der seine Bogenschießkünste beweist. Treppauf zum Büro vom Chef. Er streckt mir die Hand entgegen. »Glückwunsch, Sean.«

Ich schüttle die Hand. »Glückwunsch? Wozu?«

»Offenbar gefällt den Oberen, was Sie hier gemacht haben. Ich bin stolz darauf, Ihr Mentor zu sein.«

»Ich weiß immer noch nicht, was …«

»Kein Streifendienst mehr für Sie, mein Junge. Sie haben die verfluchte Straße für immer hinter sich. Sie gehören wohl zur neuen Art, schätze ich, Duffy. Studierte.«

»Ich werde also versetzt, ist es das?«

»Versetzt? Was? Nein. Sie sind befördert worden. Sie sind kein stellvertretender Detective Constable mehr. Sie sind noch nicht mal Detective Constable! Man hat Sie zum Detective Sergeant befördert. Himmel, Sie haben’s vielleicht eilig. In einem Jahr machen die Sie vielleicht noch zum Detective Inspector. Ein ruhiges, entlegenes Revier mit Ihrem eigenen Team. Die bauen Sie auf, Sean. Die mögen Ihre Art. Seien Sie ein guter Junge, halten Sie sich aus allem raus, lassen Sie sich nicht erschießen, verdammt, dann enden Sie noch als Chief Superintendent oder gar Assistant Chief Constable oder, wer weiß, vielleicht noch als eine der großen Nummern mit Ritterschlag und Haus in Bangor und sechsstelliger Pension.«

»Ja, Sir. Danke, Sir.«

Treppab.

Regen prasselt an die kugelsichere Glasscheibe der Umkleide.

Detective Sergeant? Mein eigenes Team? Vielleicht kann ich jetzt ja wirklich was ausrichten.

Ich ziehe die Uniform aus und Zivil an. Weiße Jeans, schwarzes T-Shirt, schwarzer Parka.

»Wo wollen Sie denn in diesem Wetter hin? Nach Hause, hoffe ich doch«, sagt der Diensthabende.

»Ich hab nur noch was zu erledigen. Ich will Mrs Keeley sagen, dass wir nichts gefunden haben.«

Der Diensthabende lacht schallend. »Sie wollen ihr sagen, dass Sie die Leiche ihrer Tochter nicht gefunden haben? Dafür wird sie sich aber bedanken.«

»Damit sie weiß, dass wir weiter an der Sache dran sind.«

»Sind wir aber nicht. Jetzt haben wir eine tote Krankenschwester. Irgendeine weggelaufene Teenagerin kümmert doch niemanden einen Scheiß.«

Trotzdem gehe ich zu Mrs Keeleys Haus in einer heruntergekommenen Straße in den Markets.

Klopf, klopf.

Ein großer Kerl öffnet. Ein großer Kerl in weißem Hemd, brauner Hose, braunen Schuhen. »Und Sie sind?«

»Polizei. Stellvertretender Detective Const – Detective Sergeant Sean Duffy. Ist Mrs Keeley zu Hause?«

»Sie macht gerade Tee. Was gibt es denn?«

»Nun, wir haben nach Louise Ausschau gehalten, und bislang haben wir nichts …«

»Wenn Sie sie finden, sagen Sie der kleinen Nutte, wenn sie nach Hause kommt, kriegt sie erstmal ne Tracht Prügel.«

»Wer ist denn da?«, fragt Mrs Keeley, die mit einem frischen Veilchen in der Tür auftaucht.

»Mrs Keeley, ich wollte Ihnen nur sagen, dass wir bislang noch keine Spur von Louise haben.«

»Der Hafen?«, fragt sie und fasst sich an die Kehle.

»Wir sind mit einem Boot hinausgefahren und haben nichts Ungewöhnliches gefunden. Die Augenzeugen meinten, sie hätte nur eine Weile auf der Brücke gesessen. Niemand hat sie tatsächlich springen sehen.«

»Da bin ich erleichtert«, sagt Mrs Keeley, bevor ihr Mann sich umdreht, sie wütend anstarrt und sie wieder in die Küche verschwindet.

»Für so was die Polizei holen«, murmelt er hinter ihr her, dann dreht er sich um und fügt hinzu: »Und Sie können wieder gehen.«

Vielleicht ist es die Erschöpfung, vielleicht die Beförderung und das Wissen, dass ich in eine andere Gegend umziehen werde, vielleicht aber auch die Bemerkung des Chief Inspectors, ich solle ein guter Junge sein und mich aus allem raushalten … denn statt einfach zu gehen, betrete ich das Haus und mache die Tür hinter mir zu.

»Mögen Sie Wagner?«, frage ich ihn.

»Was?«

»Wagner.«

»Was faseln Sie da?«

»Heine übte großen Einfluss auf Wagner aus, doch das konnte der niemals zugeben, denn Heine war Jude. Kennen Sie etwas von Heine? Schubert mochte ihn ebenfalls. Beide ließen sich durch sein Gedicht ›Die Lorelei‹ inspirieren: ›Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, dass ich so traurig bin‹.«

»Haben Sie jetzt endgültig den Verstand verloren, Kumpel?«

»Nein. Ich bin nur traurig. Traurig wegen der Troubles, traurig darüber, wie diese Stadt ihre Frauen behandelt, traurig, dass ein infernalischer Mistkerl, der Frau und Tochter schlägt, damit jedes Mal durchkommt, weil niemand gegen ihn aussagt. Und wissen Sie, was ich glaube?«

»Was denn?«, knurrt er, und sein Gesicht wird rot vor Zorn.

Ich ziehe den Dienstrevolver aus dem Holster und richte ihn auf seinen Kopf. »Ich glaube, ohne Sie würde es allen besser gehen«, flüstere ich. »Ich glaube, der Welt ginge es besser ohne Sie. Niemand würde Sie vermissen. Was glauben Sie?«

Er schaut mich entsetzt an und geht in die Knie. Er fängt an zu weinen. Wie bei so vielen Rüpeln langt schon die leiseste Andeutung von Widerstand …

Leicht schockiert darüber, dass ich ihn überhaupt gezückt habe, stecke ich den Revolver wieder ein.

Ich öffne die Haustür. »Ich werde Sie im Auge behalten, Keeley, noch mehr blaue Flecken bei Mrs Keeley oder bei irgendeinem der kleinen Keeleys, und es wird an Ihrer Tür klopfen. Haben Sie mich verstanden?«

»Ich habe Sie verstanden«, schluchzt er.

Vor dem Haus sehe ich mein Spiegelbild in der Scheibe eines Autos. Himmel, Duffy, ist das die Art von Detective, die du sein wirst? Macht korrumpiert, ich weiß, aber gleich so schnell?

Ich gehe durch den Nieselregen zurück zum Revier. Als ich in den Einsatzraum komme, tragen dort alle Partyhüte und pusten in Kazoos. Hat jemand Geburtstag? Eine Überraschungsparty zu meiner Beförderung?

Sergeant O’Neill entdeckt mich. »Herrjemine, Duffy, Sie sehen fürchterlich aus. Ich hab schon hübschere Kadaver im Leichenschauhaus gesehen. Hatte ich Ihnen nicht gesagt, Sie sollen nach Hause gehen? Wann haben Sie den Dienst angetreten?«

»Mittag.«

»An welchem Tag?«

»Freitag.«

»Es ist Samstag, Mitternacht. Sie sind seit sechsunddreißig Stunden im Dienst!«

»Was sollen denn die spitzen Hüte?«

»Es ist Neujahr, Mann. 1. Januar 1980.«

»Gutes neues Jahr, Sean«, sagt Woman Police Constable Porter und gibt mir mit mütterlicher Zuneigung einen Kuss auf die Wange.

»Dir auch ein gutes neues Jahr, Liz«, sage ich und küsse sie auch.

»Ach, danke Sean, und hoffen wir, dass die Achtziger besser werden als die Siebziger, hm?«

Sergeant O’Neill lacht verbittert. »Tja, Liz, meine Liebe, sie können ja bestimmt nicht …«

Sagen Sie es nicht! Verschreien Sie es nicht!

»… noch schlimmer werden, oder?«

1

Revier Perdido Street

Eine kalte Hand an meinem Arm. »Sean … Sean …«

Was …?

»Sean!«

»Was denn?«

»Du warst ganz weit weg. Ich hab schon gedacht, du hast einen Schlaganfall.«

Ganz weit weg und zehn Jahre zurück.

»Ach, mir geht’s gut. Ich hab nur … nachgedacht.«

Denken, die Zeit durch die Sanduhr zwingen …

»Wie spät ist es denn?«

»In einer Minute ist es Mitternacht«, antwortete Beth.

Sechzig Sekunden. Mehr mussten wir nicht mehr hinter uns bringen.

Man könnte sechzig Sekunden lang die Luft anhalten.

Die Krähe flog. Der Sand rieselte. Dann war es Mitternacht. Ein paar Kirchenglocken, danach nichts. Stille in dieser uralten heiligen Stadt.

Stille bis auf: »… oh, Su-Su-Sussudio / Oh, Su-Su-Sussudio, oh, oh, oh …«

Nach einigen Augenblicken hing eine Art unzufriedenes Gemurmel im Raum.

00.01 stand auf meiner Uhr. Die Achtziger waren, zumindest in dieser Zeitzone, definitiv vorüber. Im Laufe des Jahrzehnts hatte es in Nordirland 1200 Morde gegeben, die mit den Troubles zu tun hatten, und auf jeden Mord kamen ein Dutzend Schussverletzte oder Bombenopfer, die mit entsetzlichen Wunden überlebt hatten.

Doch die Achtziger waren endlich vorüber.

Ich seufzte erleichtert und trank den letzten Schluck Brandy aus.

Überraschenderweise waren Beth und ich nicht in Belfast, um dieses bedeutsame historische Ereignis zu feiern, sondern saßen in einem Restaurant in der Jericho-Straße auf halber Höhe des Ölbergs und hatten eine ausgezeichnete Sicht auf den gesamten Ostteil von Jerusalem. Hinter uns lag der Garten Gethsemane, vor uns der Felsendom, dahinter der Rest der Altstadt, die von Spots beleuchtet war.

Außerhalb des Restaurants war es gespenstisch still: alle säkularen Israelis, die auf eine Party aus waren, waren zum Silvesterkonzert samt Feuerwerk nach Tel Aviv gefahren, religiöse Israelis schliefen, und auch die meisten Palästinenser lagen im Bett und überließen diesen Teil Jerusalems faktisch den Touristen und dem ulkigen Haufen der religiös Durchgeknallten.

In diesem Fall also Beths Vater und seiner Reisegesellschaft. »Das kommt von diesem Höllenlärm. Das würde doch jeden vergraulen.«

Es gibt viele Gründe, warum man Phil Collins hassen kann, aber ihm die Schuld dafür zu geben, dass die Welt nicht unterging, wäre etwas übertrieben. Und doch, Mitternacht war vorüber, Jesus war nicht auferstanden, und nirgendwo in der Bibel wird erwähnt, dass der Friedensfürst unpünktlich sei. Jesus hatte es allein mit Hilfe von Sonnenuhren und vielleicht der einen oder anderen Wasseruhr geschafft, zu all seinen judäischen Verabredungen pünktlich zu erscheinen.

»Sussudio« hallte es weiter aus den Lautsprechern, wohl nun schon zum dritten Mal an diesem Abend. Keine gute Musik für den Tag des Jüngsten Gerichts, doch stand sie anscheinend recht hoch auf der Playlist des Radiosenders, den sich die Verdammten in der Hölle anhören müssen.

Warum war mein (de facto, nicht de jure) Schwiegervater enttäuscht? Nun, alle wissen, dass der Tag der Geburt Jesu von Dionysius Exiguus falsch berechnet worden war, als er das ganze Anno-Domini-System entwickelte, doch um wie viel genau hatte er sich verrechnet? Sollte das Jahr 1 n. Chr. dort sein, wo das 4 v. Chr. jetzt ist oder aber das Jahr 6 v. Chr., wie manche behaupten? Anscheinend waren nur die Ältesten der Freien Presbyterianischen Kirche Irlands in der Lage gewesen, die richtige Stunde und den richtigen Tag der Geburt unseres Herrn zu bestimmen: 3.15 Uhr früh, am 25. Dezember 10 v. Chr., exakt viertausend Jahre nach der Schöpfung des Universums (Bishop Ussher, dem Erzbischof von Armagh, zufolge).

Mit dieser Information bewaffnet, war des Weiteren hergeleitet worden, dass das zweite Millennium, von dem in der Offenbarung des Johannes die Rede war, Schlag Mitternacht des 31. Dezember 1989 zu Ende gehen würde. Dies würde das wahre Jahr 2000 sein, und natürlich würde das Ende des zweiten Millenniums die Wiederkunft des Herrn und das Ende der Welt mit sich bringen.

Daher traten also mein Schwiegervater (ein hohes Tier in besagter Kirche) und seine Gruppe diese Reise ins Heilige Land an, und daher auch die Einladung an Beth und mich, die triumphale Rückkehr Jesu aus nächster Nähe mitzuerleben. Das Ganze wäre definitiv zum Abwinken gewesen, hätte es da nicht drei Punkte gegeben, die meine Meinung änderten: (1) Hector bezahlte, (2) wir mussten nicht mit der Kirchengemeinde reisen, und (3) ich hatte zehn Tage Urlaub, die ich noch vor dem 31. Dezember 1989 antreten musste, wollte ich sie nicht verlieren.

Von Belfast zum Flughafen Ben Gurion, wo Beth und ich uns von den Presbyterianern verabschiedeten, einen Wagen mieteten und unsere eigene Reise durch Israel und die Palästinensergebiete antraten, um uns ihnen dann an diesem letzten Abend anzuschließen.

00.04 Uhr. Kein Jesus zu Esel oder auf weißem Pferde (da gingen die Meinungen auseinander), kein geöffneter Himmel, keine Posaunen, keine Auferstehung der Toten. Nur streunende Katzen, ab und an ein Passant und Phil Collins.

»Sussudio« ging zu Ende, dann kam »Only You Know and I Know«. Synthesizer, Drum Machine, Saxofon und Trompete, die sich zu einer grässlichen Up-Tempo-Nummer zusammentun. Große Songs illustrieren, wie große Bücher, das Unaussprechliche, und dieser Song war geradezu symbolisch für das Scheitern des ganzen gemeinschaftlichen Brit-Pop-Projekts der Achtziger, fand ich.

Dies war das dritte Mal, dass das Restaurant diese CD durchlaufen ließ. Kein geistig gesunder Mensch kann No Jacket Required drei Mal hintereinander ertragen, und ich fragte mich schon, ob ich, wie Zacharias, den Herrn dazu bringen könnte, mich ertauben zu lassen.

Ich half Beth auf.

»Also, Hector, danke für das Essen, aber ich glaube, wir machen uns jetzt auf den Weg ins Hotel«, sagte ich und schüttelte dem großen Trottel die Hand.

Hector war offenkundig enttäuscht. Er hatte wohl Heulen und Zähneklappern erwartet, die Erzengel Michael, Gabriel and Raphael mit Schwertern, die Arschtritte verteilten und Missetäter notierten. Die einzigen Menschen auf Erden, die offenbar von diesem Grauen verschont bleiben sollten, waren die Mitglieder der Freien Presbyterianischen Kirche Irlands und, aber auch nur vielleicht, Kirchgänger der Freien Presbyterianischen Kirche Schottlands. Ganz gewiss nicht meine Wenigkeit: ein papistischer Polizist, der Alkohol trank, Götzendienst am Marienschrein von Knock vollzog und Anhänger von Celtic Glasgow war.

00.05 Uhr.

Wir riefen ein Taxi und warteten draußen auf der Straße. Die Presbyterianer an den Tischen im Freien durchliefen eine eigentümliche Verwandlung von Gesichtsausdrücken: Furchtsame Erwartung wich langsam Enttäuschung, womöglich durchsetzt mit einem leichten Anflug von Erleichterung.

Plötzlich gab es am Himmel über Ost-Jerusalem vor uns eine spektakuläre Explosion aus strahlend weißem Licht. Beth packte mich am Arm.

»Feuerwerk. Ein wenig zu spät«, sagte ich, aber vielleicht würde das plötzlich auftauchende, strahlende Licht ja …

Aber natürlich würde es das.

Die Komödie lebt in den Kamerashots der Reaktionen. Und ein paar köstliche Sekunden lang gaben die irischen Presbyterianer hinter uns ein wirres Schreien und Rufen von sich.

»Das Ende ist gekommen!«

»O mein Gott!«

»Der Erlöser wird erscheinen!«

Der Erlöser erschien natürlich nicht, dafür aber unser Taxi.

Eine Viertelstunde später waren wir in unserem altmodischen, aber gut geschnittenen Hotelzimmer in einem sehr ruhigen Teil von West-Jerusalem nahe des Sacher-Parks. Beth machte sich bettfein, ich ging an die Minibar und machte mir ein Heineken auf. Ich schaute zum Fenster hinaus auf die Stadt. Gläubige verschiedenster Konfessionen kehrten von Mitternachtsmessen und Feiern heim, Katzen huschten durch die schmalen Gassen, ein Betrunkener stolperte die Eilat-Straße entlang und suchte nach einem Falafelstand.

»Ein wirklich netter Urlaub«, sagte ich, als Beth sich auf meinen Schoß setzte und einen Schluck Bier trank. Ich drückte ihren Po, sie küsste mich.

»Den hast du dir auch verdient, Sean. Und von jetzt an kannst du es als Teilzeitbulle ruhiger angehen lassen.«

»Ja«, sagte ich, war aber noch nicht recht davon überzeugt.

Beth konnte Gedanken lesen.

»Du lässt niemanden im Stich, nur weil du nach Schottland ziehst. Du hast deinen Teil getan, okay?«, sagte sie derart überzeugt, dass ich es ihr fast abgekauft hätte.

»Ja, ich habe meinen Teil getan, verdammt. Mehr als das, und was hat’s gebracht? Vier Jahre als Streifenpolizist. Zwei als stellvertretender Detective. Zehn Jahre als Detective. Und was habe ich erreicht?«

Das war das ziemlich offenkundige Stichwort für Beth, mit einer ganzen Litanei meiner Erfolge anzukommen, aber sie ging nicht darauf ein, war einfach zu müde. Ich trank einen Schluck Bier.

»Was ist denn das für ein Licht da drüben am Telefon?«, fragte sie.

»Was für ein Licht? Ach, das da. Keine Ahnung.«

»Ich glaube, das soll heißen, wir haben eine Nachricht! Was, wenn es um Emma geht?«, fragte Beth alarmiert.

Während wir durch das Heilige Land turtelten, wurde Emma, unsere frühreife, drei und ein paar Monate alte Tochter, hoffentlich von meinen Eltern daheim in Belfast total verwöhnt.

Ich spielte die Nachricht ab, aber es hatte nichts mit Emma zu tun. Es handelte sich um einen Anruf von John McCrabban vom Revier.

»Sean, ich hoffe, du hast einen schönen Urlaub. Hör mal, ich weiß, du setzt auf einen komplett abgearbeiteten Fallordner, damit wir morgen dem jungen Lawson alles besenrein übergeben können, aber da gibt es einen VF, den du erst noch zu Bette tragen musst. Tut mir sehr leid, Sean, aber der geht auf uns, und du musst ihn noch absegnen. Ermitteln, nicht ermitteln. Ruf mich zurück, wenn du Zeit hast. Cheerio. Und Grüße an Beth, natürlich.«

Beth sah mich an. »Was ist ein VF?«

»Vermisstenfall. Nichts Besonderes«, sagte ich und rief das Revier Carrickfergus an.

Crabbie ging dran. »Carrickfergus, Royal Ulster Constabulary. Detective Sergeant McCrabban am Apparat.«

»Ich bin’s, Sean.«

»Sean! Meine Güte. Wie ist denn das Heilige Land so?«

»Eine interessante Reise, Mann, und ich rufe aus der Zukunft an, was mich normalerweise ja ins Schwatzen bringen würde, aber angesichts der internationalen Telefongebühren sollten wir uns lieber ums Geschäft kümmern. Worum geht’s?«

»VF. Heute Nachmittag. Ein Travellermädchen namens Kat McAtamney. Ich habe mit dem Chief Inspector gesprochen, und der meinte, es sei reine Zeitverschwendung, am Silvesterabend nach einer Vermissten zu suchen. Er meinte, die Tinkermädchen würden doch andauernd verschwinden, und keinen würde das einen Scheiß interessieren. Außer dass er, ähm, nicht Scheiß gesagt hat.«

»Und was meint der Chief Inspector, was wir tun sollen?«

»Nichts. Wir sollen den Papierkram zu dem Überfall zu den Akten legen und im Computer registrieren und uns dann höflich von der Bühne verabschieden und die Abteilung Sergeant Lawson überlassen.«

»Weil sich niemand einen Scheiß für eine vermisste Tinkerin interessiert?«

»So der Kern seiner Bemerkungen.«

»Und da gebe ich einen Scheiß drauf, Crabbie.«

»Das habe ich mir gedacht, deshalb habe ich den Fall noch nicht zu den Akten gelegt und Lawson gebeten, sich die Sache anzuschauen.«

»Also gut. Ich komme sofort aufs Revier. Ich hoffe immer noch, dass die Übergabe problemlos läuft.«

»Ich auch. Ich hab Helen versprochen, mit dem ganzen Palaver durch zu sein.«

»Nach der Sache werden wir das auch sein. Du und ich, Mann.«

Crabbie räusperte sich. »Glaubst du, das hat, ähm … wie heißt das Wort … die nötige gravitas, um Sean Duffys letzter Fall zu werden?«

»Können ja nicht alles Morde sein, oder?«

»Ich wäre froh, wenn ich zu meinen Lebzeiten nie wieder mit einem Mordfall zu tun hätte.«

»Ich auch. Bis morgen, Kumpel.«

Ich legte auf und sah zu Beth hinüber.

»Ich hab’s gehört«, sagte sie. »Mach dir keine Sorgen. Ist eine gute Ausrede, damit du mir beim Packen nicht auf den Füßen rumstehst.«

»Das wirst du mir ewig vorhalten und sagen, ich hätte dir nicht beim Umzug geholfen.«

»Du meine Güte, haben das deine Verflossenen so gemacht? Das ist so überhaupt nicht meine Art.«

»›Verflossenen‹, hm? Wir haben ein Kind. Wir sind praktisch so gut wie …«

»Sprich es gar nicht erst aus, Sean Duffy.«

»Na, dann nicht.«

Sie gähnte, und ich gab ihr einen Kuss.

»Ich geh ins Bett«, sagte sie, und fünf Minuten später schlief sie eingemummelt tief und fest.

Ich konnte nicht schlafen.

Konnte ich nie. Werde ich nie. Ich sorgte mich um einen Fall. Sorgte mich um die Familie. Die üblichen täglichen Sorgen. Stets wird man von der Peitsche der Zeit gezüchtigt. Sie haben doch Schopenhauer gelesen, oder? Nein? Schätzen Sie sich glücklich. Hören Sie auf meinen Rat: Tun Sie es nicht.

Ich trat mit dem Bier auf den Balkon.

Es war still auf der Gezer-Straße, der Eilat-Straße und der Nisim-Bachar-Straße, still bis auf die Schakale, die sich in den Hügeln Judäas gegenseitig riefen.

Eigentlich erstaunlich, hier zu sein.

Belfast ist Jerusalems Zwilling.

Beides heilige Städte.

Beide durchzogen von teuflischen Linien, die nach Blut und Opfern verlangen.

Beide gesegnet und verflucht.

Ciudad perdida. Cahill Chathair. הדובא ריע.

Ich trank einen Schluck, drückte mir die Bierflasche an die Stirn und schloss die Augen.

Die Achtziger überlebt zu haben, in denen Dutzende meiner Kollegen gestorben sind. Dem Tod so oft von der Schippe gesprungen zu sein. Aye, Crabbie, es ist vollkommen in Ordnung, meine Karriere bei der Polizei mit einem ganz hundsgewöhnlichen Vermisstenfall zu beenden.

Ich schlug die Augen auf.

Das Licht toter Sterne. Das Flattern von Fledermausflügeln. Katzen.

Die Nacht war mild und schön, der Sternenhimmel satt und tief. Im Hinterkopf fing ich schon an, über das vermisste Mädchen zu grübeln, doch in einem anderen Winkel davon dachte ich an John Strong. Strong war Assistant Chief Constable der RUC, hatte aber in den letzten circa zehn Jahren als Agent für die IRA gearbeitet. Ich hatte John Strong vor einem Jahr umgedreht, und nun arbeitete er für uns als Doppelagent. Er war unberechenbar, überempfindlich und nervös, und es bedurfte dreier Agenten des MI5 und meiner Person, um mit ihm klarzukommen. Ich hatte eingewilligt, ihn weiter zu bemuttern, obwohl er bereits einen ganzen Satz an Betreuern für sich allein hatte. Selbst nach dem Umzug nach Schottland würde ich weiter damit zu tun haben, so wichtig war er. Seit zehn Tagen hatte ich nichts mehr von Strong gehört und auch nicht an ihn gedacht, aber sein großes, orangefarbenes bärtiges Gesicht nörgelte an mir herum.

Ich zog das Telefonkabel bis auf den Balkon hinaus und rief das Büro in Cultra an.

»Wilson Foods, Siobhan am Apparat«, sagte eine Frau mit einer derart hochnäsigen Stimme, dass sie auch in einer Million Jahren niemanden davon überzeugt hätte, dass sie »Siobhan« hieß.

»Ich habe eine Vorgangsnummer, Siobhan«, sagte ich.

»Wie lautet die vierstellige Vorgangsnummer?«

»4556.«

»Und das Aktenzeichen?«

»Tango 887.«

»Ist dies ein Notfall, Tango 887?«

»Nein. Ich möchte nur die Einsatzleitung sprechen.«

»Ich stelle Sie durch.«

Pause. Dann: »Einsatzleitung.«

»Hier spricht Duffy. Vorgangsnummer 4556.«

»Duffy, schön von Ihnen zu hören! Ein kleines Vögelchen hat mir gezwitschert, dass Sie ausgerechnet im verfluchten Israel sind«, sagte Oliver. Der junge, schlaksige, gut aussehende Oliver Carson, 22, aus Manchester. Er hatte einen Bachelor in Russisch und Slawischen Sprachen, weshalb MI5 ihn aus irgendeiner verqueren Logik heraus nach Belfast geschickt hatte.

»Das Vögelchen war gut informiert.«

»Wo genau sind Sie?«

»In Jerusalem.«

»Duffy, Sie sind der einzige Mensch in Belfast, der in genau die eine Stadt fliegt, die glaubenstechnisch noch zerrissener und gefährlicher ist als unsere, um Urlaub zu machen.«

»Das habe ich auch gerade gedacht. Mein Schwiegervater ist darauf gekommen. Und er bezahlt das alles, warum also nicht? Wie geht’s unserem Burschen, Oliver?«

»Ach, das reinste Nervenbündel, wie immer. Andauernd denkt er, die kommen ihm auf die Schliche.«

»Und, kommen sie?«, fragte ich ihn leicht beunruhigt.

»Nein! Natürlich nicht. Er leidet an Verfolgungswahn.«

»Es ist also alles in Ordnung?«

»Alles bestens.«

»Gut. Das ist meine letzte Woche als Vollzeitpolizist, denken Sie dran.«

»Ach herrje, stimmt ja, Sie ziehen nach Schottland, richtig?«

»Ja. Noch ein letzter Fall, den ich zu Bett bringen muss, dann war’s das.«

»Strong wird bestürzt sein. Er vertraut Ihnen, Duffy.«

»Sie werden dafür sorgen müssen, dass er Ihnen auch vertraut. Sobald ich meinen Fall erledigt habe, werden Sie mich erheblich seltener zu Gesicht bekommen.«

»Worum geht es denn? Was Saftiges?«

»Nein. Ein vermisstes Mädchen. Eine Traveller.«

»Himmel, wer soll denn diesen Mädels auf der Spur bleiben? Ich sehe sie andauernd in Lavery’s Bar. Sechzehn, aber aufgedonnert, dass sie wie dreißig aussehen. Kleine Schlampen.«

»Charmant wie immer, Oliver. Bis bald.«

Ich legte auf, lauschte noch eine Weile den Schakalen und ging dann ins Bett. Wen kümmert denn ein verschwundenes Tinkermädchen auch nur einen Scheiß?

»Carrickfergus CID kümmert’s«, murmelte ich und deckte mich zu.

Ich schlief ein paar Stunden lang und schreckte plötzlich hoch. Fünf, sagte die Uhr. Wie spät war es in Großbritannien? Ich zählte die Zeitzonen ab. Zwei Uhr nachts, was bedeutete, dass die Achtziger auch dort endlich vorüber waren. Die düsteren, schmierigen, schäbigen Siebziger waren einmal in die gewalttätigen, neonfarbenen, schrecklichen Achtziger übergegangen.

»Die Neunziger können nicht schlimmer werden« war ein Gedanke, den ich nicht nur niemals aussprechen, sondern auch niemals zu denken wagen würde.

Ich stand auf und öffnete die Fensterläden. Es war still, und ein frühes goldenes Morgenlicht ergoss sich spektakulär über Jerusalems weiße Kalksteingebäude. Vielleicht war dies ein guter Ort, um sich dem neuen Jahrzehnt zu stellen, dem letzten Jahrzehnt des zweiten Jahrtausends. Vielleicht ein Gebet für bessere Zeiten? Die Luft über Jerusalem war schon voller Gebete, da konnte eins mehr auch nicht schaden. Ich kontrollierte, dass Beth nicht zusah, und ging auf die Knie. »Salve, Regina, mater misericordiae«, flüsterte ich. »Seit zwei Jahrzehnten gibt es nun schon die Troubles. Lass dies das letzte Jahrzehnt werden. Es gibt noch andere Länder. Andere Feindschaften schlummern unter dem Eis. Lass die Dummköpfe in London besonnener werden. Lass die Dummköpfe in Amerika ihre Brieftaschen verschließen. Lass die Dummköpfe in Ulster an die sanften Brauen ihrer Kinder denken, und möge der Herr in seiner Güte freundlich sein zu Belfast.«

2

Duffys letzter Fall

Wir flogen um acht Uhr von Ben Gurion ab. Alle kamen pünktlich zum Flieger. Mürrische presbyterianische Farmer aus dem Hügelland von County Antrim konnte man so einiges schimpfen, aber ›unpünktlich‹ gehörte nicht dazu.

Allerdings musste man sich fragen, warum sie sich überhaupt die Mühe gemacht hatten, Rückflüge zu buchen, wenn sie doch so zuversichtlich gewesen waren, dass das Ende der Welt bevorstand … Ich behielt diesen Gedanken allerdings für mich und schaffte es, auf dem Flug nach Ulster, Gottes anderes Gelobtes Land, ein wenig zu schlafen.

Der Flug nach Belfast dauerte fünf Stunden, da aber Großbritannien drei Stunden hinter Israel war, landete der Direktflug tatsächlich um zehn Uhr. Ich holte den BMW vom Langzeitparkplatz. Es handelte sich um einen funkelnagelneuen 525i sport. Es war der erste Allrad, den ich in der 5er-Reihe gekauft hatte. Er wurde von einem M50-Motor angetrieben und das Mittendifferential verteilte normalerweise die Kraft auf Frontachse und Hinterachse im Verhältnis 36/64, doch konnte die Steuerelektronik das Verhältnis je nach Fahrbedingungen anpassen. Ideal für Irlands Viehpfade, einspurige Landstraßen und Fernstraßen, und ideal für all die irischen Tage, an denen es am Morgen schneite, am Nachmittag graupelte, am Abend sonnig war und nachts in Strömen goss.

Die Höchstgeschwindigkeit lag bei 230 km/h, doch der Wagen war für Großbritannien und Irland auf 180 km/h gedrosselt worden. Als Polizist war es mir möglich, die elektronische Drosselung aufheben zu lassen, und wenn ich um ein Uhr nachts auf dem Motorway fuhr, kam ich leicht auf 200 km/h.

Mit Beth an Bord allerdings hielt ich auf der Rückfahrt nach Carrickfergus eine besonnenere Geschwindigkeit ein. Ich machte das Radio an und nach ein paar Sekunden wieder aus. Auf Radio 1 lief immer noch diese dystopische Musik der Achtziger, die die oberen Ränge der Hitlisten anführte: Phil Collins, Cher, Kylie Minogue; auf anderen Sendern allerdings tauchten ab und an erste Anzeichen einer musikalischen Revolution aus Manchester und Seattle auf. Man wollte ja nichts beschreien, aber es schien doch durchaus im Bereich des Möglichen, dass die Neunziger sich zumindest musikalisch zum Besseren wenden würden.

Wir nahmen die nördliche Route nach Carrickfergus, fuhren die North Road entlang zu der Straße, die früher mal Kennedy Drive geheißen hatte, kamen am Freizeitheim vorbei und landeten daheim in der Coronation Road.

Nostalgie überkam mich, während ich vorsichtig um die Kinder rollte, die Kerby und Fußball und Fangen spielten. Es war unser letzter ganzer Tag in dieser Straße. Heute Nachmittag wollten wir zu Ende packen und morgen umziehen. Natürlich würde ich weiter hier wohnen, wenn ich meine sieben Tage im Monat arbeitete, aber irgendwann wollten wir das Haus verkaufen, und ich würde mir eine für meine Bedürfnisse passendere Ein-Zimmer-Wohnung unten beim Jachthafen kaufen.

Ich hielt auf meinem Parkplatz vor dem Haus Nr. 113.

Dad und Ma standen draußen und warteten auf uns. Ma hielt Emma liebevoll im Arm, Dad weniger liebevoll Kater Jet.

Der Wagen hielt an, Beth sprang aus dem Auto und drückte Emma an sich.

»Nie wieder. Ich lass dich nie wieder allein. Zehn Tage waren zu lang. Nie wieder. Das nächste Mal kommst du mit uns!«, jammerte sie und fing an zu weinen. Ich hatte Emma ebenfalls vermisst, aber dieser Ausbruch überraschte mich doch ein wenig. Beth war normalerweise sehr zurückhaltend. Diese Protestanten steckten doch voller Überraschungen. Ich drückte Emma an mich, umarmte meine Ma, klopfte meinem Dad auf den Rücken und tätschelte den Kopf des Katers. Wir gaben Emma ihre Geschenke: Pralinen und ein Stoffkamel.

»Daddy!«, rief sie. »Du bist ganz rot!«

»Du hast ein wenig Sonne abgekriegt«, schimpfte meine Mutter. »Du weißt doch, dass du die Sonne nicht gut verträgst, Sean. Wie die Bromelien.«

»Ist nur die Wintersonne gewesen, alles in Ordnung«, wiegelte ich ab.

Wir gingen ins Haus, es roch nach dem kraftvollen selbstgemachten Spülmittel meiner Ma. Alle Oberflächen waren geschrubbt, alle Bilder abgestaubt worden. Ich betete zu Gott, dass sie nicht auch noch meine Schallplatten geschrubbt oder abgestaubt hatte. Ich schaute schnell bei ein paar zufällig ausgewählten LPs nach, aber sie waren ohne Kratzer.

»Ich hab sie nicht drangelassen«, flüsterte mein Vater.

»Emma geht’s gut, der Katze geht’s gut, meinen Platten geht’s gut«, sagte ich zu Dad, »ziemlich erfolgreiches Babysitten – muss ich schon sagen.«

»Was hast du denn gedacht? Dass das Haus abgebrannt ist, die Katze ausgebüxt und das Kind im Krankenhaus?«, erwiderte Dad leicht beleidigt.

Tatsächlich hatte ich all das befürchtet. »Nein, ich wusste, dass ihr das schafft«, sagte ich.

»Dein Vater hat versucht, dem Kater eine Leine anzulegen, damit er nicht andauernd hinter den Staren herjagt, aber Jet wollte nichts davon wissen«, fügte Ma noch hinzu.

»Sean, den Witz hab ich dir aufgehoben: Einst lebte ein Mann in der Türkei / dessen Limericks gingen nur bis Zeile zwei«, sagte Dad.

»Sehr gut. Hört mal, Leute, ich kann nur fünf Minuten bleiben, die Arbeit ruft«, erklärte ich.

Wir gingen ins Wohnzimmer. Überall standen Kisten herum, und wir hatten immer noch einiges einzupacken. Die Umzugsleute würden am nächsten Tag in aller Frühe kommen. Wir hatten das Haus jenseits des Wassers schon eingerichtet, aber wir mussten Besteck, Bücher, Bettzeug und den Großteil meiner Schallplatten mitnehmen.

»Wo seid ihr denn überall gewesen?«, fragte Ma.

»Jerusalem, Tel Aviv, Totes Meer, Eilat, dann sind wir in den Norden gefahren«, antwortete ich, während Beth mit Emma herumgurrte und Emma mit dem Kamel spielte.

»Wart ihr auch am See Genezareth?«, fragte Dad.

»Wir waren da, sind drin geschwommen, haben dort in der Sonne gelegen. Wir haben dir auch etwas heiliges Wasser aus Beth Yerah mitgebracht, wo der Jordan den See verlässt.«

»Ach ja!«, sagte Beth und wühlte in den Koffern nach den Flaschen mit dem heiligen Wasser.

Mein Vater besah sich skeptisch die Flasche. »Das ist doch nicht einfach Wasser aus dem Badezimmer im Hotel, oder? Ich kenne dich nur zu gut.«

»Das würde ich niemals zulassen, Mr Duffy!«, sagte Beth. »Wir haben sie persönlich am Fluss abgefüllt.«

»Hast du irgendwelche Vögel gesehen?«, fragte er.

»Millionen.«

»Und?«

»Ich hab mich doch nicht hingesetzt und für dich die Vogelnamen in ein großes Vogelbuch geschrieben, Dad. Ich war im Urlaub. Mein erster Urlaub in fünf Jahren, um genau zu sein.«

»Jetzt quäl ihn doch nicht so, Sean«, sagte Beth und wühlte wieder in den Koffern herum. Sie gab ihm das Notizbuch, das ich mit Beobachtungen von Mönchsgeiern, Lappentauchern, Zwergscharben, Rallenreihern und einem Mauerläufer gefüllt hatte. Beth hatte sogar ein paar Zeichnungen angefertigt, die so natürlich wirkten, dass der alte Herr ganz aus dem Häuschen war.

»Hast du wirklich einen Mauerläufer gesehen?«

»Ja, Dad.«

»Oh! Was für ein Fund! Das einzige Mitglied der Gattung Tichodromus, Emma.«

Emma nickte ernst, dann fiel ihr noch etwas ein. »Willst du Daddy und Mummy von Mary Poppins erzählen, Grandpa?«

Meine Ma schüttelte den Kopf. »Nein, wir wollen doch nicht, dass dein Großvater sich wieder so aufregt.«

»Grandpa hat sich über das Rotkehlchen aufgeregt«, erklärte Emma.

»Das Rotkehlchen?«, fragte Beth und übersah meine abwiegelnde Geste. Worum auch immer es sich handelte, Vögel gehörten zu Dads Steckenpferden, und das Klügste war, ihn nicht noch zu ermutigen.

»Ja, das Rotkehlchen«, sagte Emma mit sarkastischem Unterton, den ich bei einer Dreijährigen eigentlich nicht mochte. »Es landet auf Marys Finger.«

»Ach das? Das war offensichtlich ein schlechter Filmtrick, Dad, du darfst nicht vergessen, das war 1964 oder so …«

»Es geht nicht um den Filmtrick. Die mechanische Bewegung des Rotkehlchens oder die Stop-Motion-Aufnahme ist völlig nebensächlich. Die hätten nie ein echtes Rotkehlchen dazu gebracht, sich auf Marys Finger zu setzen, das bereitet mir keine Probleme«, sagte Dad.

»Sondern was?«, fragte Beth.

»Das Problem ist, dass das Rotkehlchen auf Marys Finger ein Amerikanisches Rotkehlchen war. Ein Singvogel aus der Familie der Drosseln. Wegen der orangeroten Brust ist er nach dem europäischen Rotkehlchen benannt, obwohl die beiden Arten nicht mal entfernt miteinander verwandt sind, wie jeder weiß! Das Rotkehlchen gehört zur Familie der Fliegenschnäpper, und genau dieser Vogel hätte auf Marys Finger landen sollen, da sie ja in London ist.«

»Dein Vater hat sich fürchterlich aufgeregt«, flüsterte Ma in dem ihr eigenen Bühnenflüstern. »Er hat das Video angehalten und wollte schon Walt Disney schreiben, bis ich ihm sagte, dass Mr Disney bereits verstorben ist. Ich mache uns einen Tee.«

Und damit ging sie und setzte Wasser auf. Jet ging hinaus, um Stare zu jagen. Stille machte sich im Wohnzimmer breit. Beth und Emma schauten mich an, ich sollte schlichten.

»Ähm, das Amerikanische Rotkehlchen ist doch ein Zugvogel, richtig, Dad? Turdus migratorius. Hätte denn nicht einer davon im Sturm vom Kurs abgekommen und aus Versehen in London gelandet sein können? Die vorherrschende Windrichtung ist von West nach Ost, dazu noch ein Sturm?«

»Der Wind war stark genug, um all die anderen Kindermädchen davonzupusten, Grandpa«, sagte Emma.

Mein Vater räusperte sich. »Na ja, unmöglich ist das nicht, nehme ich an«, räumte er ein.

»Puh, diese Krise wäre also schon mal gelöst! Wenn ihr mich jetzt entschuldigen würdet, Leute, ich muss aufs Revier und mich um etwas kümmern, das alle Leute Sean Duffys letzten Fall nennen.«

Ich ging hinaus und machte mir im Geist eine Notiz, Dad niemals David Lynchs Blue Velvet zu zeigen – bei dem Rotkehlchen am Ende würde er wohl einen Herzinfarkt kriegen.

Ich schaute unter dem BMW nach Sprengsätzen, fand keine und fuhr mit lockeren achtzig Sachen die Victoria Road entlang und dann mit hundert über den Marine Highway.

Nicht gerade eine Kehre mit angezogener Handbremse auf den Parkplatz des Reviers, aber ein gewisser Elan beim Bremsen und Vorzeigen des Dienstausweises.

Ein paar von der Mannschaft im Erdgeschoss nickten mir zu und sagten Hallo, und ich ging die Treppe zum Criminal Investigation Department hinauf. Crabbie war noch nicht da und Lawson war auf dem Klo oder sonst wo, also zog ich mich in mein Büro zurück. Auf dem Tischkalender stand 20. Dezember 1989. Ich blätterte weiter zum 1. Januar 1990.

Auf diesen Tag hatten wir lange gewartet. Crabbie und ich gaben unsere Posten als Vollzeitdetectives auf und schlossen uns der Teilzeitreserve der RUC an. Crabbie tat dies, um mehr Zeit auf seiner größer gewordenen Milchfarm zu verbringen. Ich tat es aus komplexeren Gründen. Vor allem waren da natürlich Beth und Emma. Der Angriff auf unser Haus in der Coronation Road vor gut einem Jahr war für Beth der letzte Tropfen gewesen. Sie wollte Emma nicht in einem Land großziehen, in dem Soldaten durch die Straßen patrouillierten, Nacht für Nacht Bomben hochgingen und Unruhen ausbrachen. Sie hatte ihren Abschluss an der Glasgow University gemacht, und mit einem Master in Englisch und einem in Pädagogik war es ihr nicht schwergefallen, eine Anstellung als Realschullehrerin in Schottland zu finden. Sie hatte eine Stelle an der Stranraer Girls Grammar School angenommen und würde dort nächste Woche mit Beginn des neuen Schuljahrs anfangen. Wir hatten in Portpatrick ein großes altes Haus mit Blick auf die Irische See gekauft und Sommer und Herbst damit verbracht, es herzurichten. Der Umzug nach Schottland würde Beth glücklich machen, doch ich konnte natürlich nicht weiter in Vollzeit als leitender CID-Beamter in Carrickfergus arbeiten. Ich würde auch kein Detective mehr sein können, denn die waren rund um die Uhr auf Bereitschaft. Dafür konnte ich als Teilzeitreservist bei der Polizei bleiben und musste nur sieben Tage im Monat arbeiten. Diese sieben Tage waren wichtig, denn wenn ich die kommenden dreieinhalb Jahre sieben Tage im Monat dabeiblieb, konnte ich mit einer Vollpension nach zwanzig Dienstjahren bei der RUC aufhören. Ich konnte also in Schottland in relativer Sicherheit bei Beth leben und trotzdem die zwanzig Jahre vollmachen.

Die sieben Tage würden hauptsächlich Verwaltungskram bedeuten, aber ich würde mich auch um unseren IRA-Doppelagenten John Strong kümmern, wann immer Gelegenheit dazu war. Strong war sehr pflegeintensiv, aber das war es wert. Die IRA glaubte noch immer, dass er ihr Maulwurf bei der Polizei war, und hatte keine Ahnung, dass wir ihn umgedreht hatten. Im Laufe des letzten Jahres hatte er die IRA mit bedeutsamen Falschinformationen gefüttert und dafür wertvollen Einblick in die Kommandostruktur der IRA zu beiden Seiten der irischen Grenze erhalten. Strong vertraute mir mehr als seinen anderen Betreuern, deshalb hatte ich auch diesen kleinen Deal für Crabbie und mich aushandeln können – wir würden als Teilzeitreserve arbeiten, aber nach den zwanzig Jahren die volle Pension beziehen.

Der 1. Januar 1990 sollte der Beginn dieses neuen Arrangements sein, dazu musste ich nur noch meine Fälle abschließen und die Schlüssel an Lawson weitergeben.

Lawson war kein schlechter Mann. Seine größten Qualitäten waren Jugend, Intelligenz und Eifer, aber es mangelte ihm an Erfahrung, und manchmal hatte er den hageren, hungrigen Blick eines ehrgeizigen Mannes. Lawson sah sich womöglich als Chief Superintendent, wenn er in mein Alter kam, und vielleicht würde er von der Londoner Metropolitan Police abgeworben und jenseits des Wassers als Commander enden. Ehrgeizige Menschen um sich zu haben war immer ein wenig gefährlich, und manchmal machte ich mir Sorgen, dass er mit Kanonen auf Spatzen schießen könnte, nur um die Zahl der durch ihn vorgenommenen Verhaftungen hochzuhalten.

Aber wir würden ja sehen.

An dem Schreibtisch, an dem bald jemand anderer sitzen sollte, blätterte ich durch die Korrespondenz. Oben im Eingangskorb lag ein internes Memo mit dem Stempel WICHTIG.

Ich öffnete den Umschlag, und es fiel ein Blatt heraus. Es handelte sich um eine Reihe von blödsinnigen Klagen der Verwaltung über unsere Spesen, und unten auf der Seite hatte Dalziel in einer Mann-auf-dem-Mond-Schriftgröße hastig hingeschrieben: »Schauen Sie doch bitte in meinem Büro vorbei, bevor Sie gehen, Inspector Duffy, Sie haben das Budget weit überschritten.«

Das CID überschritt ständig die Obergrenze an Überstunden, und zwar aus dem einfachen Grund, dass wir mehr arbeiteten als alle anderen auf dem Revier. Und wenn meine Männer hart arbeiteten, sollten sie auch entsprechend bezahlt werden. Inspector Dalziel würde es nicht wagen, Sergeant Lawson und die neuen Detective Constables so lange zu drangsalieren, bis sie sich mit weniger Geld zufriedengaben, als ihnen zustand. Ich wollte ihn gerade anrufen und ihm meine Meinung geigen, als die Tür aufging und der Arsch persönlich hereingestiefelt kam, ohne anzuklopfen.

In meinen Augen war er nur ein farbloser, feiger, salbungsvoller kleiner Kerl, doch ein paar Damen im Büro fanden, er würde wie Leslie Howard aussehen, was den verstorbenen Mr Howard sicher nicht erfreut hätte.

»Haben Sie schon mal was von Anklopfen gehört, Dalziel? Geht es um die Überstunden?«

»Es geht um die Überstunden und die Spesen und die Reisekosten. Ihre Abteilung zweigt ganz schön viel vom Budget ab, finden Sie nicht?«, sagte Dalziel.

»Das ist Ihr Problem, Kenny. Sie halten das hier für eine Firma. Sind wir aber nicht – wir sind die verfluchte Polizei.«

»Ich an Ihrer Stelle würde nicht so grinsen, Duffy. Ich habe dafür gesorgt, dass die Finanzinspektoren davon erfahren. Das hier geht weit über einfache Schummelei mit Überstunden hinaus. Ich denke, wir reden hier von Betrug«, sagte er voller Genugtuung.

»Das ist ein Riesenhaufen gequirlter Schweinescheiße, wie meine alte Großmutter zu sagen pflegte.«

»Ihre Großmutter, hm? Jetzt verstehe ich, von wem Sie Ihr loses Mundwerk haben.«

»Ich habe Ihre Ma und Ihren Dad beim Polizeiball kennengelernt, Kenny, nette Leute, und ich habe nicht die leiseste Ahnung, woher Sie es haben, unablässig ein solches Arschloch zu sein.«

Er setzte sich mir gegenüber hin und schüttelte den Kopf. »Das ist eine ernste Angelegenheit, Duffy. Glauben Sie ja nicht, dass die nicht hinter Ihnen her sind, nur weil Sie zur Teilzeitreserve wechseln.«

»Setzen Sie sich, fühlen Sie sich ganz wie zu Hause.«

»Ich möchte Ihnen ganz offiziell mitteilen, dass ich mich an Special Branch wenden werde, Interne Ermittlungen. Ich werde die Abrechnungen Ihrer Abteilung der letzten fünf Jahre gründlich durchgehen, und Sergeant Lawson wird kooperieren müssen.«

»Falls ich Wind davon bekomme, dass Sie meinen Sergeant schikanieren, sind Sie fällig, Mann.«

»Soll das eine Drohung sein?«

»Ein Versprechen, Dalziel, ein verfluchtes Versprechen.«

»Sie vergessen Ihre Position, Duffy.«

Dalziel war zum Inspector befördert worden, und es ging das Gerücht, dass er das Kommando über das Revier bekommen sollte. Er war ein einflussreicher Arsch, dieser Dalziel, mit Verwandten in den oberen Rängen der Polizei und weiteren Verwandten bei der Democratic Unionist Party. Ach, und hatte ich schon erwähnt, dass er Freimaurer war? Das alte Spielchen: Hol mir einen runter und lass diesen Strafzettel verschwinden. Zwei Mal blinzeln und die Stirn runzeln und schon wirst du zum Chief Constable befördert. Aber nicht bei mir. Nicht solange sie mich brauchten, um John Strong als Agent zu betreuen. Ich schüttle den Kopf, und schon wird Kenny Dalziels Aufstieg auf der Karriereleiter an der zweiten Sprosse von unbekannten Mächten beendet und er darf sich in die Ecke stellen und Eselsohren tragen.

»Welche Position ist das, Kenny? Reiterin verkehrt herum?«

»Wir haben denselben Dienstgrad, Duffy.«

»Dafür bin ich dienstälter. Zehn Jahre, Mann.«

»Das hat nichts zu sagen. Das bedeutet nur, dass zehn Jahre lang niemand Sie für beförderungswürdig erachtet hat.«

Und damit stand er auf und wischte sich die halbe, so gar nicht Leslie Howard’sche Glatzentolle zurück.

»Ich an Ihrer Stelle würde keine Zeit an die Finanzinspektoren oder die Interne Ermittlung verschwenden, Kenny. Ich habe so das merkwürdige Gefühl, dass Ihre Bitte, gegen mich ermitteln zu lassen, sich in Luft auflösen wird. Pfft! Einfach so.«

»Ach, Sie haben eine gute Fee, die Sie beschützt, richtig?«

Ja, solange John Strong lebte, auf jeden Fall. Drei gute Feen mit Glitzerkrönchen: der Leiter der Geheimdienstermittlungen Special Branch, der Leiter des Belfaster Büros des MI5 and der RUC Chief Constable höchstpersönlich.

»Tun Sie mir einen Gefallen, Kenny, schicken Sie Ihren Bericht noch heute früh weiter. Ich möchte Ihr Gesicht um 17 Uhr sehen, wenn Sie einen Anruf vom Olymp kriegen, bei dem Ihnen klipp und klar mitgeteilt wird, Sean Duffy in Ruhe zu lassen.«

»Wir werden sehen«, sagte er und spazierte hinaus.

»Machen Sie die Tür zu, Sie Scheißer!«, brüllte ich ihm hinterher, aber das tat er nicht. Dreißig Sekunden später klopfte es leise an der noch immer offenen Tür.

»Kommen Sie rein, Lawson!«, rief ich.

Lawson kam herein und schaute betreten. Er hatte offenbar das ganze Gespräch mitbekommen und machte sich wahrscheinlich Sorgen deswegen. Zu all dem Unfug, den er in seiner ersten Woche als Diensthabender zu erledigen hatte, brauchte er nicht auch noch eine Untersuchung durch Special Branch.

»Setzen Sie sich, Junge, und wischen Sie sich die Sorgenfalten von der Stirn. Die blöden Arschlöcher werden vor dem Herrn erschlagen und erniedrigt.«

»Welcher Vers ist das denn, Sir?«

»Ich paraphrasiere, Lawson. Das gesamte Alte Testament.«

Lawson wirkte dünner und blasser als sonst. Meine Güte, geriet er schon in Stress, obwohl er den Posten noch nicht mal übernommen hatte? Oder war ich nach zehn Tagen in der Gesellschaft von Menschen, die Gemüse aßen, sich gelegentlich bewegten und Sonne abbekamen, nur den Anblick dieses blassen, käsigen Iren nicht mehr gewohnt?

»Was denken Sie gerade, Sir?«, fragte Lawson, und seine strahlend blauen Augen blitzten unschuldig.

»Ich dachte, wie gut es ist, Sie zu sehen, mein Junge. Wie ist es Ihnen ergangen?«

»Gut, Sir. Wie war Israel?«

»Reizend. Waren Sie schon mal dort?«

»Nein. Ich würde gern, eines Tages. Ich habe Tante und Onkel in Haifa.«

»Ich habe ein Geschenk für Sie«, sagte ich und drückte ihm die übliche Riesen-Toblerone vom Flughafen in die Hand.

»Danke, Sir.«

»Ich habe auch heiliges Wasser mitgebracht. Möchten Sie? McCrabban wird ablehnen.«

»Ähm, nicht so ganz meine …«