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Alter und Devianz E-Book

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Beschreibung

Alterskriminalität ist eine ernste Herausforderung, vielschichtiger als angenommen und wenig untersucht. Das Phänomen wirft viele Fragen auf: Erwartet uns im Zuge des demografischen Wandels ein deutlicher Anstieg von kriminellen Älteren? Wie lassen sich Delikte älterer Straffälliger erklären und welche Verstöße sind für diese Altersgruppe typisch? Wie müssen sich Haftanstalten gegenüber älteren Inhaftierten wappnen und wie ist eine Resozialisierung für Seniorinnen und Senioren erfolgreich auszugestalten? Der Band erörtert aus verschiedenen Perspektiven die Erscheinungsformen, Ursachen und Konsequenzen von Normverstößen im Alter und bietet damit eine fundierte Grundlage zur Auseinandersetzung mit dem Thema der Straffälligkeit und Langzeithaft älterer Menschen.

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Seitenzahl: 638

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Der Herausgeber

Stefan Pohlmann ist Professor für Gerontologie an der Hochschule München. Der habilitierte Psychologe leitet dort die Abteilung für interdisziplinäre Gerontologie und vertritt als Dekan die Interessen der Fakultät für angewandte Sozialwissenschaften.

Stefan Pohlmann (Hrsg.)

Alter und Devianz

Ein Handbuch

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

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1. Auflage 2022

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-038773-7

E-Book-Formate:

pdf:        ISBN 978-3-17-038774-4

epub:     ISBN 978-3-17-038775-1

Inhaltsverzeichnis

Einführung

Das Phänomen der Devianz im Alter

Stefan Pohlmann

Gebot der Differenzierung

Forschungs- und Praxisallianzen

Struktur des Sammelbands

Danksagung

Literatur

TEIL IAlterswissenschaft trifft Kriminalitätsforschung

1      Theoretische Impulse zu alterssensiblen Normabweichungen

Stefan Pohlmann

1.1      Kriminelle Energie und Alterskriminalität

1.2      Theorien der Alterskriminalität auf dem Prüfstand

1.3      Fazit: Theoriebedarf

Literatur

2      Methodische Herausforderungen altersdifferenzierter Kriminalitätsstatistiken

Gerhard Spiess

2.1      Womit wir rechnen müssen – womit können wir rechnen?

2.2      Altersdifferenzierungen im System der Kriminalstatistiken

2.3      Zahlen sprechen nicht für sich: Kriminalstatistische Messgrößen

2.4      Fazit: Was fehlt, was gut ist, was besser werden könnte

Literatur

3      Straftaten älterer Menschen – ein Überblick

Dirk Baier & Arne Dreißigacker

3.1      Einleitung

3.2      Seniorenkriminalität im polizeilichen Hellfeld

3.3      Befunde einer Dunkelfeldbefragung

3.4      Fazit: Zentrale Befunde

Literatur

4      Brauchen wir ein besonderes Strafrecht für ältere Straftäter?

Frieder Dünkel

4.1      Alterskriminalität – ein Problem?

4.2      Kriminologische Aspekte: Kriminalität und Lebenslauf

4.3      Erscheinungsformen der Alterskriminalität

4.4      Sanktionspraxis der Staatsanwaltschaften und Gerichte

4.5      Ältere Menschen im Strafvollzug – sozial- und legalbiografische Merkmale

4.6      Systematische Fragen zum Sanktionensystem und zur Strafzumessung

4.7      Anleihen beim Jugendstrafrecht

4.8      Ziel und Ausgestaltungen der Freiheitsstrafe

4.9      Fazit: Anderes Strafrecht, anderer Strafumgang oder alternative Lösungen?

Literatur

5      Altersbilder und Alterskriminalität

Theresa Grüner & Stefan Pohlmann

5.1      Altersbilder – ein klassisches Untersuchungsfeld der Gerontologie

5.2      Alterskriminalität und kriminologische Erklärungsansätze

5.3      Altersbilder in der kriminologischen Forschung

5.4      Fazit: Einfluss von Altersstereotypen

Literatur

TEIL IIAltersrelevante Strafverfolgung und Strafverurteilung

6      Taxonomie von Straftaten im hohen Lebensalter

Stefan Pohlmann

6.1      Kriminalitätsverlaufsformen – erste Clusterungsversuche

6.2      Zeitpunkt von Straftat und Verurteilung

6.3      Subjektive Tatmotive im Alter

6.4      Fazit: Heterogenität des Phänomens

Literatur

7      Delikte von Konsumierenden illegalisierter Substanzen

Daniela Jamin & Christina Padberg

7.1      Hintergrund

7.2      Lebenslagen älterer Drogengebrauchender

7.3      Straffälligkeit und Hafterfahrung von Drogengebrauchenden

7.4      Delikte im Umfeld von Abhängigkeitserkrankungen bei älteren Drogennutzenden

7.5      Fazit: Veränderungen delinquenter Verhaltensweisen bei älteren Drogengebrauchenden

Literatur

8      Alkoholkonsum und Straffälligkeit älterer Menschen

Martin Schmid & Irmgard Vogt

8.1      Alkoholkonsum und alkoholbezogene Störungen im Lebenslauf

8.2      Straftaten im Alter unter Alkoholeinfluss

8.3      Fazit: Plädoyer für genauere Untersuchungen

Literatur

9      Sexualdelinquenz im Alter

Martin Rettenberger

9.1      Datenlage

9.2      Altersbezogene Typen der Sexualkriminalität

9.3      Alterspädophilie aus Sicht der sexualforensischen Entwicklungskriminologie

9.4      Rückfälligkeit bei Fällen sexualisierter Gewalt

9.5      Alterseinfluss und Rückfälligkeit sexuell motivierter Straftaten

9.6      Fazit: Kriminalprognose und Alter bei Sexualdelinquenz

Literatur

10    Straffällige ältere Menschen in den Medien

Stefan Pohlmann & Theresa Grüner

10.1    Gefährdungen im Straßenverkehr

10.2    Übergriffe im Rahmen von #MeToo

10.3    Straftaten im Umfeld von Kirchen und spirituellen Gemeinschaften

10.4    Beziehungstaten und Gewalt in der Pflege

10.5    Clan- und Familienkriminalität

10.6    Sonstige Fälle

10.7    Fazit: Auswirkungen öffentlicher Berichterstattung

Literatur

11    Schuldfähigkeit älterer Straffälliger

Jan Lange & Robert Haußmann

11.1    Schuldfähigkeit und Schuldfähigkeitsbegutachtung

11.2    Relevante Störungen

11.3    Ältere Straffällige in forensisch-psychiatrischer Literatur

11.4    Neurobiologie delinquenten Verhaltens

11.5    Schuldfähigkeitsbedeutsame Demenz-Symptome und -Syndrome

11.6    Fazit: kognitive und nicht-kognitive Ursachenbestimmungen

Literatur

12    Bestrafung Älterer in der Rechtsprechung und aus Laiensicht

Theresa Grüner & Stefan Pohlmann

12.1    Retributive Gerechtigkeit und Strafzumessung

12.2    Forschung zu Strafeinstellungen und Bestrafungswünschen von Laien

12.3    Explorative Studie zu Bestrafungswünschen von Laien

12.4    Fazit: Alter als Indikator für alternative Strafformen

Literatur

TEIL IIIÄltere Menschen in Haft

13    Alter und Strafvollzug

Thomas Görgen

13.1    Ältere Menschen im Strafvollzug: Fallzahlen und Entwicklung

13.2    Ältere Gefangene – Herausforderung für den Strafvollzug

13.3    Fazit: erforderliche Neubewertungen

Literatur

14    Physischer und psychischer Gesundheitszustand von inhaftierten Senioren

Norman Meuschke

14.1    Rechtliche Grundlagen

14.2    Physische Gesundheit

14.3    Psychische Gesundheit

14.4    Implikationen für die Betreuung

14.5    Screeningvariablen

14.6    Fazit: Betreuungsbedarfe und Behandlungsprogramme

Literatur

15    Ältere Menschen in Haft – Herausforderungen an die Vollzugsgestaltung am Beispiel Bayerns

Frank Arloth & Tobias Geiger

15.1    Demografische Entwicklung

15.2    Unterbringung von älteren Gefangenen

15.3    Versorgung von pflegebedürftigen Gefangenen

15.4    Behandlung von älteren Gefangenen im Vollzug

15.5    Umgang mit schwerstkranken und sterbenden Gefangenen

15.6    Fazit: Modellprojekte gefragt

Literatur

16    Gestaltungsoptionen eines altengerechten Haftvollzugs

Norman Meuschke

16.1    Bauliche Aspekte

16.2    Beschäftigungs- und Freizeitangebote

16.3    Vermeidung sozialer Isolation

16.4    Wiedereingliederungsangebote

16.5    Hospiz- und Palliativversorgung

16.6    Fazit: Vielfalt der Anpassungserfordernisse

Literatur

17    Behandlung von lebensälteren Gefangenen

Kerstin Höltkemeyer-Schwick & Jens Seidler

17.1    Vollzugsstruktur in Nordrhein-Westfalen am Beispiel Bielefeld-Senne

17.2    Fazit: Perspektiven und Vernetzungsbedarfe

Literatur

TEIL IVWege aus und Umgang mit der Alterskriminalität

18    Haftfähigkeit im Alter

Liane Meyer

18.1    (Multi) Morbidität älterer Inhaftierter

18.2    Gesundheitsversorgung im Strafvollzug und Haftunfähigkeit

18.3    Eingeschränkte Präventionsmöglichkeiten – das Beispiel Mobilität

18.4    Hilfe und Unterstützungsbedarfe – die Bedeutung eingeschränkter Möglichkeiten im Strafvollzug

18.5    Fazit: Herausforderungen für die Haftfähigkeitsprüfung

Literatur

19    Strafe trotz Demenz

Sandra Verhülsdonk

19.1    Demenz – ein Exkurs

19.2    Demenzielle Erkrankungen im Strafvollzug

19.3    Intraindividuelle Risikofaktoren

19.4    Haftalltag und Demenz

19.5    Fazit: Zunehmende Herausforderungen

Literatur

20    Der Weg nach draußen – Wiedereingliederungshilfe für ältere Gefangene

Sabine Oswald

20.1    Vollzug, Übergangsmanagement und Nachsorge – ein Blick auf den demografischen Wandel und die damit verbundenen Herausforderungen

20.2    Das Projekt zur »Wiedereingliederung von älteren Gefangenen« in Baden-Württemberg

20.3    Fazit: Übergangsmanagement

Literatur

21    Kriminalitätsfurcht im Alter: Differenzielle Verlaufsformen und ihre Korrelate

Arne Dreißigacker, Merten Neumann & Thomas Bliesener

21.1    Das Kriminalitätsfurcht-Alters-Paradox

21.2    Korrelate von Kriminalitätsfurcht im Alter

21.3    Befunde zweier Dunkelfeldbefragungen

21.4    Fazit: Komplexes Konstrukt

Literatur

22    Delinquente Alt-Rocker – Ergebnis von Lebensstil oder Stigmatisierung?

Thomas Feltes & Lutz Schelhorn

22.1    Rocker als Täter und Opfer

22.2    Gefahren der Stigmatisierung

22.3    Fazit: Der Zweck darf in einem Rechtsstaat nicht die Mittel heiligen

Literatur

Ausblick

23    Gerontokriminologische Handlungsbedarfe heute und morgen

Stefan Pohlmann

23.1    Alterskriminalität: ein neues und wachsendes Phänomen?

23.2    Fazit: Es ist noch viel zu tun!

Literatur

Autorinnen und Autoren

Einführung

Die Dichterin Marie von Ebner-Eschenbach1 hat in ihren Schriften immer wieder darauf hingewiesen, dass man sich bietende Gelegenheiten nicht versäumen dürfe. Dieser Sammelband ist eine solche Möglichkeit, um lange ignorierte Herausforderungen und Anpassungserfordernisse in den Blick zu nehmen, die mit der Straffälligkeit, Verurteilung oder Inhaftierung älterer Menschen bislang einhergegangen sind.

1    Ebner-Eschenbach, M. (1893). Gesammelte Schriften. Aphorismen. Parabeln, Märchen und Gedichte. Berlin: Paetel.

Das Phänomen der Devianz im Alter

Stefan Pohlmann

Dieser Sammelband hat den Zusammenschluss unterschiedlicher Expertinnen und Experten ermöglicht. Aus der Perspektive diverser Disziplinen und professioneller Handlungsfelder bezieht diese Publikation dezidiert Stellung zu Themen der Alterskriminalität. Als Alterskriminalität bezeichnet man gemeinhin alle Formen von Straftaten, die von Personen über 60 Jahren verübt werden oder die zu einem Strafprozess im höheren Alter führen (vgl. Pohlmann, 2009). Auf den nachfolgenden Seiten richtet sich der Blick darüber hinaus aber auch auf diejenigen Straftaten, die bei einer Verurteilung in jüngeren Jahren zu einer Verweildauer in Haft bis in das höhere Lebensalter beitragen. Hinzu kommen Normabweichungen, die aus unterschiedlichen Gründen nicht strafrechtlich geahndet, gleichwohl auch jenseits von Strafrechtsnormen als deutliche Regelverstöße von Sozialnormen zu gelten haben. All diese Aspekte sind unter das Dach der Devianz im Alter zu fassen. Devianz ist dabei als zunächst neutraler Begriff für sämtliche Regelabweichungen zu verstehen, deren konkrete Ursachen, Hintergründe und Folgen es im Detail zu klären gilt.

Das Phänomen der Devianz im Alter ist nicht neu. Hinweise auf Straffälligkeit und Verbrechen im Alter gibt es in der Geschichte viele (vgl. Radbruch & Gwinner, 1951). Allerdings sind sowohl die Datenlage als auch der Forschungseifer für eine aktuelle und akkurate Einschätzung der Devianz im Alter weiterhin ausbaufähig.

In den einschlägigen forensischen Fachpublikationen stehen noch vor allem junge Straftäter und Straftäterinnen im Mittelpunkt. Dies trifft ebenso auf die deutsche wie auf die internationale Berichterstattung zu. Dennis Howitt umschreibt diesen Umstand wie folgt:

»For many offenders, the roots of their criminality are manifested in childhood. Important differences between the childhood of criminals and that of others may exist even at birth – perinatal factors may be involved in future criminality. Criminality can result from poor parenting, can be learnt from parents or others, can be encouraged by some types of community and can be affected by the greater opportunities for crime available in some types of community« (vgl. Howitt, 2008, S. 83).

Was hingegen ältere Täterinnen und Täter auszeichnet, darüber schweigen sich einschlägige Veröffentlichungen in diesem Feld bis heute mit wenigen Ausnahmen fast gänzlich aus (Farrington, 2019). Dieser Band wird mittels zahlreicher Belege gründlich dokumentieren, inwiefern es neben belastbaren Studien und praxisorientierten Handlungsansätzen noch vieler neuer Einsichten, überarbeiteter Methoden, innovativer Praxisansätze und grundlegender Überzeugungsversuche bedarf. Er wird zugleich aufzeigen, welche Erkenntnisse und Best-Practice-Modelle bereits vorliegen, denen aber die hinreichende Beachtung bislang versagt geblieben ist.

Gebot der Differenzierung

In diesem Sammelband soll nicht der Eindruck vermittelt werden, dass von älteren Personen eine gravierende oder neuartige Gefahr ausgeht. Eine Stigmatisierung oder Verunglimpfung dieser Altersgruppe ist ausdrücklich nicht intendiert. Zudem soll nicht durch unbelegte Vermutungen oder durch reißerische Überzeichnungen ein falsches Bild entstehen. Vielmehr gilt es, einen Beitrag für eine differenzierte und ausgewogene Sicht auf das Alter zu liefern und damit verbundene Implikationen abzuleiten. Dafür braucht es auch einen Blick in Nischen und Schattenbereiche des Alters. Eine verantwortungsvolle Gesellschaft ist auf eine wissenschaftlich fundierte Auseinandersetzung in genau dieser Hinsicht angewiesen, um vermeidbare und schädliche Formen der Devianz im Lebenslauf möglichst vereiteln oder doch zumindest auffangen zu können. Hierbei sind aus kriminologischer Sicht sowohl idiografische Methoden im Sinne von Einzelfallbetrachtungen anzuwenden wie auch nomothetische Erklärungen für übergreifende Verhaltensmuster (Schneider, 2012, S. 1165) und gerontologische Erkenntnisse über den Altersverlauf (Pohlmann, 2011) systematisch einzubeziehen. Dazu ist eine ergebnisoffene und vorurteilsfreie Herangehensweise an einen Gegenstandsbereich unerlässlich. Dies ist gerade bezogen auf die Kriminalität älterer Menschen bislang noch nicht ausreichend geschehen.

Einer Differenzierung bedarf es aber nicht nur im Hinblick auf die Zielgruppe, sondern auch auf die Kriminalitätsforschung selbst. Welche wissenschaftliche Erklärung ist für die Kriminalität älterer Menschen heranzuzuziehen? Als Pionier auf der Suche nach einer umfassenden Begründung gilt Émile Durhkeim, der bereits Ende des 19. Jahrhunderts seine Anomietheorie aufgestellt hat, um die Ursachen von Kriminalität zu bestimmen (Durhkeim, 1984). Nach seinem Dafürhalten ist Kriminalität Ausdruck eines Schwindens von Struktur- und Ordnungsprinzipien, die er in der Industrialisierung und Landflucht begründet sah (Kap. 5). Dies könnte auch nach Beendigung der Familienarbeit oder dem Ausscheiden aus dem Berufsleben im Alter relevant sein. Wie würde sich nach diesem Ansatz die aktuelle Krisensituation durch die Covid-19-Pandemie und die im Hintergrund verlaufenden, rasanten gesellschaftlichen Transformationen bedingt durch demografische, epidemiologische, technologische, globale, kulturelle, ökologische und ökonomische Wandlungsprozesse auf regelkonformes Verhalten auswirken und welche Unterschiede würde dies in den jeweiligen Altersklassen der Bevölkerung mit sich bringen? Nun ist man sich einig, dass Durkheims Theorie zwar einen Verlust ethischer Orientierungen erklären kann, nicht aber die Vielfalt von Verbrechen und Vergehen in einer modernen Welt (vgl. Vito, Maahs & Holmes, 2007). Es braucht also zum einen robuste Daten, die jegliche Formen der Kriminalität repräsentativ wiedergeben (vgl. Bundeskriminalamt, 2020), und zum anderen passende Erklärungsmodelle, die auch die Motive und Auslöser solcher Normabweichung heranzuziehen in der Lage sind. Dieses Ziel liegt allerdings noch in deutlicher Ferne. Umso wichtiger sind die Anstrengungen, vorliegende Befunde zu verstehen und neues Datenmaterial zu sammeln und zu bündeln.

Eine feinmaschige Herangehensweise benötigen wir darüber hinaus auch im Hinblick auf den Umgang mit der Kriminalität Älterer. Dies gilt für Strafverfahren ebenso wie für Haftbedingungen (vgl. Kenkmann et al., 2020) und für angemessene Schritte einer gelingenden Resozialisierung. Hierzu finden sich zwar erste Ansätze – von einer Gesamtstrategie kann aber keine Rede sein.

Vor diesem Hintergrund zielt der vorliegende Sammelband darauf ab, Grundlagen für fundierte Aussagen zu erarbeiten. Zugleich sollen Fehler und Defizite aufgedeckt und kritische Aufgaben identifiziert werden. Dafür sind neue Ideen ebenso unerlässlich wie die Würdigung früher Ansätze. Daher sei dieser Sammelband einem der berühmtesten Universalgelehrten der Menschheitsgeschichte zugeeignet: Leonardo da Vinci, dem Visionär und Mitbegründer einer modernen Wissenschaft. Einer seiner Leitsprüche lautete:

»Wer forscht, indem er sich allein auf Autoritäten beruft, verwendet nicht seinen Geist, sondern nur sein Gedächtnis« (Codex Leicester, o. S.)

Neben dem hier zum Ausdruck kommenden Gebot für Sachverstand und der Forderung nach Offenheit ist für das Thema der Devianz im Alter vor allem eine gesteigerte Einsatzbereitschaft, Innovationsbereitschaft und viel Überzeugungsarbeit von Nöten. Eine Widmung für Leonardo da Vinci ist an dieser Stelle wohl zudem deshalb passend, weil er selbst im Zuge seiner vermutlichen Homosexualität im Jahre 1476 angeklagt wurde und mit hoher Wahrscheinlichkeit auch einige Tag in Haft verbracht hat. Durch den schützenden Einfluss der damals herrschenden Medici blieb ihm auch später eine Verfolgung im Alter glücklicher Weise erspart (vgl. Bramly, 1995). Ferner zeigt das Beispiel da Vincis, dass eine Einschätzung von Kriminalität auch stets Ausdruck der zeitgenössischen Moral und kulturellen Wertvorstellungen ist. Fataler Weise gelten auch noch heute, Jahrhunderte später, in einigen homophoben Ländern die vermeintlich falsche sexuelle Ausrichtung als Straftatbestand. Gesellschaftliche Deutungen von Recht und Unrecht verdienen fraglos eine eigene Publikation. Sie sind daher nicht primärer Bestandteil dieses Sammelbands. Allerdings werden die herrschenden Vorstellungen über die Alterskriminalität sehr wohl eingehender zu betrachten sein. Dies soll mit dazu beitragen, Straftaten älterer Menschen in all ihren Facetten zu begreifen und ihnen mit unterschiedlichen Maßnahmen altersgerecht zu begegnen.

Forschungs- und Praxisallianzen

In den letzten Jahren haben sich erfreulicher Weise immer wieder einzelne Personen und Fachgruppen mit dem Thema der Alterskriminalität befasst. Einige haben nur zeitweise, andere langandauernd neue Perspektiven und Daten in die Diskussion eingebracht. Allerdings ist daraus trotz vielfacher Bemühungen keine beständige Forschungstradition oder gebündelte Praxis entstanden. Ein spürbarer Impetus zur breiten Beteiligung an diesem Untersuchungsbereich lässt sich nach wie vor nicht ausmachen. Genau aus diesem Grund wird nunmehr in Form dieses Sammelbands eine Art Allianz geschmiedet. Die hier versammelte Autorengruppe gewährt als Bündnis einen fundierten und zeitgemäßen Einblick in Theorie und Behandlung der Alterskriminalität. Gleichzeitig werden die offenen Fragen und Defizite herausgearbeitet. Durch die fachliche Ausrichtung und die einschlägigen Erfahrungen der beteiligten Expertinnen und Experten lassen sich bislang vernachlässigte Phänomene verknüpfen und ehemals isolierte Daten systematisieren und verdichten. Ferner werden einzelne Lösungsansätze dokumentiert, ohne bestehende Handlungserfordernisse und Forschungslücken zu verharmlosen. Das ist auch heute noch ein ebenso ambitioniertes wie dringend nötiges Anliegen. Die nachfolgenden Beiträge sind nicht durchgängig trennscharf angelegt. Gerade die Bearbeitung gleicher Phänomene aus unterschiedlichen Blickwinkeln macht die Veröffentlichung umso spannender. Dabei kommen auch unterschiedliche Einschätzungen und Vorgehensweisen zum Ausdruck.

Struktur des Sammelbands

Der Sammelband untergliedert sich in insgesamt vier Teile und wird durch diese Einführung und einen finalen Ausblick eingerahmt. Die nachfolgende Abbildung (Abb. 1.1) gibt dazu einen grafischen Überblick.

Abb. 1.1: Illustration der Sammelband-Struktur

Jeder Teil ist in mehrere Kapitel untergliedert. Der erste Teil (Teil I) mit dem Titel Alterswissenschaft trifft Kriminalitätsforschung beginnt mit einem Einblick des Herausgebers in ausgewählte Kriminalitätstheorien und einer Diskussion der damit einhergehenden Aussagekraft für eine Devianz im Alter (Kap. 1). Es folgt eine Darstellung methodischer Herausforderungen zur Erstellung und Beurteilung altersdifferenzierter Kriminalitätsstatistiken (Kap. 2) von Gerhard Spiess, der im Rahmen seiner langjährigen Tätigkeit an der Universität Konstanz schon in den frühen 1980er Jahren die kriminologischen Forschungserhebungen in den Blick genommen hat (z. B. Spiess, 1982). Dirk Baier vom Institut für Delinquenz und Kriminalprävention an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften und Arne Dreißigacker vom kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen geben zudem (Kap. 3). Sie skizzieren zu diesem Zweck insbesondere Befunde einer Dunkelfeldbefragung. Der Strafrechtler und ehemalige Ordinarius des Lehrstuhls für Kriminologie an der Universität Greifswald, Frieder Dünkel, diskutiert im vierten Kapitel (Kap. 4) das Für und Wider eines eigenständigen Seniorenstrafrechts. Theresa Grüner und Stefan Pohlmann von der Hochschule München setzen sich aus gerontologischer Perspektive im abschließenden Kapitel (Kap. 5) des ersten Teils mit Stereotypen und Altersbildern im Zusammenhang mit Alterskriminalität auseinander.

Teil II beschäftigt sich mit der Strafverfolgung und Strafverurteilung im höheren Lebensalter. Dazu erfolgt zunächst der Versuch einer Typologisierung von Devianzformen älterer Menschen durch den Herausgeber (Kap. 6). Es folgen Kapitel, die verschiedene Deliktbereiche in den Blick rücken. Daniela Jamin vom Institut für Suchtforschung der University of Applied Sciences Frankfurt und Christina Padberg vom Sozialdienst der Einrichtung Eastside der integrativen Drogenhilfe e.V. in Frankfurt am Main gehen in ihrem Beitrag über den Konsum illegaler Substanzen auf Veränderungen delinquenter Verhaltensweisen bei älteren Drogengebrauchenden ein (Kap. 7). Martin Schmid von der Hochschule Koblenz und Irmgard Vogt von der Hochschule UAS Frankfurt/Main gehen der Frage nach, welcher Zusammenhang zwischen Alkoholabhängigkeit und Straffälligkeit im Lebenslauf auszumachen ist (Kap. 8). Martin Rettenberger, Direktor an der Kriminologischen Zentralstelle in Wiesbaden, untersucht die Sexualdelinquenz im Alter (Kap. 9). In einem weiteren, nach mehrjähriger Analyse entstandenen Beitrag kommen Pohlmann und Grüner auf die mediale Aufbereitung von Straftaten im Alter zu sprechen (Kap. 10). Aus einem medizinischen Blickwinkel betrachten wiederum Jan Lange und Robert Haußmann aus der Abteilung für Forensische Psychiatrie der TU Dresden, die Schuldfähigkeit älterer Straffälliger (Kap. 11). Eine angemessene Bestrafung Älterer aus der subjektiven Sicht von Laien wird schließlich von Grüner und Pohlmann auf der Grundlage empirischer Daten vorgestellt (Kap. 12).

Der dritte Teil (Teil III) konzentriert sich auf die Situation und Veränderungsbedarfe von Haftbedingungen für ältere Menschen. Thomas Görgen, Professor an der Deutschen Hochschule der Polizei in Münster und zugleich Leiter des Fachgebietes Kriminologie und interdisziplinäre Kriminalprävention, geht auf die gegenwärtigen Fallzahlen und die zu erwartende Entwicklung ältere Menschen im Strafvollzug ein (Kap. 13). Norman Meuschke, klinischer Psychologe der Justizanstalt Asten, beschäftigt sich mit dem Gesundheitszustand von inhaftierten Senioren und den daraus abzuleitenden Implikationen für die Haftbetreuung (Kap. 14). Der Amtschef des Bayerischen Staatsministeriums der Justiz, Frank Arloth, und sein zuständige Referatsleiter, Tobias Geiger, gehen gemeinsam auf Herausforderungen einer zukunftsfähigen Vollzugsgestaltung ein und skizzieren zu diesem Zweck die Situation im Freistaat Bayern (Kap. 15). Norman Meuschke ergänzt die Darstellungen durch eine Beschreibung der Gestaltungsoptionen eines Seniorenvollzugs aus der Wahrnehmung der Inhaftierten (Kap. 16). Komplettiert wird dieser Teil durch einen Beitrag von Kerstin Höltkemeyer-Schwick, leitende Direktorin der auf ältere Inhaftierte spezialisierten Justizvollzugsanstalt Bielefeld-Senne, und ihres Stellvertreters, Jens Seidler, die ganz konkret die Haftbehandlung in ihrer Lebensälterenabteilung in Bielefeld-Senne beleuchten (Kap. 17).

Der vierte und letzte Teil (Teil IV) setzt sich mit Wegen aus und dem Umgang mit Alterskriminalität auseinander. Den Anfang macht Liane Meyer von der Universität Bielefeld. Sie beschäftigt sich mit der grundsätzlichen Frage der Haftfähigkeit im Alter (Kap. 18). Darauf aufbauend nimmt Sandra Verhülsdonk, tätig in den Universitätskliniken Köln und Düsseldorf, Bezug auf die Konsequenzen, die sich durch eine Demenzerkrankung für die jeweiligen Haftbedingungen stellen (Kap. 19). Aus den Erfahrungen des Netzwerks Straffälligenhilfe bezieht außerdem Sabine Oswald Stellung zu den erforderlichen Maßnahmen für ältere Strafentlassene (Kap. 20). Sie präsentiert dazu ein Projekt zur Wiedereingliederung von älteren Gefangenen in Baden-Württemberg. Das Thema der Kriminalitätsfurcht auch in Beziehung auf etwaige Präventionsansätze greifen Arne Dreißigacker und Merten Neumann vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen sowie Thomas Bliesener als Direktor dieser Forschungseinrichtung auf (Kap. 21). Trugschlüsse im Bereich der vermeintlich organisierten Kriminalität im Rockermilieu eruieren Thomas Feltes, ehemaliger Lehrstuhlinhaber für Kriminalpolitik und Polizeiwissenschaft an der Juristischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum, und das Gründungsmitglied und zugleich früherer Präsident des Hells Angels Motorradclubs Stuttgart, Lutz Schelhorn (Kap. 22).

Zum Abschluss des Sammelbands wagt der Herausgeber, bezugnehmend auf die Kernaussagen der hier gesammelten Beiträge, einen Ausblick auf zukünftig unverzichtbare Arbeitsfelder im Kampf gegen Alterskriminalität und darauf, welche gesellschaftliche und justizielle Reaktion auf Alterskriminalität erfolgen sollte. Damit jedes Kapitel auch für sich genommen verständlich bleibt, sind Redundanzen bewusst in Kauf genommen worden. Gleichwohl bringt in der Gesamtschau jeder Beitrag neue und originäre Akzente ein.

Danksagung

Die Erstellung dieses Bandes fand unter den herausfordernden und überaus restriktiven Bedingungen der Covid-19-Pandemie statt. Welche tiefgreifenden Einschnitte dieses dramatische Infektionsgeschehen in den verschiedenen Lebensbereichen mit sich gebracht hat, bedarf hier keiner Detail-Erläuterung. Die Eindämmungsversuche des Virus waren insgesamt mit erheblichen persönlichen Einschränkungen, beruflichen Anpassungen und sozialem Verzicht verbunden. Fraglos hat sich dies auch auf die Abfassung der einzelnen Beiträge ausgewirkt. Neben den ohnehin zu bewältigenden Kernaufgaben war insofern die Vorbereitung für diese Publikation ein echter Kraftakt. Die offensichtlichen Datenlücken und Forschungsdefizite zum Themenfeld der Devianz im Alter haben zudem die Bearbeitung oft erschwert. Umso mehr sei allen Beteiligten für ihr zusätzliches Engagement und die großen Mühen in dieser Zeit gedankt.

Die einzelnen Kapitel spiegeln die jeweiligen Sichtweisen und Erfahrungen der Verfasserinnen und Verfasser wider und können in Form und Inhalt durchaus voneinander abweichen. Schlussfolgerungen können hier unterschiedliche Aspekte aufgreifen und Schwerpunkte setzen. Es wurde der Versuch unternommen, die zugrundeliegenden Phänomene möglichst unvoreingenommen und mit Blick auf verschiedene beteiligte Personen und Institutionen faktenbasiert zu beschreiben, Antworten auf offene Fragen zu bieten und Anstöße für künftige Vorgehensweisen zu geben. Alle Autorinnen und Autoren lassen mit ihrer tatkräftigen Unterstützung die wesentlichen Triebfedern für Forschung und Praxis deutlich erkennen: Es sind der Wissensdrang und der Mut, sich mit wenig erkundeten Facetten der Gesellschaft eingehend zu beschäftigen. Dies ist das grundlegende Fundament, um neue Erkenntnisse und innovative Handlungsmodelle zu gewinnen. Dafür danke ich allen sehr herzlich.

Die Auswirkungen der Pandemie hatten auch Einfluss auf die Vorbereitungen zu diesem Buch. Das fertige Manuskript konnte daher erst deutlich später als geplant in den Druck gehen.

Merci vielmals auch an all jene, die uns in Befragungen und empirischen Erhebungen mit ihren Erfahrungen und Kenntnissen zur Verfügung gestanden haben. Ohne ihre Bereitschaft, das eigene Wissen zu teilen, wäre das ambitionierte Unterfangen zur Beschreibung und zum Umgang mit der Devianz im Alter nicht gelungen.

Literatur

Bundeskriminalamt (2020) (Hrsg.). Polizeiliche Kriminalstatistik Bundesrepublik Deutschland. Jahrbuch 2018, Band 3, Tatverdächtige. Wiesbaden: BKA.

Bramly, S. (1995). Leonardo da Vinci. Hamburg: Rowohlt.

Codex Leicester. Gebundene Sammlung von Blättern mit wissenschaftlichen Schriften, Notizen, Skizzen und Zeichnungen Leonardo da Vincis zwischen 1452 und 1519.

Durkheim, E. (1984). Erziehung, Moral und Gesellschaft. Vorlesung an der Sorbonne 1902/1903 Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Farrington, D.P. (2019). The Oxford Handbook of Developmental and Life-Course Criminology. New York: Oxford University Press.

Howitt, D. (2008). Forensic and Criminal Psychology. Harlow: Pearson.

Kenkmann, A., Erhard, S., Maisch, J., & Ghanem, C. (2020). Altern in Haft – Angebote für ältere Inhaftierte in der Bundesrepublik Deutschland. In: Kriminologie – Das Online-Journal (1), 101–122.

Pohlmann, S. (2009). Alterskriminalität. In: Informationsdienst Altersfragen. Heft 6, 36, 7–11.

Pohlmann, S. (2011). Sozialgerontologie. München: utb/Reinhardt.

Radbruch, G. & Gwinner, H. (1951). Geschichte des Verbrechens – Versuch einer historischen Kriminologie. Stuttgart: Koehler.

Schneider, H. J. (2012). Kriminologische Fortschritte: Kriminologie in den USA, in Europa und in Deutschland im 20. Jahrhundert und zu Beginn des 21. Jahrhunderts. In: JuristenZeitung, Jg. 67. Nr. 23, 1165–1175.

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Teil I   Alterswissenschaft trifft Kriminalitätsforschung

Max Planck hat bei der Beschreibung der Wissenschaften immer wieder hervorgehoben, dass die Neugier als edelste Form eines Forschungsantriebs in allen Disziplinen als wesentlicher Motor für Fortschritt und Weiterentwicklung gelten müsse2. Die Neugier ist auch die Basis für die in diesem Teil zusammengestellten Kapitel.

2     vgl. Herneck, F. (1973). Abenteuer der Erkenntnis. Berlin: Der Morgen.

1          Theoretische Impulse zu alterssensiblen Normabweichungen

Stefan Pohlmann

Die Arbeitsgruppe des Herausgebers in der Forschungsabteilung für interdisziplinäre Gerontologie der Hochschule München hat sich erstmals 2008 mit den in diesem Band behandelten Themen intensiver auseinandergesetzt. Dabei ging es zunächst um die grundsätzliche Frage, ob mit der Zunahme gesünderer aktiver älterer Menschen vermehrt regelwidriges Verhalten und Normverstöße in dieser Altersgruppe zu erwarten sind. Zu klären galt der genaue Zusammenhang zwischen demografischer Entwicklung und Delinquenz. Wenn mehr ältere Menschen in der Bevölkerung auftreten, wie wirkt sich dies auf die Wahlmöglichkeit in eben dieser Gruppe aus, gesellschaftlich erwünschte oder aber auch gesellschaftlich sanktionierte Handlungen zu vollziehen? Bleibt der prozentuale Anteil von Straftäterinnen und Straftätern in den verschiedenen Altersgruppen stets gleich oder verändern sich die absoluten Zahlen nach einer anderen Logik? Welche altersspezifischen Arten von Delinquenz lassen sich zudem erkennen und wie genau kann man die Dunkelfelder von Straftaten alterssensibel beleuchten? Und schließlich: Gilt das Erwachsenenstrafrecht lebenslang oder sind im hohen Alter andere Maßstäbe und Maßnahmen nötig?

Bereits zum damaligen Zeitpunkt erschien die Ausgangslage ideal für eine systematische Beforschung all dieser Fragen und für die Aufstellung und Überprüfung von forschungsleitenden Hypothesen und Annahmen. Zum einen gab es vor 12 Jahren kaum wissenschaftliche Arbeiten, die sich mit diesen Aspekten eingehend beschäftigt hätten. Die zugrundeliegenden Phänomene konnten insofern als vergleichsweise neu und – von verdienstvollen Ausnahmen abgesehen – als weitgehend unerkundet bezeichnet werden. Zum anderen boten sich vielfältige Transferoptionen zwischen verschiedenen Disziplinen an – allen voran aus den Schnittstellenbereichen der Gerontologie und Kriminologie. In diesen wiederum bestanden viele Bezüge zu den Gesundheits-, Sozial- und Rechtswissenschaften sowie der Philosophie, die es aus der Perspektive einer alternden Gesellschaft und ihres Sozialverhaltens neu zu verbinden galt. Zudem zeichnete sich bereits damals ein klarer Anwendungsbedarf ab. Inwiefern sollten sich die verschiedenen Akteure und Professionen vorbereiten, um angemessene Schritte in den Feldern der Kriminalitätsprävention, Rechtsprechung, Bestrafung und Bewährung für ältere Menschen einzuleiten? Beste Grundvoraussetzungen für eine wissenschaftliche Untersuchung und zielgerichtete Analyse waren insofern gegeben.

Umso überraschender war vor diesem Hintergrund die formelle Absage eines von unserer Seite seinerzeit gestellten Forschungsantrags durch einen prominenten Drittmittelgeber. Ernüchternd wirkte dabei weniger die Absage an sich als vielmehr die beigefügte Begründung der zu diesem Zweck eingesetzten Fachbegutachtung. Darin wurde erläutert, dass entsprechende Untersuchungen wenig ergiebig erscheinen würden, da von einer grundsätzlichen Abnahme krimineller Energie mit zunehmendem Lebensalter auszugehen sei. Nun ist das Konzept der kriminellen Energie durchaus weit verbreitet und dient in erster Linie dazu, die schädigende Absicht von Tätern zu beschreiben. Bedeutet dies nun, dass ähnlich einer Batterie die Intentionalität einer Tat über die Lebenszeit einem strikten Verbrauchsmechanismus unterliegt? Ein alter Mensch könnte demnach schlicht nicht die erforderliche negative Kraft aufbringen, um sich gesetzeswidrig zu verhalten. Existiert zudem eine möglicherweise wachsende Gegenkraft positiver Natur? Die Überprüfung dieser und anderer Behauptungen ist eine wesentliche Motivationsquelle für diesen Sammelband.

1.1       Kriminelle Energie und Alterskriminalität

Richtig ist, dass man auf der Grundlage der Tatverdächtigenbelastungszahlen von einer Alterskriminalitätskurve ausgeht (vgl. Suhling & Greve, 2010, S. 43), die das massivste Aufkommen krimineller Handlungen im Jugendalter beschreibt und dann kontinuierlich abfällt. Kriminalität tritt im hohen Alter damit statistisch seltener auf. Gleichwohl existiert sie, und es fehlen Ideen, wie damit umzugehen ist. Aber auch wenn es dafür Handlungsansätze gäbe: Lässt sich, wie in dem Gutachten angedeutet, Gesetzestreue tatsächlich mit einem – salopp formuliert – schwachen Akku für destruktives Verhalten befriedigend erklären? Eine ebenso gewagte wie unbelegte Annahme! In einem Online-Lexikon für Psychologie findet sich indessen eine deutliche Unterstützung für diese Behauptung. Hier ist von einer Kriminalität der Schwäche die Rede, die angesichts einer tendenziell abnehmenden Körperkraft die Durchführung von Straftaten erschwere oder unmöglich mache.

(www.spektrum.de/lexikon/psychologie/alterskriminalitaet/708).

Ohne große Mühe fallen uns auch ohne intensive Recherche viele alternative Konstrukte für eine Abnahme der Kriminalität im Alter ein. Dazu zählen variierende Impulskontrolle, Angst vor Bestrafung oder Statusverlust, steigendes Einsichtsvermögen, höhere Ausprägungen von Rechtsbewusstsein, Rollenkonformität oder Folgenabschätzung bis hin zu Gelegenheitsmangel oder einfach mehr Raffinesse in der Umsetzung von Straftaten. Diese erste Auflistung alternativer und nicht durchgängig trennscharfer Erklärungsmuster sollte Anlass genug sein, dieses Feld genauer zu beforschen. Schon James E. Birren hat als Pionier der Altersforschung (1974, S. 291) darauf hingewiesen, dass es gefährlich ist, Straftaten im Altersverlauf zu interpretieren, ohne die zugrundliegenden psychologischen und soziologischen Faktoren genauer zu kennen. Zudem erscheint es problematisch, die steten Veränderungen der Alterszusammensetzung in der Bevölkerung gänzlich auszublenden. Schnell entsteht hier die Gefahr von rigiden Altersklischees. Um dem entgegen zu wirken, werden gerade im Hinblick auf die Vorhersage von Kriminalität derzeit Modellierungsverfahren erprobt, die das Zusammenspiel soziologischer, psychologischer und kultureller Faktoren gezielt einbeziehen (vgl. Cornelius, Lynch & Gore, 2017). Es bleibt abzuwarten, welchen Beitrag derartige Programme zur Erklärung von Alterskriminalität noch leisten werden. Zur Vermeidung realitätsfremder Altersbilder braucht es in jedem Fall belastbare empirische Daten aus der Forschung.

Dass gerade zum Thema der Alterskriminalität verschiedene Altersmythen kursieren, vor denen auch die Wissenschaft nicht gefeit ist, zeigt exemplarisch die gerontologische Forschungstradition der DDR. In den einschlägigen Publikationen über das Alter findet sich dort die Idee, dass sich ein Rechtsbewusstsein und damit einhergehend ein Rechtsverhalten durch kontinuierliche Propagandamaßnahmen geradezu zwangsläufig im höheren Alter einstelle. Entsprechend enthält die von Pickenhain und Ries (1988, S. 644) herausgegebene Enzyklopädie des Alterns des früheren VEB Bibliografisches Institut Leipzig folgender Passus:

»Ältere Menschen befolgen im Allgemeinen gewissenhaft das vom sozialistischen Recht gebotene Verhalten. Sie zeichnen sich durch Verantwortungsbewusstsein bei der Erfüllung von Pflichten und der Wahrnehmung von Rechten aus. Die vom Leben bestätigte Übereinstimmung zwischen dem sozialistischen Recht, den moralischen Anschauungen werktätiger Menschen und bewährten Gewohnheiten des Alltagslebens kann hierfür ebenso als Grund genannt werden wie die in vielen Lebensbereichen und -situationen erworbene Erkenntnis von der gesellschaftlichen Notwendigkeit und dem persönlichen Vorteil eines Verhaltens, das den Erfordernissen von Ordnung, Sicherheit und Disziplin entspricht.«

Staatstreue und Bürgerpflichtempfinden älterer Menschen wäre somit nichts anderes als das Ergebnis einer erfolgreichen und in diesem Fall sozialistischen Sozialisation. Diese Vorstellung suggeriert, ältere Menschen seien lediglich Produkt ihres zugrundeliegenden politischen Systems. Die persönliche Entscheidungsfähigkeit und die sich ständig neu stellende Entscheidungsnotwendigkeit kommen bei dieser Vorstellung hingegen nicht zum Tragen. Nun ließe sich einwenden, eine solche Auffassung von Wissenschaftsvertretern eines ohnehin überkommenen Regimes erscheine heute obsolet. Doch auch in anderen Staaten lassen sich nach wie vor ähnliche Begründungen ausfindig machen. So besteht in China noch immer die Vorstellung, dass eine korrekte politische Orientierung ausreiche, sich rechtskonform zu verhalten. Angesichts der dort überfüllten Haftanstalten (vgl. Wang, 2014) wirken politisch motivierte Slogans einer harmonischen Gesellschaft (vgl. Mühlhand, 2019) jedoch ebenso wenig glaubhaft wie die nach heutigem Wissen frisierten Kriminalitätsstatistiken der früheren DDR (vgl. Sensch, 2008).

Wohlverhalten staatlich zu verordnen bleibt eine schlichte Utopie – zumindest gibt es dazu weltweit selbst dann keine überzeugende Erfolgsmeldung, wenn Staaten zu drakonischen Maßnahmen der Überwachung und Bestrafung tendieren. Warum sich Gesetzestreue mit zunehmendem Alter zementieren soll, bleibt darüber hinaus erklärungsbedürftig. Dann wäre es, nur um bei dem Bild der oben bemühten Kräftespeicherung zu bleiben, wohl weniger eine abnehmende kriminelle Energie, Vorschriften zu brechen, als eine erlahmende Stärke, sich Regelvorgaben zu widersetzen.

1.2       Theorien der Alterskriminalität auf dem Prüfstand

Diese erste kritische Betrachtung einer alterssensiblen Deutung von Kriminalität durch die Nutzung unbelegter Konstrukte unterstreicht die Notwendigkeit einer weit gezielteren Auseinandersetzung mit bestehenden Theorien von Devianz. In den weiteren Abschnitten sollen daher besonders gängige Ansätze benannt und auf ihre Stichhaltigkeit für den Gegenstandsbereich dieses Bandes hin diskutiert werden. In den nachfolgenden Kapiteln werden diese theoretischen Konzepte immer wieder von Bedeutung sein und auf vielfache Weise ergänzt, verfeinert und voneinander abgrenzt werden. Ohne den Anspruch auf Vollständigkeit sollen an dieser Stelle einige prominente Vorstellungen kursorisch skizziert und in dem Bemühen einer sinnvollen Ordnung gegliedert und veranschaulicht werden (Abb. 1.2).

Abb. 1.2: Übersicht über Kriminalitätstheorien

1.2.1     Lern- und bindungstheoretische Ansätze

Auch in demokratischen Ländern gibt es klare Bezüge zu den oben genannten Vorstellungen einer gelingenden Sozialisation in Richtung auf rechtskonformes Verhalten. Entsprechend finden sich in der Ursachenforschung von Kriminalität zahlreiche Überlegungen, die sich mit Fragen einer kriminellen oder eben erfolgreichen Sozialisierung (vgl. Brumlik, 1993) auseinandersetzen und stimmiges Verhalten als Resultat einer gelungenen Anpassung an gesellschaftliche Denk- und Gefühlsmuster interpretieren (vgl. Hurrelmann & Bauer, 2015). Damit kommen zusätzlich lerntheoretische wie auch bindungstheoretische Ansätze ins Spiel (vgl. McCord, 1991). Ronald Akers (1998) hat durch seine Weiterentwicklungen im Bereich des sozialen Lernens sehr direkte Bezüge zur Kriminalität hergestellt. Imitation und differenzielle Assoziation und Verstärkung devianter und zugleich attraktiv erscheinender Handlungen und ihre als positiv gedeuteten Konsequenzen bilden die wesentlichen Säulen seiner Theorie. Wenngleich Konditionierungen zur isolierten Erklärung komplexer krimineller Handlungen als unzureichend betrachtet werden können, lassen sich doch zumindest für bestimmte asoziale Verhaltensweisen durchaus gelernte Mechanismen und Modelle sowie kontraproduktive Belohnungserfahrungen in Familie, Schule oder innerhalb von Peer-Gruppen heranziehen (Suhling & Greve, 2010, S. 1332). Ferner führt eine verstärkte Bindungsfähigkeit zu einer höheren sozialen Verantwortungsübernahme und einer rückläufigen Tendenz für Devianz (vgl. Robinson, 2020).

Das elterliche Verhalten, die Bindungsmuster und auch weitere frühkindliche Erfahrungen und Umwelteinflüsse bis zum jungen Erwachsenenalter wären demnach als relevante Größen für kriminelles Verhalten zu interpretieren (vgl. Hopf, 2005). Die Mehrheit der heutigen Ansätze, die solche Komponenten heranzieht, berücksichtigt aber noch weitere Faktoren und kommt damit zu einer Vielzahl von interdependenten Risikobedingungen für Heranwachsende (z. B. Beelmann & Raabe, 2007). Wenig sagen aber auch diese erweiterten Theorien über das höhere Lebensalter aus. Hier müssen dann offenbar noch weitere Korrekturmechanismen auf gesellschaftlicher oder aber Verstärkungsaspekte auf Individualebene greifen, um Veränderungen im Lebenslauf wie auch fortlaufende antisoziale Verhaltensweisen ausreichend erklären zu können.

Zugleich bleibt unklar, was für wen als ausreichender Verstärker krimineller Verhaltensweisen fungiert und wie man diese verhindern kann. Zudem bleibt offen, inwieweit Lernprozesse einem Alterungsprozess unterliegen. Wie genau werden früh geformte Lernerfahrungen etwa im Sinne von Gegenkonditionierung und Modelllernen getilgt, um die Verlaufskurven der Alterskriminalität hinreichend begründen zu können? Eine potenzielle Antwort darauf geben die bereits in den 1960er Jahren erschienenen Ausführungen von Gresham Sykes und David Matza (1968). Sie haben sich gegenüber lerntheoretischen Erklärungen mit der Neutralisierung von Rechtsnormen befasst. Mit dieser Regelaussetzung lassen sich sonst akzeptierte Konventionen unter bestimmten Umständen außer Kraft setzen. Ob und wie Neutralisierungstechniken gelernt werden, haben die Autoren nicht weiter bestimmt. Eindeutig handelt es sich aber um verschiedene Varianten der Rechtfertigung, die auf kognitive Zusatzmechanismen hinweisen. Eben diese sind im nächsten Abschnitt genauer zu beleuchten.

1.2.2     Kognitive Ansätze

Eine kriminelle Handlung unterliegt in der Regel einem Willens- und Wahlprozess. Wann aber entscheidet sich eine Person aktiv dafür, etwas Unrechtes zu tun und wie gelingt es ihr, dieses Wissen zu verkraften? Behilflich können dabei gedankliche Umstrukturierungen sein, die zu normabweichenden Urteilsbildungen führen. Dazu schätzen Straftäterinnen und Straftäter ihre eigenen Verhaltensweisen im Vorfeld oder auch im Nachhinein neu ein. So kann in einem derartigen Bewertungsvorgang das Risiko einer Haftstrafe mit einem möglichen finanziellen Gewinn etwa durch Raub oder Veruntreuung in einem anderen Licht erscheinen. Die Tat lässt sich auch im Nachgang kognitiv verharmlosen, indem Konsequenzen umbewertet werden. Dabei kommen auch pseudorationale oder sehr einseitige Formen der Vernunft zum Tragen, in denen Argumente augenscheinlich falsch eingeschätzt oder Handlungsfolgen schlichtweg geleugnet werden. Besonderen Bekanntheitsgrad hat vor diesem Hintergrund die Rational-Choice-Theory erlangt, die auf persönlichen Kosten-Nutzen-Abwägungen aufbaut. Clarke und Cornish (1989, S. 104) weisen darauf hin:

»[…] the decision-making processes in question will not necessarily be sophisticated, or be based upon adequate or accurate information: the offender characteristically displays limited rather than normative rationality. The nature of the decision task (for example, whether to become involved in, continue, or desist from a particular form of criminal activity or, once the decision to commit has been made, the problems of target selection) will also have an important bearing upon these processes.«

Fällt es nun älteren Menschen schwerer als jüngeren, gedankliche Umstrukturierungen in Richtung Kriminalität zu machen oder können sie sich selbst nicht mehr so einfach hinters Licht führen und entlarven auf diese Weise früh entsprechende Verlockungen einer Umkodierung?

Kognitive Theorien sind noch in anderer Hinsicht bemerkenswert. So sind in dieser Rubrik auch all jene Taten zu subsumieren, die unter Berufung auf religiöse, kulturelle oder politische Überzeugungen erfolgen und sich zugleich explizit gegen bestehende Rechtsstaatlichkeit richten. Zeugnisse geradezu infamer Umkehrungen und Verdrehungen von Recht und Unrecht finden sich in vielen Tatrechtfertigungen von Gräueltaten. Darunter fallen Links- und Rechtsextreme ebenso wie Glaubensfanatiker, die sich auf ein anderes Geltungssystem beziehen und geltende Rechtsnormen radikal zu bekämpfen versuchen. Zu nennen sind aber ebenso Unrechtsstaaten, in denen nicht der Einzelne, sondern ein ganzes Regime Recht und Logik außer Kraft setzt und damit gegen seine Bürger oder andere Staaten richtet. Um die eigene totalitäre Macht zu sichern, werden Gewalt, Repressalien und die Beschränkungen von Freiheiten eingesetzt. Dazu bedarf es häufig einer kruden und wahrheitsverachtenden Urteilsbildung. Dies kann wider besseres Wissen aber auch aufgrund von Indoktrination und Druck, mangelndem Intellekt, Desinteresse, emotionaler Beteiligung, falschen Vorbildern oder auch anderen Faktoren heraus geschehen. Warum und wie genau sich solche Tendenzen im Lebenslauf verändern oder zementieren ist nicht hinreichend untersucht.

Bizarre Züge hat innerhalb digitaler Gesellschaften auch die Berufung auf alternative Fakten selbst in demokratischen Staaten angenommen. Wenn ohne Korrektiv wissenschaftliche Fakten verleugnet und Behauptungen ohne Belege vorgenommen werden können, ist auch der Rechtsbruch nicht weit entfernt. In den letzten Jahren haben sich hier auch die Strafverfahren oder doch zumindest die Versuche einer Strafrechtsverfolgung von verschiedenen Staatsmännern und -frauen gehäuft. Viele von ihnen gehören dabei zur Gruppe älterer Menschen. Das macht diesen Teil krimineller Phänomene auch für die Alterskriminalität künftig besonders spannend.

1.2.3     Moralbezogene Ansätze

Neben den bereits genannten Theorien existieren mehrere alternative Erklärungsmodelle für die übergreifende Veränderung von Kriminalität im Lebenslauf. Besonders eingängig sind Theorien einer entwicklungsbezogenen Moralentwicklung (vgl. Andrews & Bonta, 2006). In diese Kategorie fällt gleich eine ganze Reihe der oben genannten Ansätze, sofern sie auf den Aufbau eines moralischen Urteilsvermögens abzielen. Insofern sind sie fester Bestandteil mehrerer Kriminalitätstheorien. Aus der forensischen Forschung sind für diese Theorien zahlreiche Teilbestätigungen zur Erklärung von realen Straftaten vorgelegt worden (Müller & Nedopil, 2017). Eine intakte Moral auf der Grundlage der menschlichen Entwicklung schließt aber im Umkehrschluss kriminelles Verhalten nicht aus. Ansonsten würden Regelverstöße nicht mit Gewissenskonflikten und Schuldgefühlen einhergehen. Die subjektive Einstellung und persönliche Haltung einer Person macht zudem nicht unmöglich, dass sich Personen unter bestimmten Umständen dennoch über ihren eigenen Moralkodex hinwegsetzen. Die hierbei in Erscheinung tretenden Kontextvariablen zu ermitteln muss demnach ebenfalls bei der Ursachenbestimmung von Alterskriminalität ins Kalkül gezogen werden. In eben diese Richtung haben John Laub und Robert Sampson (1993) zur Erklärung von Jugendkriminalität argumentiert. Sie haben die These aufgestellt, dass das Ausmaß sozialer Kontrolle für die Entstehung oder das Unterbleiben von Rechtsverstößen dringend zu beachten sei. Durch eine retrospektive Biografieforschung haben sie in späteren Arbeiten (2003) die Idee von Wendepunkten im Leben weiter ausgearbeitet, die zu informellen Verpflichtungen beitragen, und eine rechtskompatible Ausrichtung bestärken. Eine allgemein gültige Entwicklungstheorie steht allerdings noch aus (vgl. Boers, 2019). Genau deshalb ist es so wichtig, Grenzen und Wirkungsgrad einzelner Theorien zu vergleichen, in Beziehung zu setzen und gegebenenfalls zu erweitern oder neu zu entwickeln.

Bedenken wir die hinreichend belegte Individualität und Vielfalt des Alters und Alterns (vgl. Stadelbacher & Schneider, 2020) sollten monokausale Begründungen – genauso wie die oben skizzierten Propagandaparolen totalitärer Nationen – mit Skepsis betrachtet werden. Simple Erklärungen für bestehende oder auch ausbleibende Alterskriminalität befördern die schon von Erdman Palmore beschriebene und bis heute erkennbare Tendenz (Stokes & Moorman, 2020) der kulturellen Altersdiskriminierung (Ageism).

»Ageism permeates our culture so thoroughly and conditions our attitudes and perceptions so much that most of us are unaware of most of the ageism in it.« (Palmore, 1999, S. 98)

All jene Vorstellungen, die vor diesem Hintergrund eine im Alter generell bestehende Vernunft, Weisheit, Gebrechlichkeit oder andere ubiquitär gültige Merkmale unterstellen, um eine vergleichsweise geringe Straffälligkeit im Alter zu begründen, bleiben solange diskriminierend, wie sie nicht ausreichend an der Realität überprüft werden. Für diese Realitätssicht ist kontinuierliche Forschung eine wichtige – wenn nicht gar zwingende – Voraussetzung.

1.2.4     Personenbezogene und biologische Ansätze

Terrie Moffitt (1993) geht in seiner Zwei-Wege-Theorie von zwei verschiedenen kriminellen Karrieren aus. Auf der Personenebene unterscheidet Menschen, die zeitlich begrenzt kriminell sind, und Wiederholungstäter. Dieser letztgenannte Typus zeigt Verhaltensauffälligkeiten über einen langen Zeitraum – möglicherweise sogar lebenslang. Grund dafür sind nach Einschätzung von Moffitt neurologische Defizite. Kriminalität erscheint damit als biologisches Substrat einer Pathogenese. Bezüge werden damit zu Kriminalitätstheorien hergestellt, die sich vor allem auf Lern- und Kontrollmechanismen beziehen. Schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gingen die ersten Theorien zur Kriminalität von genetischen Dispositionen aus, die eine angeborene Veranlagung für strafbare Handlungen unterstellten (Lombroso, 1887). Grundlage dafür sind bereits frühe Vorstellungen eines »homo homini lupus« (ein Wolf ist der Mensch dem Menschen), die schon Plautus in der Antike oder Thomas Hobbes im 17. Jahrhundert (vgl. Radbruch & Gwinner, 1951) verwendet haben. Solche Vorstellungen haben zu der Annahme einer wesensbezogenen Böswilligkeit von Straftätern geführt. Vor allem die auch von Moffitt untersuchten wiederholten Rechtsverstöße, die so genannte persistente Kriminalität einzelner Personen, fasziniert die Kriminalitätshistorie von je her.

Kriminalanthropologische Annahmen einer angeborenen Kriminalität und die damit verbundenen fatalen Interpretationen in Bezug auf Resozialisierung und Bestrafung vermeintlicher Berufsverbrecher können dagegen aus heutiger Sicht als widerlegt gelten (Gibson, 2002). Damit wurden Vorstellungen personenzentrierter Ansätze der Kriminalität aber keineswegs aufgegeben und erhielten auch neben den Arbeiten von Moffitt durch weitere Studien in den 1990 Jahren einen deutlichen Aufschwung (vgl. Stelly & Thomas, 2001). Vor allem der sehr populäre Ansatz einer an der kriminellen Persönlichkeit angelehnten und mit einem umfassenden Geltungsanspruch geltenden Theorie von Michael Gottfredson und Travis Hirschi (1990) ist hier anzuführen. Als Ursache von Kriminalität unterstellen die Autoren einen Mangel an individueller Selbstkontrolle. In vielen nachfolgenden Untersuchungen konnte indessen ein allenfalls mittlerer Zusammenhang zwischen Devianz und Kontrollverlust hergestellt werden, der zudem nur in bestimmten Kontexten zu greifen scheint (Akers & Sellers, 2004). Eine inhärente oder gar genetisch angelegte Neigung zur Impulsivität greift als grundlegende Erklärung für Kriminalität damit nicht. Weniger umstritten ist, dass biologische Faktoren als Mitauslöser für Straffälligkeit zu berücksichtigen oder gar bei psychischen Erkrankungen als kausale Begründung für Devianz zu betrachten sind. Zu nennen sind vor allem biochemische und auch endokrinologische Prozesse, die dabei eine Rolle spielen (vgl. McMurran, Khalifa & Gibbon, 2008). Dies hat fraglos wichtige Implikationen in Bezug auf Schuld- und Haftfähigkeit von straffälligen Personen.

Nun wissen wir, dass die Biologie des Alterns unbestreitbar Veränderungen mit sich bringt, die neben normalen Alterungsprozessen eben auch pathologische Entwicklungen enthalten kann. Funktionsverluste betreffen das Organsystem ebenso wie auch die psychische Verfassung älterer Menschen. Mentale Erkrankungen, die sich auf das Urteilsvermögen oder den Affekt auswirken, könnten Kriminalität befördern. Andere Einbußen, etwa im Bereich der Motorik, würden dementgegen auch die Gelegenheiten und Umsetzungen von Straftaten erschweren oder vereiteln können. Insgesamt kann aber nicht von einem einheitlichen Alterungsprozess ausgegangen werden (vgl. Pohlmann, 2016). Daher braucht es bei der Ursachenbestimmung weniger eine Bezugnahme auf das Alter als vielmehr auf den – durch das Alter beeinflussten – zugrundeliegenden Gesundheitsstatus einer Person.

1.2.5     Anforderungsbezogene Ansätze

Eine andere Position nimmt Robert Agnew im Rahmen seiner Strain-Theorie (1992) ein. Nach seinem Dafürhalten entsteht Devianz als unzureichende Reaktion auf Stress und Belastung. Die zugrundeliegenden Anforderungen werden dabei als derart aversiv empfunden, dass sich daraus ein enthemmtes und emotional aufgeladenes Verhalten Bahn bricht. Ziel einer solchen Reaktion ist es, die Belastungssituation zu beenden. Auch dieser Ansatz rekurriert auf subjektive Bewertungen und zugleich auf Lernerfahrungen. Ob die Beendigung eines als unangenehm erlebten Zustands zu konformen oder eben zu negativen Verhaltensweisen führt, wird vor diesem Hintergrund mit weiteren sozialen und biografischen Faktoren begründet und durch Persönlichkeitseigenschaften moderiert. Dazu zählen eine geringe Frustrationstoleranz und eine mangelnde Stressresistenz. All dies lässt sich unter dem Begriff einer unzureichenden Coping-Kompetenz (Heinrichs, Stächele & Domes, 2015) und mit fehlenden internen oder externen Ressourcen (vgl. Beesdo-Baum, 2011) zusammenfassen. Allerdings erscheint die Begründung von Stressanfälligkeit durch mangelnde Stressresistenz eher schlicht und weitgehend tautologisch.

Grundsätzlich ergibt sich nach Agnew eine unzureichende Bewältigungsfähigkeit durch biologische wie auch durch psychosoziale Ursachen. Multiproblemlagen wie das persönliche Erleben sozialer Ungleichheit, Krankheit oder Benachteiligung wirken sich entsprechend als verstärkende individuelle Belastungskomponenten förderlich auf antisoziales Verhalten aus. Begleitet wird Devianz nach dieser Theorie allerdings stets von negativen Gefühlszuständen und kann durch situative Faktoren zusätzlich verstärkt werden. Ob sich dieses affektive Befinden nun stets bei kriminellem Verhalten einstellt, darf bezweifelt werden. Wenn aber Kriminalität mit unzureichenden Ressourcen und steigenden Belastungen begründet wird, müssten kriminelle Verhaltensweisen im Alter eigentlich signifikant zunehmen. Das ist aber nicht der Fall. Plausibler erscheinen sie für Kurzschlusshandlungen oder eskalierendes Verhalten.

Überforderungen werden aber ebenfalls in ganz anderen theoretischen Diskursen angeführt. So finden sich etwa in psychoanalytischen Ansätzen durchaus passfähige Begründungszusammenhänge (vgl. Foulkes, 2013). Kriminalität kann hier als unzureichende Anpassung der emotionalen Triebregulation angesehen werden. Diese löst allerdings nicht negative Affekte aus, sondern soll eben diese reduzieren und ist eher mit einem Lustgewinn verbunden. Dies wäre mit einer kriminellen Person vereinbar, die eine Überforderung durch ein Verhalten zu lösen versucht, das beispielsweise kurzfristig mit dem Gefühl von Macht oder Überlegenheit einhergeht. Demzufolge wäre die umgekehrte emotionale Beteiligung wie in der Strain-Theorie zu erwarten. Daneben könnte man im so genannten »Psychischen Apparat« ein kriminelles Über-Ich anführen (Bernfeld, 1931). Eine solche Kontrollinstanz würde dann fälschlich anderslautende Normen vorgeben, die letztlich in ein kriminelles Verhalten münden, ohne als solches verstanden zu werden. Ein derartig deformiertes Über-Ich kann ebenfalls Folge chronisch andauernder Überforderung sein. Beide Fehlentwicklungen müssten allerdings bereits in der frühen Kindheit angelegt sein. Die Psychoanalyse ist jedoch gerade bezogen auf Veränderungsprozesse im Alter wenig anwendbar. Lange Zeit wurde das Alter in der Psychoanalyse sogar gänzlich vernachlässigt (vgl. Radebold, 1988).

1.2.6     Kontextbezogene und reaktive Ansätze

Sämtliche Anstrengungen, die als amtliche Reaktionen auf bekannt gewordene Straftaten oder Verdachtsmomente von Rechtsverstößen unternommen werden, sind unter dem Begriff der Kriminalitätskontrolle subsumiert (Kerner, 2015, S. 199). Nun ist hinreichend bekannt, dass alle Versuche einer vollständigen Kriminalitätskontrolle bislang gescheitert sein dürften. Als mögliche Gründe lassen sich neben den oben schon genannten Aspekten auch spezifische Umweltbedingungen und Außenreize anführen wie auch eine Art der Reaktanz von Personen, die Vorgaben nicht nachkommen wollen. Überlegungen, die sich mit genau diesen Besonderheiten beschäftigen, sind in diesem Abschnitt abschließend zusammenzufassen.

Abschreckung durch erwartete Sanktionen soll Kriminalität verhindern. Das ist ein wesentliches Prinzip im Rechtssystem (vgl. Paternoster & Piquero, 1995). Wenn aber die zu erwartenden rechtlichen Konsequenzen nicht ausreichend abschrecken, können sie auch nicht den gewünschten Präventionserfolg erzielen. Die Einschätzung von Gesetzen und die damit einhergehenden Strafandrohungen entfalten sich auf eine Gesellschaft nicht unbedingt gleich. In diesem Zusammenhang werden oftmals auch beeinflussende Peer-Groups und kriminalitätsfördernde Wohnghettos diskutiert. Bereits in den 1960er Jahren haben Clifford Shaw und Henry McKay (1969) die Kriminalität Jugendlicher und den damit einhergehenden Einfluss von sozialen und baulichen Stadtteilstrukturen untersucht. Ähnliche Gemeinwesen orientierte Forschungen haben George Kelling und Catherine Coles (1997) unternommen. Die negative Wirkung von bestimmten räumlichen Kontexten gilt heute als weitgehend unumstritten. Hier wäre genauer zu untersuchen, ob das Wohnumfeld gerade älterer Menschen auch positive Wirkungen hat oder haben könnte. Dies gilt insbesondere für das institutionelle Wohnen in Alten- und Pflegeheimen etwa in Bezug auf Wohnstandards der Heimmindestbauverordnung.

Eine weitere Vereitlung der Kriminalitätskontrolle besteht dann, wenn verübte Rechtsbrüche oder doch zumindest deren Aufdeckung nicht mit negativen Gefühlen wie Scham oder Gewissensbissen für die Täterinnen und Täter verbunden ist (vgl. Braithwaite, 1989). Stattdessen kann sich sogar ein Gefühl von Stolz einstellen. Beispiel dafür wäre etwa ein kriminelles Milieu, für das eine Vorstrafe als Auszeichnung und Loyalitätsbeweis eines Mitglieds gewertet wird. Es ist durchaus bekannt, dass sich gesellschaftliche Sub-Gruppen bewusst von geltenden Regeln abgrenzen können (vgl. Beier, 2016). Sonst verbindliche Normen werden als irrelevant und durch ein alternatives und für sich genommen bindendes Regelwerk ersetzt. Dieses kann diametral zum allgemeingültigen Regelwerk angelegt sein. Hier zeigt sich eine deutliche Nähe zu den oben angesprochenen kognitiven Ansätzen.

Entsprechende Entwicklungen lassen sich auf unterschiedliche Weise erklären. Sie können auch als Trotzreaktion und Formen des Widerstands verstanden werden (vgl. Sherman, 1993). Genährt werden diese durch die Unzufriedenheit mit der persönlichen Situation, fehlenden Respekt gegenüber staatlichen Instanzen oder aufgrund von Gefühlen der Versagensangst sowie der Enttäuschung, Willkür und Demütigung, denen man sich durch ein Regelwerk ausgesetzt fühlt. Solche Gemengelagen scheinen sich beispielsweise bei den derzeitigen Verschwörungs- und Querdenkern einzustellen, die zugleich ein Sammelbecken für weitere militante Strömungen darstellen.

Ob die geringere Kriminalität älterer Menschen einer höheren Konformität oder einer stärkeren Sozialkontrolle geschuldet ist, kann man aufgrund der unzureichenden Forschungslage nicht eindeutig beantworten. Denkbar wäre auch eine weniger intensive Strafverfolgung bei Straftaten, die durch solche Faktoren ausgelöst werden.

1.3       Fazit: Theoriebedarf

Die hier zusammengefassten Theorien führen uns deutlich vor Augen, warum die Devianz im Alter dringlich weiter zu beforschen ist. Devianz im Alter ist kein einheitliches Phänomen. Das gilt sowohl für das weite Feld der Straftaten wie auch für die Heterogenität von Straftäterinnen und Straftätern. Gleiche Rechtsverstöße können unterschiedliche Ursachen haben – und unterschiedliche Abweichungen auch gleiche Ursachen. Vor dem Hintergrund eines solch enormen Facettenreichtums braucht es auch nicht eine, sondern verschiedene Deutungsmuster. Erst dann kann man der Vielgestaltigkeit einer Devianz im Alter gerecht werden.

Vor diesem Hintergrund sei dem oder der eingangs genannten anonymen Gutachter/-in ausdrücklich gedankt. Die damalige Rückmeldung ist bis zum heutigen Tag eine erhebliche Motivation, den Dingen auf den Grund gehen zu wollen. Trotz einer Reihe amtlicher Statistiken, Projektdaten und Dunkelfeldbefragungen, die gemeinsam über Tatverdächtige, Strafverfolgungen und Verurteilungen Auskunft geben, lassen diese teilweise eine gesonderte Ausweisung von älteren Erwachsenen vermissen. Diese ist im Erwachsenenstrafrecht auch nicht zwingend gefordert. An anderen Stellen wurden zwar Altersgruppen unterschieden, die jeweiligen Altersgrenzen aber auf föderaler Ebene sehr unterschiedlich festgelegt. Daneben stellt sich die Frage, inwieweit die verfügbaren Daten reale Tatbestände oder, aufgrund des großen Dunkelfelds, lediglich Erhebungsartefakte darstellen. Bei einer derart ungenügenden Datenbasis kann man nicht von einer ausreichenden Beurteilungsgrundlage sprechen. Die schon genannten Autoren Hirschi und Gottfredson haben daher schon vor mehr als vier Jahrzehnten auf die Schwierigkeit der Interpretation dieser Daten hingewiesen:

»Still, the statement that age is an easy fact to study is decidedly misleading. When attention shifts to the meaning or implications of the relation between age and crime, that relation easily qualifies as the most difficult fact in the field.« (1983, S. 552)

Es war und ist daher nicht ausreichend, auf der Basis von Metaanalysen bestehende Befunde zu ordnen und aus dem bestehenden Material vermeintlich einfache Schlussfolgerungen zu ziehen. Valide Aussagen erfordern saubere Erhebungen von Altersvariablen und parallele Untersuchungsansätze im Dunkelfeld der Kriminalität. Es braucht insofern zusätzliche Erhebungsprozeduren und zugleich konzeptionelle Neuorientierungen, um Alterskriminalität adäquat zu beschreiben sowie ihre Ursachen und Auswirkungen zu verstehen.

Im besten Falle finden sich Erklärungsansätze, die einen möglichst großen Anteil von Kriminalität zu bestimmen vermögen. Die oben skizzierten Theorien weisen eine mitunter starke Überlappung auf und können nur einen Teil der Realität abbilden. Aus Sicht von Franziska Kunz (2014) sind Kriminalitätstheorien deshalb jedoch keineswegs nutzlos. Gleichwohl brauchen wir eine möglichst offene und breite Sicht auf die Devianz im Alter. Dazu müssen die Motive, die Straftaten und die Sanktionierungen von Alterskriminalität deutlich stärker als in der Vergangenheit in den Fokus gerückt werden. Nötig sind dazu multidisziplinäre Ansätze, die Theorie und Praxis gekonnt miteinander verzahnen und theoretische Überlegungen auch immer wieder an neuen Untersuchungen messen. Diesen Aufgaben widmen sich deshalb die nachfolgenden Kapitel.

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2          Methodische Herausforderungen altersdifferenzierter Kriminalitätsstatistiken

Gerhard Spiess

2.1       Womit wir rechnen müssen – womit können wir rechnen?

Unterschiede der registrierten Kriminalitätsbelastung zeigen sich, seit es Kriminalstatistiken gibt,3 durchweg in Abhängigkeit von zwei Größen: dem Geschlecht und dem Alter. Männer werden häufiger registriert als Frauen; in der deutschen Wohnbevölkerung sind es von den Männern 3 von 100, von den Frauen 1 von 100, von den jungen Männern zwischen 16 und 21 Jahren 8, ab 60 dagegen nur 1 von 100, die in einem Statistikjahr der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) als tatverdächtig registriert werden.4

Verändert sich die Altersstruktur der Bevölkerung, so hat das Auswirkungen auf das Delinquenzaufkommen – und entsprechend auf die mediale Wahrnehmung und den politischen Umgang mit diesen Veränderungen. Zu den Alterseffekten kommen aber auch zeitgebundene (Perioden-) Effekte: Die Zunahme von privatem Besitz und Versicherungen, die zur Schadensregulierung auf Anzeigeerstattung bei der Polizei bestehen, erklärt den Großteil des registrierten Kriminalitätsanstiegs der Nachkriegszeit durch Eigentumsdelikte, ebenso wie die wachsende gesellschaftliche Sensibilität gegenüber Gewaltdelikten zu vermehrten Anzeigen und Strafgesetzänderungen führte. Spezifische Kohorteneffekte finden sich in der ›Wanderung‹ der noch relativ starken Geborenenjahrgänge der Vorkriegszeit und in der Nachkriegszeit des ›Babybooms‹ der Jahre 1955 bis 1969 durch die Bevölkerungsstatistik: Der Zunahme der jüngeren Altersgruppen folgte – erwartbar – auch die Kriminalstatistik, medial und besonders in Wahlkampfzeiten reißerisch dramatisiert als angebliche Explosion der Kinder- und Jugendkriminalität aufgrund von Verrohung und Sittenverfall der Jugend und entsprechend im Fokus polizeilicher Aufmerksamkeit. Nach dem Rückgang der Geburtenraten und dem Eintritt der geburtenstarken Jahrgänge in das Rentenalter bei weiter steigender Lebenserwartung nimmt die Zahl der Senioren absehbar weiter zu – in der Bevölkerung wie in der Kriminalstatistik: Während die Zahl der Verurteilten unter 70 Jahren in den 10 Jahren von 2008 bis 2018 um ca. 1/5 abnahm, stieg sie bei der Altersgruppe ab 70 um 1/3, ab 80 sogar um ca. 90 % – dies nicht zuletzt als Folge der vermehrten motorisierten Verkehrsteilnahme in den entsprechenden Alterskohorten.

Die Abschätzung der künftigen Entwicklung der jüngeren und erwerbsaktiven Bevölkerungsgruppen ist durch Faktoren wie Geburtenrate, Zu- und Abwanderung mit Unsicherheiten behaftet. Dagegen lässt sich aus der Stärke der älteren Jahrgangskohorten unter Berücksichtigung deren weiterer Lebenserwartung recht gut absehen, wie sich deren Größenordnung entwickeln und zu einer Zunahme der Zahl der Hochbetagten führen wird: Selbst bei Annahme dauerhaft hoher Zuwanderung wird die Zahl der Menschen im Erwerbsalter zwischen 20 und 66 Jahren bis Mitte der 2030er Jahre um 4 bis 6 Millionen zurückgehen, dagegen die Zahl der ab- 80-Jährigen längerfristig weiter auf 9 bis 10 Millionen anwachsen und 2050 etwa 1/10 der Bevölkerung ausmachen.

Die nachfolgende Abbildung (Abb. 2.1) zeigt die auf Basis der Hauptvariante 2 der 14. koordinierten Bevölkerungsvorausrechnung berechnete Entwicklung der Altersstruktur der Bevölkerung ab 60 Jahren in Deutschland:5 Bei einer erwarteten Abnahme der unter 60-Jährigen von 2020 bis 2050 von 59 auf 52 Millionen wird der Eintritt der geburtenstarken Kohorten ins Rentenalter in den 2030er Jahren zur weiteren Zunahme der Bevölkerung ab 60 auf ca. 28 Millionen führen. Unter den Senioren wird die Zahl der Älteren ab 70 Jahren (bis auf ca. 18 Millionen) sowie der Hochbetagten ab 80 (auf mehr als 9 Millionen) anwachsen – und damit auf ein Drittel der ab 60-Jährigen.

Abb. 2.1: Veränderungen in der Altersstruktur bis 2020 und erwartete Auswirkungen bis 2050

Im Gefolge der Zunahme der Zahl der Senioren in Bevölkerung wie Kriminalstatistik finden sich reißerische Berichte über ›Opa-Gangs‹, Banküberfälle durch Rentner, aber auch zunehmende Opferzahlen. Beispielhaft die alarmistische Warnung eines Polizeigewerkschaftsfunktionärs: »Besorgniserregend ist für den Kripoexperten auch die Zahl der Raubüberfälle in Wohnungen… 17 Prozent der Opfer waren über 60 Jahre alt. Auffällig ist zudem die zunehmende Brutalität, mit der die Täter vorgehen.«6 Bei einem Bevölkerungsanteil der über 60-Jährigen von mehr als 26 % im selben Jahr zeigt ein Anteil von 17 % unter den Opfern allerdings eine unter-, nicht über-durchschnittliche Opfergefährdung dieser Altersgruppe. Setzt man die Zahl polizeilich registrierter Opfer ab 60 Jahren in Bezug zur altersgleichen Bevölkerung, so war die so berechnete Opfergefährdungszahl mit 2,8 je 100.000 im Jahr 2016 niedriger als in den meisten Vorjahren und 2019 mit 2,2 auf dem tiefsten Stand überhaupt seit dem statistischen Nachweis der Opferzahlen.7