Am Anschlag - Volker Sebold - E-Book

Am Anschlag E-Book

Volker Sebold

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  • Herausgeber: Echter
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

War der Syrienrückkehrer Maik tatsächlich der Attentäter bei einem Terroranschlag in Frankfurt? Der Würzburger Staatsschützer Roland Utz hat daran erhebliche Zweifel. Doch auch die Versionen seines Schützlings über dessen Beweggründe ausgereist zu sein und nun nach Würzburg zurückkehren zu wollen sind nicht frei von Ungereimtheiten. Als auch noch seine ehemalige Lebensgefährtin und alte Kollegin Rebecca Rust auftaucht, werden die beruflichen und privaten Herausforderungen fast zu viel für Utz. Verspricht in dieser angespannten Lage die Begegnung mit einer geheimnisvollen Frau an der Mainschleife einen Hoffnungsschimmer? Wie schon in seinem Erstlingswerk "Bullenhitze" bringt Volker Sebold auch hier wieder Hochspannung in seine fränkische Heimat. → Thriller mit einem Staatsschützer, der an vielen Fronten gegen das Böse ankämpfen muss

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Seitenzahl: 214

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Am Anschlag

Volker Sebold

AM ANSCHLAG

von

Volker Sebold

Für Lisa

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.

1. Auflage 2022

© 2022 Echter Verlag GmbH, Würzburg

www.echter.de

Umschlag: wunderlichundweigand.de

Covermotiv: (c) Evannovostro / shutterstock.com

Satz: Crossmediabureau, Gerolzhofen

E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de

ISBN

ISBN 978-3-429-05774-9

ISBN 978-3-429-05238-6 (PDF)

ISBN 978-3-429-06590-4 (ePub)

Handlungen und Personen sind frei erfunden und der Fantasie des Autors entsprungen. Einigen Vorkommnissen liegen tatsächliche Ereignisse zugrunde. Diese wurden so verändert, dass keine Rückschlüsse auf Personen oder Örtlichkeiten herzustellen sind.

Zum besseren Verständnis einiger, im Roman nicht direkt erklärter Begriffe befindet sich im Anhang ein Glossar.

„Iyak al-daur ya doktor“

(Bald bist du dran, Doktor)06. 03. 2011, Daraa/Syrien

Ein Graffiti veränderte die Welt.15 verdächtige Schüler wurden verhaftet und gefoltert.Der Beginn einer weltweiten Tragödie.

INHALT

BRUCH

2019 – Ein deutscher Herbst

Samstag, Tag 2 nach dem Anschlag

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Samstag, Tag 2 nach dem Anschlag in Frankfurt

Kapitel 8

FLUCHT

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

HEIMSUCHUNG

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Donnerstag, Tag des Anschlags

Wochenende nach dem Anschlag

Sonntag

EPILOG

ENDE

GLOSSAR

DANKE

Anmerkungen

BRUCH

2019 – Ein deutscher Herbst

Samstag, Tag 2 nach dem Anschlag

1

Trugbilder der Nacht ließen sein Verlangen explodieren. Die Augen geschlossen, die Stirn von Schweiß benetzt, tastete er neben sich und fühlte: Leere.

Langsam öffnete er die Lider. Sein Blick verschwand in der Decke des Schlafzimmers. Die linke, ausgestreckte Hand ballte sich zur Faust. Traurigkeit umklammerte sein Herz. In den Eingeweiden wanderte der Schmerz des Verlustes.

Seine Gedanken schweiften ab, von dem brutalen Anschlag in Frankfurt.

In die Szenen der schrecklichen Tat schlich sich heimlich seine alte Liebe: Rebecca. Zehn Jahre lang hatten sie versucht, das Schreckgespenst des brutalen Überfalls zu überwinden. Hatten gelernt, mit Rebeccas HIV-Infektion zu leben. Ein normales Leben war es aber von Beginn an nicht gewesen. Was hieß schon normal? Rebecca hatte schließlich einen Mordanschlag mit viel Glück überlebt. Manchmal schluchzte sie in seinen Armen.

Sie hatten sich etwas vorgemacht. Glaubten, füreinander bestimmt gewesen zu sein. Dass ihr Schicksal sie tragisch verbunden hätte. Misstrauen, Eitelkeiten und Streit fraßen sie auf. Die Nerven Rebeccas waren mehr als lädiert. Sie hatte sich zwar einigermaßen schnell von ihren körperlichen Verletzungen erholt, außer dass ihr Sprachzentrum immer noch Aussetzer aufwies. Aber in ihrem Inneren wüteten Hass und eigenes Unvermögen, die Beziehung erträglich zu gestalten.

Sie tauchte als Dämon in Rolands Träumen auf. Unregelmäßig zwar, doch war sie stets präsent. Er konnte sie einfach nicht vergessen. Ausgerechnet jetzt, wo er doch ganz andere Sorgen hatte.

Eines Nachts hatte sie ihre Koffer gepackt. Hatte nur das Nötigste mitgenommen. Mit zittriger Hand hatte sie ihren Abschied geschrieben:

Danke für deine Liebe.

Der ich nicht gewachsen bin.

Sorge dich nicht! Lebe! Und liebe!

Ich muss weg von hier.

Ich muss mein Leben neu ordnen.

Wir hatten keine Chance, Roland!

In Liebe,

Rebecca

Roland glitt aus dem Bett. Wusch unter der Dusche das Negative der Nacht in den Abfluss. Der schwarze Kaffee verbrannte ihm die Zunge. Sein Blick wanderte aus dem Fenster, hinüber zur Steinburg. Der neue Anbau war ihm ein Dorn im Auge. Wie angenehm dagegen war der moderne Kubus vom Weingut am Stein anzusehen.

Seine Gedanken kreisten um gestern. Wie hatte es nur dazu kommen können? Ein Gefühl sagte ihm, dass Maik nicht der Attentäter war.

Zur Untätigkeit verurteilt, saß er in seiner kleinen Küche. Aufgrund einer Intervention seiner Chefs hatte er frei, bis die Angelegenheit geklärt war. Sie wollten ihn beruhigen. Und wussten, dass sie ihn nicht beschwichtigen konnten. Zu nahe war ihm der Junge ans Herz gewachsen.

„Mach’ dir keine zu großen Sorgen! Es ist nur eine Formsache. Du hast dir bestimmt nichts vorzuwerfen. Warte in Ruhe die Ermittlungen der Kollegen vom BKA ab. Vielleicht war deine Beziehung zu dem Jungen zu intensiv.“ Roland war die Süffisanz in der Stimme von Klotz, seinem Chef, nicht verborgen geblieben.

Beziehung zu Maik? Als ob ich mit dem verheiratet gewesen wäre, dachte er und nahm einen tiefen Schluck Kaffee.

Maik war tot.

Was wollte er in Frankfurt?

Was wollte er ihm, nach all der langen Zeit, mitteilen?

Roland hatte ihm die Hand ausgestreckt. Maik wäre eingesperrt worden. Aber der Polizist hätte ihm keine Hilfe verwehrt. Jetzt warf man ihm vor, als Terrorist für den Anschlag in Frankfurt verantwortlich zu sein. Zwölf Tote!

„Was verdammt ist meine Verantwortung?“, fragte sich der Ermittler. Er überlegte angestrengt, wie er seinen Kopf aus der Schlinge ziehen konnte. Sein dienstliches Handy musste er abgeben. Sie würden es auslesen und feststellen, dass er am Tattag Kontakt zu Maik hatte. Er hatte dessen Stimme noch im Ohr.

Ich bin in Frankfurt.

Fahre mit dem Zug gleich los nach Würzburg.

War Kumpels von früher besuchen.

Keine Sorge! Wir reden, wenn ich da bin.

Komisch, irgendetwas stimmt hier nicht …

Dann war das Gespräch abrupt abgebrochen.

Das Warten zermürbte ihn. Er tigerte durch die Wohnung. Bekam die toten Menschen, die in der Bahnhofshalle lagen, nicht aus dem Kopf. Unkenntlich. Verstümmelt. Jeder Tote ein Schicksal. Familien, die trauerten, die einen lieben Menschen verloren hatten. Verluste. Und Maik sollte sie getötet haben. Im Auftrag des sogenannten Islamischen Staates. Roland zweifelte. Ein Bauchgefühl, dem er mehr traute als den bisher vorliegenden Indizien. Konnte er sich so in Maik getäuscht haben?

Er griff zur Flasche Ouzo. Es war 10 Uhr vormittags. Die Besprechung mit dem BKA stand unmittelbar bevor. Roland versuchte die Zeit totzuschlagen. Der Alkohol vertrieb die bösen Geister. In seinem Innersten wütete ein Schwarm Wespen, der seine Unruhe anschwellen ließ.

2

Im Jahr 2013 wechselte Roland Utz von der Mordkommission zum polizeilichen Staatsschutz. Nachdem Rebecca ihn verlassen hatte, tat ihm der Tapetenwechsel gut. Neue Herausforderungen. Das Gehirn auf Reset stellen. Vergangenes hinter sich lassen. Die politische Lage im Nahen Osten hatte sich weiter verschärft. Die Kollegen im Staatsschutz waren älter als er. Man suchte dringend Verstärkung.

Auch in Unterfranken schlossen sich junge Menschen der Bewegung um das „Lies“-Projekt von Abu Nagie an. Ein charismatischer, jedoch kaltherziger Palästinenser mit deutschem Pass, der seine Existenz mit dubiosen Geschäften in den Sand gesetzt hatte. Er befriedigte seine Machtgeilheit, indem er labile, politisch interessierte Muslime von einer rigiden Religiosität überzeugte. Und in den Abgrund führte. Sie träumten von der wahren Religion und einem islamischen Staat, in dem sie vorurteilsfrei nach den Regeln der Scharia leben konnten. In Scharen verließen die Geblendeten das Wohnzimmer der elterlichen Wohnung, um in der Ash-Sham-Provinz, im Land der Muslime, für die Interessen der Daula, ihres Gottesstaates, zu leben, zu kämpfen und: zu sterben. Die Propaganda erfüllte ihren Zweck. Zu jeder Zeit. An jedem Ort.

Pierre Vogel, die Gallionsfigur der deutschsprachigen Salafisten, hatte die Muslimische Jugend am Untermain aufgesucht, um sie gemeinsam mit seinem Bruder im Geiste, Sven Lau, perfide zu infiltrieren.

Es war der Weckruf für einen Jungen, gerade einmal 17 Jahre alt und kurz vor dem Abitur, der Rolands erster Fall werden sollte.

3

Es war kurz vor halb acht am Montagmorgen, als sie mit 200 km/h auf der A 3 in Richtung Aschaffenburg rasten.

Neben Roland saß Carsten Beck, ein Neuer, der noch nach typisch Polizei roch. Ihm musste man noch beibringen, dass manchmal auch fünf gerade sein konnten.

„Woher hast du eigentlich all dein Wissen über den Islam und den Islamismus?“, fragte er in den Geräuschpegel des rasenden BMWs.

„Lehrgänge, Vorträge und ganz viel Lesen in Eigeninitiative. Der Kopf ist rund, damit dein Denken die Richtung ändern kann.“

Vor ihnen zog unvermittelt auf Höhe der Abfahrt Wertheim/Lengfurt ein österreichischer Sattelschlepper auf die Überholspur, Roland trat brutal auf die Bremse. Die Reifen qualmten. Gummigestank drang ins Fahrzeuginnere. Rolands Finger zitterten stakkatoartig auf dem Hebel für die Lichthupe. Das Heck des Ungetüms näherte sich bedenklich. Der Unfall von damals, als seine Freundin Beate starb, flimmerte wie ein körniger Schwarz-Weiß-Film durch seine Gedanken. Sie schafften es gerade noch, das Gefährt nicht zu touchieren, um dann dem Lastwagen hinterherzuschleichen, bis dieser quälend langsam einen anderen Truck überholte.

Endlich wieder freie Fahrt. Rolands Konzentration richtete sich nach vorne. Carsten ließ das Fenster herabsurren. Er streckte den rechten Arm hinaus und zeigte dem Alpenkutscher seinen ausgestreckten Mittelfinger.

Eine Weile fuhren sie schweigend, ihre nervösen Zuckungen in den Griff bekommend.

„Hör zu! Ich weiß nicht genau, was uns gleich erwartet. Scheint eine unbescholtene Familie aus Tschetschenien zu sein. Wir lassen die Leute reden und hören erstmal nur zu.“

„Ich bin informiert, Roland. Ich habe das Protokoll noch schnell gelesen. Anruf beim Kontakttelefon des BAMF. Ein Sohn ist verschwunden und angeblich auf dem Weg nach Syrien. Ich lasse dich machen. Du bist der Boss.“

Sie fuhren in eine Siedlung Goldbachs. Uniforme Häuserzeilen, links und rechts. Am Ende der Straße ragte ein Betonblock mit mindestens acht Stockwerken in den Himmel. Die Gemeinde hatte in die Höhe gebaut, um Platz zu schaffen für die Neuankömmlinge aus dem In- und Ausland.

Die Motorhaube nickte, als Roland den BMW unsanft in die Parklücke bremste.

Carsten fuhr mit dem Zeigefinger die schmutzigen Klingelschilder ab: MURATOV.

Er klingelte länger als üblich. Als der Summer ertönte, drückte Roland mit der Schulter die Tür auf. Der Aufzug fuhr sie in den vierten Stock. In der geöffneten Wohnungstür stand ein junger Mann mit fast zwei Metern Körpergröße. Breite Schultern deuteten auf Kampfsporterfahrung hin. Aus seinem blassen Gesicht wuchs ein oberlippenfreier Bart. Roland jedoch spürte, dass von dem Mann eine gewisse Zartheit ausging. Es waren seine Augen, die um Hilfe baten.

„Danke, dass Sie so schnell gekommen sind. Meine Mutter spricht kaum Deutsch. Ich dolmetsche, wenn das in Ordnung ist? Sie ist fix und fertig. Bitte nehmen Sie Rücksicht. Ihrem Herzen geht es nicht gut.“

Roland zog die Schuhe aus, bevor er als erster die Wohnung betrat. Carsten blickte skeptisch, tat es ihm aber nach.

Vom Ende des Flurs hörten sie Frau Muratova in einer Sprache klagen, die ihnen fremd war. Ihr Schluchzen wurde erstickt von Weinkrämpfen. Fäuste trommelten auf eine Tischplatte.

Es war Punkt acht Uhr. Im Flur hingen Fotos von der Familie. Schwarz-weiß und nachträglich koloriert. Einige der Bilder waren wohl in Tschetschenien aufgenommen. Männer trugen Lammfellmützen. Etwas Traditionelles, offenbar. Frau Muratova saß im Wohnzimmer an einem Tisch. Kunstblumen fristeten in einer Vase, an der Farbe abblätterte, ihr Dasein. Der flauschige Teppich fühlte sich unter den besockten Füßen angenehm kuschelig an. Das Sofa an der Wand schützte sich mit einer Stickdecke vor fremden Partikeln. In einer Ecke registrierte Roland einen Gebetsteppich mit integriertem Kompass. Frau Muratova hatte ihren Kopf in die Armbeuge gelegt. Sie schluchzte. An der Wand hinter ihr hingen eingerahmt in goldenen Buchstaben die 99 Namen Allahs in arabischer Schrift.

„Ist Artur tot?“, fragte sie in radebrechendem Deutsch.

„Salam aleikum, Frau Muratova. Ihr Sohn ist nicht tot. Wir sind hier, um Ihnen zu helfen. Mein Name ist Utz, und das“, er zeigte auf Carsten, „ist Kollege Beck.“

Die Angesprochene verstummte. Sie blickte Roland mit den verheulten, geröteten Augen durchdringend an, als könne sie die Wahrheit aus ihm herauslesen. Ihr weißes Kopftuch hatte dunkle Flecken von den Tränen, die sie seit Stunden vergossen hatte.

Carstens Augen ruhten auf einer Obstschale. Auf den Bananen klebte noch das Preisschild.

Frau Muratova sagte etwas. Sohn Abbas übersetzte:

„Dieses bisschen Leben. So kurz. Ich möchte auch ein wenig vom Glück. Jetzt lässt mich mein geliebter Artur sterben, indem er mein krankes Herz in Stücke reißt.“

Ihr Weinen ging in ein Klagen über. Abbas herrschte seine Mutter an. Vermutlich sollte sie vor den Beamten Haltung wahren.

Der Sohn schenkte den Beamten die dritte Tasse schwarzen Tees nach. Es schmeckte heiß und süß.

„Meine Mutter wollte heute in der Früh, wie immer um 6 Uhr, zur Arbeit. Sie ist Näherin. Vorher weckt sie Artur, damit der nicht verpennt und sich rechtzeitig für die Schule fertig macht. Schule ist meiner Mutter sehr wichtig. Aus uns soll mal was werden. Hier in diesem fremden Land. Artur war heute aber nicht in seinem Zimmer. Sie schrie hysterisch, so dass ich aus dem Schlaf schreckte. Auf Arturs Bett fand ich den Brief.

Es ist ja kein Geheimnis, Herr Kommissar. Mein Bruder und ich, wir waren bei der Muslimischen Jugend Unterfranken. Aber das wissen Sie sicher schon. Wir fanden das toll. Wir engagierten uns sehr, Jugendliche und Kinder von der Straße wegzuholen. Also weg von Drogen und Kriminalität. Wir wollten ihnen eine Perspektive bieten, damit sie nicht auf die schiefe Bahn geraten. Da kann unsere Religion, der Islam, sehr hilfreich sein. Ich habe mich in letzter Zeit dort zurückgezogen. Ich möchte meiner Mutter ein guter Sohn sein und ein gutes Abi schreiben. Meine Mutter ist alleine. Unser Vater ist gestorben, als wir noch klein waren. Ich habe vor meiner Mutter großen Respekt. Deshalb kann ich meinen Bruder nicht verstehen. Ich weiß nicht, was in ihn gefahren ist.“

Roland spürte, dass sich der Junge schuldig fühlte am Verschwinden seines Bruders. Seine Augen weinten ohne Tränen.

Carsten schaltete sich ein. „Haben Sie mit Ihrem Bruder Kontakt aufgenommen, nachdem Sie wussten, dass er verschwunden ist?“

„Ich habe vor circa einer Stunde mit ihm telefoniert. Sein Handy ist noch aktiv. Er sagte: Macht euch keine Sorgen, ich weiß, was ich tue. Er ist angeblich schon in der Türkei und wartet auf einen Bus in Richtung Syrien. Hier, der Brief. Ich denke, Sie wollen ihn haben. Er hat auf Deutsch geschrieben.“

„Wir brauchen ein aktuelles Foto und seine Mobilnummer. Vielleicht haben wir Glück und bringen Ihnen Artur heil zurück. Wir bleiben in Kontakt. Und: beten Sie!“

Als sich die Beamten vor der Wohnung die Schuhe wieder anzogen, bedankte sich Abbas für diese Geste.

„Ich werde mein Leben nochmal gründlich überdenken. Das bin ich meiner Mutter schuldig. Wir sind doch gute Muslime.“

Im Aufzug grinste Roland. Carsten guckte ihn fragend an.

„Achte immer darauf, dass du in den Socken keine Löcher hast, wenn du zu Muslimen gehst. Hat, Gott sei Dank, in der ganzen Aufregung keiner bemerkt. Du fährst.“ Roland warf Carsten den Autoschlüssel zu. „Ich werde während der Fahrt schon einiges in die Wege leiten.“

Carsten fuhr weniger hektisch als Roland.

„Bohm. Oberlandesgericht Bamberg. Guten Tag.“

„Hallo Herr Bohm. Utz am Apparat. Wir kennen uns. Aus gemeinsamen Zeiten in Würzburg. Ich war involviert in die Sache mit Rebecca Rust und Wiegand, vor über 10 Jahren. Glückwunsch zur Versetzung nach Bamberg, Herr Bohm.“

„Mensch, Herr Utz. Ich erinnere mich. Lange her das Ganze. Wie geht es Frau Rust?“

„Kann ich nicht genau sagen, Herr Bohm. Wir haben uns getrennt. Hat nicht sollen sein. Herr Bohm, ich habe es eilig und muss ein bisschen aufs Tempo drücken. Jetzt, wo Sie für Staatsschutzsachen zuständig sind, brauche ich eine schnelle Entscheidung für das weitere Vorgehen. Ein junger Mann, 17 Jahre alt, bisher unbescholten, tschetschenischer Migrationshintergrund, hatte hier am Untermain Kontakte in die salafistische Szene. Wollte wohl seinem Bruder imponieren und buchte ein Ticket in die Türkei. Da ist er noch. Ist aber auf dem Weg nach Syrien, um dort humanitäre Hilfe zu leisten, wie er in einer Art Abschiedsbrief schrieb. Das übliche Blabla. Die notleidenden Schwestern und Brüder, denen man helfen muss, Sie wissen schon. Wir versuchen über unsere Kontakte zu BND und BKA die Handynummer zu orten. Wenn wir Glück haben und die Türken mitspielen, können wir den Jungen vielleicht noch festnageln. Sobald ich im Büro bin, faxe ich Ihnen die Erstmeldung zu.“

„Herr Utz, Sie wissen, dass ich ein Pragmatiker bin. Bevor mir der Generalbundesanwalt wieder etwas zurückverweist mit der Bitte, erstmal anständig zu ermitteln, bitte ich Sie innigst, mir so viele Informationen wie möglich zukommen zu lassen. Halten Sie mich über die Entwicklungen auf dem Laufenden. Sollte es so klappen, wie Sie es sich vorstellen, und der Junge wird nach Deutschland überstellt, vernehmen Sie ihn sorgfältig und schicken Sie mir alles umgehend zu. Dann sehen wir weiter. Wenn Sie Beschlüsse für Durchsuchungen und ähnliches benötigen, keine Scheu, ich sage meinem Geschäftszimmer Bescheid.“

Roland machte noch während des Telefonats ein Zeichen, am nächsten Rastplatz rauszufahren.

„Der Tee!“, flüsterte er und deutete auf seine Blase. Dabei rutschte er nervös auf dem Beifahrersitz hin und her. Parkplatz Fronberg-Süd. Carsten hatte beschleunigt, als er gesehen hatte, wie Roland sich verzweifelt mit der linken Hand in den Schritt gefasst hatte. Es pressierte. Kaum war der Dienstwagen in der Haltebucht, sprang Roland aus dem Fahrzeug. Er lief zum Pissoir und wunderte sich, dass es einige fertigbrachten, trotz Toilettenhaus ins Freie zu pinkeln. Er wich den Urinpfützen so gut es ging aus und erleichterte sich mit einem tiefen Seufzer. Wie immer gab es keine Seife. Das Wasser, das unsichtbar unter einer Aluminiumwand sprudelte, wischte er an seinen Hosenbeinen ab. Im Stahl blickte ihn eine gestresste Gestalt an. Haarsträhnen klebten verschwitzt an der Stirn. Draußen wartete Carsten geduldig im Auto. Ausländische LKW-Fahrer hockten gelangweilt auf Campingstühlen und rauchten. Ein Dicker kratzte sich genüsslich am Bauch, der von einem karierten Baumwollhemd umspannt war. Ein Porsche kam forsch angerauscht. Vom Beifahrersitz entschwand eine junge Frau, die vom Alter her nicht zum Fahrer passte in Richtung Toilette.

Roland stieg ein, spuckte sich vorher nochmal in die Hände und wischte sie an an seiner Jeans ab.

Dienststelle. Warten. 14.10 Uhr. Der Anruf.

Das Handy von Artur Muratov war tatsächlich geortet worden. Auf die Nachrichtendienste war manchmal doch Verlass. Der Junge war auf dem Weg nach Gaziantep, zur türkisch-syrischen Grenze. Die Kollegen in der Türkei signalisierten Bereitschaft, den Jungen festzunehmen. Hoffen und Bangen. Roland dachte an die Mutter. Er rief Abbas an. Nannte keine Details. Er solle seiner Mutter sagen, dass sie der Polizei vertrauen könne. Alles würde gut werden.

Kaffee trinken. Das Telefon anvisieren, als könnte man Einfluss auf Entwicklungen nehmen. Nervöses Zucken des rechten Beins. Anrufe von Vorgesetzten abwimmeln. Durch den Flur tigern. Pinkeln. Der Ruf von Carsten.

„Roland! Komm! Das BKA ist dran. Sie haben ihn!“

16.12 Uhr.

Die türkischen Sicherheitsbehörden hatten Artur Muratov tatsächlich identifizieren können. Sie holten ihn aus einem Bus, als dieser in Gaziantep am Bahnhof eingetroffen war.

Morgen gegen 12 Uhr würde eine Maschine der Lufthansa in Frankfurt am Main landen. An Bord Artur und zwei Beamte des türkischen Sicherheitsapparates. Roland und Carsten sollten den Jungen in Empfang nehmen.

Roland rief Abbas an. Er wollte ihn dabeihaben. Ohne die Mutter. Die Emotionen würden die Vernehmung unnötig stören. Die Mutter sollte ihren verlorenen Sohn in Ruhe mit ihrer Liebe überschütten können.

Die Bundespolizei brachte einen sichtlich verstörten jungen Mann in ein Zimmer ihres Dienstgebäudes am Frankfurter Flughafen.

Die türkischen Kollegen waren kurz angebunden. Übergaben sein Gepäck und die Papiere. Verabschiedeten sich wortlos.

„Kann man ja verstehen. Die haben jede Menge Ärger mit unseren Salafisten, die ihr Land als Transitstrecke zum Terror missbrauchen“, resümierte Carsten.

Arturs Haare standen wirr und struppig ab. Das Gesicht aschfahl. Der Bart ungepflegt. Sein Atem stank. Das rechte Auge war geschwollen. Die Haut lila verfärbt.

„Da waren die Türken wohl nicht zimperlich beim Hallo-Sagen, oder? Salam aleikum, Artur. Mein Name ist Utz. Und das ist Herr Beck. Wir sind dein Empfangskomitee der Polizei aus Würzburg. Staatsschutz.“

Artur blickte nur starr zu Boden. Er schien die Worte Rolands überhaupt nicht aufzunehmen.

„Es liegt jetzt an dir, wie du aus der Sache herauskommst. Du hast Mist gebaut. Aber wir strecken dir die Hand hin. Nimm sie und wir versprechen dir, dass deine Mutter nicht doch noch an einem gebrochenen Herzen stirbt. Du kannst jederzeit einen Anwalt anrufen.“

Der Angesprochene erwachte aus seiner Lethargie. Ein Ruck ging durch seinen Körper.

„Ist meine Mutter hier? Ich will meine Mutter sehen!“

Er begann zu schluchzen. Tränen und Rotz rannen in den verfilzten Bart. Carsten reichte ihm ein Papiertaschentuch. Auf dem Weg zum Auto trafen die beiden Brüder aufeinander. Sie fielen sich weinend in die Arme. Roland hörte heraus, obwohl sie tschetschenisch sprachen, dass Artur nach seiner Mutter fragte. Abbas fasste ihn fest an der Schulter. Rüttelte ihn. Zwang ihn, ihm in die Augen zu sehen, und sprach eindringlich auf ihn ein.

Artur blickte zu den beiden Polizisten.

„Lassen Sie uns fahren. Ich brauche keinen Anwalt. Ich erzähle Ihnen meine Geschichte. Ich habe eine große Dummheit gemacht.“

Sie hatten bei der Aschaffenburger Kriminalpolizei einen Verhörraum reservieren lassen. Nun saßen sie in einem kahlen Zimmer, das gespenstische Ruhe ausstrahlte. In Sichtweite thronte wuchtig das Aschaffenburger Schloss.

„Ich habe auf YouTube Filme gesehen. Ich war begeistert. Ich dachte echt, dass die Daula ein wirklicher Staat ist. Wie Deutschland. Halt nur mit islamischen Regeln. Scharia und so. Wenn du zu denen gehörst, bekommst du einen Bungalow mit Pool. Kannst viel Sport treiben. Und die Frauen sind sittsam, treu und religiös. Nicht so wie hier.“

Artur war sichtlich erleichtert, als er endlich an dem Glas Wasser nippte, das seit Anfang der Vernehmung unberührt dagestanden hatte. Roland und Carsten kamen zu dem Schluss, dass sie es mit einem ideologisch verblendeten, jungen Menschen zu tun hatten, der einem Irrglauben aufgesessen war. Artur war intelligent, aber auch von einer Naivität durchdrungen, die ihresgleichen suchte. Der Junge hatte früh den Vater verloren. Abbas war die männliche Autorität im Haus, dem er nacheiferte, den er übertrumpfen wollte. Als sich kein anderer aus dem Umfeld der MJU getraut hatte, den Weg nach Syrien zu gehen, sah er seine Chance gekommen, ein Held zu werden. Jetzt saß er vor den beiden Beamten, hatte Tränen in den Augen. Er fragte immer wieder nach der Mutter und beteuerte, dass er nichts Böses im Schilde führte.

Zu diesem Zeitpunkt war die Ausreise nach Syrien nicht unbedingt strafbewehrt. Roland wollte dem Jungen eine Chance geben. Er war überzeugt, dass Artur zurück in die Gesellschaft zu holen war. Roland versprach, mit dem Jugendamt zu reden. Die Familie wird ein wichtiger Baustein werden, um Artur wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Auch die Schule würde mitspielen müssen. Es würde sich schnell herumsprechen, dass Artur zum IS gehen wollte. Der Junge gab zu Protokoll, dass er Maschinenbau studieren und sich, wenn man ihm die Chance gäbe, nun voll auf sein Abitur konzentrieren wolle. Traurig blickte er den Schreibtisch vor sich an, als könnte ihm das Möbelstück sein Leben verzeihen. Nervös kratzte er sich die Finger. Dann blickte er entschlossen auf.

„Sie wissen gar nicht, wie schwer wir Migranten es haben, eine ordentliche Ausbildung zu machen und dann auch noch einen ordentlichen Job zu bekommen. Wir Ausländer sind irgendwie nichts wert. Das war auch ein Grund, hier wegzugehen“, flüsterte er.

Carsten warf seinen Kugelschreiber aufs Papier.

„Ich kann diesen Scheiß, die Migranten seien immer nur Opfer, nicht mehr hören. Ja, es ist wahrscheinlich nicht einfach, mit dunkler Haut und fremdklingendem Namen Erfolg zu haben. Aber solltest du dich nicht auf deine Stärken besinnen und deinen Hintern hochbekommen? Dann kannst du dieser Gesellschaft, die dich angeblich nicht mag, den Mittelfinger entgegenstrecken. Außerdem bist du kein Ausländer. Sondern Deutscher! Steh’ endlich dazu! Das kotzt mich echt an, diese Mitleidstour!“

Roland spürte, dass die Diskussion die Vernehmung in eine falsche Richtung lenken könnte.

„Schluss jetzt! Ihr habt beide recht. Aber das führt uns hier nicht weiter. Artur, wir versuchen, dir eine echte Chance zu geben. Um den Rest kümmert sich der Staatsanwalt.“

Er warf Carsten einen Blick zu, der unmissverständlich klar machte, dass er den Mund halten sollte.

Für einige Minuten herrschte Schweigen in dem kleinen Vernehmungszimmer.

„Bitte! Darf ich jetzt meine Mutter sehen?“

„Das entscheidet der Staatsanwalt. So lange bleibst du hier. Ich denke, in ein paar Stunden wissen wir mehr.“

Aufgrund Arturs ehrlicher Aussage und eines Telefonats zwischen Staatsanwalt Bohm und Roland, erwirkte der Jurist keinen Haftbefehl. Die Strafanzeige wurde vorgelegt. Eine Gefährderprognose, bei der die staatlichen Stellen eine Einschätzung über die Gefahren, die von den Probanden ausgehen könnten, erstellen, sollte die Polizei in Absprache mit dem Bayerischen Landeskriminalamt (BLKA) und dem Bayerischen Verfassungsschutz vornehmen.

Die Entwicklung Arturs verlief zufriedenstellend für alle, die sich für ihn eingesetzt hatten. Das Jugendamt hatte keinen Grund zu monieren. Sein Abitur schrieb er ein Jahr später mit 1,8. Staatsanwalt Bohm stellte das Verfahren ein. Arturs Ängste, als IS-Terrorist abgestempelt zu sein und von der Vergangenheit eingeholt zu werden, ließen ihn nach Dänemark ziehen. Er hatte dort über das Internet eine Muslima kennengelernt. Drei Jahre nachdem der Fall zu den Akten gelegt worden war, bekam Roland Utz einen Brief: Danke! Für alles!

Mehr nicht. Und ein Foto, das Artur, seine Frau und ein kleines Mädchen zeigte, die alle lachend in die Kamera sahen.

„Von dir kann man viel lernen. Respekt!“ Carsten klopfte Roland anerkennend auf die Schulter.

4

Roland war mit Herzblut Staatsschützer geworden. In Unterfranken herrschte relative Ruhe. Islamisten flüchteten nach Hessen, um dort ihren kruden Theorien zu folgen. Die Linken bauten am Mainufer in Heidingsfeld eine Wagenburg und pflegten ihr alternatives Leben. Die rechte Szene versteckte sich hinter Studentenverbindungen oder schrie ihre hässlichen Parolen nur besoffen in die Öffentlichkeit.

In Roland brodelte der Ehrgeiz, die Gesellschaft besser, gerechter zu machen. Es war ihm egal, wenn die anderen behaupteten, man könne nichts ändern. Er wollte allen zeigen, dass man Polizist und Mensch zugleich sein kann.

Rebecca tauchte seltener in Rolands Träumen auf. So konnte sein Gedächtnis Platz für Neues schaffen. Da sie sich nicht mehr bei ihm meldete, konnten die Wunden der Trennung besser heilen.

Mit seinem Kollegen Carsten, der sich intensiv fortbildete und der ihm als Partner sehr ans Herz gewachsen war, ging er unkonventionelle Wege der Extremismusbekämpfung. Die Kollegen in den anderen Regierungsbezirken belächelten die Arbeit der beiden Würzburger Polizisten. Sie hatten sich ein fast perfektes Netzwerk zu den unterfränkischen Moscheegemeinden aufgebaut.

„Wenn ihr euch mit denen so anfreundet, was macht ihr dann, wenn in einer Moschee Straftaten passieren?“, lautete eine der Fragen ihrer Kritiker.