Am Ende bleiben die Zedern - Pierre Jarawan - E-Book
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Am Ende bleiben die Zedern E-Book

Pierre Jarawan

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Beschreibung

Samir ist auf einer Reise, die Gegenwart und Vergangenheit verbinden soll: Er will endlich die Wahrheit über seinen Vater erfahren, der die Familie vor zwanzig Jahren ohne eine Nachricht verlassen hat. Mit einem rätselhaften Dia und den Erinnerungen an die Geschichten seines Vaters im Gepäck macht der junge Mann sich in den Libanon auf, das Geheimnis zu lüften. Seine Suche führt ihn durch ein noch immer gespaltenes Land, und schon bald scheint Samir nicht mehr nur den Spuren des Vaters zu folgen. Vielmehr ist es, als seien die Figuren aus dessen Geschichten real geworden. Sie bringen Samir einer Lösung näher, die seine kühnsten Vorstellungen übersteigt. Vor dem Hintergrund des dramatischen Schicksals des Nahen Ostens erzählt Pierre Jarawan eine phantasievolle, berührende und wendungsreiche Geschichte über die Suche nach den eigenen Wurzeln.

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www.berlinverlag.de

Die Entstehung dieses Werks wurde durch ein Stipendium der Landeshauptstadt München gefördert.

ISBN: 978-3-8270-7865-0

© Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, München / Berlin 2016

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Zero Werbeagentur, München

Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck

Für Kathleen

»Wer glaubt, er habe den Libanon verstanden,

dem hat man ihn nicht richtig erklärt.«

Libanesisches Sprichwort

I

»Wie hätte ich damals wissen sollen, dass dieses Bild mich für immer verfolgen würde?«

PROLOG

Alles pulsiert, alles leuchtet. Beirut bei Nacht, diese funkelnde Schönheit, ein Diadem aus flirrenden Lichtern, ein Band aus Atemlosigkeit. Schon als Kind liebte ich die Vorstellung, einmal hier zu sein. Doch jetzt steckt mir dieses Messer zwischen den Rippen, und der Schmerz schießt in meinen Brustkorb, dass ich nicht mal schreien kann. Wir sind doch Brüder, will ich rufen, während sie mir den Rucksack vom Rücken reißen und mich treten, bis ich auf die Knie sinke. Der Asphalt ist warm. Von der Corniche her weht der Wind, ich höre das Meer ans Ufer schlagen und die Musik aus den Restaurants an der Straße. Ich rieche das Salz in der Luft und den Staub und die Hitze. Ich schmecke Blut auf meiner Lippe, ein metallisches Rinnsal auf trockener Haut. Ich fühle Angst in mir aufsteigen. Und Wut. Ich bin nicht fremd hier, will ich ihnen hinterherschreien. Das Echo ihrer Schritte verhöhnt mich. Ich habe Wurzeln hier, will ich rufen, doch heraus kommt nur ein Gurgeln.

Ich sehe das Gesicht meines Vaters. Seine Silhouette im Türrahmen meines Kinderzimmers, bevor mir die Augen zufielen, der letzte gemeinsame Moment. Ich frage mich, ob Zeit und Bedauern an ihm genagt haben.

Ich denke an die Verse, die der Bärtige vorhin gemurmelt hat: Dann gibt es für sie keine Möglichkeit, um Hilfe zu rufen, und sie finden keine Rettung.

Der Rucksack, denke ich und meine damit nicht Geld und Pass, die jetzt fort sind. Ich meine das Bild in der vorderen, eingenähten Tasche. Und ich meine sein Tagebuch. Alles fort. Der Schmerz nimmt mir fast das Bewusstsein.

Ich bin für den Tod eines Mannes verantwortlich, denke ich.

Dann, während das Blut aus der Wunde sickert: Reiß dich zusammen, das muss etwas bedeuten. Ein Zeichen.

Die Schritte der Männer verhallen, ich bin allein, höre nur noch meinen Herzschlag.

Wenn du das hier überlebst, denke ich und verspüre auf einmal eine seltsame Ruhe, dann hat das einen Grund. Dann ist deine Reise noch nicht zu Ende. Dann unternimmst du einen letzten Versuch, ihn doch noch aufzuspüren.

1

1992.

Vater stand auf dem Dach. Oder besser: Er balancierte. Ich stand unten, beschirmte mein Gesicht mit der Hand und sah mit zusammengekniffenen Augen hinauf, wo er sich wie ein Seiltänzer dunkel vom Sommerhimmel abhob. Meine Schwester saß im Gras, wedelte mit einer Pusteblume und schaute zu, wie die kleinen Fallschirme Pirouetten schlugen. Die Beine hatte sie dabei so unnatürlich verrenkt, wie es nur Kleinkinder können.

»Nur noch ein bisschen«, rief unser Vater fröhlich herab und drehte an der Satellitenschüssel, während er breitbeinig das Gleichgewicht hielt. »Passt es jetzt?«

Im ersten Stock steckte Hakim den Kopf aus dem Fenster und rief: »Nein, jetzt sind Koreaner im Fernsehen.«

»Koreaner?«

»Ja, und Pingpong.«

»Pingpong. Und der Kommentar? Auch koreanisch?«

»Nein. Russisch. In deinem Fernseher spielen Koreaner Pingpong, und ein Russe kommentiert das.«

»Was sollen wir mit Pingpong?«, rief Vater.

»Ich glaube, du bist zu weit rechts.«

Mein Kopf war jetzt ebenfalls in einem Pingpongspiel gefangen. Ich verfolgte den Dialog der beiden und ließ meinen Blick immer wieder vom einen zum anderen schweifen. Vater zog einen Schraubenschlüssel aus der Hosentasche und lockerte die Befestigung. Dann holte er den Kompass hervor und drehte die Schüssel weiter nach links.

»Denk dran: 26,0°Ost«, rief Hakim, und sein grauer Kopf verschwand wieder im Wohnzimmer.

Bevor Vater aufs Dach gestiegen war, hatte er es mir genau erklärt. Wir standen auf dem schmalen Grasstreifen vor unserem Haus. Die Leiter lehnte bereits an der Wand. Sonnenstrahlen schimmerten durch die Kirschbaumkrone und erzeugten wundersame Schatten auf dem Asphalt.

»Im Weltraum kreisen Satelliten um die Erde«, sagte er, »mehr als zehntausend Satelliten. Sie zeigen uns, wie das Wetter wird, vermessen die Erde und andere Planeten und Sterne oder sorgen dafür, dass wir fernsehen können. Die meisten von ihnen bieten ziemlich schlechtes Fernsehen. Doch manche haben auch gutes im Angebot. Wir wollen den Satelliten mit dem besten Fernsehen, und der ist ungefähr dort.« Er sah auf den Kompass und drehte ihn so lange in der Hand, bis seine Nadel die 26°-Markierung auf der rechten Seite erreichte. Dann deutete er in den Himmel, und mein Blick folgte seinem Finger.

»Immer?«, wollte ich wissen.

»Immer«, sagte er, bückte sich, strich dabei meiner Schwester über den Kopf und hob zwei Kirschen auf, die im Gras lagen. Die eine aß er. Dann hielt er die andere vor unsere Gesichter und ließ den abgenagten Kern mit spitzen Fingern in einiger Entfernung darum kreisen. »Er dreht sich genauso schnell um die Erde, wie die Erde sich um sich selbst dreht.« Langsam zeichnete er mit dem Kern einen Halbkreis in den Himmel. »Dadurch ist er immer in der gleichen Position.«

Mir gefiel die Vorstellung von außerirdischem Fernsehen. Aber noch mehr gefiel mir die Idee, dass irgendwo dort oben ein Satellit seine Bahnen zog, immer an der gleichen Stelle, immer im gleichen Kreislauf, konstant und verlässlich. Vor allem jetzt, da auch wir unsere feste Position hier gefunden hatten.

»Passt es nun?«, rief Vater wieder vom Dach.

Mein Blick wanderte zum Wohnzimmerfenster, aus dem Hakim sogleich seinen Kopf schob.

»Nicht wirklich.«

»Pingpong?«

»Eishockey«, rief Hakim, »italienischer Kommentator. Ich glaube, du bist zu weit links.«

»Ich glaube, ich spinne«, antwortete Vater.

Inzwischen hatten sich mehrere Männer auf der Straße vor unserem Haus versammelt und reichten sich gegenseitig Pistazien. Auf den Balkonen gegenüber hatten die Frauen aufgehört, ihre Wäsche auf die Leinen zu hängen, und verfolgten das Schauspiel mit in die Hüften gestemmten Armen und amüsierten Mienen.

»Arabsat?«, fragte einer der Männer nach oben.

»Ja.«

»Sehr gutes Fernsehen«, rief ein anderer.

»Ich weiß«, kam es von Vater zurück, während er erneut die Schrauben löste und die Schüssel ein wenig nach rechts bewegte.

»26,0°Ost«, rief einer der Männer.

»Wenn Sie zu weit nach links drehen, kriegen Sie italienisches Fernsehen«, meinte ein anderer.

»Ja, und die Russen sind nicht weit rechts davon, da müssen Sie aufpassen.«

»Die ganze Welt macht Sport, ich sollte auch mehr Sport machen«, kam es von Hakim jetzt ein bisschen verzweifelt, dann verschwand sein Kopf wieder im Wohnzimmer.

»Mein Schwiegervater ist mal vom Dach gefallen, als er eine Katze retten wollte«, sagte ein Mann, der sich soeben zur Runde gesellt hatte. »Der Katze geht’s gut.«

»Soll ich hochkommen und den Kompass halten?«, fragte ein Jüngerer.

»Ja, hilf ihm, Khalil«, riet ihm ein Älterer, vermutlich sein Vater. »Russisches Fernsehen ist grauenhaft – haben Sie mal russische Nachrichten gesehen? Überall nur Jelzin und Panzer und ein Akzent wie ein Unfall!« Dann schob er sich noch eine Pistazie in den Mund und fragte in Richtung des Dachs: »Soll ich den Grill holen? Sieht aus, als bräuchten Sie noch eine Weile.« Es klang eher wie ein Scherz. Die Männer um mich herum lachten. Vater lachte nicht. Er dachte kurz nach und setzte das spitzbübische Lächeln auf, das immer dann seine Lippen umspielte, wenn er merkte, dass ein Plan aufging:

»Ja, mein Lieber, holen Sie den Grill. Wenn ich hier fertig bin, feiern wir ein Fest.« Und dann sah er zu mir herunter: »Samir, Habibi, geh und sag deiner Mutter, sie soll Salat machen. Die Nachbarn kommen zum Essen.«

Das war typisch für ihn. Ein impulsives Erkennen von Situationen, die es auszukosten galt. Wenn das Leben ihm die Möglichkeit bot, aus einem gewöhnlichen Augenblick einen besonderen zu machen, ließ er sich nie zweimal bitten. Meinen Vater umgab stets ein Mantel der Zuversicht. Er verströmte diese ansteckende Heiterkeit, die wie eine Parfumwolke von ihm ausging und jeden in seiner Nähe erfasste. In seinen Augen, die meist tiefbraun waren und manchmal ihre Farbe wechselten, wenn ein sonst kaum merklicher Grünton dazustieß, konnte man das Sichanbahnen seiner lausbübischen Gedanken erkennen, was ihn jedes Mal aussehen ließ, als sei er den Seiten eines Schelmenromans entstiegen. Seine Lippen umspielte stets ein lockeres Lächeln. Auch wenn die Naturgesetze ihm vorschrieben, dass plus und minus minus ergab: Er strich einfach das Negativzeichen, sodass nur ein Plus übrig blieb. Für ihn galten derlei Regeln nicht. Abgesehen von den letzten gemeinsamen Wochen habe ich ihn fast ausschließlich so erlebt: ein fröhlicher Geist, tänzelnd auf den guten Nachrichten des Lebens, während die schlechten nie den Weg in seine Gehörgänge fanden; als verhindere ein einzigartiger Glücksfilter ihr Eindringen in seine Gedanken.

Er hatte auch andere Seiten. Momente, in denen er eines verkörperte: in Stein gemeißelte Gefasstheit wie eine atmende Statue, unerschütterlich. Dann war er nachdenklich, sein Atem ging ruhig und sein Blick tiefer als tausend Wasser. Und er war liebevoll. Stets glitt seine warme Hand durch meine Haare oder über meine Wangen, und wenn er etwas erklärte, hatte seine Stimme den ermutigenden Tonfall unendlicher Geduld. Wie in dem Moment, als er mir auftrug, ins Haus zu gehen, weil er gerade den Entschluss gefasst hatte, ein Fest zu feiern mit Menschen, die er nicht kannte.

Also ging ich hinein und half Mutter beim Gemüseschneiden und Salatwaschen. Das Haus, in das wir gerade eingezogen waren, musste sehr alt sein. Die Treppen hatten faustgroße Dellen und knarrten bei jedem Schritt. Es roch nach nassem Holz und Moder. Im Treppenhaus wellte sich die Tapete. Dunkle wolkenförmige Flecken siedelten auf dem einstigen Weiß, in der Lampenfassung steckte nackt eine Glühbirne, die nicht funktionierte.

Für mich roch es neu. In den Ecken unserer Wohnung standen noch die Kartons vom Umzug, und der Duft frisch gestrichener Wände durchzog die Zimmer wie eine fröhliche Melodie. Alles war sauber. Ein Großteil der Schränke war bereits aufgebaut; vereinzelt lagen noch Schrauben und Werkzeuge herum: eine Bohrmaschine, ein Hammer, Schraubenzieher, Verlängerungskabel, Holzdübel wild durcheinander. In der Küche waren Töpfe, Pfannen und Besteck bereits verstaut. Wir hatten sie sogar poliert, bevor wir sie einräumten, und auch die Kochplatten glänzten. So ein großes, schönes Zuhause hatten wir nie gehabt. Es kam mir vor wie ein verzauberter Palast, etwas morsch von der Zeit, doch mit dem unbestreitbaren Glanz alter Tage versehen. Was noch fehlte waren helle Vorhänge, ein paar Pflanzen und Bilder an den Wänden, von meinen Eltern, meiner Schwester und mir, und ich stellte mir vor, wie sie bald schon dort hängen würden neben der Fernsehwand und ein vergrößertes neben der Wohnzimmertür, das man immer dann sah, wenn man in den Flur hinausging, wo ich jetzt stand.

Ich warf einen kurzen Blick ins Wohnzimmer. Dort saß Hakim vor dem Fernseher, der im Moment nichts anderes zeigte als weißes Rauschen. Er sah mich, lächelte mir zu und hob die Hand zum Gruß. Hakim war der beste Freund meines Vaters. Ich kannte ihn schon mein ganzes Leben und liebte seine Kauzigkeit. Seine Hemden waren stets verknittert, seine Haare standen wirr in alle Richtungen, was ihm das Aussehen eines verlotterten Genies verlieh, das man am liebsten kämmen wollte. Seine neugierigen Augen wanderten aufgeschreckt in ihren Höhlen; ein bisschen wirkte er wie ein Erdmännchen, nur dass er rundlicher daherkam. Hakim zählt zu den liebenswürdigsten Personen, die ich je getroffen habe, immer mit einem offenen Ohr und nie um einen gutgemeinten Rat oder einen Witz verlegen. All diese Facetten seiner Persönlichkeit dominieren meine Erinnerung, trotz der Dinge, die er mir jahrelang verschwieg. Schon in unserer alten Wohnung war er mit Yasmin, seiner Tochter, täglich ein- und ausgegangen. Und als wir hier in dieses Haus zogen, richteten sich Hakim und Yasmin die Wohnung unter unserer ein. Im Grunde gehörten beide zur Familie.

Als Mutter und ich wenig später mit Salat und Fladenbrot vor das Haus traten, hing der Geruch von grillendem Fleisch in der Luft. Einige schnauzbärtige Männer saßen im Kreis mit der Wasserpfeife auf dem kleinen Stück Rasen. Der Tabakduft – Apfel oder Feige, ich weiß es nicht mehr genau – war angenehm, ließ mich jedoch schwindeln. Zwei Männer spielten Dame. Irgendjemand hatte drei komplette Biertischgarnituren in unseren Hof gestellt, die von einigen Frauen mit Papptellern und Plastikbesteck gedeckt wurden. Kinder spielten vor unserem Schuppen und wurden immer wieder ermahnt, nicht auf die Straße zu laufen. Alles in allem tummelten sich wohl mehr als zwei Dutzend fremder, freundlicher Menschen vor unserem Haus. Und nach und nach kamen weitere Nachbarn aus unserer Straße hinzu. Einige Männer hielten Kinder auf den Armen, die Frauen trugen knöchellange Kleider und Essen in riesigen Töpfen.

Es gibt etwas, das man über meinen Vater wissen muss. Eine Regel, die ich all die Jahre immer wieder bestätigt sah: Niemand schlug jemals eine seiner Einladungen aus. Auch dann nicht, wenn die Eingeladenen ihn gar nicht kannten.

Es war ein warmer Sommernachmittag 1992, der Tag unseres Einzugs. Ich erinnere mich gut. Die winzige Sozialwohnung am Stadtrand, in der wir nie richtig zu Hause gewesen waren, hatten wir hinter uns gelassen. Wir waren endlich angekommen. Mitten in der Stadt. Jetzt hatten wir ein schönes, großes Heim, und Vater verschraubte eine Schüssel auf unserem Dach, die fortan auf einen in festen Bahnen mit uns kreisenden Satelliten ausgerichtet war. Alles war gut.

»Willst du denn gar nicht mehr runterkommen?«, rief Mutter ihm zu.

»Nicht, bevor es funktioniert«, kam es zurück, während Vater den Schraubenschlüssel aus Khalils Händen entgegennahm. Die Männer um mich herum nickten Mutter freundlich zu.

»Ahlan wa sahlan«, sagten sie. Herzlich willkommen.

Ein Mann tippte mir auf die Schulter.

»Wie heißt du, Junge?«

»Samir.«

»Gib mir das, Samir«, sagte er lächelnd und nahm mir die Salatschüssel aus der Hand.

Dann hörten wir plötzlich arabische Musik aus unserem Wohnzimmerfenster. Ein paar Sekunden später erschien Hakims hochroter Kopf.

»Es funktioniert!«

»Sicher, dass es kein Tennis ist?«, fragte Vater von oben.

»Musik!«, rief Hakim. »Rotana TV!«

»Musik!«, rief noch ein Mann und sprang auf. Und ehe ich mich versah, packte der Fremde mich an den Händen und tanzte mit mir im Kreis, indem er von einem aufs andere Bein sprang und lachte und sich drehte wie ein Jahrmarktkarussell.

»Lauter, Hakim!«, rief Vater vom Dach, und der Alte verschwand vom Fenster und ein paar Wimpernschläge später pulsierte arabische Musik aus unserem Wohnzimmer auf die Straße. Trommel, Tamburin, Zither, Geige, Fiedel und Flöte vermischten sich zu tausendundeinem Ton, gefolgt vom Gesang einer Frau. Die Menschen begannen zu tanzen und klatschten rhythmisch in die Hände, Kinder drehten sich unbeholfen, wurden von den Männern hochgehoben, herumgewirbelt, und die Frauen jubelten und machten schrille, trällernde Freudentöne. Dann formierten sich alle zu einer Reihe, fassten sich bei den Schultern und tanzten stampfend den Dabke. Es war verrückt. Es war traumhaft. In diesem Moment deutete nichts darauf hin, dass wir in Deutschland lebten. Das hier hätte die abseitige Straße eines Viertels in Zahlé sein können, Vaters Heimatstadt an den Ausläufern des Libanon-Gebirges. Zahlé, Stadt des Weins und der Poesie. Stadt der Schriftsteller und Dichter. Um uns herum nur Libanesen, die sprachen und aßen und feierten wie Libanesen.

Dann trat Vater aus dem Haus. Wie immer, wenn er sich körperlich angestrengt hatte, hinkte er ein wenig. Aber er lachte und tanzte mit kleinen schnellen Schritten und pfiff zur Musik, Hakim und den jungen Khalil im Schlepptau. Und die Tanzenden bildeten eine Gasse, klopften ihm auf die Schulter, herzten ihn und begrüßten auch ihn mit »Ahlan wa sahlan«.

Ich sah zu meiner Schwester, die sich verwundert ans Bein unserer Mutter klammerte und mit großen Augen diesen Menschen zusah, die uns wie alte Freunde empfingen, wie eine Familie, die hier schon lange wohnte und die sie sehr gut kannten.

Irgendwann lag ich in meinem Bett, satt und müde und erschöpft. Das Stimmengewirr und der Klang der Lieder summten mir in den Ohren nach. Wieder und wieder strichen die Bilder des Tages vor meinem inneren Auge vorbei. Die gefüllten Schalen mit Weinblättern, Oliven, Hummus, Fattoush, das gegrillte Fleisch, die Mandeln, Teigtaschen, das Fladenbrot. Sternanis, Sesam, Safran. Die Familien. Die Frauen, die den strampelnden Kindern auf ihren Schößen die Münder abwischten, die Männer, die sich, Wasserpfeife rauchend, mit den Fingern durch die Schnauzbärte fuhren und lachten und sprachen, als sei diese Straße eine eigene Welt, die ihnen alleine gehörte. Hakim, der den Männern seine Witze erzählte. Yasmin, zwei Jahre älter als ich, die mit Blatt und Stift etwas abseits saß und zeichnete, während ihr die langen schwarzen Locken immer wieder wild ins Gesicht fielen. Ab und zu strich sie sich in einer raschen Bewegung mit dem Handrücken über die Stirn oder pustete Strähnen zur Seite und winkte, wenn ich zu ihr rübersah. Oder Mutter mit ihrem in sich gekehrten Lächeln. Meine Freude, das Gefühl, angekommen zu sein. Hier war unser Platz, unser Zuhause. Hier half man einander. Hier war man auf einen Kompass nicht angewiesen. In unserer Straße zeigten alle Schüsseln 26,0° nach Osten.

Und mittendrin Vater, der Feste liebte und der hinkend um die neu gewonnenen Freunde kreiste wie ein Satellit.

2

Ein paar Tage später saßen wir beide am See und atmeten aus. Die Kette der Bergspitzen am anderen Ufer schrieb unruhige Herzströme in den Himmel mit Ausschlägen bis in die Wolken. Wir aber waren ruhig. Vater-Sohn-Zeit. Ein Tag für uns. Am Ufer die Tannen, die im dichten Nadelkleid dastanden und so tief verwurzelt wirkten, als könne nichts sie ins Schwanken bringen. Wir beide mit zwei Dutzend Walnüssen vor uns im Gras und einem spitzen Stein in der Hand.

»Gib acht, dass du die Schale nicht zu stark beschädigst«, hatte Vater gesagt. »Im Idealfall bleiben beide Hälften heil.«

Ich wusste nicht, was er vorhatte, aber es war mir auch nicht wichtig. Ich war nur froh, dass wir gemeinsam hier waren. Die Tage waren im Flug vergangen, inzwischen lagen die Umzugskartons gefaltet im Keller, unsere Schränke waren eingeräumt, der Duft der frischen Farbe hatte sich verflüchtigt. Stattdessen bestimmte gewaschene Wäsche den Geruch des Wohnzimmers. Und wenn keine Wäsche dahing, roch der Raum nach meinen Eltern, die hier viel Zeit verbrachten. Die Küche roch abwechselnd nach Abwasch, nach Gewürzen oder nach Mehl, das Mutter auf den ausgerollten Teig streute, wenn sie Fladenbrot backte. Das Badezimmer roch mal nach Seife, Citrusreiniger oder Shampoo, mal nach feuchten Handtüchern und oft nach beidem. Alles roch nach Zuhause. Und der Flur nach getragenen Schuhen. Aber das war egal, denn es zeigte, dass hier jemand wohnte, der immer wieder ausging und dann hierhin zurückkehrte, in sein Zuhause, wo er die Schuhe abstellte und durch die Wohnung lief, um die Gerüche einer Familie aufzunehmen. Um uns herum: andere Familien. Immer wenn ich auf die Straße trat, winkte oder nickte irgendjemand mir freundlich zu; da saßen Männer mit Schnauzbärten und Baskenmützen an Klapptischen am Straßenrand, spielten Dame oder Mühle, aßen Pistazien und bliesen den Shisharauch in Kringeln durch unser Viertel. Ich fühlte mich wohl.

Wir knackten die Walnüsse mit spitzen Steinen und versuchten, die Schalen nicht zu beschädigen. Es war ein warmer Spätsommernachmittag. Die wenigen Wolken zeichneten verspielte, groteske Formen in den Himmel, ein leiser Wind flüsterte Geheimnisse vom Wasser her. Über uns kreisten zwei Libellen. Vater bemerkte, dass ich immer wieder zu den Tannen am Ufer hinsah.

»Leider sind das keine Zedern.«

Zedern. Der Klang allein ließ mich träumen.

»Gefallen sie dir trotzdem?«

»Mhhm.«

»Dann würdest du Zedern lieben. Es gibt keine schöneren Bäume.«

»Ich weiß«, flüsterte ich. Allerdings hatte ich noch nie welche gesehen; ein Umstand, der mich beschäftigte. Ich wollte so gerne mitreden können, wenn die Männer beisammensaßen und in Erinnerungen schwelgten.

»Weißt du, warum die Zeder auf unserer Flagge ist?«

»Weil es keinen schöneren Baum gibt?«

Vater lachte.

»Weil es keinen stärkeren Baum gibt. Sie ist die Königin der Pflanzen.«

»Warum?«

»So haben die Phönizier sie genannt.« Wie immer, wenn er über den Libanon sprach, klang seine Stimme beschwert mit geheimen Sehnsüchten und von einem Unterton durchdrungen, als rede er von einer Geliebten, die er sehr vermisste. »Sie haben Schiffe aus ihr gebaut. Die Zeder hat sie zu mächtigen Handelsleuten gemacht. Die Ägypter verwendeten unsere Zedern, um die Toten mit Öl einzubalsamieren, und König Salomon hat damit in Jerusalem seinen Tempel gebaut. Stell dir vor: unsere Zedern auf dem Zion und im Tal der Könige bei den Pyramiden …«

Ich stellte mir alles vor, was Vater erzählte: bildhaft und in prächtigen Farben; so wie sich ein Siebenjähriger die Geschichten des Vaters vorstellt, wenn dieser mit Leidenschaft und Hingabe spricht.

Vater hat oft von den prächtigen Zedernhainen des Libanon gesprochen. In seiner Kindheit und als junger Mann muss er häufig im Chouf-Gebirge gewesen sein. Dort saß er im Schatten der jahrhundertealten Baumriesen und atmete den würzig-beruhigenden Duft einer sicheren Zukunft ein. Im Schutz der Koniferen saß er unter einem dichten Nadeldach an ihren Stamm gelehnt und sah über dünn besiedelte Hochtäler hinweg bis zur Küste und auf ein silbern glänzendes Mittelmeer, vor dem sich das schimmernde Beirut sanft in die Bucht schmiegte. Als ich älter wurde, stellte ich ihn mir oft so vor. Und immer wieder verwechselte ich dieses Bild von ihm mit der Vorstellung einer glücklichen Kindheit.

Vater zog einige Zahnstocher aus seiner Hemdtasche. Aus einem Stoffbeutel holte er rotes Krepppapier hervor. Er riss ein Stück davon ab und drückte es mir in die Hand.

»Wehende Fahnen«, sagte er und begann, das Papier in kleine, längliche Stücke zu reißen.

Wir klebten die Fetzen geduldig auf die Zahnstocher und befestigten diese in den heil gebliebenen Nussschalenhälften. Irgendwann blickten wir vor uns ins Gras, wo viele kleine Nussschalenschiffe zwischen unseren Füßen lagen. Eine ganze Flotte mit roten Fahnen, bereit, in See zu stechen.

»Komm.« Er stand auf, und wir traten ans Wasser, das sanft ans Ufer schwappte. Sonne und Bergkette spiegelten sich im malachitgrünen See. Eine Weile lang standen wir nur da, die Schiffchen in unseren Händen und atmeten gemeinsam. »Eine Zeder kann viele tausend Jahre alt werden«, sagte er. »Wenn eine Zeder sprechen könnte, würde sie uns Geschichten erzählen, die wir niemals vergessen.«

»Was für Geschichten?«

»Vermutlich viele lustige. Aber auch viele traurige. Geschichten aus ihrem Leben. Geschichten über die Leute, die an ihr vorbeigegangen sind oder sich in ihrem Schatten ausgeruht haben.«

»So wie du?«

»So wie ich. Versuch es mal. Stell es dir vor. Mit den Tannen.«

Wir standen am Ufer, und ich stellte mir vor, wie der Wind durch die Nadeln strich. Das Geräusch dabei war das Flüstern der Tannen, die sich aus ihrem Leben erzählten. Ich wünschte, sie würden sich irgendwann erinnern, wie wir hier am Ufer standen und uns vorstellten, was sie wohl über uns sagten.

Als Junge verspürte ich eine unstillbare Sehnsucht danach, den Libanon zu sehen. Es war die große Neugier nach einer unbekannten Schönheit, um die sich Legenden rankten. Die Art, in der Vater von seiner Heimat sprach, seine Leidenschaft und Begeisterung, griff wie ein Fieber auf mich über. Der Libanon, mit dem ich aufwuchs, war eine Idee. Die Idee vom schönsten Land der Welt, mit alten und geheimnisvollen Städten, die sich an der steinigen Küste entlangreihten, um sich mit ihren bunten Häfen zum Meer hin zu öffnen. Dahinter: zahlreiche sich windende Passstraßen, an deren Flanken sich Flusstäler ausbreiteten mit fruchtbaren Ufern und dem perfekten Boden für den weltberühmten Wein. Und dann: die dichten Zedernwälder in den höheren und kühleren Gefilden, umgeben vom Libanongebirge, dessen Spitzen auch im Sommer schneebedeckt waren, sichtbar selbst von einer Luftmatratze aus, ganz unten auf dem Meer.

Wir standen an diesem See, atmeten dieselbe Luft und teilten dieselbe Sehnsucht. Ich denke, neben der Liebe zueinander gibt es zwischen zwei Menschen kein stärkeres Band als eine geteilte Sehnsucht.

»Was würde die Zeder auf unserer Flagge sagen?«, wollte ich wissen.

Vater lächelte kurz. Ich spürte, wie sich Worte auf seine Zunge legten, wie er um eine Antwort rang. Doch dann presste er nur die Lippen zusammen.

Wir ließen die Schiffchen zu Wasser. Nur wenige verloren nach einigen Metern ihre Fahnen, die meisten aber reckten sie stolz in die Luft. So standen wir da. Vater hatte mir den Arm um die Schultern gelegt.

»Wie die Phönizier«, sagte er.

Das gefiel mir. Ich, Samir, phönizischer Nussschalenschiffskapitän.

»Auf dass sie tausend Jahre fahren!«

»Auf dass sie mit Heldengeschichten zurückkehren!«

Vater lachte.

Ich habe oft an diesen Tag zurückgedacht. Ich weiß, damals im Spätsommer 1992 wollte er mir eine Freude machen, und ich habe mich wirklich sehr gefreut. Kaum ein Schiff sank. Einige wankten bedrohlich, doch keins kippte um. Wir standen so lange dort, bis wir auch die letzte Nussschale nur noch als winzigen Punkt erkannten, und ich erinnere mich, wie stolz ich war.

Aber ich erinnere mich auch, dass sein Arm auf meiner Schulter immer schwerer wurde. Sein Atem immer tiefer und sein Blick immer gebannter, als schaue er nicht mehr auf die Schiffe, sondern auf irgendeinen Punkt in weiter Ferne. Ich erinnere mich deswegen so genau, weil es einer der letzten Tage war, die wir miteinander verbrachten.

3

Zur gleichen Zeit wurde im Libanon Geschichte geschrieben. Beirut, die einstmals funkelnde Schöne, strich sich über das zerstörte Antlitz und wankte aus den Ruinen. Eine Stadt befühlte ihren Puls. In den Vierteln klopften sich Menschen den Staub aus den Kleidern und hoben müde die Köpfe. Der Krieg war vorbei. Milizionäre wurden wieder zu Bürgern, stellten die Waffen beiseite und nahmen stattdessen Schaufeln in die Hand. Einschusslöcher wurden verspachtelt, Häuserfassaden getüncht, ausgebrannte Autowracks von den Gehwegen entfernt. Trümmer wurden beiseitegeräumt, der Rauch verzog sich. Die breiten Laken in den Straßen wurden abgehängt, denn es gab keine Heckenschützen mehr, denen man die Sicht verwehren musste. Frauen und Kinder kehrten Schutt von den Balkonen, entfernten die Bretter von den Fenstern, Väter trugen Matratzen aus schützenden Kellern zurück in die Wohnungen, kurz: Die Libanesen taten, was sie immer getan hatten. Sie machten weiter.

Doch nachts, wenn das Mondlicht die frisch geschminkten Fassaden in Szene setzte und das Meer die Lichter der Stadt zurückwarf, war in den Straßen und Gassen das Klacken von Stiefeln zu hören. Und nicht nur dort. Auch in den Slums am Stadtrand, den Dörfern der Umgebung und den anderen Städten an der Küste oder im Gebirge – vom nördlichen Tripoli bis zum südlichen Tyros –, überall im Land war dieses Klacken zu hören. Der Libanon hatte zum Ball geladen, und Beirut wollte die Schönste sein. Doch ihre Maskenbildner waren syrische Soldaten. Und wenn dann das Licht wiederkam und offenbarte, wie Schminke und Nacht die Wunden nur notdürftig bedeckten, war überall an den Häuserwänden zu sehen, welche Arbeit die Männer in den klackenden Stiefeln getan hatten. In den frühen Morgenstunden sah man die Menschen in den Straßen stehen und Wände hinaufblicken, wo auf Plakaten das Gesicht des syrischen Präsidenten hing, Hafiz El-Assad, der akkurat gescheitelt hinabsah. Und so bestand kein Zweifel mehr, es war unmissverständlich und für alle ersichtlich: Im Libanon hatten die Syrer das Sagen. Und sie würden dafür sorgen, dass man zu der Musik tanzte, die sie ausgewählt hatten. Parlamentswahlen standen an. Die ersten seit Kriegsende. Die ersten seit zwanzig Jahren.

Im Libanon sieht das Prinzip der konfessionellen Parität vor, dass jede religiöse Gemeinschaft mit einer bestimmten Anzahl an Abgeordneten im Parlament vertreten ist. Eine Einzigartigkeit. In einem Land, in dem alle religiösen Gruppen einander fünfzehn Jahre lang gegenseitig niedergemetzelt hatten, sollte fortan also nicht mehr mit Waffen, sondern mit Worten gekämpft werden. Und dieselben religiösen Gruppen, die sich in den Stadtschluchten Gefechte geliefert hatten, sollten einander nun im Parlament gegenübersitzen, als sei nichts gewesen. Generalamnestie. Das Geschichtsbuch schließen und nach vorne schauen. Und wer in den wuseligen Wochen davor die Straßen Beiruts durchquerte, bekam einen Eindruck von noch immer währendem Chaos, das jetzt nur nicht mehr nach Schüssen und Explosionen klang, sondern nach dem wilden Durcheinanderrufen der Wahlhelfer, die Flugblätter verteilten. Diese Einsatzkommandos waren mit Pinseln und Leim bewaffnet und beklebten die Wände der Viertel mit ihren Plakaten. Autofahrer wurden im dichten Stadtverkehr aufgehalten, man drängte ihnen Flugblätter auf. Von: Ich bin euer Mann – in guten wie in schlechten Zeiten, bis zu: Dies ist mein Sohn, wählt ihn, war auf diesen Blättern alles zu lesen, nur kein konkretes Versprechen. Die Menschen nahmen diese Flugblätter mit in ihre Häuser. Viele warfen sie dort in den Müll, verbittert über das absurde Theater. Andere zogen ihre feinsten Kleider an und traten feierlich vor die Urnen, um einen Schritt Richtung Zukunft zu gehen. Einen Wahlkampf, dem man sich mit stichhaltigen Argumenten oder Plänen zum Wiederaufbau stellte, hatte es nicht gegeben. Wozu auch? Für die meisten Kandidaten waren die Wahlkreise von Damaskus aus maßgeschneidert worden. In einem Land, in dem über die Hälfte der Menschen zeitlebens nur das Krachen von Bomben und das Hallen der Schüsse kennengelernt hatte, setzten die Syrer, die 1976 als Schutzmacht gekommen – und dann geblieben – waren, eine Wahl durch, während sie vierzigtausend Soldaten im Land hatten. Daran, dass sie den Libanon wie vorgesehen zum Jahresende verlassen würden, glaubte in diesen Tagen kaum einer. Dafür war ihnen das Abgeordnetenhaus, das aus dieser Wahl hervorging, zu wohlgesinnt.

Beirut trug ihr schönstes Kleid und tanzte. In den Hotels an der Corniche fanden wieder rauschende Hochzeiten statt. Das Make-up saß. Neuer Beton hielt die maroden Häuserfassaden zusammen, ließ sie stabil erscheinen. Die Kameras arabischer und westlicher Medien öffneten ihre Blenden und setzten das Treiben in Szene. Und auf den Bildschirmen der Fernsehgeräte in Deutschland war ein Land zu sehen, das zwar noch leicht hinkte, aber bereits ohne Krückstock ging. Und das vielleicht sogar auf dem Weg war, in alter Schönheit zu erblühen. Und nach den Wahlen: viel Händeschütteln und strahlende Sieger.

Doch niemand nahm die Plakate von den Wänden. Hafiz El-Assad lächelte weiter auf Beirut herab.

»Die sind sogar zu blöd, wenigstens elegant zu bescheißen«, ächzte Hakim und warf eine Erdnuss gegen unseren Fernseher, in dem wechselnde Nachrichtensprecher seit Tagen dieselben Bilder aus Beirut präsentierten. Dann bemerkte er den strafenden Blick, mit dem Mutter ihn bedachte, während sie zu mir hinübernickte. Hakim murmelte eine Entschuldigung, beugte sich vor, hob die Erdnuss auf und steckte sie sich missmutig in den Mund. Auch heute standen ihm die Haare wirr vom Kopf, und das Erdmännchenhafte verließ ihn selbst jetzt nicht, wo er sich über Politik echauffierte.

»Manche Wahlurnen brauchen neun Stunden für eine Zehnminutenstrecke und niemand wundert sich? Und die Leute, die gar nicht erst gewählt haben, präsentieren den Syrern das Land auf dem Silbertablett. Man hätte allen Libanesen, die das Land verlassen haben und geflohen sind, das Wählen erlauben sollen. Wir hätten diese Esel zum Teufel gejagt!«

»Hakim«, mahnte Mutter.

»Entschuldigt.«

»Es wird funktionieren«, murmelte Vater. Er saß auf der Couch rechts, an der Stelle, an der er immer saß. Meine Schwester war auf seinem Schoß eingeschlafen.

»Was der Libanon braucht, ist eine Aufgabe«, sagte Hakim. »Wenn diese Leute nichts zu tun bekommen, werden sie anfangen, ihre Gewehre zu vermissen. Wir müssen wieder das Finanzzentrum werden, das wir waren, damit die Scheichs ihr Geld nicht mehr in den Golfstaaten lassen, sondern bei uns investieren, in Firmen, internationale Schulen, Universitäten, Infrastruktur und Hotels. Dann werden wir wieder ein Land sein, das die Welt gern besucht, ein Land der Begegnung, Konferenzen, Messen …«

»Es wird funktionieren«, wiederholte Vater. »Es ist gut, dass Hariri gewonnen hat.«

»Er hat Geld, seine Firmen werden das Land wieder aufbauen, und alles – Straßen, Häuserwände, Plätze – wird glänzen. Aber dann werden die Idioten kommen, die ebenfalls im Parlament gelandet sind, und an die schönen Hauswände pissen …«

»Hakim«, fuhr Mutter ihn an.

»Entschuldigt«, sagte er abermals, dann wandte er sich mir zu: »Samir, möchtest du einen Witz hören?«

Ich wollte.

»Ein Syrer kommt in ein Elektrogeschäft und fragt den Verkäufer: ›Entschuldigen Sie, haben Sie auch Farbfernseher?‹ Und der Verkäufer antwortet: ›Ja, wir haben eine große Auswahl an Farbfernsehern‹, woraufhin der Syrer sagt: ›Wie schön! Dann hätte ich gerne einen grünen.‹«

Ich lachte. Hakim kannte eine Menge Syrer-Witze und erzählte sie auch gerne mehrfach. Oft war er selbst derjenige, der sich am lautesten über sie amüsierte. Auch diesen hatte ich mindestens schon dreimal gehört, allerdings variierte Hakim immer wieder die Farbe am Schluss. Warum hier ausgerechnet Syrer die Trottel waren, darüber hatte ich mir nie Gedanken gemacht. Die Deutschen erzählten sich Ostfriesenwitze, die Libanesen erzählten Witze über Syrer. Ich fand das logisch.

Vater hatte nicht mitgelacht. Vielleicht hatte er den Witz nicht mal gehört. Mit hochgezogenen Brauen starrte er weiter auf die Fernsehbilder wie auf einen aufziehenden Sturm. Schon in den vergangenen Tagen hatte er sich seltsam verhalten. Ich wusste nicht warum und fragte mich manchmal, ob ich etwas falsch gemacht hatte. Seine Stimmungswechsel waren extrem, vergleichbar mit einem Apriltag, der beim ersten Blick aus dem Fenster noch die Sonne scheinen lässt, nur um kurz darauf Regenschauer und Blitze vom Himmel zu jagen. Auch wirkte er oft völlig abwesend, reagierte gar nicht, wenn ich ihn ansprach. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Sein Verhalten verunsicherte mich, weil ich ihn so nicht kannte. Klar war er mal mürrisch gewesen, mahnend vielleicht, wenn ich etwas angestellt hatte, aber im Vergleich zu seiner aktuellen Stimmung kamen mir jene Launen wie flüchtige Schatten vor. Weder zu dem Lausbuben, der sich ständig neue Wege ausdachte, das Leben zu genießen, noch zum besonnen in sich ruhenden Vater passte dieser Verhaltenstyp. Auch Mutter war ratlos, was mich zusätzlich irritierte, denn sie kannte ihn ja sehr viel länger als ich, doch auch ihr schien diese Seite an ihm neu zu sein. Er ignorierte sie, ging kaum auf Fragen ein, zog sich zurück. Es war, als sei der nachdenkliche, ruhige Teil von ihm zu etwas Düsterem mutiert. Das, was sich im Libanon zu jener Zeit abspielte und seinen Weg bis in unseren Fernseher fand, zog ihn in den Bann wie ein dunkler Zauber. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich damit zu beruhigen, dass es eine Phase war, nach all der Hektik, die uns vor und nach dem Umzug begleitet hatte, und so schlich ich manchmal wie ein Hund, der nicht weiß, ob er etwas angestellt hat, um seine Beine oder beobachtete ihn still von einer Ecke aus. Ich hoffte jedenfalls, dass es nichts mit unserem Ortswechsel zu tun hatte, ich hatte Angst, dass wir die neue Wohnung wieder verlassen mussten, wenn sie ihm nicht gefiel. Angst in Bezug auf meinen Vater war etwas vollkommen Neues für mich. Jetzt, wo meine Schwester da war, waren wir eine große Familie in einer großen Wohnung. Aber Vater wirkte traurig.

Ich hatte ihn nie wirklich traurig erlebt. Sonst war er wie ein Kapitän, in dessen Kielwasser jeder gern mitfuhr und dem es nie schwerfiel, mit Fremden ins Gespräch zu kommen. Für ihn war es leicht, andere für sich zu gewinnen. Die Tatsache, dass er niemals einen Namen vergaß, half ihm dabei. Wenn wir durch die Stadt gingen und er auf der anderen Straßenseite jemanden erblickte, den er viele Wochen zuvor nur einmal kurz gesehen und kennengelernt hatte, dann hob er lachend die Hand zum Gruß und rief ihn bei seinem Namen. Wie oft sind wir neben einem Herrn Al-Qasimi, einer Frau Fjodorow, der Familie El-Tayeb oder Schmid, einem Bilaal, einer Ivana oder Inge stehen geblieben. Nicht ein einziges Mal überkam mich das Gefühl, dass diese Personen nicht auch gerne bei uns Halt machten. Smalltalk war sein Trumpf, denn Vater erinnerte sich nicht nur an ihre Namen, sondern auch sonst an jede Einzelheit. Also fragte er beiläufig: »Wie geht es den Kindern?«, oder: »Wie war es in der Kur? Geht es dem Rücken besser?«, oder: »Hat sich die Sache mit den quietschenden Bremsen erledigt?« Oft bot er seine Hilfe an: »Wenn Sie noch immer Probleme mit der Schulter haben – wir gehen jeden Tag einkaufen. Geben Sie uns einfach eine Liste mit, Samir bringt Ihnen dann nach Hause, was Sie benötigen.« Oder: »Was macht das Haus? Ist Ihr Dachboden inzwischen fertig? Falls Sie jemanden brauchen, der Ihnen beim Abdichten hilft, rufen Sie an.« Wer mit Vater sprach, hatte nach kurzer Zeit das Gefühl, er kenne ihn schon lange und sei vielleicht sogar sein Freund. Ich habe oft beobachtet, wie er andere Menschen begrüßte, mit dieser Herzlichkeit. Er schüttelte Fremden nie bloß die Hand, gleichzeitig legte er noch kurz seine Linke auf ihre Schulter. Oder er schüttelte die Hand des anderen mit beiden Händen gleichzeitig. Eine warme Geste, als würden zwei Personen einen Vertrag schließen und, ja, ich hatte oft das Gefühl, dass er das so sah: Herzlich willkommen! Du bist jetzt Teil meiner Welt.

Obwohl er nicht sonderlich groß war, wirkte er auf mich wie ein Leuchtturm; jemand, an dem man sich ausrichtete und den man von weitem erkannte. Ich bin sicher, dass viele ihn so sahen. Auf dem Markt begrüßte er die Händler, erkundigte sich geschickt nach ihrem Befinden und verwickelte sie so ungezwungen in ein Gespräch, dass sie kaum bemerkten, wenn er mit ihnen ins Geschäft kam. Er liebte es zu handeln. Hier war er Araber durch und durch. Nicht nur, wenn er mich auf den Markt mitnahm, versuchte er sein Glück. Sogar im Supermarkt nahm er manchmal mit verschwörerischer Miene eine verdutzte Angestellte vor dem Regal mit Haferflocken und Fertiggerichten zur Seite und raunte: »Der Käse … kann man da noch was machen?«

Und er sang. Auch hier war er ein typischer Araber. Er sang auf der Straße und scherte sich nicht um die Blicke. »Die Deutschen singen nicht laut auf der Straße«, sagte er einmal zu mir, als wir Hand in Hand vom Markt nach Hause spazierten, bepackt mit Tüten voll frischem Obst und Gemüse. Es war ein Tag, der zum Singen gemacht war, ein Tag wie ein Sommerlied: Sonnenschein, schattenspendende Markisen, Kinder mit vom Schokoeis verschmierten Mündern, händchenhaltende Paare, ein Junge in abgeschnittenen Jeans und mit Dreadlocks, der sein Skatebord ratternd über den Bordstein trieb.

»Warum nicht?«, fragte ich.

»Weil es ihnen zu wichtig ist, was andere von ihnen denken. Sie glauben, man hält sie für verrückt, wenn sie auf der Straße singen.«

»Vielleicht bist du ja verrückt?«

»Möglicherweise«, er zwinkerte mir zu, nahm einen Apfel aus seiner Tüte, biss hinein und hielt ihn mir hin. »Aber vielleicht würden sie auch lieber auf der Straße singen und trauen sich nur nicht, weil sie glauben, dass man eine Genehmigung dafür braucht.«

Er machte sich gerne lustig darüber, dass man in Deutschland Genehmigungen für alles brauchte. Meistens Mutter gegenüber, das hatte ich einige Male mitbekommen und wusste daher, dass es scherzhaft gemeint war.

Und dann sang er: »Bḥebak ya lubnān, yā waṭanī bḥebak, bišmālak biğnūbak bisahlak bḥebak …«

Ich liebe dich, Libanon, mein Land, ich liebe dich. Deinen Norden, deinen Süden, deine Felder, ich liebe dich.

Ich drückte seine Hand fester. Ich kannte das Lied. Ich kannte die Sängerin. Ich hatte ihre Stimme schon oft gehört; eine Stimme durchdrungen von sehnsuchtsvoller Traurigkeit und Poesie, die sich in fast allen Liedern sanft an der Melodie vorbei in den Vordergrund schob. Fairuz. Das war ihr Name. Ich hatte sie einmal im Fernsehen gesehen, wo sie wie eine Sphinx vor den Tempelruinen von Baalbek gestanden und dieses Lied gesungen hatte. Vor Tausenden jubelnden Menschen. Eine schöne Frau mit markanten, strengen Gesichtszügen, unnahbar, das Haar rot wie Herbstlaub und die Schultern bedeckt von einem goldenen Kleid. Sie wirkte im Scheinwerferlicht ein wenig surreal, eher wie das lebendig gewordene Gemälde einer Adelsfrau, wenn sie erhaben über die Bühne zum Mikrofon schritt. Auch Mutter liebte ihre Lieder. Fairuz liebten alle. Sie war die Harfe des Orients, die Nachtigall des Nahen Ostens, die auf Bühnen von der Liebe zur Heimat sang. Irgendjemand, ich glaube, es war Hakim, bezeichnete sie einmal als die Mutter aller Libanesen.

So gingen wir nach Hause und Vater sang. Ich stimmte irgendwann mit ein. Die Leute, die uns seltsam ansahen, waren uns egal. Tatsächlich sangen wir umso lauter, je mehr Menschen unseren Weg kreuzten, und es kümmerte uns nicht, dass wir kaum einen Ton trafen. Unsere Hände waren ineinander verschränkt, die Einkaufstüten raschelten im Wind, und wir sangen auf Arabisch, weil wir auf Deutsch nicht hätten ausdrücken können, was wir gerade fühlten.

4

Vater hatte schnell erkannt, wie wichtig es war, dass er Deutsch lernte. Nachdem meine Eltern im Frühjahr 1983 aus dem brennenden Beirut bis nach Deutschland geflohen waren, war der erste Ort, an dem sie unterkamen, die Turnhalle der Mittelschule unserer Stadt. Die Schule war schon während der Sommerferien des Vorjahres geschlossen worden, als man bei routinemäßigen Luftuntersuchungen einen erhöhten Asbestwert festgestellt hatte. Aus Mangel an Alternativen wurde die Turnhalle jedoch als Auffanglager für Flüchtlinge genutzt. Bereits hier besorgte Vater sich Bücher, um sich die fremde Sprache anzueignen. Nachts, während um ihn herum die Menschen in Decken gehüllt auf dem Boden schliefen, knipste er eine Taschenlampe an und lernte Deutsch. Auch tagsüber sah man ihn manchmal in einer Ecke stehen und mit geschlossenen Augen Vokabeln wiederholen. Er lernte schnell. Schon bald war er derjenige, den die Flüchtlingshelfer baten zu dolmetschen. Dann stand er umringt von anderen in einem Kreis und erklärte den Helfern in gebrochenem Deutsch, welche Medikamente benötigt wurden und was in den Urkunden und Dokumenten stand, die man ihnen entgegenstreckte. Mein Vater war kein Intellektueller. Er hatte nie studiert. Ich weiß nicht einmal, ob er überdurchschnittlich intelligent war. Aber er war ein Lebenskünstler und wusste, dass es ihm helfen würde, sich unverzichtbar zu machen.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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