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In diesem Roman geht es um das Heranwachsen eines jungen Mädchens zu einer jungen Frau. Von einer Pflegemutter aufgezogen, sehnt sich das Mädchen nach seiner leiblichen Mutter, die für kurze Zeit immer wieder in ihrem Leben auftaucht. Auf dieser Suche, die gleichzeitig auch zu ihrem Prozess der Selbstfindung wird, wird sie von verschiedenen Familienmitgliedern und ihrer ersten großen Liebe begleitet. -
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Seitenzahl: 375
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Ingeborg Arvola
Saga egmont
Am Ende der Sehnsucht
Aus dem Norwegischem von Sigrid Engeler nach
Korellhuset
Copyright © 2002, 2017 Ingeborg Arvola og Lindhardt og Ringhof Forlag A/S
All rights reserved
ISBN: 9788711449912
1. Ebook-Auflage, 2017
Format: EPUB 3.0
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Absprache mit Lindhardt og Ringhof gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com
Für meine Mutter
Wenn ich um die Bäume herumgehe, sehe ich die Hütte. Beim Wiedererkennen sträuben sich mir die Haare, und bestimmt glänzen meine Augen ein bißchen, ich hatte nicht geglaubt, daß die Erinnerung so genau sein würde. Am äußersten Ende der Wiese liegt sie, klein und rotgestrichen. Einmal, vor langer Zeit, saß ich vor dem Haus auf der Treppe und glaubte, das Holz aus dem Pasvikelv würde mir Geheimnisse zuflüstern, wollte mir etwas erzählen, das ich nicht verstand.
Der Fluß Neiden redet immer noch, erzählt über all die Jahre hin mit gleichmäßiger Stimme, und ich sehe das kleine Mädchen, in Kleidern, die ihm nicht paßten. Es sitzt da, den Rücken ein bißchen gekrümmt, und lauscht. Eine schmutzige Wange. Ein Stück vom Schal im Mund.
Ich bin zurückgekommen. Bin in zufälligen Kleidern aus der Zeit gesprungen und ließ übereilt einen Zettel zurück mit einigen Flüchtigkeitsfehlern. Immer noch außer Atem, steige ich bei Bordevarra aus dem Bus. Bin überhaupt nicht sicher, ob das richtig war. Unsicherer Blick den Straßenrand entlang. Bin ich hier früher schon gewesen? Mit Herzklopfen bis zum Hals über den Weg. Heide, Heideduft. Atme tief ein. Gehe schnell von den Bäumen weg, ganz erwachsen, auf dem Weg über die Wiese. Öffne das Gesicht zur Hütte in Uopaja. Ich bin es, die hier ist. Ich bin früher schon hier gewesen. Mit meinem Vater. Mit meinem Vater, wiederhole ich. Das ist, als öffnete man während eines Unwetters alle Fenster. Erinnerungsbilder rasen durch den Kopf.
Als ich meinem Vater zum ersten Mal begegnete, kam er von Uopaja. Er und ein paar Nachbarn hatten die Hütte zurückgetragen. Das Hochwasser hatte sie mit sich über Edas Land geschleppt, und sie stand gleich neben dem alten Heuschuppen. Noch nicht einmal Hütten bleiben dort, wo sie abgestellt worden sind, dachte ich vielleicht damals. Und mein Vater war derjenige, der sich um die Hütten kümmerte. Er lief mit Lasso und Gummistiefeln hinter ihnen her und vielleicht mit einer Spielzeugpistole. Und dem dunklen Hut, grau, mit Flecken von der Erde und einem gelb-schwarzen Angelhaken. Ich hatte den Hut ganz vergessen. Er bat sie, mit zurückzubleiben, er fand sie, wenn sie sich verirrt hatten. Wenn sie verstört im Schatten des Heuschuppens saßen, grauverwittert, schief, mehrere hundert Meter von ihren eigenen Grundstücken entfernt, und waren sie verschreckt, tröstete er sie mit kraftvoller Hand.
Er kam mir in schmutzigen Kleidern auf der Straße entgegen, roch nach Fisch und Wacholder, jemand, den ich nicht kannte. Und ich unterdrückte einen Schluchzer, um ihn näher in Augenschein zu nehmen, den Mann, der mein Vater war, ohne daß es einer von uns wußte. Der Mann, der Hütten nach Hause trägt, dachte ich, ehe ich an seiner Seite einschlief, zum ersten Mal in der Finnmark.
Die Hütte liegt so scheu und alltäglich da, daß es mich schaudert. Es ist noch nicht lange her, seit hier jemand Heu geerntet hat, ein Teil der Erde liegt nach dem Schnitt noch bloß. Meine Mutter ist nie hier gewesen, denke ich. An diesemOrt hat mein Vater auf seine eigene Weise geherrscht. Gejagt von Dämonen, beschützt von Engeln. Hier hat er mir den Geschmack des Grases geschenkt und Fischblut in meine Adern gepumpt. Jetzt, wo ich wieder hier bin, recke ich den Hals, sehe Blaues glitzern. Glaube, ich kann die Toten flüchtig sehen, die sich am Rand der Wiese um ihn gesammelt haben. Für ihn wurde meine Mutter nicht einmal zu einem Trugbild, einer Illusion. Sie hat mit diesem Ort nichts zu tun. Gerade als ich mich von den Unsichtbaren abwenden will, kommt es mir vor, als sähe ich ein Lächeln aufglitzern, viele Lächeln, ganz kurz, wie das Wasser des Flusses zwischen den Birkenstämmen. Ist das mein Vater, der zufrieden in die Luft lächelt, weil ich zurückgekommen bin? Komisch. Heißt er mich willkommen? Ich blicke auf die Treppenstufen hinunter, überwältigt von der eigenen Verwunderung. In all diesen Jahren hatte ich geglaubt, ich würde Furcht mit diesem Ort verbinden.
Ämmi
Es war einmal eine Mutter. Sie war meine Mutter, die Frau, die alle Korell nannten, und ich weiß noch immer nicht, warum. Immer ist es ihr Name, um den meine Gedanken kreisen. Korell, die am Küchenschrank steht, während ihre Finger routiniert Saft mischen, Wasser, Zucker und Zitrone. Sie braucht bei der Arbeit gar nicht anwesend zu sein, ihr Blick ist ganz woanders. Meine Mutter hat große Augen, wunderbar klar brennen sie in dem Gesicht. Wir sind in der Küche, und ich trinke genüßlich Saft. Niemand außer Korell würde mir Saft geben, das Glas halbvoll Zucker. Schon gar nicht bei diesem schweren Regenwetter, einem Wetter voller Vorwarnungen, Kummer und Abschieden. Davon läßt sich meine Mutter, die mich liebevoll anschaut, den Abstand der ganzen Welt im Blick, nicht stören, und ich trinke in winzigen Schlucken, trinke für den Rest meines Lebens; und während sich der Name Korell in den süßen Geschmack mischt, bleiben die Tropfen der Zitrone verzerrt und zerlaufen auf dem Küchenschrank. Korell ist so, Gestalten können verzerrt sein vor Einsamkeit, in der sie andere zurücklassen, in der sie selbst gefangen sind. Korell ist diejenige, die weiterzieht.
Alle nennen Korell bei ihrem Namen, auch ich tue das. Nur innen in mir ist sie Mama, eine weitaus greifbarere Gestalt als Korell, die mich genau jetzt bei halbgeöffnetem Fenster und Regenwetter genießt. Korell, schlucke ich und spüre, wie die Lippen vom Zucker kleben. Ich habe eine Million Fragen, die nach Antworten verlangen, und alle Sehnsucht der Welt, um das richtige Wort, den richtigen Tonfall zu treffen, damit Korell bleibt, auch wenn das Wetter von Abschied spricht. Halbwegs unten im Glas zögere ich, benutze den kleinen Löffel, um mir den Zuckerhügel, von Zitrone durchsäuert, zu sichern.
»Warum heißt du Korell?« frage ich.
Immer diese Frage, und ich kann mich beim besten Willen nicht erinnern, ob sie irgendwann einmal darauf geantwortet hat. Und der magische Saft verliert seine Wirkung. Korell mag keine alltäglichen Fragen. Meine Mutter wird sich erst zeigen, wenn das rechte Wort aus meinem Mund fällt, wie rostige Ketten von alten Seeräuberkisten abfallen und eine Menge Gold enthüllen. Korell sagt, Zitrone macht den Zucker ungefährlich, entfernt das Ungesunde aus den weißen zähflüssigen Körnern, die den Boden des Saftglases bedecken, und auch wenn ich weiß, daß sie mich beschummelt, bringt mich das zum Lächeln, wie eine Verschwörerin. So sind sie, Korell und Mama, sie lieben Überraschungen, Ideen. Ich weiß das wohl, und ich beeile mich mit dem Saft, während ich spüre, wie sich Rastlosigkeit zwischen uns breitmacht, und ich will nicht diejenige sein, die aufhält. Weiß das wohl, habe aber nie Zeit genug für diese Wörter, gehe beständig verloren in einem Wirbel zu großer Ringe mit merkwürdigen Formen und einer Korell, die mich schwindeln macht, wenn sie mich auf ihre extreme Art umarmt. Jedes Mal, wenn sie kommt, beschließe ich, mich dieses Mal nicht berauschen zu lassen, lausche aber hellwach auf diese stummen Wörter und schüttele das richtige aus dem Ärmel, wenn es an der Zeit ist. Das Wort, bei dem sie bleibt. Einmal kam dieses Wort doch zu mir, aber jetzt kann ich mich nicht erinnern, welches es war. Ich erinnere mich nur, daß Korell den Kopf zurückwarf und laut lachte. Und statt alleine durch die Flurtür zu verschwinden, wickelte sie mich in Kleider ein und nahm mich mit hinaus in den dunkelnden Abend. Sie tanzte mit mir, nur mit mir, die ganze Nacht, und als ich mich wieder umsah, war es Morgen, und wir schlichen müde heimwärts.
Ich hatte Korells Geschmack von Wein auf den Lippen, und sie ließ mich den einen Zipfel ihres Schals halten, während sie selbst den anderen trug. Ich blinzelte in den Sonnenaufgang, und sie glich einer Prinzessin mit all den Ringen an den Fingern. Wir gingen auch nicht hinein, sondern legten uns ins nasse Gras vor der Veranda, und ich wollte noch fragen, ob das ginge, im nassen Gras schlafen, aber die Sonne lag auf unseren Augen, und während wir uns in den Armen hielten, schliefen wir auf der Stelle, die seither meine Lieblingsstelle gewesen ist.
Später am Tag erwachte ich in meinem eigenen Bett, und der Körper tat weh, nicht von dem Gras, das nur immer weicher geworden war, weicher nasser Tau, früher Morgen, sondern in der Gewißheit, daß nicht Korell mich hineingetragen hatte. Meine Mutter war wieder weg, weg wie die Sonne, die uns in den Schlaf geschickt hatte, verloren an ein Regenwetter, das für solche wie mich nichts anderes birgt als Melancholie.
Nichts hat darauf hingewiesen, daß mein Vater in eine Großstadt wie Oslo fahren würde, daß er am Nachtleben teilnehmen und meine Mutter treffen würde. Mein Vater war kein Stadtmensch, er sieht Farben an den Menschen, und er hat von Tieren die Herzen gegessen, als sie noch klopften. Beim Anblick von Korell in dem verräucherten Lokal blinzelt er, er leckt von den Fingern Blut, das nicht da ist, und in dem Tanz, den sie alleine tanzt, folgt er Korells Armen. Jemanden wie Korell gibt es dort, wo er herkommt, nicht.
Mein Vater hatte den Hauptgewinn gezogen, es war also das pure Glück, das ihn nach Oslo schickte. Wohin sonst sollte er gehen, was sonst sollte er mit dem Geld anfangen, das er nicht brauchte, von dem er aber wußte, daß seine Kameraden es sich mehr als alles andere wünschten. Gemeinsam zogen sie los, um den Hauptgewinn des Tippscheins zu verprassen.
Mein Vater kann Stimmen zwischen dem Laub hören, er kann so still sitzen, daß die Vögel Eier in seine Hände legen, und hier im Rauch und zu so später Stunde sah er, Korell im Blick, ein Wesen, das ihn vielleicht an ihn selbst erinnerte oder an einen Vogel, den er nicht verstand. Er war begabt, meinte Ämmi, seine Mutter und meine Großmutter, und von Toleranz hielt sie mehr als von Haß. Ämmi mit ihrem strengen Gott war besser als Gott. Sie ließ ihren Sohn so sein, wie er war. Jetzt umfängt er Korell mit einem Blick, der an ihr vorbeizustarren scheint, und mit dem gleichen Blick ist er nahe bei ihr, und als sie einen Augenblick innehält und den Kopf zurückneigt, liegt ihr Kopf in einer fremden Hand, und mein Vater umfaßt ihn, will einfach nicht loslassen.
Als das Geld verbraucht ist, fährt mein Vater zurück, und Korell ist schwanger.
Ich weiß nicht, was sie miteinander sprachen, aber mein Vater ist kein Stadtmensch. Er zog dorthin zurück, wo er immer gewesen war. Aber ab und zu ließ er einen Vogel, den er gefangen hatte, los, ließ ihn erschreckt mit den Flügeln flattern, einer Frau zu Ehren, die Großstadtherzen mit spitzeren Zähnen aß, als je ein Mensch, dem er begegnet war.
Korell senkte die Augenlider, wenn der Bauch zu ihr sprach, und etwas mußte mit dem Mann sein, dem sie begegnet war und der ihren Bauch dazu brachte, Leben zu beanspruchen, ihre Zeit zu beanspruchen, auf jeden Fall für eine Weile. So war es das pure Glück, daß ich geboren wurde, daß ich in Frieden in einem Körper aufwachsen durfte, der einfach weitertanzte.
Ich habe nie mit meiner Mutter zusammengelebt. Vielleicht, weil Korell auch nie mit ihrer zusammenlebte. Als Korells Mutter einen Sohn in die Welt gesetzt hatte und dreizehn Monate später die kleine Korell, hatte sie das Ihre getan, und deshalb ging sie. Sie stammte aus Island und war voll vom Gesang des Meeres, ihre Augen waren von Lava bedeckt, und sie mußte nach Hause, um sie in den unzähligen Quellen dort anzufeuchten. Ich weiß nicht, warum sie die Kinder nicht mit sich nahm. Vielleicht weil sich herausstellte, daß der Mann, der sagte, er liebe sie, der sagte, er würde sie heiraten, schon verheiratet war, verheiratet mit nicht weniger als fünf Kindern. Er war allein nach Norwegen gekommen, um viel Geld zu verdienen und als Millionär zurückzukehren. Vielleicht ist es für isländische Frauen besonders unerträglich, verlassen zu werden – jedenfalls ging sie vorher, und das ist das letzte, was ich von ihr gehört habe. Ich glaube, es ist auch das letzte, was Korell weiß. Korell bekam von der Frau nicht mehr als ihren Namen, aber sie ist nie wie ich gewesen, sie hat nie in der Vergangenheit nach einer Antwort gesucht. Korell läßt die Fragen liegen, wo sie entstehen und macht alleine weiter.
Ihr Vater, auf dem Papier ein griechischer »Gastarbeiter«, saß wieder mit zwei kleinen Kindern da. Zu Hause erwartete ihn eine haßerfüllte Frau, die von seinem Verrat wußte und vor Gott und den Frauen schwor, ihn nie auch nur wieder anzuschauen. Vom Vater hat Korell die unverschämt großen Augen. Ich erkenne sie von den Fotos wieder, die in einem alten Umschlag ganz hinten im ältesten Fotoalbum liegen. Er ist der Mann, dessen Augen schwarz wurden von dem Wunsch, alles wieder gut werden zu lassen. Nikos wünschte nichts mehr, als wieder nach Hause zu kommen, aber er blieb in Norwegen. Bis zum letzten Bild. Mit ihm in der Mitte und den Kindern zu beiden Seiten, Andreas dreizehn und Korell fast zwölf Jahre alt. Er sieht nicht alt aus, gerade mal dreißig, würde ich schätzen, wenn ich es nicht besser wüßte. Die Fotos hat Mari gemacht, die Frau, die mit Nikos und seinen zwei Kindern zusammenlebte.
Sie war es, die all die Bilder machte und sie nachher weggepackt hat. Mari war da, ausnahmslos an jedem Tag von Nikos’ verhängnisvollem, norwegischem Leben. Sie schmierte seinen Kindern die Schulbrote, liebte sie für alles, was sie waren und was ihr Vater nur selten einmal merkte. Mari war ein Opfer der Liebe. Sie konnte nicht anders, sie liebte Nikos.
Wenn du sie damals gesehen hättest, würdest du nicht geglaubt haben, daß sie die Stärke besaß, eine hoffnungslose Liebe zu wählen; so schmal, so zartgliedrig, mit elfenartigen Fingern, von denen Korell mir einmal erzählte, daß sie unsichtbar würden, wenn sie richtig unglücklich war. Mari mag Korell erschreckt haben mit ihren offenen, starken Gefühlen, denn in ihren eigenen Gefühlen fand Korell, wenn sie sie freiließ, nur Angst vor der Einsamkeit. So hielt sie die Gefühle straff, daß sie nur auf Befehle gehorchten, sie schritt neue Wege für sie ab. Stark war Korell nur für sich allein.
Mari erzählte den zwei Kindern oft: Wenn sie nach einem Tag, an dem sie traurig gewesen waren, genau hinschauten, würden sie sehen, wie es Pfirsiche vom Himmel regnete. Mir erzählte sie die gleichen Märchen, und mir war so, als hätte sie sie früher schon erzählt, denn sie flossen so leicht, so überzeugend, und wenn ich mich an sie erinnere, verspüre ich Wehmut. Ich sehe Korell vor mir, als sie klein war, als sie Menschen noch Zugang zu ihren Gefühlen gewährte und merkte, wie weh das tat, und sogar Maris Geschichten fehlte die Kraft zu mehr, als Korells Gemüt zu beruhigen. Ich selbst wurde butterweich, wenn Mari mich auf ihrem kleinen Schoß schaukelte. Ich weinte an den traurigen Stellen und lachte glücklich, wenn alles gut ausging. Ich tat Mari unrecht, das wußte ich wohl, wenn ich annahm, daß diese Geschichten noch besser wären, wenn Korell sie erzählt hätte, und noch schöner, wenn es ihr Schoß wäre, auf dem ich sitzen würde.
Mari war Nikos gegenüber loyal bis zuletzt, und ich habe sie nie ein böses Wort über ihn sagen hören. Alle Wut, die sie je auf ihn oder andere hatte, richtete sie auf die isländische Frau.
»Wenn ich mir vorstellen würde, mit jemandem mal ein ernstes Wörtchen zu reden, dann mit dieser Hexe«, konnte sie sagen, wenn Nikos mehrere Tage lang verschwunden war. »Wenn jemand alles Pech der Welt verdient, dann deine treulose Großmutter«, sagte sie, als ich wieder einmal über Korell, die mich verlassen hatte, weinte. »Hängen sollte sie«, murmelte sie, als es bei mir mit Schule und Freunden völlig schieflief. Als sich Island und Norwegen in irgendeiner Fischereifrage unnachgiebig gegenüberstanden, war sie sicher, daß dieses gerissene Frauenzimmer dahintersteckte, natürlich mit einem ironischen Lächeln.
Mari liebte den undankbaren Nikos in der Zeit, die sie von ihm zugestanden bekam. Eines Tages gab er dem brennenden Wunsch, nach Kreta zurückzugehen, nach, und ließ alles da, was er nicht in einer Hand halten konnte. Als Mari seinen Brief fand, der den Stand der Dinge gleichsam erklären sollte, vergoß sie, knapp dreißig Jahre alt, bittere Tränen. Dann verbrannte sie den Brief und mit ihm alle Fragen. Ihre Enttäuschung fegte sie beiseite mit schlichten Formeln wie: »Hast du meine Brille gesehen, Korell? Ich brauche sie, wenn ich euch das Buch zu Ende vorlesen soll. Habt ihr meinen Geldbeutel gesehen, Kinder, einer von euch müßte gerade mal Süßigkeiten vom Kiosk holen.« Nicht eine Sekunde kam ihr der Gedanke, sie könne Andreas und Korell verlassen. Mari gestand Nikos alles zu, damit er nur die Sehnsucht stillen konnte, die auf den Fotografien in seinen Augen lag.
Trotz Maris standhaftem Festhalten an den Trivialitäten des Alltags entging es Korell nicht, daß sie von Vater und Mutter verlassen worden war, und das, noch ehe sie die Menstruation oder einen Busen bekommen hatte, noch ehe sie überhaupt daran gedacht hatte – wie alle jungen Mädchen es irgendwann tun –, von ihren schrecklichen Eltern wegzulaufen. Nicht lange nach Nikos’ Bußfahrt in sein anderes Leben fischte sie Maris Geld aus der Brieftasche, polierte ihr kindliches Aussehen mit Baumwolle in einem zu großen BH und ungleichmäßigen Kajalstrichen um die Augen heraus, schaute sich lange und gründlich im Spiegel an, ehe sie hinauslief in das prickelnde, wimmelnde Nachtleben, von dem sie nicht mehr wußte, als das, was man sich zu Hause darüber erzählte. Schon so sehr Korell, daß sie sich nicht damit aufhielt, die Haustür vorsichtig hinter sich zu schließen. Sie warf sie siegessicher zu, lief die Treppe hinunter und weg war sie. Da war sie nicht älter als zwölf Jahre. Trotz umfassender Suchaktionen und Nachforschungen vergingen sechs Jahre, ehe Mari Korell wiedersah. An dem Tag, an dem sie mit mir auf dem Arm erschien.
Zielstrebig stapfte sie die Straße entlang, barfuß und ganz selbstverständlich, niemand würde geglaubt haben, daß sie noch nie zuvor hier gewesen war. In ihrer Haltung lag etwas Majestätisches, das offene Haar wirkte in der Sonnenglut zu warm, ein kleines Baby saugte an einer der bloßen Brüste, ein paar kaputte Sandalen trug sie in der anderen Hand. Keiner der Vorbeifahrenden hielt sie für eine schlampige Aussteigerin. Sie fuhren vorsichtiger, drehten den Kopf nach ihr um und zwinkerten der jungen Frau mit Kind und in den Nacken geworfenem Kopf zu, der Frau die eher den Sonnenstrahlen als den Straßennamen folgte.
Mari hatte in der Zwischenzeit geheiratet. Der Mann hieß Karl-Edvart und war ein vielbeschäftigter Geschäftsmann. Auch wenn er das Leben mit förmlichen Treffen und doppelten Martinis, das er sich, geschieden und kinderlos, angewöhnt hatte, weiterhin lebte, war er doch nicht so beschäftigt, um Mari nicht noch ein Kind zu schenken. Ein kleiner Sohn, der mit großen Augen im Kies der Auffahrt spielte, als die fremde Frau direkt auf ihn zuschritt. Der Anblick hatte ihn erschreckt. Korell ist so, sie erschreckt alle Kinder, bis auf mich, und Jon-Edvart war erst vier Jahre alt, und weder der warme Tag noch die farbenfrohen Stiefmütterchen, nichts wirkte sicher, als die fremde Frau auf ihn zukam. Er ließ den Spielzeugspaten mitten in dem kleinen Kiesturm liegen und rannte um die Hausecke, dorthin, wo er die Mutter vermutete.
»Mama«, heulte er und klammerte sich an ihre Beine.
Maris helles Haar war aus dem Gummiband gerutscht, als sie in dem kleinen Gemüsegarten gehockt hatte. Sie war über Dreißig, sah aber mit dem dünnen Flachshaar jünger aus als Korell. Die Hände im Haar, erhob sie sich und schaute zu dem jungen Mädchen, das auf sie zukam. Als Korell direkt vor ihr stehenblieb, schauten sie sich schweigend an, überwältigt von der Wärme, die sie in einander weckten.
»Du hättest euch sehen sollen, Liebes. Ich selbst habe geglaubt, es wäre ein Traum, ich würde wegen der Hitze phantasieren, ich sollte hineingehen und ein Glas Wasser trinken, etwas suchen, um den Kopf damit zu bedecken, ehe ich wieder hinausging. Korell stand mit einem kleinen Lächeln da und grub die Zehen in die Erde, als ob sie dort Feuchtigkeit finden und sie aufsaugen könnte. Sie achtete nicht auf ihre nackten Brüste, achtete kaum auf dich, das kleine Baby, das längst zu saugen aufgehört hatte und in der Wärme tief schlief, während ihr sonnengebräunter Arm, der dich hielt, so sicher wirkte. Und während ich so dastand, mein Atem zitterte und mir langsam klarwurde, daß ihr tatsächlich dort standet, legte sie dich graziös in unserem schönsten Blumenbeet ab. Du weißt, das mitten im Garten, mit den Steinen ringsum. Und sie lächelte strahlend, als sie den letzten Schritt tat und die Arme um mich schlang, während du friedlich zwischen den Blumen schliefst.«
So war das, als Korell mich zum ersten Mal verließ. Mit einer graziösen Bewegung, mit farbenfrohen Blumen und der Brust, die sie vergessen hatte, wieder in die Kleider einzuknöpfen. Selbstverständlich blieb sie ein paar Tage. Vielleicht hatte sie tatsächlich daran gedacht zu bleiben, das Haus und den Garten zu einem Ort zu machen, wo sie leben konnte, aber es gelang ihr nicht. Korell bringt Dinge aus dem Gleichgewicht. Sie lockte in Karl-Edvart ein klopfendes Herz hervor, Erinnerungen in Mari, einen beschützenden großen Bruder in Andreas und einen erschrockenen Ausdruck auf Jon-Edvarts sonst so glücklichem Gesicht.
Man fragte sie nach dem Vater, wo sie wohnte, wo sie arbeitete und was aus ihr werden sollte. Aber Korell vermied alltägliche Fragen auf der Jagd nach etwas anderem, und eines Morgens war sie fort. Ich, die ich bis dahin das meiste verschlafen hatte, begann mit meiner ungewöhnlich heiseren Stimme zu trauern.
»Das zu hören tat weh«, erzählte Mari. »Du hast mich an eine verletzte Krähe erinnert, und egal, was wir taten, du hast mit den Augen und deinen winzigen Fingern immer nur weiter fieberhaft nach ihr gesucht.«
Mir ist nie richtig klargeworden, wann Mari Karl-Edvart begegnet ist, wann sie geheiratet haben und Mari die Sachen in der engen Wohnung ein- und im Holzhaus mit Garten, wo ich aufwuchs, ausgepackt hat, aber die Begegnung selbst könnte direkt einem Frauenroman entnommen sein. Karl-Edvart war ein geschiedener Mann von siebenundvierzig Jahren, als er Mari begegnete und gerade dazukam, als sie von ihrem Unglück erzählte – wobei sie es gar nicht als Unglück betrachtete. Mari erzählte ihre Geschichte voller Stolz, sogar etwas angeheitert im Lärm des Firmenfestes, und wenn man hinhörte, hatte das Lächeln, das sie lächelte, als sie von Korell und Andreas erzählte, vielleicht einen Unterton voller Tränen, und das Lachen, als sie die Wohnung beschrieb und die Miete, die in jedem Quartal stieg, saß unter einer Falte auf der Stirn. Karl-Edvart, der seit längerem allein gewesen war, folgte dem Lächeln und prägte sich die Falte im Gesicht gut ein. Unwiderstehlich, fand Karl-Edvart. Leerte das Glas, rückte den Schlips gerade und ging unsicher hinüber zu Mari.
»Ich wollte gerade etwas zu trinken holen«, sagte er und schaute ihr tief in die Augen. »Soll ich Ihnen gleich etwas mitbringen?«
Mari sagte ja, mehr verwirrt als alles andere, aber als sie anstießen, hatte sie das Gefühl, etwas sei schon abgemacht und entschieden, so als ob der tiefe Blick nicht erst auf etwas hinwies, sondern bereits einen Vertrag besiegelte. Nicht, daß das einen Unterschied machte. Es war lange her, seit jemand sich gewünscht hatte, sie möge ihre Zurückhaltung aufgeben, und mit ziemlich schlechten Argumenten überredete nun jemand den Mann an ihrer Seite, sich woanders hinzusetzen.
Karl-Edvart, der jetzt in Schwung war, wollte sich aber nicht einfach plump auf dem eroberten Platz niederlassen und die üblichen Phrasen von sich geben, die er sich auf der Jagd nach zufälligen Bekanntschaften zurechtgelegt hatte. Er setzte sich dicht neben Mari, spürte, wie sich sein eigener schwerer Körper aufrichtete, als die Nähe ihm klarmachte, wie klein Mari war, wie dünn das Haar über ihrem Schädel lag. Sogar in dem schwachen Licht glaubte er sehen zu können, wie sich die Adern durch ihre Gedanken klopften, und um eine Atempause zu bekommen, ließ er die Augen zu ihren Händen wandern.
»Ich kann deine Hände nicht sehen, wenn du trinkst«, flüsterte Karl-Edvart verblüfft, als er deren Weg zum Mund hinauf verfolgte. »Jemand hat behauptet, das sei so, wenn du ängstlich bist.«
Mari riß die Augen auf. Für einen Moment hatte sie sich weggeträumt und vorgestellt, der intensive Blick könnte von Nikos sein. Die Worte überraschten sie nicht nur, sie brachten Korell zu ihr. Korell, die ab und zu außer sich vor Angst war, nur weil sie Maris Finger nicht sehen konnte, und glaubte, sie habe Mari enttäuscht. Wie konnte sie die aufeinandergeprßten Lippen vergessen, die die Tränen zurückhielten. Sie, die sich darüber ängstigte, daß Korell niemals weinte.
Als diese hübsche kleine Frau, die so viel Mißgeschick ertrug und dem Unglück einfach mit erhobenem Kopf begegnete, den Kopf wegen einer zitternden Krokodilsträne senkte, da wußte Karl-Edvart, hier gab es nichts weiter zu tun, als sie mit nach Hause zu nehmen, ihr einen dampfenden Grog zuzubereiten, ihren Geschichten zuzuhören und am Ende die bezaubernde Frau im Gästezimmer zu Bett zu bringen.
Mari erwachte am nächsten Morgen in einem leeren Haus und fand eine umständlich formulierte Nachricht vor. Auch wenn sie Kopfweh hatte und vom Tabak wie durchsäuert war, lächelte sie, als sie las: Verfügung über die Hausschlüssel, müssen an ihn persönlich überbracht werden. Sie würde nicht entwischen.
Während sie für sich Kaffee kochte, verwandelte sich das Lächeln in eine Freude, die sie lange nicht mehr empfunden hatte, und als sie träumend gelben Blättern folgte, die ans Küchenfenster geweht wurden, und sah, was für ein grauer Tag draußen wartete, wurde sie nur noch froher.
Unterwegs zum Büro des Chefs kaufte sie einen Goldring. Nicht dick. Nicht dünn. Ehe sie die Schlüssel ablieferte, stand sie verstohlen lächelnd vor der Tür des Direktors und wand den Ring auf den Schlüsselring. Mit wissender Miene legte sie die Schlüssel auf seinen Tisch, entschuldigte sich, sie müsse nur zur Toilette, und fegte aus dem Zimmer.
So begegneten sie sich. So heirateten sie. Wenig Rotz, wenig Tränen, irgendwelche verschwundenen Töchter, irgendwelche geschiedenen Männer, ein Grog und ein goldener Ring. Mari erinnert sich an das heitere Gesicht, das ihr aus dem Toilettenspiegel entgegensah und überlegte, was in aller Welt sie wohl antrieb.
»Ich kann mich nicht erinnern, früher so ausgesehen zu haben«, erklärt Mari mir und macht einen Punkt.
Hatte Korell Angst? frage ich Andreas. Weinte sie im Schlaf, drückte sie ihr Kissen? Vermißte sie ihre Mutter? Andreas zuckt mit den Schultern, lächelt sein Lächeln, erzählt mir etwas anderes, vielleicht ein Märchen, rückt eine Schale Karamelbonbons in die Nähe meiner Finger. Denn Andreas erinnert sich nicht. Erinnert sich an nichts anderes als an die Lehrerinnen aus der Zeit, als er dreizehn war und in die siebte Klasse ging. Die Zeit, als Nikos mit solcher Eile davonzog, daß Korell im Sog mitgerissen wurde. Zog sie los, um nach ihrer Mutter zu suchen? frage ich. Andreas weiß es nicht. Die Umwälzungen bedeuteten für ihn nicht so viel. Die Träume bedeuteten alles. Die Träume von den Lehrerinnen. Die meisten Träume handelten von der Handarbeitslehrerin. Sie bekam ihn dazu, daß er vor den schiefen Blicken der Kameraden aus dem Werkunterricht den Kopf einzog, wenn er den Mädchen in den Handarbeitsraum nachschlich. Ihr BH-Träger, seufzt Andreas, und fängt mit einem absurden Märchen von Heldinnen und Drachen an. Der eine BH-Träger glitt immer über die Schulter. Immer der linke. Sie fuhr mit der Hand unter den Blusenkragen, die Finger fischten nach dem Träger und schoben ihn an seinen Platz. Helfen und trösten. Andreas könnte sterben für den Blusenkragen.
»Heißt die Heldin Korell?« frage ich. Esse Karamelbonbons. »Verschwand sie, um die Drachen wegzujagen?«
»Korell?« antwortet Andreas schwebend. Erinnert sich vage, welche Gläser sie zerbrach. »Nein, die Heldin heißt nicht Korell. Sie heißt ›Kleiner Schwan‹ und ist eine ruhmreiche Drachentöterin mit einer silbernen Rüstung.«
Wäre Andreas nicht vollauf mit den Lehrerinnen, den Träumen und den gesäumten Nähten beschäftigt gewesen, hätte er mitbekommen, daß sein Verhalten auf die Jungen anstößig wirkte, bei den Mädchen aber enormes Interesse weckte. Ein Grund für seine offenkundige Überlegenheit im Nähen war im Tuscheln der Mädchen zu finden, den bezaubernden Blicken, die begeistert über ihn herfielen, und im Ausmaß der Liebesbriefchen, die nach dem Ende der Stunde zusammengeknüllt im Papierkorb landeten.
Andreas selbst fühlte sich morgens leer und verschwendete nie einen Gedanken an die Mädchen oder an Korell. Korell verbrachte unzählige Stunden vor dem lebensgroßen Spiegel auf dem Flur, einem zu erwartenden Busen und Schamhaaren auf der Spur. Andreas sieht keinen Grund, mir das zu erzählen. Sie nackt zu sehen ließ Andreas nicht im mindesten ins Träumen geraten.
»Du findest mich schön«, sagte Korell, als beide den kräftigen Körper vorm Spiegel studierten.
»Nein«, antwortete Andreas, und er vermißte diese Zeit vor dem Spiegel nicht, als sie vorbei war.
Er hatte zu der Zeit einen einzigen Kummer, und das war Maris gewissenhaftes Auftreten als Elternteil. Auch wenn ihre Gedanken ständig um Korell und die Suche nach ihr kreisten, die wieder Gott weiß wo war, war Mari gerührt und froh, wenn die Lehrerinnen sie mit Lob und trockenem Gebäck überhäuften. Andreas war ein solch vorzüglicher junger Mann, wie sie immer wieder betonten. Hätte Andreas nicht solche Angst gehabt, daß diese Frauen sich zusammentun würden, um sein Liebesleben zu enthüllen, hätte ihn die Anrede junger Mann gleichermaßen stolz und selbstbewußt wie übermütig gemacht. Aber er zitterte ein bißchen und bereute alle Blicke, alle Träume. Eines Tages war er kurz davor, ohnmächtig zu werden. Und während er in einer Wolke schwebte und beinahe seine träumende Liebe zu Haß umwandelte, und als er dachte, sein Atem wäre viel zu schwach, um ihn noch länger auf dem Stuhl zu halten, rettete ihn Maris geistesabwesendes Nicken. Sie lächelte und war so dankbar für diesen Sohn, der so ausgezeichnet war und sie jetzt mit seinen tiefen, ehrlichen Augen anstarrte.
»Ich bin so stolz auf dich, Andreas«, beeilte sie sich zu sagen, »du kannst unmöglich begreifen, wie viel mir das bedeutet.«
Und die Lehrerinnen nickten teilnahmsvoll und verständig, denn alle hatten sie von der verschwundenen Tochter gehört: weggelaufen? Vergewaltigt? Oder ermordet?
Im Grunde war es nicht schwierig, dachte Andreas am Abend, während die letzten Reste von Reue und Qual von der Zugluft, die durch die Fensterritzen blies, weggeweht wurden. Dann nannte Mari ihn ihren Sohn. Und als Maris Sohn schlief Andreas ein, und mit seinem neuen Wissen träumte er sich weiter in die Mieder der Lehrerinnen hinein. Die Pubertät hielt ihn fest in ihren Klauen und weihte Andreas ein in ein Leben voll wilder Lügen und feuchter Träume, gesäumt von klebrigen Socken, die gestapelt unten in den Tiefen der Schmutzwäschetonne oder in kommunalen Abfalltonnen endeten.
»Kannst du nicht besser auf deine Socken aufpassen?« rief Mari unglücklich wegen der dauernden Kosten, die die verschwundenen Socken verursachten.
»Hat Korell mich vergessen?« frage ich Andreas. »Kommt sie zurück? Muß ich zuerst den Drachen fangen? Hat der sie gefressen?«
»Dich vergessen?« Andreas schüttelt den Kopf. »Sie liebt dich, meine liebe Kleine. Alle lieben dich, ›Kleiner Schwan‹«, sagt Andreas und tätschelt mir den Kopf. Er war immer schnell dabei mit der Lüge.
Bald ist es Frühling. Der Schnee ist von meinem Lieblingsplatz, dem Abhang unter der Veranda, verschwunden. Mari fährt mich zum Kindergarten. Kaum hat sie mich dort abgeliefert, mache ich kehrt und trotte nach Hause. Zum Holzhaus mit Garten. Mit Mari, Karl-Edvart, ihrem Sohn Jon-Edvart. Mit mir, ab und zu mit Andreas, der in einer eigenen Wohnung lebt, aber beim Wäschewaschen Hilfe braucht. Korell wohnt nicht mit uns zusammen. Ich schlängele mich durch die Johannisbeersträucher, will nicht aufgehalten werden und ruhe mich unterhalb der Veranda aus. Dies ist mein Platz, noch feucht nach dem Winter. Hier warte ich auf meine Mutter. Hin und wieder kommt sie zu Besuch. Eines schönen Tages nimmt sie mich mit, wenn sie geht. Weil sie mich liebt. Ich bin ihr geliebter Schatz. Das hat sie gesagt. Nach einer Weile findet mich Mari. Sagt, sie habe Angst gehabt, fragt, warum. Warum, mein Liebes? Als wir um die Hausecke biegen, merkt sie es und vergißt meinen nassen Hosenboden, denn in der Tür steht niemand anderes als Korell. Ich quengele, und abends bringt mich Karl-Edvart ins Bett. Ich durfte lange auf sein, länger als Jon-Edvart, denn Korell war tatsächlich aufgetaucht. Nachdem ich sie gesehen, ihre Hand berührt und eine eilige Umarmung empfangen hatte, stellte ich mich auf den Flur und behielt Tür und Fenster im Auge. Blies der Wind Regen dagegen?
Mari und Karl-Edvart versuchten abwechselnd, mich an den Küchentisch zu holen, aber als ich so dasaß, konnte ich nicht mal zwinkern, mußte immer nur Korell anstarren, bis es weh tat, und da trippelte ich furchtsam wieder auf den Flur, blinzelte immerzu, die Hand an der Tür und die Ohren draußen beim Wind. Regnet es jetzt? Angespannter Bauch unter der anderen Hand. Schon ein leichter Regenschauer könnte Korell aus meinem Blick wischen. Ich wußte das und strengte mich an.
»Siehst du, wie es hier steht«, seufzt Mari.
Karl-Edvart versucht zu summen, während ich mir die Zähne putze. Er schaut mich an, die Fingerspitzen trommeln gegen das Hosenbein. Mit der Decke unter meinem Kinn bleibt er sitzen. Wir lauschen den Geräuschen aus der Küche.
»Sie stiftet Unruhe im Kindergarten. Sie reden von Krankheit, und ich sage ›dummes Zeug!‹. Sie stellen Fragen über Karl-Edvarts und meine elterliche Erziehungsberechtigung. Fragen, warum wir keine Papiere haben, und du siehst, was los ist, wenn du kommst.«
Maris Stimme hat einen scharfen Ton. Karl-Edvart drückt mich an seine große schwere Wange, ehe er hinuntergeht in die Küche.
Die Tür, die er schließt, läßt alles zu einem einzigen Murmeln werden. Mari hat mir erzählt, daß Karl-Edvart eigentlich ein Walroß ist und sich einen Bart wünscht. Ich sehe Karl-Edvart vor mir, der auf einer Eisscholle die Treppe hinunterrutscht, statt zu poltern. Die langen Haare unter seiner Nase wirbeln bei jedem Schwimmstoß herum und lassen den Staub tanzen.
Am nächsten Morgen erwache ich jäh und springe aus dem Bett.
»Korell?« frage ich.
» Sie schläft, meine Kleine.«
Ich nehme die Finger aus meinen Haaren und nicke. Gehe hinauf ins Badezimmer und aufs Klo. Mari begleitet Jon-Edvart zur Schule, aber Karl-Edvart bleibt. Als Mari zurückkommt, seufzen sie sich zu, und als Korell aufwacht, werde ich gebeten, im Zimmer zu spielen. Ich schaue fragend zu Korell, aber ihr Gesicht ist hinter den langen Wimpern verschwunden. Ja sicher, nicke ich, ja sicher. Seither streiten sie, den ganzen Tag schon in der Küche, während ich spiele und spiele. »Dann schickt sie nicht in den Kindergarten!« ruft Korell. »Merkst du nicht, was du mit ihr machst?« sagt Mari. »Ihre Unsicherheit kommt von …« »Sie zwingen sie«, schnappt Korell zurück. »Korell«, schluchzt Mari. »Unsere Vormundschaft muß offiziell bescheinigt werden«, sagt Karl-Edvart. »Sie fragen nach dem Klima zu Hause, berufen Gespräche ein. Ihnen fällt ihr Haar auf.« Maris Stimme ist dünn. »Du bist das Problem«, poltert Karl-Edvart. »Sie arbeiten mit Zwang, und sie wissen das! Kindesmißhandler!« schnaubt Korell. »Elternrecht! Etwas konstantere Termine! Eine zuverlässigere Struktur!« Sie reden und reden. Ich lade alle Wörter auf meinen kleinen Lastwagen und fahre über den Fußboden.
»Eigentlich schon entschieden.« »Ist die Forderung so groß.« »Nie Forderungen gestellt …«
Jetzt fährt der Lastwagen entschlossen aus meinem Zimmer und nimmt Kurs auf die Treppe. »Mußt du lieber wegbleiben, Schutz des Kindes.« Ich und das Lastauto werden die Wörter in den Wörterbruch kippen. Sie können als Riesensteine hineinkullern und in die Löcher an ihren Platz rollen, dann merkt niemand, daß sie gebraucht waren, niemand kann sich erinnern, was sie sagten. Aufschluchzen, schon gut, mehr Schluchzen, Stille.
Mari ist es, die weint, und ich sitze auf der Treppe mit einem wortlosen Auto. Was, wenn Korell für immer wegbleibt? Karl-Edvart brummt und stapft ins Wohnzimmer. Ich überlege, ob Korell in aller Stille verschwunden ist, und denke an Kindesmißhandler und Häuser mit Sonnenschein. Auf der Steintreppe vorm Haus sitzt Korell und mischt Saft für mich. Wie immer weht vorm Haus ein warmer Wind, und Korell mischt Saft und winkt, lächelt, während alles in dem warmen Wind weht.
»Ich hole Jon-Edvart«, seufzt Mari und trocknet Tränen. »Kannst du nicht für sie etwas zu Essen machen, Korell. Sie ist sicher außer sich.«
Ich höre, wie die Türen geschlossen werden. Jetzt heißt es Entweder-Oder. Es ist ganz still. Korell steht auf der Treppe. Sie steigt herauf, und ich werde froh, schaue begeistert auf ihre Beine, die sie zu mir tragen. Die Freude, die Korell mir macht, ist wie ein Zementklumpen in meinem Bauch; schwer und fest, bleibt er, wo er ist.
»Hier also sitzt mein ›Kleiner Schwan‹.« Korell zieht eine Hand vor, zupft das Haarbüschel zwischen meinen Fingern heraus, als sie mich an die Hand nimmt und mit mir zur Treppe geht, mein Haar als Schnurrbart über der verzogenen Lippe. Während sie Saft mischt, Zucker, Wasser, Zitrone, ist sie still. Runzelt die Brauen über eigenen Gedanken. Mit einem Mal lacht sie laut auf und geht vor mir in die Hocke. »›Kleiner Schwan‹«, sagt sie, »wenn du deinen Saft trinkst und ganz still bist, habe ich eine Überraschung für dich.« Sie blinzelt und spitzt den Mund, als ich nicke, während mich ein Schauer überläuft. Meine Mutter ist so schön, so schön, daß ich mich ganz weit vornüber neige, beinahe bis ganz zu ihr hin, da schiebt sie mich zurück und steht auf.
Karl-Edvart sitzt bei seinem dritten Martini und überlegt, wie sich ein einfaches Haus mit nur wenigen Menschen darin zu einem unlösbaren Problem entwickeln kann. Er freut sich auf die Vorstandssitzung. Alles ist besser als Diskussionen, bei denen Mari weint, am Arbeitsplatz hat es solche Konflikte noch nie gegeben. Korell setzt sich weich neben ihn und räuspert sich ein paarmal.
»Ich muß dir etwas erzählen.« Korell atmet schwach und heftet ihren Blick auf den Tisch. Ihre Hände bewegen sich schnell und nervös über dem Hemd. Karl-Edvart zieht die Schultern hoch, nimmt einen Schluck. »Ich habe ein bißchen nachgedacht«, beginnt Korell. »Vielleicht ist es ja keine so dumme Idee, wenn ich für eine Weile verschwinde. Das war faktisch das, was ich heute hatte sagen wollen, aber mit dem Rücken zur Wand werde ich so wütend. Wie heute. Du weißt, wie wütend ich werde.« Korell lächelt weich, sucht nach Worten, beginnt Karl-Edvart von meinem Vater zu erzählen.
»Er ist ein wohlhabender Däne, ein Geschäftsmann, er ist oft in Oslo. Bei einem dieser Besuche bin ich ihm begegnet. Wir verliebten uns, aber natürlich war er verheiratet«, schnaubt Korell. »Er wollte seine Ehe nicht aufgeben, konnte sich aber vorstellen, unser Verhältnis heimlich fortzuführen.« Korell schaut Karl-Edvart mit großen Augen an. »Typisch, daß ich immer so ein Glück habe: da begegne ich jemandem, den ich mag, und das ist so ein Scheißkerl. Ich war unglaublich enttäuscht, fühlte mich so billig, als er das vorschlug.« Korell begegnet Karl-Edvarts Blick mit diesem Schmerzlichen Gefühl, das sie damals empfand. Karl-Edvart nickt sanft. »Nicht lange darauf entdeckte ich, daß ich schwanger war. Wäre ein anderer der Vater gewesen, hätte ich abgetrieben, würde nicht eine Sekunde geschwankt haben.« Korell erhebt sich, wandert durchs Zimmer. »Aber ich schaffte es nicht, ein Kind der Liebe wegzumachen. Ja, sie ist wirklich ein Kind der Liebe. Kannst du das spüren?« Karl-Edvart spürt es. »Ich wußte genau, daß ich keine gute Mutter werden würde. Mein Leben ist so instabil. Alle wissen das.« Karl-Edvart murmelt etwas. »Du brauchst gar nicht zu widersprechen!« Korell setzt sich wieder. »Aber jetzt kommt das Wunderbare! Vor einem halben Jahr habe ich ihn wiedergetroffen, ja, er heißt Thor.« Korell lächelt verliebt. »Und er ist von seiner Frau geschieden! Er hat in all den Jahren an mich gedacht, mich nie vergessen. Mich geliebt und vermißt, das hat er. Stell dir vor, Karl-Edvart, er hat mich vermißt!« Korell sieht, wie sich ihr eigenes kleines Lächeln über sein Gesicht ausbreitet. »Er will nichts anderes, als es noch einmal versuchen. Das wollen wir. Ich bin bei Thor gewesen. Er hat eine so schöne Wohnung, fast so schön wie dein Haus, Karl-Edvart. Mitten im Zentrum von Kopenhagen. Mit Balkon. Wir hatten es so gut miteinander. Er ist so gut zu mir. Siehst du nicht, wie froh ich aussehe?« Korell streckt verliebt die Arme aus.
»Doch«, antwortet Karl-Edvart staunend.
»Ich will jetzt zu ihm zurück. Ich will ihm von unserem Kind erzählen. Denn das ist das einzige Problem. Ich habe ihm nicht von ihr erzählt. Ich hatte Angst davor, was er sagen würde.«
»Hm.« Karl-Edvart brummt beipflichtend.
»Jetzt werde ich es erzählen. In den kommenden Wochen bis zum Sommer werden wir alles besprechen, überlegen, was am besten ist. Vielleicht können Thor und ich euch im Sommer schon besuchen. Glaubst du nicht auch, daß sich am Ende alles fügen wird?«
In Korells Stimme liegt ein Anflug von Nervosität. Karl-Edvart schaut sie bewundernd an. Wie konnte Mari und ihm entgehen, wie glücklich Korell aussieht. Gesund und strahlend. Thor ist ein glücklicher Mann.
»Das wird ausgezeichnet gehen, Korell.« Karl-Edvart schlägt die Hände zusammen. »Du hast meinen Tag gerettet.«
Und das ist wahr. Es ist wohl doch kein unlösbares Problem. Er kann die Sitzung in der Gewißheit leiten, daß alles in schönster Ordnung ist.
»Wann wirst du fahren?« fragt er, als er sich aus der Tiefe des Sessels erhebt.
Korell senkt den Kopf und seufzt.
»An sich wollte ich heute fahren. Das wäre am besten für Mari, für uns alle. Ich strapaziere ihre Gefühle.« Karl-Edvart nickt. »Aber ich habe kein Geld. Alles Geld ist in Dänemark, und der Lohn, von dem ich glaubte, ich sollte ihn gestern bekommen, ist nicht gekommen. Das kann noch Tage dauern«, stöhnt Korell. »Was wird Thor glauben?«
»Das ist kein Problem.« Karl-Edvart schlägt wiederum energisch die Hände zusammen. »Soll ich dir ein bißchen was leihen?«
»Wirklich? Hast du Geld übrig, nur für ein paar Tage? Ist das wahr? Ich wollte zwar fragen, traute mich aber nicht. Bis auf weiteres?«
Karl-Edvart atmet hörbar aus und ist schon am Schreibtisch; er blättert zwischen Papieren nach dem Scheckheft. Aus dem Augenwinkel sieht er Korells zaghaftes Lächeln, ihre Zuneigung.
»Dreitausend ist eine runde Summe, nicht wahr?«
Kurz darauf ist Karl-Edvart auf dem Flur, schnappt sich die Jacke und klopft auf die Taschen nach den Autoschlüsseln. Ich kann Korell sehen, wie sie lächelnd dasteht und winkt, als er aus der Auffahrt fährt. Als das Autogeräusch verschwindet, kommt sie in die Küche.
»Jetzt habe ich Karl-Edvart ordentlich durcheinandergebracht, ›Kleiner Schwan‹«, sagt sie und bittet mich, ich solle mich warm anziehen. Ich beeile mich, so schnell ich kann. Bin gespannt auf die Überraschung.
So nimmt Korell mich mit in die Finnmark, und hinter uns landet Karl-Edvart unsanft auf der Erde, das Herz gebrochen von den schärfsten Worten, die Mari jemals geäußert hat. Sie weiß alles über eine Korell, die verschwindet, aber die Reste der Wut schluckt sie hinunter, als ihr Mann, der wie gelähmt daliegt, dunkelrot wird.
»Rindvieh«, schnaubt sie und schlägt nach Karl-Edvart, ehe sie aufgebracht nach dem Krankenwagen telefoniert. »Wir haben hier zwei gebrochene Herzen«, sagt sie mit trockener Stimme.
Ich glaubte, wir würden nach Hause fahren. Endlich würde ich nach Hause kommen. Ich glaubte, vor uns läge das Korellhaus. Ein Ort, genauso schön wie in meinen Träumen. Ich sah es vor mir, während wir rannten, und jedesmal, wenn ich die Augen hob zu Korell oder auf den Weg vor uns, erwartete ich, es zu sehen. Vielleicht schon hinter der nächsten Kurve.
Das Korellhaus, träumte ich. Ein ganz altes, steinernes Haus, mit Fensterbögen und einem geschwungenen Dach, den Keller voller alter Schätze. Skelette zum Trocknen aufgehängt in Schränken, die in den letzten hundert Jahren niemand mehr geöffnet hat. Das Korellhaus ist furchteinflößend mit geheimen Gängen ohne Anfang und Ende. Und wunderbar! Gefüllt bis an den Rand mit jeder Menge Mütter. Sie sitzen gemütlich in den Sesseln und schauen aus den hohen Fenstern. Ihre weichen Finger mit den Ringen betasten behutsam die schweren Vorhangstoffe. So muß das sein, denke ich.
Aber in den Träumen stehe ich draußen davor. Ich sitze auf der Steintreppe vor der Tür im warmen Wind, nippe am Saft, mit dem Korell immer kommt. Die Tür ist aus breiten, alten Bohlen gemacht und kann Rammböcken und Brecheisen widerstehen. Sie hat eine einfache Klinke. Kein Schlüsselloch, keine Schlüssel. Weder Türklingel noch Türklopfer. Die Tür läßt sich nur öffnen, wenn man ein geheimes Wort flüstert. Das Wort erfährt nur der, der es stark genug zu wissen wünscht. Wenn es mir gelingt, einen Wunsch zu finden, der stark genug ist, wird Korell es mir sagen. Dann werden wir beide am Rand des Gartens stehen, zum Haus hinaufschauen, mit Sonne im Haar werden wir die Köpfe ein wenig senken, und ich werde hingerissen seufzen wegen der Farben des Fensterglases. Im Haus gibt es nur buntes Glas, Bildmosaike in gelben, roten und blauen Mustern. Korell wird das Haar zurückstreichen, sich mit biegsamem Rücken mir zuneigen und wie ein Vogel am Wassersaum auf einem Bein balancieren. Ich werde ihre Nase an meiner Wange spüren und ihre Stimme im Ohr hören. Dann wird sie mir das Geheimwort zuflüstern. Das ist ein Wort, das ich beinahe von allein hätte erraten können.