Am Ende der Strecke - Hannes Tönsing - E-Book

Am Ende der Strecke E-Book

Hannes Tönsing

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Beschreibung

Nie hatten sie gewollt, dass jemand ums Leben kommt. Auch nicht, wenn er es noch so sehr verdiente. Sie wollten doch Leben schützen. Doch dann ging alles schief. Hätten sie doch nur eher aufgehört. Aber dafür war es nun zu spät... Was als politische Aktion gegen Jäger beginnt, entwickelt sich zu einer Auseinandersetzung um Leben und Tod. Waghalsige Aktionen bekommen eine Eigendynamik, die so niemand vorhersehen konnte. In einer dramatischen Verfolgungsjagd durch halb Europa werden die Gejagten selbst zu Jägern, ein Umkehren scheint kaum mehr möglich. Hannes Tönsings neuer Roman „Am Ende der Strecke - Ein Waidmanns-Unheil-Krimi“ entführt uns erneut in die Welt der Aktivisten um Nina, Steffi und Jan, die bereits in „Hundebeben“ ihren kriminalistischen Spürsinn erprobten.

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Seitenzahl: 162

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Am Ende der Strecke

Für Karin, Lilià, Zaraund für Hermann

Impressum

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN: 978-3-95894-110-6 (Print) / 978-3-95894-111-3

© Copyright: Omnino Verlag, Berlin / 2019

Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen und digitalen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten.

E-Book-Herstellung: Open Publishing GmbH

Nie hätten sie gedacht, dass es Tote gibt. Nie hatten sie gewollt, dass jemand ums Leben kommt. Auch nicht, wenn er es noch so verdiente. Sie wollten doch Leben schützen. Doch dann ging alles schief. Schiefer, als sie es sich je ausmalen konnten. Hätten sie doch nur eher aufgehört. Aber dafür war es nun zu spät.

Inhalt

1Neues Leben

2Pisspott

3Reden, kiffen, lieben

4Prüfung

5Feines Gespür

6Kleines

7Rostlaube

8Meisterschütze

9Schalter

10Elsass

11Rache

12Un, deux, trois

13Strecke

14Reagenz

15Gestanksalarm

16Schliefen

17Scheunentor

185.14

19Blut

20Premiere

21Ein Traum

22Pokerspieler

23Lueder

24Hüfte

25Tele

26Vergessen

27Sodom und Gomorra

28Scheiße

29Versehen

30In Gottes Namen

31Weichei

32E-Werk

33Demio

34Chiara

35Briefkasten

36Dreihundertneunzigtausend

37Früchtchen

38Klo im Nirgendwo

39Tolle Idee

40Jagdinstinkt

41Famiglia

42Fausto

43Höllental

44Wut

45Malaria und Erdbeben

46Kameraden

47Gesicht

48Der Osten schläft nicht

49Bacio

1Neues Leben

»Wenigstens ist die Küche schön groß«, sagt Nina. Sie steht mit Jan und Steffi in der neuen Wohnung. Die Hunde toben durch die übrigen Zimmer. Als sie sich entschlossen, von Dortmund nach Freiburg zu ziehen, wollten die drei unbedingt eine gemeinsame Wohnung. Zusammen mit Alex, der schon lange in Freiburg wohnt. Also versucht der eine bezahlbare Vierzimmerwohnung im Stadtteil Stühlinger zu finden. Für eine Vierer-WG mit drei Hunden. Was praktisch unmöglich ist. Deshalb ist es eine Dreizimmerwohnung geworden. Steffi und Jan teilen sich ein Zimmer. Der Stühlinger ist gut gewählt, da fällt eine WG nicht auf. Das ist wichtig. Insbesondere der Polizei nicht aufzufallen, ist wichtig. Nina bedauert das sehr. Zu gerne würde sie ihre neue Freiheit auch nach außen tragen. Große Slogans auf der Jacke, bunte Haare, fette Stiefel. So auffällig herumzulaufen wäre allerdings ziemlich idiotisch.

Schon nach einer Woche fängt sie als Kellnerin im ‚Brasil‘ an. Das ist gleich um die Ecke von der WG. Eine Freundin von Alex hat ihr den Job besorgt. Nebenbei gekellnert hat sie früher auch schon. Das Wichtigste: Die Arbeitszeiten sind sehr flexibel. Dadurch hat Nina genug Zeit, das zu tun, weshalb sie alle nach Freiburg gekommen sind.

Natürlich ist ihre Hündin Cindy mit umgezogen. Falls Nina etwas zustoßen sollte, kann Cindy zu ihrer Freundin Kathi nach Dortmund. Ohne diese Gewissheit würde Nina nicht die Risiken eingehen, die ihre Pläne mit sich bringen. So aber weiß sie, dass Cindy nicht nur gut versorgt, sondern auch glücklich sein würde, falls etwas schiefläuft. Besonders Kathis Rüde Johnny ist Cindys großer Kumpel.

2Pisspott

»Marco und Tom, ihr wählt«, sagt der Sportlehrer.

»Okay«, ruft Marco und springt auf. »Komm, Tom, wir machen Pisspott, wer anfängt.«

»Piss«, sagt Tom und setzt den linken Fuß vor seinen rechten.

»Pott«, erwidert Marco. So bewegen sie sich langsam aufeinander zu. Zuletzt passt Toms Fuß nicht mehr zwischen seinen linken und Marcos rechten Fuß. »Scheiße«, sagt er, »du fängst an, Marco.«

»Ich nehme Paul.«

»Yeah«, ruft Paul und stellt sich hinter Marco.

»Ich nehme Ali«, sagt Tom. So geht es weiter. Zuletzt sitzen nur noch Lorenz und Manuel auf der Bank. »Na gut, Lorenz«, sagt Tom, »dann komm halt her.«

»Oh nein«, stöhnt Marco, »wollt ihr den nicht auch noch nehmen?«

»Nichts da«, sagt der Lehrer. Manuel trottet zu Marcos Mannschaft.

Solange er zurückdenken kann, fühlt Manuel sich fehl am Platz. Unpassend. Nicht in die Welt passend – oder zumindest nicht in diese, die sich um ihn herum abspielt. Seine Mutter hat nicht viel für ihn übrig, außer ständigen Ermahnungen. Der Vater hat irgendwann festgestellt, dass er keinen richtigen Sohn hat, weil Manuel kein Rabauke ist und im Fußball eine Niete. Seine Mitschüler mögen ihn gerne – hänseln. Mal wegen seiner Segelohren, mal wegen seiner dünnen Arme, mal wegen seiner leisen Stimme. Richtige Freunde hatte er eigentlich nie.

Nach der Schule liest er viel und flüchtet sich in seine Traumwelten – wenn seine Mutter ihn lässt. Er liest alles, was ihn aus der realen Welt hinausführt. Besonders Abenteuerromane, mit echten Helden und echten Freundschaften und echten Waffen. Da hat er sicher noch nicht geahnt, wie viel Macht ihm Waffen einmal in der realen Welt geben werden. Oft geht er nach der Schule zur Bücherei und hat das geliehene Buch schon am nächsten Abend ausgelesen.

Manchmal träumt er davon, dazuzugehören. Aber mit ihm will ja niemand etwas zu tun haben. Außer Lorenz. Mit dem will er aber nicht.

3Reden, kiffen, lieben

Allessandro Zacchetti ist in Breisach bei Freiburg geboren. Seine Eltern sind beide Italiener. Als er zwei Jahre alt ist, verschwindet sein Vater auf Nimmerwiedersehen in Richtung Italien. Ein Jahr später heiratet seine Mutter Harald, seinen Stiefvater. Der wohl auch ein Grund für das Verschwinden seines leiblichen Vaters ist. Alex, wie er von allen genannt wird, bekommt noch zwei Stiefschwestern. Obwohl er sich mit ihnen und auch mit seinem Stiefvater recht gut versteht, fühlt er sich in der Familie immer allein, fremd, außen vor. Der Kontakt zu seiner Mutter ist eher schwierig. ›Vielleicht, weil ich sie zu sehr an meinen Vater erinnere‹, denkt Alex manchmal.

Mit sechzehn zieht er aus. Zu dem Bruder seines Vaters und dessen Frau nach Freiburg, in die ‚große Stadt‘. Die beiden lassen ihm viel Freiheiten. Alex kann sich nicht erinnern, dass sie ihm jemals etwas verboten oder nachgefragt hätten, wo er denn die halbe und später die ganze Nacht war. Wahrscheinlich ist es keine Großzügigkeit, sondern Desinteresse. Sie bekommen Geld von Harald und Alex’ Mutter, der Rest ist ihnen egal.

Mit achtzehn zieht Alex in eine WG im Vauban. In diesem riesigen, ehemaligen Kasernengelände fühlt er sich wohl. Die Gebäude sind zu Wohnungen ausgebaut worden, hauptsächlich für Studenten. In vielen weht noch der Hauch der Hausbesetzungen. Noch hält sich die Anzahl der Neubauten für – in Alex’ Augen – spießig-alternative Kleinfamilien in Grenzen.

Die Fluktuation in der Sechser-WG ist groß. Alex lernt viele Leute kennen. Zum Reden, Kiffen und Lieben. Oft übernachten Besucher in der WG. Manchmal auch solche, von denen niemand weiß, wessen Besuch sie eigentlich sind.

4Prüfung

Seit Manuels siebtem Geburtstag nimmt ihn seine Mutter mit zum Kirchenchor – gegen den erbitterten Widerstand von Manuels Vater. Manuel findet das Drumherum schrecklich. Besonders die alten Tanten, die ihn ‚Goldkehlchen‘ oder ‚Freiburger Sängerknabe‘ nennen. Aber das Singen an sich macht ihm Spaß. Solange ihn keiner beachtet, kann er ganz darin aufgehen. Es kommt tatsächlich etwas aus seinem Mund. Sogar laut und kräftig, wenn er will und sich traut. Wenn er sprechen soll, ist das ja nie der Fall. Aber auch im Chor hat er keine Freunde und wenn nach Probenschluss die Mutter noch stundenlang mit ihren ‚Chorschwestern‘ schwätzt, sitzt Manuel abseits und hat seine Nase schon wieder in einem Buch.

Das Buch, das sein Leben verändert, ist ‚Jagd und Natur‘ von Arthur Schenk. Da ist er dreizehn. Manuel ist fasziniert von den Tieren, der Jägersprache, der Gemeinschaft unter den Jägern. Und natürlich von den Waffen: Flinte, Büchse, Kurzwaffe. Vom Umgang mit den verschiedenen Messern beim Ausweiden und Abtrennen. Er saugt alles auf, was er im Netz über das Jagen findet. Dann entdeckt er das Magazin ‚Der Jungjäger‘. Jeden Monatsanfang ist er nach der Schule am Kiosk, sobald die neue Ausgabe herauskommt. Er speichert alle Fakten und könnte sie vorwärts und rückwärts abspulen. Und er ist fasziniert von den Erlebnisberichten der Jungjäger. Sehnt sich hinein in diese Welt aus Abenteuer, Kameradschaft, Vertrauen, Verlässlichkeit. Sobald er sechzehn ist, wird er den Jagdschein machen. Dafür spart er schon jetzt. Denn obwohl es einen Rabatt für Schüler gibt, kostet der Lehrgang zur Jägerprüfung mit Prüfungsgebühr und Kosten für die Schießübungen über tausendvierhundert Euro.

Er verbringt Stunden in den Jungjäger-Blogs. Schaut sich jedes eingestellte Video auf YouTube zigmal an. Diese Spannung, diese Konzentration auf die eine Sekunde, auf den einen Punkt. Alles Alltägliche spielt keine Rolle mehr. Einfach ganz und gar da sein. Und dann abdrücken. So wie die Jungs in den Videos will er auch werden. Wenn seine Mutter ins Zimmer kommt, klickt er die Seiten schnell weg. Die Mutter schaut ihn dann immer vorwurfsvoll an. Wahrscheinlich denkt sie, er hätte sich gerade Pornos angeschaut. Soll sie doch. Ihn darauf anzusprechen, traut sie sich sowieso nicht. Und wirklich Pornos schauen tut er eh nur, wenn sie nicht da ist.

Im Dezember 2010 geht es endlich los. Abends von sechs bis neun im Seminarraum der Kreisjägerschaft. Direkt neben der Schießanlage. Er ist furchtbar aufgeregt. Nicht wegen des Lernens, sondern wegen der Leute, die er dort antreffen wird. Neue Menschen heißen für ihn meist neue Witze auf seine Kosten, neues Hänseln, bestenfalls allgemeines Ignorieren. Er kommt als Letzter, weil sein Bus Verspätung hat. Über dreißig Männer und zwei Frauen sitzen an den Tischen. In der letzten Reihe ist noch ein Platz frei. Manuel schlüpft möglichst unauffällig dorthin. Der Mann vorne blättert in den Unterlagen, schaut dann wieder auf und fragt in Richtung Manuel: »Stuber?« Manuel nickt. Und dann geht es los.

Der Ausbildungsleiter begrüßt alle noch einmal offiziell und Manuel lässt sich sinken in den Unterricht, von dem er seit fast drei Jahren träumt. Der Lehrgang ist so anders als das Lernen in der Schule. Das hier interessiert ihn wirklich. Alles. Die einzelnen Tierarten, ihre Lebensgewohnheiten und ihre Jagdbarkeit, Fleischhygiene, alles über die wichtigsten Bäume und andere Pflanzen, die einzelnen Jagdhunderassen und ihre Aufgaben und natürlich die Waffenkunde. Sogar das trockene Jagdrecht lernt er gerne. Manuel findet die Ausbilder einfach super. Die leben voll für die Sache. Und es gibt immer was zu lachen. Bei der Hochstedter in Mathe: undenkbar. Jede Woche freut er sich auf den Dienstagabend. Er hat seinen festen Platz im Raum und die anderen Teilnehmer lassen ihn inzwischen einfach in Ruhe. Kein Stress, keine Angst, nur das Thema, sein Thema.

Die schriftliche Prüfung macht Manuel dann mit links. Hundert Multiple-Choice-Fragen. Ein Witz. Denn im Gegensatz zu den meisten anderen im Lehrgang ist sein Gehirn durch die Schule ja noch im Lernmodus. Die mündliche Prüfung läuft nicht so gut – Reden gehört eben nicht zu Manuels Stärken. Aber bei der Waffenhandhabungsprüfung ist er wieder ganz in seinem Element, hat zwischendurch glatt vergessen, dass es sich um eine Prüfung handelt. An der Waffe kann er alles: Sicherheitsüberprüfung, Fertigmachen zum Schuss, Schuss, schrankfertig machen. Das ist er hunderte Male vor dem Einschlafen oder in stinklangweiligem Unterricht in der Schule durchgegangen. Einige seiner Mitprüflinge sind hierbei durchgefallen. Wenn man nur eine Kleinigkeit vergisst, kann man in einem Vierteljahr wiederkommen – und nochmal zweihundertzehn Euro Prüfungsgebühr zahlen. Immerhin fallen in Deutschland zwanzig Prozent der fast zwanzigtausend Jagdscheinbewerber pro Jahr in der Erstprüfung durch.

Für Manuel ist es traumhaft. Erwachsene Männer sehen ihm aufmerksam zu, nehmen ihn wahr und sprechen ihm am Ende sogar noch ihre Anerkennung aus. So gut hat er sich noch nie gefühlt. Und dann die Schießprüfung: auf einen Rehbock in hundert Metern Entfernung. Natürlich auf einen aus Pappe. Der sich also noch nicht einmal bewegt. Vier Schuss, vier Treffer. Dann noch auf einen laufenden Pappkeiler. Auch alles Treffer. Wurfscheibenschießen findet nicht statt. Leider. Denn im Schießen ist Manuel ein Naturtalent. Er liebt es. Es ist präzise. Und machtvoll. Und endgültig.

Am Ende besteht Manuel die Prüfung als Bester des Lehrgangs. Ja, Manuel Stuber, der ewige Loser. Jetzt stolzer Besitzer des Jugendjagdscheins.

5Feines Gespür

Im Vauban ist alles politisch. Zumindest unter den Leuten, die sich für die echten Vaubaner halten. Diskussionen finden statt, Aktionen werden geplant. Alex’ Freund Olli ist im Tierschutz aktiv. Im politischen Tierschutz, wie er immer betont. Kämpft für Tierrechte. Alles, was er macht, ist irgendwie konspirativ. Das gefällt Alex. Olli erzählt von einer Demonstration, die sie letztens in Colmar, im Elsass, gemacht haben. Hier finden regelmäßig Welpenmessen statt, bei denen massenhaft Hundewelpen angeboten werden wie auf einem Wochenmarkt. »Na ja«, hatte Alex eingeworfen, »Hühnerküken zu verkaufen ist auch nicht besser.«

»Da hast du allerdings recht«, hatte Olli gesagt. Sie waren bei der Demo nur achtzehn Leute von diesseits und jenseits der deutsch-französischen Grenze. Nach einer halben Stunde mussten sie die Flucht ergreifen, weil eine nette Abordnung der Händler mit Latten und Stangen auf sie losging. Die Polizei war am anderen Ende der Messehalle ungeheuer beschäftigt.

Immer wieder deutet Olli an, dass es auch Aktionen gibt, die nicht so ganz legal sind. Zum Beispiel das Befreien von Hündinnen, die unter unglaublichen Umständen vor sich hinvegetieren müssen, um zweimal pro Jahr gegen ihren Willen von Rüden gedeckt zu werden. Die Welpen, die sie dann gebären, werden ihnen schon sehr früh weggenommen. Denn die ‚Ware‘ ist verderblich. Wenn die Welpen erst einmal älter als zwölf Wochen sind, will sie keiner mehr haben. Die meisten werden umgebracht, wenn sie bis zu dem Alter nicht verkauft werden konnten. So wie ihre Mütter, wenn sie nach ein paar Jahren so ausgelaugt sind, dass sie als Wurfmaschine nicht mehr taugen.

Je mehr Alex von diesen Dingen erfährt, desto größer wird seine Wut. Schon immer hat er ein feines Gespür für Ungerechtigkeit. Und schon immer kann er sie nicht ertragen. Am schlimmsten ist es, wenn er merkt, dass er machtlos ist und das Gefühl hat, gegen eine Ungerechtigkeit nichts machen zu können. Was ihn aber oft nicht davon abhält, wie Don Quichote einen sinnlosen Kampf gegen Windmühlen zu führen. Lieber sinnlos kämpfen, als gar nicht kämpfen. Olli bringt ihm in langen Nachtgesprächen die Idee nahe, dass man gegen Windmühlen kämpfen kann, ohne unbedingt verlieren zu müssen. Wenn man es intelligent anstellt, wenn man nicht alleine ist und wenn man es nicht jedem auf die Nase bindet.

6Kleines

»Hallo Mama.«

»Hallo Kleines.«

»Du sollst nicht Kleines zu mir sagen. Ich kann das nicht leiden. Das weißt du ganz genau.«

»Okay, Kleines«, antwortet Ninas Mutter. Nina verdreht die Augen. Sie telefonieren selten. Gesehen haben sie sich zum letzten Mal bei der Beerdigung der Großmutter. Das ist fast drei Jahre her.

Der Abnabelungsprozess ist Nina damals leichtgefallen. Den hat eher die Mutter von sich aus übernommen. Als Nina neunzehn wurde, war die Mutter der Meinung, dass es Zeit ist, auseinanderzuziehen. Der große Bruder war schon vor ein paar Jahren ausgezogen. Ninas Vater hatte sich verabschiedet, als sie fünfzehn war. Jetzt will ihre Mutter endlich wieder ein kinderfreies Leben beginnen. Sie zieht aus dem Städtchen in der Nähe von Dortmund nach Hamburg. Nina bleibt und sucht sich eine kleine Wohnung. Ihre Mutter entdeckt das wilde Leben in der Großstadt und scheint so schnell wie möglich, so viel wie möglich nachholen zu wollen.

Wenn sie mal telefonieren, macht sie sich immer über Ninas spießiges Leben in der ‚Provinz‘ lustig. Auch jetzt fragt sie: »Und immer noch unermüdlich im Einsatz für die Tierchen?«

»Ja«, antwortet Nina einsilbig. Über dieses Thema kann man mit ihrer Mutter einfach nicht reden.

»Mensch, Kleines«, sagt diese nun, »du kannst sowieso nicht alle retten. Was ihr macht, ist ein Tropfen auf den heißen Stein. Und zwar mitten in der Wüste, guck dich doch mal um! Kümmere dich lieber mal um dein eigenes Glück, anstatt allen mit deinem moralischen Zeug auf die Nerven zu gehen.«

»Mama, welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?«

»Ich mach’ mir halt Sorgen.«

»Du machst dir Sorgen? Das wäre ja ganz was Neues. Hast du getrunken? Dann bist du früher auch immer sentimental geworden.«

»Das geht dich gar nichts an!«

»Ach, dann geht dich meine Arbeit aber auch nichts an!«

»Ich hab dich nicht angerufen, um mich mit dir zu streiten.«

»Dann tu’s auch nicht.«

»Hast du denn jetzt endlich mal einen Freund?«

»Mama! Ich lege jetzt auf, ich hab da keinen Bock drauf.«

»Kleines, du machst das doch alles nur, um Anerkennung zu kriegen. Die du von mir nicht genügend bekommen hast.« Nina verdreht die Augen. Schon seit ein paar Jahren hat ihre Mutter ein Faible für Psychologie. Seitdem sie mal mit so einem Psychoguru zusammen war. »Ich muss mich dafür entschuldigen.«

»Ach du musst? Wäre aber besser, wenn du wolltest. Außerdem bist du schon voll am Lallen. Du kannst dich ja nochmal melden, wenn du wieder nüchtern bist.«

Nina beendet die Verbindung. Kurze Zeit später klingelt das Telefon wieder. Sie lässt es schellen. ›Na toll‹, denkt Nina, ›da meldet sie sich monatelang nicht und dann kriegt sie das große Heulen. Und trifft natürlich zielsicher einen meiner wunden Punkte. Vielen Dank!‹

7Rostlaube

Ostern vor einem Jahr dann die erste Aktion, in die Alex von Olli eingeweiht wird. Sie brauchen Fahrer. Wer, so wie Alex, eine Rostlaube von uraltem Skoda souverän durch alle Gassen und Gässchen Freiburgs bringt, obwohl die Lenkung hoffnungslos ausgeschlagen ist, ist dafür prädestiniert. Zumal er bei der Aktion einen fast neuen, geliehenen Kleintransporter fahren darf. Ganz in den Norden soll es gehen. Bis nach Dortmund. Zu einem fiesen Hundehändler. Wo ihm ein paar Vermummte einige Kisten mit befreiten Welpen in den Bulli stellen. Die er nach Ihringen im Kaiserstuhl bringt. Zu einem gewissen Robert, den er nur ein paarmal in der WG getroffen hat. Und der immer schwer heimlich mit Olli getan hat. Dass die Nummernschilder an dem Transporter gestohlen sind, hat Alex erst später erfahren. Wer noch alles an der Aktion beteiligt war, wer die Nummernschilder gestohlen und den Leihwagen wieder zurückgebracht hat, weiß er bis heute nicht.

Ende 2016 melden sich die Leute aus Dortmund überraschend bei Olli. Der dann den Kontakt zu Alex herstellt. Im Januar kommen sie für ein paar Tage nach Freiburg, danach fährt Alex zweimal nach Dortmund. Mit dem Zug, die Strecke kann er seinem Skoda nun wirklich nicht mehr zumuten. Außerdem wissen die Dortmunder einen coolen Trick, wie man sich von der Bahn einen Großteil des unfassbar hohen Fahrpreises zurückholen kann. Alex versteht sich sofort super mit ihnen. Er freut sich riesig, dass sie nach Freiburg ziehen wollen. Euphorisch beginnt er also, eine Wohnung für sich, Nina, Steffi und Jan zu suchen. Der Freiburger Wohnungsmarkt verpasst Alex’ Euphorie erstmal einen kräftigen Dämpfer. Aber dann gelingt es ihm doch, die Wohnung in der Egonstraße im Stühlinger zu ergattern.

8Meisterschütze

Die gebrauchte Haenel Repetierbüchse mit AKAH Zielfernrohr hat Manuel für tausendzweihundert Euro gekauft. Ein echtes Schnäppchen. Den alten Waffenschrank hat ihm ein Bekannter seines Onkels für hundertfünfzig Euro überlassen. Sein erstes eigenes Gewehr! Er könnte es täglich zerlegen und putzen. Es ist noch kein Tag vergangen, an dem er es nicht in die Hände genommen und angelegt hat, sobald er aus der blöden Schule zurück ist.

Dann kommt der 24. September 2011. Dieses Datum wird Manuel wohl nie vergessen. Es ist sein Premierentag. Seine Initiation, sein neuer Geburtstag. Seine Geburt in ein neues Leben. In das echte Leben. Das volle, bunte, abenteuerliche Leben. Der Tag, an dem er sein graues, eintöniges, sinnloses Leben hinter sich lässt. Oder zumindest eine strahlende Alternative zu ihm hat. Mit der er der Tristesse immer wieder entfliehen kann. Was für ein Unterschied! Immer war er nur der mittelmäßige Schüler, der, der niemandem so recht auffiel, der beim Sport im