Am Ende jener Tage - Clare Clark - E-Book

Am Ende jener Tage E-Book

Clare Clark

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Beschreibung

Von Glanz und Glamour einer großen Dynastie und dem Ende einer Epoche. Die Melvilles gehören zu den angesehensten Adelsfamilien Englands. Ihre legendären Feste sind glamourös, ihr Selbstbewusstsein so unerschütterlich wie die Mauern ihres Schlosses. Doch als der Erste Weltkrieg ausbricht, verändert sich alles.

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Clare Clark

Am Ende jener Tage

Roman

Aus dem Englischen von Bernhard Jendricke und Rita Seuß, Kollektiv Druck-Reif

Atlantik

Für Luke, Alice und Frances,

jeweils ein Drittel,

weil das gerecht ist.

Sie werden nicht altern wie wir, die sie überlebten:

Das Alter wird sie nicht ermatten, der Wandel nicht kränken.

Wann immer die Sonne sinkt und wieder erwacht,

Werden wir ihrer gedenken.

Laurence Binyon, September 1914

Prolog

1920

Es regnete, als sie dem Sarg aus der Kirche folgten. Ein böiger Wind zerrte an den Hüten der Trauergäste. Der Pfarrer an der Spitze der Prozession hielt den sich bauschenden Talar mit den Armen fest und sang: »Denn wir haben nichts in die Welt gebracht, darum offenbar ist, wir werden auch nichts hinausbringen. Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen.« Der Wind trug die Worte davon und zerstreute sie wie trockenes Laub.

Mit gesenktem Kopf standen sie zusammen am Grab, Phyllis und Jessica und Oscar. Hinter ihnen hielt Evelyn, ein entfernter Cousin des Verstorbenen, seinen Schirm über Lettice und stemmte ihn gegen den Wind, damit er nicht umschlug. Sie war wieder guter Hoffnung. Diesmal ein Mädchen, da sei sie ganz sicher, hatte sie Jessica freudig anvertraut. Noch nie im Leben sei ihr so übel gewesen.

Danach gingen sie zum Haus zurück, wo Tee und Sandwiches warteten. Marjorie half Jessica beim Auftragen, während Oscar ein Grüppchen rotgesichtiger Pächter begrüßte, die sich in ihren Sonntagsanzügen sichtlich unbehaglich fühlten. Von seinem Platz über dem Kamin aus verfolgte Jeremiah Melville, die Hände auf seinem Stock, das Geschehen mit grimmiger Miene. Oscar bemühte sich, nicht zu ihm hinaufzusehen.

Auf der anderen Seite des Großen Saals flüsterte Mr Rawlinson, der Anwalt der Familie, Phyllis etwas zu, die nickte und dabei aus dem Fenster schaute. Ihr schwarzes Kleid betonte ihre blasse Haut und ihr rotschimmerndes Haar. Rawlinson wandte sich um und fing Oscars Blick auf, doch Oscar tat so, als hätte er ihn nicht bemerkt. Vermutlich wollte ihm der Anwalt nur sein Beileid bekunden, aber Oscar wollte nicht mit ihm reden. Hätte er mehr Taktgefühl besessen, wäre er erst gar nicht gekommen.

Die Trauergesellschaft löste sich bald auf. Als der letzte Gast gegangen war und die Frauen vor dem Kaminfeuer Platz genommen hatten, machte sich Oscar zu einem Spaziergang auf. Der Wind hatte sich gelegt, und die Luft war feucht und frostig. Es roch nach nasser Erde und fauligem Laub und, entfernt, nach Meer.

Die Dämmerung brach schon herein, als er durch den Garten und über den Krocketrasen auf den Turm im Wald zuging. Der Turm zog ihn immer noch magisch an, selbst nach so langer Zeit. Am Fuß der Wendeltreppe blieb er stehen, eine Hand auf dem Rahmen des bogenförmigen Eingangs zum Gekachelten Raum, wie sie ihn immer genannt hatten. Der Boden war dick mit Laub bedeckt, und die Fenster waren mit Efeu und Brombeergestrüpp zugewachsen, deren Ranken sich durch die zerbrochene Scheibe hindurch um die vermodernden Bänke schlängelten. Die Wandkacheln waren grau und mit Schmutz und Spinnweben überzogen. Mit der Kante seiner Faust rieb er eine frei. Sie schimmerte in der Dämmerung wie das Weiße eines Auges.

Keuchend stieg er bis ins oberste Turmgeschoss hinauf. Hier wirkte das Licht fahler. Die geduckte Masse der Isle of Wight verschmolz mit dem Horizont, und in den glaslosen Fenstern säuselte der leichte Wind. Als er noch ein kleiner Junge gewesen war, hatte Sir Aubrey ihn einmal hier heraufgeführt. Sir Aubrey schien nicht gewusst zu haben, dass Theo diesen Raum als sein privates Reich betrachtete, das man nur auf Einladung betreten durfte. Oscar hatte Sir Aubrey versprechen müssen, es nicht Patentante Eleanor zu erzählen. Patentante Eleanor hielt den Turm für gefährlich. Sir Aubrey erklärte Oscar, der Turm habe dreizehn Stockwerke und 385 Stufen und sei 66 Meter hoch. Seine Grundfläche betrage fünfeinhalb Meter im Quadrat, die außenliegende Treppe nicht eingerechnet, und er ruhe auf einem Fundament von zwei Meter siebzig. Am Fuß des Turms sei der Beton sechzig Zentimeter stark, an seiner Spitze dreißig Zentimeter. Für den Bau habe ein Trupp von vierzig Arbeitern fünf Jahre benötigt. Oscar war so gefesselt, dass er fast seine Angst vergaß, Theo könnte es herausbekommen. Oscar war damals wie besessen von Zahlen.

Das Westfenster des Turms gewährte einen Blick auf das Haus. Von einem so hochgelegenen Aussichtspunkt mutete Ellinghurst mit seinen kastellartigen Wehren und Türmchen wie die von einem Kind errichtete Sandburg an, die breiten efeubewachsenen Mauern, die es zum Westen hin umschlossen, schienen kaum mehr zu sein als eine geschwungene Linie von Kieselsteinen im Sand. Jenseits der leicht abschüssigen Rasenflächen war der grasbewachsene Burggraben in Schatten getaucht, das auf einem Erdhügel errichtete Haus glich einer Insel inmitten des weitläufigen Parks, der sich nach Süden erstreckte, während sich im Norden die dunklen Schemen der Wälder und Hügel des New Forest abzeichneten. Hinter dem Torhaus konnte Oscar gerade noch den Fluss erkennen, eine schwarzblau gekrakelte Linie inmitten tintenklecksartiger Bäume.

Die Höfe sollte man am besten aufgeben, hatte Rawlinson gesagt. Es sei ein guter Zeitpunkt, sie zu verkaufen. Die von der Regierung während des Kriegs eingeführten Agrarsubventionen hätten die Ernteerträge und Gewinne der Landwirte ansteigen lassen. In Westminster kursierten Gerüchte über eine Rücknahme dieser Unterstützung, aber solange das Gesetz in Kraft war, seien die Pächter versessen darauf zu kaufen, und angesichts der zu erwartenden Steuererhöhungen sei ein steuerfreier Kapitalgewinn verminderten Einnahmen vorzuziehen, meinte der Anwalt. Oscar hatte einen Blick in die Hauptbücher mit den Bilanzen des Anwesens geworfen, und ihm waren die vielen Zahlenkolonnen durch den Kopf geschwirrt. Wenn Rawlinson recht hatte, was den Wert von Grund und Boden anging, würde der Verkauf genügend einbringen, um die Erbschaftssteuer zu bestreiten und sich zumindest vorerst über Wasser zu halten.

Über die Zukunft hatten sie nicht gesprochen, dafür war es noch zu früh. Doch Oscar wusste, in absehbarer Zeit würde auch der Park verkauft werden müssen. Das hatte Rawlinson zwar nicht gesagt, aber Oscar wusste, dass der Anwalt bereits begonnen hatte, die Fühler auszustrecken. Das Anwesen war schwer mit Hypotheken belastet, und ohne die landwirtschaftlichen Pachteinnahmen würden sie die Raten kaum aufbringen können. Nach und nach würde sich Ellinghurst auf seinen Erdhügel zurückziehen, die Zugbrücke hochgeklappt zum Schutz vor den Immobilienhaien, mit deren Geld sie die Schulden begleichen und das Dach vor dem Einsturz bewahren könnten.

Oscar war unschlüssig, ob er an der Universität bleiben sollte. Gegenüber Rawlinson hatte er zwar darauf bestanden, seinen Abschluss machen zu dürfen, aber er war sich nicht mehr sicher, ob das noch wichtig war. In diesen Zeiten bestand ohnehin keine Aussicht auf eine Forschungsstelle nach dem Examen, warum also nicht gleich hinwerfen und sich mit ganzer Kraft Ellinghurst widmen? Es wäre ein geringer Verlust, und nur für ihn persönlich. Die Wissenschaft würde seinen Weggang nicht bedauern. Vor fast fünf Jahren war Sir Aubreys Bruder Henry in der Schlacht von Gallipoli von einem Scharfschützen getötet worden. Obwohl bei seinem Tod erst Anfang dreißig, hatte Henry Melville in den Fachbüchern bereits unauslöschliche Spuren hinterlassen. Unter den Wissenschaftlern aus Oscars Bekanntenkreis herrschte weithin die Ansicht, Henrys Arbeiten hätten ihm, wäre er nicht im Krieg gefallen, den Nobelpreis eingetragen.

Niemand bezweifelte, dass Henry ein Werk von überragender Bedeutung geschaffen hätte, das ihn beizeiten zu einem der größten Wissenschaftler seiner Generation gemacht hätte. Doch auch nach seinem Tod war dieses Werk nicht brachgelegen. Andere hatten es fortgeführt. Der Riss, der durch seinen Tod entstanden war, hatte keine weiteren Schäden verursacht und war ordentlich verputzt worden. Die Experimentalphysik war eine kollektive Unternehmung wie der Bau eines Ameisenhügels. Der Beitrag der einzelnen Ameise hatte dabei keine Bedeutung. Was zählte, war der gemeinsam erschaffene Bau. Große Wissenschaftler waren selten, aber nicht so selten, dass ihre Arbeit mit ihnen zu Grabe getragen wurde. Wenn es in einem bestimmten Jahr einem Wissenschaftler nicht gelang, eine Entdeckung zu machen, dann würde ein anderer sie im folgenden Jahr machen. So oder so, der Ameisenhügel würde unaufhaltsam wachsen.

Mit Ellinghurst verhielt es sich anders. Nach dreihundert Jahren waren sie die einzigen übriggebliebenen Ameisen. Oscar hatte es dem Zufall zu verdanken, dass er gerettet wurde, dem Zufall und Mr Rawlinson. Dafür war er ihm dankbar. In den letzten sechs Kriegsmonaten verzeichnete die britische Armee fast eine halbe Million Tote und Verwundete, das war nahezu ein Fünftel des grauenvollen Blutzolls, den der gesamte Krieg gefordert hatte. Was immer die Wahrheit sein mochte, Oscar hatte seine Wahl getroffen. Eine Schuld musste beglichen, eine Pflicht erfüllt werden. Die Papiere waren unterzeichnet und Sir Aubrey zur ewigen Ruhe gebettet. Oscar würde tun, was er konnte, wie Sir Aubrey es gewünscht hatte. Er würde nicht derjenige sein, der die Ketten sprengte. Vielleicht würde sich im Lauf der Zeit das Gefühl einstellen, dass das Haus und der Name sein Eigen seien. Dabei sollte gerade er inzwischen wissen, dass Namen nichts bedeuteten.

Es war geschafft. Ellinghurst gehörte ihnen. Die Zukunft war vorgezeichnet. Es hatte keinen Sinn, »Was wäre wenn …«-Grübeleien anzustellen oder sich zu fragen, ob er es sich so gewünscht hatte.

1

1910

Terence hielt den Rollstuhl fest, als Theo Jessica den Schal um die Augen band. Obwohl er ihn so stramm zog, dass er an ihrem Haar ziepte und ihr auf die Augen drückte, protestierte Jessica nicht. Während Terence sie nach draußen auf das Sträßchen schob, klammerte sie sich an die Peddigrohr-Armlehnen.

»Sag mal ›Cheese‹!«, rief Theo, worauf sie sich ein Grinsen abrang. Seine Kamera klickte. Jessica spürte, wie der Wind an den losen Enden ihres Schals zupfte und sich ihr vor Angst der Magen zusammenkrampfte. An dieser Stelle war die Straße so steil, dass die rotgesichtigen Radfahrerinnen, die verbissen die sanfte Steigung durch das Dorf hinaufgekeucht waren, absteigen und schieben mussten. Wenn ihre Mutter das sah, lachte sie. Manchmal, wenn sie mit dem Auto unterwegs waren, wies Eleanor Pritchard an, dicht aufzufahren und dann zu hupen. Phyllis hasste das, doch Eleanor lachte herzhaft, wenn die Radfahrerinnen schlingernd auf den Straßenrand auswichen. Sie erweise der Allgemeinheit nur einen Dienst, sagte sie zu Phyllis und Jessica, und im Übrigen sollten sich die rotgesichtigen Damen über diese kleine Aufregung freuen.

Die rotgesichtigen Damen schoben hier auch bergab. Vater sagte, das müssten sie auch, sonst gingen die Räder mit ihnen auf und davon, und Eleanor lachte und meinte: ja, aber nur die Räder, worauf die Lippen ihres Vaters zu einem dünnen Strich wurden. Vor ihrem geistigen Auge sah Jessica die holprige graue, von hohen Hecken gesäumte Straße, die sich wie eine Wäscherutsche nach unten neigte, um am tiefsten Punkt beim Tor zur Stream Farm über den Fluss hinweg scharf nach rechts abzubiegen. Theo sagte, der Rollstuhl würde an der Kurve geradeaus weiterrollen und schlimmstenfalls umkippen, wenn er ins dichte Gras neben dem Acker der Stream Farm geriete, was nicht weiter schlimm wäre, denn im Gras würde man weich landen. Jessica wusste, das war nicht das Schlimmste, was passieren konnte, aber es hatte keinen Sinn, es sich weiter auszumalen. Nanny, das Kinderfräulein, sagte, wenn man zu viel über schlimme Dinge nachdenke, beschwöre man sie erst herauf.

»Fertig?«, fragte Theo, und Jessica nickte und krallte sich im Rohrgeflecht des Rollstuhls fest, um sich Mut zu machen. Es war dumm, Angst zu haben. Theo hatte gesagt, Angst sei der Grund, warum so viele Leute ein derart kleines, freudloses Leben führten. Jessica sei klein für ihr Alter, wurde Eleanor nicht müde zu wiederholen, aber Jessica hatte trotzdem nicht die Absicht, jemals freudlos zu sein.

»Weißt du was, Theo?«, sagte Terence Connolly mit seinem breiten amerikanischen Akzent. »Du hast ja recht, wir glauben dir.«

»Regel bleibt Regel. Wir haben gesagt, wer das rote Zündholz zieht. Stimmt’s, Jess?«

Jessica nickte und biss sich auf die Innenseite der Lippen. Sie wünschte, Terence Connolly würde den Mund halten, damit sie die Sache hinter sich bringen konnte.

»Die Kleine hat doch schon Mumm genug bewiesen«, wandte Terence ein. »Nicht nötig, sie auf die Straße klatschen zu lassen.«

»Du bist doch nicht etwa ein Schlappschwanz, Connolly?«, feixte Theo, ruckelte am Rollstuhl und ließ ihn kurz los, um ihn sofort wieder festzuhalten, als er zu rollen anfing. Jessica drehte sich der Magen um. Marjorie hinter ihr kicherte. Jessica musste sich zusammennehmen, um nicht aufzustehen und ihr eine zu knallen. Marjorie Maxwell Brooks hing immerzu auf Ellinghurst herum, weil ihre Mutter unbedingt mit Eleanor befreundet sein wollte; immerzu tapste sie um sie herum, säuselte, wie reizend sie die Soundsos gefunden habe – und woher nehme Eleanor nur dieses fabelhafte Gespür für Farben? Marjorie hatte Polypen, weshalb sie durch den Mund atmete und beim Sprechen wie eine blecherne Gießkanne klang, als sei sie schwer erkältet.

Auch war sie dermaßen idiotisch in Theo verknallt, wie Jessica es noch nie erlebt hatte. Marjorie konnte kein Wort an ihn richten, ohne zu kichern oder rot anzulaufen. Letztes Jahr an Weihnachten hatte Theo sein Taschentuch fallenlassen, und Jessica hatte beobachtet, wie Marjorie es aufhob und an ihr Gesicht drückte, obwohl Theo gerade hineingeschnäuzt hatte. So etwas Widerliches hatte Jessica in ihrem ganzen Leben noch nicht gesehen. Alle dachten, Marjorie sei Phyllis’ Freundin, weil die beiden gleich alt waren, aber Marjorie lief hinter Theo her wie Marys Lämmchen in dem Kinderreim, während Phyllis nichts anderes wollte als Bücher lesen. Bestimmt will Phyllis nach ihrem Tod weder begraben noch zu Asche verbrannt werden wie Großvater Melville, dachte Jessica, sondern in einem dicken schweren Buch landen, plattgedrückt wie eine Pressblume, und wer in dem Buch lesen wollte, müsste durch ihr zermatschtes Hirn spähen und ihre getrockneten braunen Eingeweide zwischen den Zeilen wegkratzen.

»Du würdest es nicht tun, Marjorie, oder?«, fragte Terence.

»Nicht für alles Geld der Welt«, sagte Marjorie, immer noch kichernd.

»Wer redet denn von schnödem Geld?«, sagte Jessica blasiert, und Theo lachte.

»So gefällst du mir«, sagte er und drückte ihr sanft die Schulter. Das Gefühl von Stolz, das sie erfasste, brannte ihr in der Kehle, als müsste sie Tränen zurückhalten.

»Los!«, befahl sie, und mit einem gewaltigen Schubs flog sie davon und brauste bergab, während der Wind ihre Schalenden flattern ließ und die Unebenheiten der Straße ihre Knochen durcheinanderrüttelten, als wäre sie ein Skelett; und als ihr Tränen in die Augen stiegen, entrang sich ihrer Brust ein durchdringender Schrei, unklar, ob mehr aus Angst oder einem Gefühl des Triumphs, und die Dunkelheit erstrahlte plötzlich von silbrig funkelnden Sternen, und sie dachte: So muss es sich anfühlen als Vogel oder in einem Rennwagen, und dann gab es plötzlich einen gewaltigen Ruck, und der Rollstuhl kam schlagartig zum Stillstand und sie flog wie ein Vogel durch die Luft, und für einen Moment stand die Zeit still, und sie dachte noch, was wohl als Nächstes käme und ob es sehr wehtun würde, bevor sie mit einem dumpfen Aufprall, der ihr den Atem raubte, in einem dichten Brennnesselgestrüpp landete.

Nanny schnalzte missbilligend mit der Zunge, als sie ihr Zinksalbe auf die Nesselstiche rieb. Müßiggang sei aller Laster Anfang, sagte sie, und der Fluss kein Ort für ein Mädchen, das besser malen oder Klavier üben sollte. Dann band sie Jessicas Haar wieder hoch und strich mit ihren knorrigen roten Händen die Strähnen glatt. Jessica erwähnte den Rollstuhl nicht. Sie wollte Theo nicht in Schwierigkeiten bringen. Nicht dass er jemals in echten Schwierigkeiten gesteckt hätte. Wenn Nanny ihn ausschimpfte, zog er nur Grimassen, kitzelte sie, dass sie sich krümmte und wand, und sagte, sie tue doch nur so, als sei sie böse auf ihn.

Was ihre Eltern anging, hätte Theo das Haus niederbrennen können. Eleanor hätte nur gelacht und die hübschen Flammen bewundert. Ihren Vater machte es wütend, wenn Eleanor Theo verteidigte, aber wenn er ihn ausschimpfte, mündete es in einen Streit, den Theo mit schöner Regelmäßigkeit gewann. Er lächelte seinen zornigen Vater auf eine Weise an, dass dieser mit geballten Fäusten das Zimmer verließ.

Als Nanny endlich aufhörte, sie zu betüddeln, und sie das Kinderzimmer verlassen durfte, lief sie die Treppe hinunter und hinaus in den Garten, aber sie konnte die anderen nirgendwo entdecken. Ihre Haut tat weh und juckte fürchterlich, und ihre Handflächen brannten. Sie leckte über die harten weißen Quaddeln, um den Schmerz zu lindern, verzog das Gesicht angesichts des bitteren Geschmacks der Salbe und wischte sich die Zunge am Ärmel ab.

Es war kalt geworden, am Himmel standen dicke Wolken. Die Rosen rund um die Terrasse zitterten und drängten ihre blassen Köpfe aneinander, und die grünen Blätter der Rosskastanien wogten auf und nieder. Jemand, vielleicht Terence, hatte seinen Kricketpullover auf der schmiedeeisernen Bank unter der Eiche liegen lassen. Jessica hoffte, es würde regnen und der Pullover wäre nicht mehr zu gebrauchen. Sie konnte Terence Connolly nicht ausstehen. Sein Mund war zu rot und seine Stimme laut und amerikanisch. Außerdem war er ein fürchterlicher Aufschneider. Als ihr Vater ihn fragte, ob er Tennis spiele, hatte er sich so endlos über die albernen Turniere ausgelassen, die er gewonnen hatte, dass sie plötzlich das Bedürfnis hatte zu schreien. Dass Theo ihn unbedingt hatte einladen müssen, noch eine Woche zu bleiben, statt ihn am nächsten Tag mit seinen Eltern nach London fahren zu lassen, konnte sie kaum fassen. Vermutlich war es die Brownie-Kamera, die ihrem Bruder den Kopf vernebelt hatte. Bevor sie mit Bergen von dämlichen amerikanischen Geschenken angekommen waren, hatte niemand einen der Connollys auf Ellinghurst haben wollen. Niemand außer Eleanor.

Jessica hob einen Stock auf und lief über den Krocketrasen, wobei sie sich bei jedem Sprung über einen Drahtbügel auf den Oberschenkel schlug. Sie überlegte, in die Stallungen zu gehen und Max zu besuchen, aber allein auszureiten machte keinen Spaß. Allein machte überhaupt nichts Spaß. An den Buchen bei der Kurve in der Auffahrt blieb sie stehen und spähte durch das Tor zwischen den Rhododendronbüschen, aber der Tennisplatz war verwaist, das Netz hing schlaff zwischen den Pfosten. Mit ihrem Stock drosch sie auf die Rhododendronblüten ein, dass rosa Blütenblätter zu Boden segelten, dann schlenderte sie den Waldrand entlang zurück und ließ den Stock über das Eisengeländer klappern. Über den Wipfeln des Waldes ragte Großvaters Turm hoch in den Himmel hinauf wie Jacks Bohnenranke im Märchen. Von hier aus konnte sie die Rückseite der Wendeltreppe sehen, die sich wie eine dunkle fette Schlange von dem grauen Beton des Turms abhob.

Großvater war zwar Vaters und nicht ihr eigener Großvater gewesen, aber weil ihr Vater immer von Großvaters Turm sprach, nannten sie ihn ebenfalls so. Jessicas richtiger Großvater war gestorben, als ihr Vater noch jung war, also vor langer Zeit, denn ihr Vater war alt, viel älter als die Väter ihrer Freunde. Während Jessica weiterging, ließ sie die Turmspitze nicht aus den Augen. Sie mochte es, dass man beim Näherkommen das Gefühl hatte, der Turm würde gleich umfallen. Das lag daran, dass er so hoch war. Ihr Vater sagte, er sei im italienischen Stil erbaut, was bedeutete, dass er eigentlich nach Venedig gehörte und nicht in den New Forest. Eleanor verabscheute ihn, sie bezeichnete ihn als einen Schandfleck, aber nach wie vor war eine ihrer Lieblingsgeschichten, wie Großvater Melville in Beton vernarrt aus Indien zurückgekehrt war und eine Dame namens Mrs Gleeson kennengelernt hatte, die Spiritistin war, also mit Verstorbenen reden konnte. Großvater Melville und Mrs Gleeson seien sehr, sehr gute Freunde geworden, sagte Eleanor, rollte dabei die Augen und machte ein lustiges Gesicht, sodass alle lachten. Dank Mrs Gleeson hatte Großvater Melville mit Sir Christopher Wren sprechen können, der schon lange tot war, und von ihm Hilfe beim Entwurf des Turms erhalten. Wie sich herausstellte, war Sir Christopher Wren von unbewehrtem Beton genauso begeistert wie Großvater Melville.

»Wäre er klüger gewesen, hätte er vielleicht bedacht, dass Wren gut zweihundert Jahre zu früh geboren war, um Beton zu kennen«, sagte Eleanor gern, »aber was zählen schon solche Kleinigkeiten, wenn man in einem abgedunkelten Zimmer sitzt und Händchen hält?«

Jessicas Vater hasste es, wenn sie diese Geschichte zum Besten gab. Manchmal stand er mittendrin auf und verließ das Zimmer. Dann lachte Eleanor nur und erzählte ungerührt die andere Geschichte, die er ebenso wenig ausstehen konnte: wie Großvater Melville ein paar Bedienstete über die Turmbrüstung geschubst hatte, um seine Flugmaschinen zu testen. Den Kindern hatte sie das Besteigen des Turms streng verboten, da er ihrer Ansicht nach jederzeit einstürzen konnte; sie taten es trotzdem. Auf jedem der dreizehn Stockwerke gab es einen Raum, aber der oberste gehörte Theo. Er sagte, dreizehn sei seine Glückszahl. Niemand außer ihm durfte dort hinauf. Jessica überlegte, ob er nach dem Tod ihres Vaters, wenn Ellinghurst ihm gehörte, wohl dort einziehen würde.

Langsam stieg sie die Stufen zum Haus hinauf. Normalerweise ging sie gern die Brustwehr entlang, weil es Spaß machte, von einer Zinne zur nächsten zu hüpfen, aber an diesem Tag war ihr nicht danach. Die Quaddeln an ihren Armen und Beinen brannten, und die Schulterprellung pochte. Sie konnte es nicht fassen, dass die anderen sie ihrem Schicksal überlassen hatten. Irgendwie hatte sie sich ausgemalt, sie würden alle zusammen auf der Terrasse ihren Triumph feiern und Theo würde ein Glas Limonade erheben, um auf ihren Schneid anzustoßen. Stattdessen war er wie üblich von der Bildfläche verschwunden, während sie sich mutterseelenallein mit ihrer wunden, juckenden Haut wand wie ein Fisch. Sie blickte zum Turm zurück. Wahrscheinlich hockte Phyllis gerade dort oben im Gekachelten Raum, über das eine oder andere Buch gebeugt. Der Gekachelte Raum war achteckig und restlos mit Kacheln ausgekleidet. Ihr Vater hatte gesagt, in Indien verwende man Kacheln, um die Räume kühl zu halten. Großvater Melville schien das englische Wetter vergessen zu haben, denn der Gekachelte Raum war wie ein Eiskeller, was aber Phyllis nicht zu stören schien. Jessica fragte sich, ob sie überhaupt merkte, wie kalt es dort oben war. Von allen nervigen Marotten, die Phyllis besaß, nervte am meisten, dass sie immer so tat, als wären Bücher real und das wirkliche Leben bloß eine Geschichte, die jemand ohne sich groß Mühe zu geben erfunden hatte.

Der Große Saal war verwaist, die Türen zum Salon und zur langen Galerie waren geschlossen. Jessica küsste den geschnitzten Adler, der auf dem Treppenpfosten thronte, auf den Schnabel und sah zu dem gerahmten Porträt von Jeremiah Melville hoch, der von seinem Platz über dem Kaminsims auf sie herunterstarrte. Rings um ihn herum hingen Knüppel und Schilde, gekreuzte Spieße und Teile alter Rüstungen. Jeremiah Melvilles Vorfahren waren nicht etwa mittelalterliche Ritter gewesen, sondern Bauern. Nachdem er jedoch mit indischer Baumwolle ein Vermögen gemacht hatte, beschloss er, nicht in einem langweiligen Gutshaus leben zu wollen, sondern in einer Burg mit einer Galerie von Minnesängern und Türmen mit Schießscharten für Bogenschützen, auch wenn es schon damals keine Minnesänger mehr gab und man, wenn überhaupt, mit Pistolen aufeinander schoss. Jeremiah Melville war Großvater Melvilles Großvater gewesen.

»Na, Rexy, wo sind sie denn alle?«, fragte Jessica und strich über den steinernen Löwen, der sich über dem gewaltigen Kamin breitmachte. Eines Tages, so hoffte sie, würde sie Eleanor vielleicht überreden können, einen Hund anzuschaffen. Hinter ihr ließ plötzlich ein Sonnenstrahl die Buntglasfenster aufleuchten und warf Farbtupfen auf die steinernen Bodenfliesen. Jessica berührte mit einem Zeh eine gelbe Raute. Vermutlich schlenderten Mrs Maxwell Brooke und Mrs Connolly immer noch mit Mrs Grunewald in Salworth House herum, sofern sie nicht an Langeweile gestorben waren. Und wer wusste schon, wie weit weg Eleanor und Mr Connolly inzwischen bereits waren? Mr Connollys neues Auto war weiß mit roten Ledersitzen und silbrig glänzenden Rädern mit Speichen kreuz und quer wie bei einem Mikado-Spiel. Der Wagen bot nur Platz für zwei. Als Mr Connolly sie alle hinausgebeten hatte, um ihn sich anzusehen, hatte Eleanor über den glänzenden Kotflügel gestrichen und ausgerufen: Ach, in solch einem Wagen fahren und sterben! Und Mr Connolly hatte sie angelächelt wie die Hexe Hänsel und Gretel, als sie sich daranmachte, sie zu verspeisen.

Jessica verachtete Mr Connolly noch mehr als Terence. Das lag zum Teil daran, dass er beim Lachen den Mund zu weit aufriss und sich Öl ins Haar rieb und hässliche gemusterte Jacken mit zu vielen Taschen trug. Aber hauptsächlich mochte sie ihn deshalb nicht, weil er zu dumm war, um zu merken, dass sich Eleanor nicht mehr aus ihm machte als aus allen anderen. Wenn er sich unbeobachtet fühlte, starrte er sie an. Tags zuvor, als Jessica neben dem Geländer der Galerie gelegen und gespielt hatte, sie wäre ein Tiger im Käfig, hatte sie gehört, wie unter ihr die Tür zum Salon aufgegangen war und Mr Connolly »Mein Gott, was machst du denn da?« gesagt hatte, mit dieser amerikanischen Stimme, die sich selbst bei geflüsterten Worten zu laut anhörte. Am liebsten hätte sie ihm etwas auf den Kopf fallen lassen. Bestimmt würde Mr Connolly mit Eleanor im Wagen miserabel fahren, weil er immerzu sie anglotzen würde, anstatt auf die Straße zu achten.

Ach, in solch einem Wagen fahren und sterben!

»Aber natürlich werde ich sterben, du Dummerchen«, hatte Eleanor fröhlich lachend geantwortet. »Wir alle müssen sterben. Aber mach dir keine Sorgen. Ich werde ganz bestimmt in Schönheit sterben.« Und plötzlich stand Jessica ein schreckliches Bild von Mr Connollys weißem Auto vor Augen – zerknüllt wie eine Papiertüte lag es da, darin, mit dem Kopf im Nacken, Eleanor, aus deren Mund ein Rinnsal Blut lief, scharlachrot und glänzend wie Nagellack.

Jessica schüttelte den Kopf, um das Bild zu vertreiben, und rieb sich die Nase. Sie überlegte, nach oben ins Kinderzimmer zu gehen, aber wahrscheinlich war Oskar dort, und Oskar war schlimmer als überhaupt keine Gesellschaft. Oskar war Mrs Grunewalds Sohn und genauso alt wie Jessica, weshalb alle von ihr erwarteten, dass sie mit ihm spielte. Wann immer sie versuchte, dem Kinderfräulein zu erklären, dass sie das nicht tun würde, setzte diese nur ihr strenges Gesicht auf und sagte, es sei Jessicas Aufgabe, sich um ihre Besucher zu kümmern.

Jessica sah nicht ein, warum Oskar ihr Besucher sein sollte, wo sie ihn doch gar nicht eingeladen hatte, und sie hatte auch nicht den leisesten Schimmer, woran man erkennen sollte, ob er sich wohlfühlte. Oskar brachte es fertig, einen ganzen Tag lang kein Sterbenswörtchen zu sagen und nur vor sich hinzustarren oder in einem Mathebuch zu lesen. Und wenn man die Geduld verlor und wissen wollte, ob er überhaupt noch am Leben war, blinzelte er einen verdutzt an, mit Augen wie abgelutschte Aniskugeln, als wäre es für einen Jungen, der nicht krank war, das Normalste auf der Welt, den ganzen Tag still dazusitzen und kein einziges Mal zu gähnen oder zu quengeln oder irgendwohin flitzen oder etwas kaputtmachen zu wollen. Er schrieb immer nur Zahlen auf, Reihe um Reihe, so dicht nebeneinander, dass auf dem Blatt kaum mehr etwas weiß war, und wenn er den Mund aufmachte, war es das Gleiche: eine endlose Aneinanderreihung von Fakten, die so unsäglich langweilig waren, dass man sie im Leben nicht hören wollte, geschweige denn auswendig lernen. Theo meinte, Oskar sei wie diese Maschine in Gullivers Reisen – wenn man herausfände, wo er aufzuziehen sei, würde er für den Rest seines Lebens in siebzehn Sprachen gleichzeitig nutzlose Informationen herunterrattern.

Auf dem Tisch im Saal stand eine große Silberschale voller blassrosa Rosen. Jessica zog eine heraus, hielt sie sich vor die Brust und tänzelte auf eine der Ritterrüstungen zu, die den Fuß der Treppe bewachten. Die Rüstung hielt einen Spieß in der angewinkelten Hand. Die andere Hand war leer, der Arm leicht ausgestreckt. Sie ergriff die kalten Finger und beugte den Kopf.

Willst du, Jessica Margaret Crompton Melville, diesen Mann zu deinem schrecklich angetrauten Gatten nehmen? Er liebt dich bis ans Ende aller Tage und wünscht sich nichts sehnlicher auf der Welt, als dir einen Alfonso-Wagen zu kaufen.

Na gut, wenn es so ist, dann will ich.

Sie zupfte die Blütenblätter von der Rose, warf sie über ihren Kopf, und schritt gleichzeitig triumphierend zurück zur Eingangstür. Sie war nur ein einziges Mal auf einer Hochzeit gewesen, letztes Jahr, als Onkel Henry und Tante Violet geheiratet hatten. Es war kein bisschen romantisch gewesen. Onkel Henry war zwanzig Jahre jünger als ihr Vater, aber trotzdem schon uralt. Als er seine Rede hielt, küsste er Tante Violet weder noch sagte er, sie würden zusammen glücklich sein bis ans Ende ihrer Tage, oder etwas in der Art. Als Jessica Eleanor fragte, warum er es nicht gesagt hatte, zog ihre Mutter eine Grimasse und antwortete, ob sie immer noch nicht bemerkt habe, dass die Melvilles kalt wie Fische seien.

Beim Blick durchs Fenster entdeckte Jessica Theo und Terence, die gerade lachend die Kiesauffahrt überquerten. Sie hatten sich umgezogen und trugen weiße Flanellsachen, Terence dazu einen Panamahut, was sein Gesicht noch röter machte als sonst. Jessica stellte sich breitbeinig in den Eingang zum Großen Saal, die Fäuste in die Hüften gestemmt, sodass die beiden Jungen, als sie, noch immer lachend, die Tür öffneten, sie fast umstießen.

»Wo, verdammte Scheiße, seid ihr gewesen?«, wollte sie wissen. Es fühlte sich gut an, zu fluchen. Ihr Blick fiel auf die Tennisschläger, die Theo unter den Arm geklemmt hatte. »Ihr wollt doch nicht etwa dämliches Tennis spielen?«

»Dämliches Tennis?«, gab Theo zurück. »Wie kommst du nur auf die Idee?«

»Die Schläger.«

»Schläger?« Theo schaute zu den Schlägern hinunter und schnappte erstaunt nach Luft. »Du lieber Himmel! Wo zum Teufel kommen die denn her?« Terence lachte, als Theo ihm die Schläger in die Arme drückte und ihm mit einer schnellen Bewegung den Hut vom Kopf riss, um ihn in Richtung des Adlers auf dem Treppenpfosten segeln zu lassen. Die Krempe streifte den Schnabel des Vogels, ehe der Hut umgedreht über den Boden schlitterte.

»Danebengetroffen«, sagte Jessica.

»Hängt davon ab, was ich treffen wollte«, sagte Theo, worauf Terence wieder mit weit offenem, rotem Mund lachte. Jessica funkelte ihn böse an.

»Du sollst niemanden ausschließen«, sagte sie zu Theo. »Das ist ungezogen.«

»Was ist ungezogen?« Marjorie kam die Treppe heruntergetänzelt. Sie trug ein tailliertes Tenniskleid und Schuhe so weiß, dass Jessica die Augen zusammenkniff. Hinter ihr schlurfte Phyllis her, wie üblich in Rock und Bluse und mit einem Buch in der Hand. Ihr Daumen steckte als Lesezeichen zwischen den Seiten.

»Hier, unsere Miss Messie, die ist ungezogen«, sagte Theo. Er nahm Terence einen Schläger ab und klopfte Jessica mit der Bespannung auf den Kopf. »Du solltest hören, was für Flüche Nanny ihr beigebracht hat. Die beiden würden sogar einen Bierkutscher erröten lassen.«

Marjorie kicherte. Jessica sah sie böse an. Sie hasste es, wenn Theo sie Mess oder Messie nannte. Miss Messica Jelville, sagte er oft, als hätte er sich verhaspelt, worauf Eleanor sich vor Lachen ausschüttete. Aber gleichzeitig war sie auch ein bisschen stolz, dass er sich einen besonderen Namen für sie ausgedacht hatte. Phyllis war für ihn einfach nur Phyll.

»Fertig?«, fragte Theo, nachdem Terence seinen Hut aufgehoben hatte. Dann runzelte er die Stirn. »Mach schon, Phyll. Du hast ja noch nicht einmal deine Schuhe gewechselt.«

»Ist doch egal«, erwiderte Phyllis. »Ich habe sowieso keine Chance.«

»Wenn du es nicht versuchen willst, brauchst du gar nicht erst zu spielen.«

»Na dann …« Sie lächelte und machte kehrt, um wieder nach oben zu gehen, den Blick bereits wieder auf das Buch gerichtet. Marjorie fasste sie am Arm.

»Bitte, Phyllis«, sagte sie bettelnd, indem sie Theo einen kurzen Blick zuwarf. »Wir brauchen dich. Stimmt doch, Theo, oder? Zu viert macht es viel mehr Spaß.«

»Dann lass sie doch zu zweit spielen«, erwiderte Phyllis. »Das wäre ihnen ohnehin lieber.«

»Stimmt das?«, fragte Marjorie, an Theo gewandt. »Stimmt das wirklich?« Sie biss sich auf die Lippen und sah ihn so schmachtend an, dass Jessica ihr am liebsten auf ihre schneeweißen Schuhe gekotzt hätte.

»Mein Gott, Phyll«, sagte Theo genervt. »Jetzt spiel halt mit!«

»Ich könnte ja mitspielen«, warf Jessica rasch ein. »Ich habe Unterricht genommen.«

»Mir ist ohnehin schleierhaft, warum du mich dabeihaben willst«, erwiderte Phyllis. »Jedes Mal, wenn der Ball ins Netz geht, schnauzt du mich an.«

Jessica schaltete sich erneut ein. »Miss Whitfield sagt, ich habe ein gutes Auge für den Ball.«

»Das wird er nicht mehr tun«, sagte Marjorie. »Du wirst sie nicht mehr anschnauzen, Theo, oder?«

Theos Mund zuckte, und er sah aus dem Augenwinkel Terence an. »Tja, wenn sie auf der anderen Seite stünde, würde ich es wohl nicht tun. Dann würde es mir vielleicht sogar gefallen.«

»Soll das etwa das sein, was man bei uns an der Ostküste ›Challenge‹ nennt, Melville?«, fragte Terence.

»Für dich ganz bestimmt. Hast du Phyllis schon mal auf dem Tennisplatz erlebt?«

»Genau«, sagte Phyllis. »Deswegen spiele ich auch nicht.«

»Jetzt komm schon«, sagte Terence. Die Art, wie er Theo ansah, ließ auf einen Witz schließen, den nur sie beide verstanden. »Würde es dir nicht ein wenig Spaß machen, deinem Bruder sein selbstzufriedenes Grinsen auszutreiben?«

»Das wäre mir das reinste Vergnügen. Aber leider hat er recht. Ich spiele grauenhaft Tennis.«

»Quatsch«, entgegnete Terence, der immer noch Theo ansah. »Glaub mir, es wird ein Kinderspiel. Ein Klacks. Ein Zuckerschlecken. Ein Spaziergang.«

»Brillant«, sagte Theo. »Erst ein paar Wochen im Land der Vorfahren und schon so gekonnt überheblich.«

»Warte nur, bis du meinen Aufschlag erlebst.«

Marjorie wandte sich an Phyllis. »Ich habe gehört, Terence ist wahnsinnig gut. Du wirst keinen einzigen Ball treffen müssen. Du brauchst einfach bloß herumzustehen und hübsch auszusehen.«

Phyllis verdrehte die Augen. »Wenn Miss Pankhurst dich bloß hören könnte, Marjorie. Sie wäre stolz auf dich.«

Erneut mischte sich Jessica ein. »Und was ist mit mir? Wieso darf ich nicht mitspielen?«

»Du bist ja immer noch da!« Theo legte ihr eine Hand auf den Kopf, erfasste mit der anderen ihr Kinn, bog ihr den Kopf nach hinten und drehte ihn hin und her. »Willkommen in der Royal Society, Ladies and Gentlemen. Heute wollen wir eine leider gar nicht so seltene Spezies untersuchen, das verzogene Kind.«

»Lass mich los!«, protestierte Jessica und versuchte sich ihm zu entwinden, aber Theo verstärkte seinen Griff. Er tat ihr weh.

»Man beachte den charakteristischen Flunsch«, sagte er, »das übellaunige Stirnrunzeln. Und dazu, ebenfalls nicht ungewöhnlich, die herausgestreckte Zunge …«

»Lass sie los, Theo!«, sagte Phyllis, während sich Marjorie kichernd die Hand vor den Mund hielt. »Wir können sie doch die Bälle aufsammeln lassen oder so was.«

»Eure Sklavin sein?«, sagte Jessica. »Nie im Leben!«

»Na gut.« Phyllis zuckte die Achseln. »Dann bis später.«

»Ihr könnt mich doch nicht allein lassen.«

»Oskar muss doch irgendwo in der Nähe sein, oder? Und überhaupt, ich dachte, du bereitest dich auf ein Konzert vor.«

»Kein Konzert, sondern eine Show. Aber wenn ihr nie da seid, komme ich damit nicht weiter, weil ihr alle mitmachen müsst.«

Theo sah Terence an und schnaubte. »Nie im Leben!«

»Das mache ich nicht für dich, Theodore Melville, sondern für Eleanor.« Jessica artikulierte den Namen übertrieben langsam und deutlich, als wäre sie eine Sprecherzieherin. Ihre Mutter ermahnte sie stets, ihn richtig auszusprechen, nicht so schlampig wie ein ungebildetes Dienstmädchen.

»Für Eleanor?«, wiederholte Theo und äffte ihre überdeutliche Aussprache nach. »Ist das etwa jene Eleanor, die die Darbietungen von Kindern jedem anderen Amüsement vorzieht?«

»Sie würde sich freuen, wenn du mitmachst«, erwiderte Jessica säuerlich. Theo machte gar nicht erst den Versuch, es zu leugnen. So unbeherrscht Eleanor auch war, so unstet oder reizbar oder zu Tode gelangweilt hier, am Ende der Welt, so war sie Theo gegenüber nie ungeduldig. Manchmal gab sie ihm aus heiterem Himmel einen Kuss oder strich ihm das Haar aus der Stirn. Rutschte hingegen bei Jessica das Haar aus den Bändern, zuckte Eleanor nur zusammen und schickte sie zu ihrer Nanny.

»Nimm doch Oskar dazu«, schlug Theo vor. »Der ist schließlich der reinste Alleinunterhalter.« Er hielt den Tennisschläger, als würde er auf einer spanischen Gitarre klimpern. Dann sang er mit übertrieben deutschem Akzent: »Ich heiße Oskar Grunewald, ja, ja, ei, ei. An manchen Tagen sag ich nur ein Wort, an andern deren zwei.«

»Lass das, Theo«, sagte Phyllis. »Das ist gemein.«

»Es ist nicht gemein, sondern wahr«, erwiderte Jessica.

»Gerade weil es wahr ist, ist es umso gemeiner«, sagte Phyllis. »Außerdem – warum verteidigst du ihn? Ich bin doch auf deiner Seite.«

»Nein, bist du nicht. Du hintertreibst meine Show genau wie Theo, nur gibst du es nicht offen zu. Deshalb bist du noch schlimmer als er.«

Terence grinste und zeigte seine weißen Zähne. »He, das kam jetzt wie aus der Pistole geschossen, Schwesterchen.«

Jessica sah den amerikanischen Jungen mit zusammengekniffenen Augen an. Dann hob sie langsam die Hände und richtete Zeige- und Mittelfinger auf seinen Kopf.

»Peng, peng, du bist tot«, sagte sie. Sie tat, als bliese sie Rauch von einem imaginären Pistolenlauf, reckte das Kinn und stolzierte durch die Dienstbotentür in die Küche.

2

Die Kinder-Enzyklopädie in der Bibliothek war Oskar bislang noch nicht aufgefallen. Sie bestand aus acht dicken Bänden, ein sechzig Zentimeter breiter Block aus blauem Leder, der im Bücherregal fast ein ganzes Bord beanspruchte. Oskar reckte sich auf die Zehenspitzen, um die Bände in Augenschein zu nehmen. In der Schule trugen die Enzyklopädien auf dem Rücken Buchstaben, an denen man erkannte, welchen Teil des Alphabets die einzelnen Bände umfassten, aber diese hier waren nur mit Ziffern gekennzeichnet, von eins bis acht. Darunter, in viel größeren Lettern, die erste und letzte Seitenzahl des jeweiligen Bandes, umrahmt von einem Muster aus goldenen Blättern und einer Schwertscheide. Oskar hatte die Römerausstellung im British Museum besucht, daher wusste er, was eine Schwertscheide war, doch was seine Aufmerksamkeit erregte, waren die Zahlen.

Seine Leidenschaft für Zahlen konnte er sich auch nicht erklären, er wusste nur, dass sie für ihn wie Freunde waren. Seine Mutter hatte gelächelt, als er das sagte, und ihm versichert, sie verstehe, was er meine, halte es aber für besser, den anderen Jungen in der Schule nichts davon zu erzählen. Im Unterschied zu Zahlen seien Schulkameraden unberechenbar, fügte sie hinzu, sie würden sich nicht immer so verhalten, wie man es erwartete. Offenbar wusste sie nicht, dass dies auch für Zahlen galt, zumindest gelegentlich. Manchmal, wenn er krank im Bett lag, stellten sie in seinem Kopf ein heilloses Durcheinander an, ähnlich wie damals, als er mit seiner Mutter bei den Olympischen Spielen die Wettkämpfe der Bahnradfahrer besucht und einen Moment lang geglaubt hatte, er hätte sie verloren; dann schoben und schubsten sich in seinem Kopf die Prim-, Quadrat- und Kubikzahlen und drängelten, bis ihm schwarz vor Augen wurde. Oder die Zahlen verflochten sich zu dicken Strängen, die immer länger und verwickelter wurden, bis er meinte, ihm platze der Schädel. Aber meistens waren sie sanft und ruhig und fügten sich so perfekt zusammen, dass er aus ihnen ganze Gebäude errichten konnte. Wunderschöne Zahlengebäude.

Oskars Mutter mochte Worte mehr als Zahlen und kannte deshalb viele Geschichten über sie. Sie erzählte Oskar von den Schäfern im mittelalterlichen Lincolnshire, die zum Zählen ihrer Schafe eigene Zahlen erfunden hätten. Sie begannen mit yan, tan, tethera, pethera, reichten aber nur bis figgit, was zwanzig bedeutete, denn besaß ein Schäfer mehr als zwanzig Tiere, schnitzte er eine Kerbe in seinen Hirtenstab und begann von neuem mit yan. Seine Mutter erklärte ihm, das Wort »kalkulieren« komme von dem römischen Ausdruck für Kieselstein, weil die Römer zum Rechnen Steinchen benutzten, und das englische Wort digit bedeute sowohl »Zahl« als auch »Finger«, weil früher die Menschen beim Rechnen ihre Finger zu Hilfe nahmen. Und weil man nur zehn Finger zur Verfügung hatte, fasste man die Zahlen in Zehnergruppen zusammen.

»Bis auf Anne Boleyn, die an der rechten Hand sechs Finger hatte«, sagte sie. Anne Boleyn sei die Frau des englischen Königs Heinrich VIII. gewesen; weil er sie geheiratet habe, als seine erste Frau noch lebte, habe er nicht mehr Katholik bleiben können, erzählte sie weiter. Oskar machte sich aus Anne Boleyn ebenso wenig wie aus den Scherben irgendwelcher Tontöpfe im British Museum, aber beim Gedanken an elf Finger überfiel ihn ein Wonneschauer, und er war ganz vernarrt in die Idee eines Zahlensystems, das bis elf ging. Deshalb hatte er sich, als er noch kleiner gewesen war, ein System ausgedacht, das bis dat – elf – reichte, und später, als er erkannte, dass eine Grundeinheit, die sich durch viele andere Zahlen teilen ließe, besser wäre, eine bis tog, zwölf. Seine Mutter sagte, im 19. Jahrhundert hätten verschiedene kluge Männer versucht, das Zahlensystem in Zwölferschritte zu unterteilen, vor allem in Großbritannien, wo ja bereits zwölf Pence einen Shilling ergaben. Aber davon habe niemand etwas wissen wollen. Das sei eines der Dinge, die sie nie verstehen werde: Selbst wenn die Vorteile einer Änderung auf der Hand lägen, hielten die meisten Menschen am Althergebrachten fest.

Band 6, Seiten 3727–4463. Sowohl 3727 als auch 4463 waren Primzahlen. Oskar mochte ungerade Zahlen lieber als gerade, aber am liebsten waren ihm die Primzahlen, weil jede ihren eigenen, besonderen Charakter besaß. Er nahm das Buch aus dem Regal. Es war neu, der Rücken noch steif, und die aufgeprägten Goldbuchstaben glänzten. Die Bücher zu Hause hingegen waren alle zerlesen, und wenn man sie aufschlug, fielen Seiten heraus, Briefe oder Zettel mit der Handschrift seiner Mutter. Immerzu verwendete sie Briefe und Listen als Lesezeichen und vergaß sie dann. Einmal fand Oskar ein Telegramm, die Bekanntgabe der Geburt von JESSICA MARGARET CROMPTON MELVILLE STOP; ein anderes Mal ein französisches Eisenbahnbillett aus der Zeit, als er noch nicht auf der Welt gewesen war. Dagegen sahen die Bücher in der riesigen Bibliothek der Melvilles samt und sonders unbenutzt aus.

Vorsichtig schlug er den Band auf. Als kleiner Junge hatte er seine Mutter gefragt, ob Sir Aubrey all die Bücher in seiner Bibliothek gelesen habe. Da hatte sie gelacht und gemeint, so weit gehe die Liebe zu Ellinghurst nicht einmal bei Sir Aubrey. Den Kaufbelegen nach seien die meisten Bücher als Meterware erworben worden wie die Seide für die Vorhänge, Kiste um Kiste, nur um die Regale zu füllen. Aber einige Bücher habe Sir Jeremiah, der Ururgroßvater von Sir Aubrey, höchstpersönlich angeschafft.

»Wie sonst erklären sich die vielen Werke von Walter Scott?«, sagte sie lächelnd, woraus Oskar schloss, dass es sich um einen Scherz handelte, auch wenn er ihn nicht verstand. Er verstand ja oft nicht, was seine Mutter sagte, hütete sich aber nachzufragen, weil die jeweiligen Erklärungen meist nicht sehr interessant waren. Sir Jeremiah jedoch interessierte ihn. Sir Jeremiah hatte Ellinghurst von einem gewöhnlichen Gutshaus in eine mittelalterliche Burg umbauen lassen, mit Zinnen und Wehrtürmen, einem Burggraben samt Zugbrücke und einem großen Torhaus mit bogenförmiger Durchfahrt, mit Pechnasen und Fallgittern und einem Wachturm mit einer Ausgussöffnung für siedendes Öl. Seine Mutter hatte Oskar erzählt, Sir Jeremiah habe Richard Löwenherz sehr bewundert; wie der große Kreuzzugskönig habe er an Edelmut und Ritterlichkeit geglaubt, aber auch an die unersättliche Profitgier des Menschen. Sie sagte, wenn einen an den Pächtern, die das Land bestellten, nur interessiere, wie viel Kapitalertrag sie erwirtschafteten, sei es wahrscheinlich klug, sicherheitshalber über Fallgitter zu verfügen.

»›Kein kleiner feiger Ritter er‹« sagte Oskars Mutter, und aus ihrem Tonfall hörte er heraus, dass diese Worte aus einem Gedicht stammten. Oskars Mutter liebte Gedichte. Sie könnten genau so schön sein wie mathematische Gleichungen, meinte sie, aber Oskar war sich sicher, das glaubte sie nur, weil sie von Mathematik keinen Schimmer hatte.

Die erste Seite in Band 6 zeigte eine glänzende farbige Bildtafel des Sonnensystems, auf der die Planeten in ihren Umlaufbahnen aussahen wie umherkullernde Glasmurmeln. Oskar war mit dem Sonnensystem einigermaßen vertraut. Er wusste, dass die Ringe des Saturns aus kleinen Eis- und Gesteinspartikeln bestanden und dass Jupiter die zweieinhalbfache Masse aller übrigen Planeten zusammen besaß – allein schon Jupiters größter Mond, Ganymed, war zum Beispiel größer als Merkur. Er wusste auch, dass von seinem Standort auf der Erde die Sonne 149,6 Millionen Kilometer entfernt war. Es verblüffte ihn, wenn andere Leute seiner Mutter gegenüber äußerten, wie klug er doch sei, dass er sich so viele Dinge merken könne. Fakten waren wie Bücher oder Socken. Wenn man sie immer an denselben Platz zurücklegte, fand man sie bei Bedarf.

Auf der Seite neben der Abbildung des Sonnensystems befand sich das Inhaltsverzeichnis. Oskar glitt mit dem Finger die Spalte hinunter, bis er auf DAS BUCH ZUM STAUNEN stieß. Erstaunt fragte er sich, was das wohl sein mochte, und ob es diesen Titel deshalb trug, weil es Staunen hervorrief. Seine Mutter hatte gesagt, mit den Worten verhalte es sich wie mit der Chemie, jedes gehe mit dem nächsten eine Verbindung ein, aber Oskar fand Worte einfach nur verwirrend. Fast hätte er das Buch ins Regal zurückgestellt. Doch als er sah, dass unter DAS BUCH ZUM STAUNEN in kleineren Buchstaben VOM WEISEN MANN geschrieben stand, wollte er wissen, wer dieser weise Mann war.

Mit dem Buch in der Hand ging er zu seiner Fensterbank. An der Längsseite der Bibliothek gab es acht Fenster oder genau genommen vierundzwanzig, weil jedes einen Erker aus drei Flügeln bildete. Oskars Fenster war das von der Tür am weitesten entfernte. Es wurde von einer Marmorbüste auf einer Säule bewacht, einem Mann mit lockigem Bart und leeren blinden Augen. Oskar vermutete, dass es sich um einen Römer handelte, denn um die eine Schulter hatte er eine Art Laken geschlungen. Und weil er weiß war, nannte Oskar ihn Mr Albus, nach dem lateinischen Wort albus für weiß. Jedes Mal, wenn er es sich in der Fensternische bequem machte, begrüßte er Mr Albus, einfach um ihm seine Anwesenheit kundzutun. Unter dem Fenster befand sich eine Bank mit einem Sitzkissen, und wenn man die auf der Innenseite befindlichen Fensterläden schloss, war es wie in einem kleinen Raum, in dem man liegen oder sogar sitzen konnte, wenn man zehn war und nicht allzu groß für sein Alter.

In diesem Erker fühlte sich Oskar wohl. Er wünschte sich nichts mehr, als in einer Burg zu leben, aber trotz der Vorfreude, einige Wochen auf Ellinghurst verbringen zu dürfen, hatte er dort oft Heimweh. Ihm gefiel es, wenn am frühen Morgen noch niemand wach war außer ihm und der Dienerschaft, die sich emsig an die Arbeit machte, und wenn er umherschlendern und alles genau betrachten konnte, ohne dass ihn jemand fragte, was er denn da mache. Aber oft wünschte er sich, mit seiner Mutter zu Hause vor dem Kamin zu sitzen, mit einem Buch oder mit Zettel und Stift in der Hand, und seine Mutter mit ihrem Kneifer auf der Nase, während sie etwas schrieb oder las oder einen Stapel Briefe faltete und in Umschläge steckte, ohne dass sie miteinander sprachen, sondern nur ab und zu aufschauten, um sich zu vergewissern, dass der andere noch da war. Auf Ellinghurst sah er seine Mutter nur nach dem Tee, wenn Nanny die Kinder in den Salon hinunterbrachte. Die Burg war wohl der interessanteste Ort, den Oskar kannte, aber es war ermüdend, immerfort mit Menschen zusammen zu sein, die nur darauf warteten, dass man wieder abreiste.

Das Buch auf der Brust, blätterte Oskar durch die Seiten. Wie sich herausstellte, erklärte der weise Mann nicht nur etwas, sondern beantwortete auch Fragen wie WAS IST DER ÄTHER? Der Äther sei überall, alles sei von ihm umhüllt, selbst die Planeten und ihre Monde. Der Äther sorge dafür, dass man mit X-Strahlen in den menschlichen Körper hineinschauen konnte und Telegrafen ohne irgendwelche Drähte Nachrichten durch die Luft schickten. Oskar wusste, was Telegrafen waren. Mr Kingsley an seiner Schule hatte ihnen alles über Mr Marconi aus Italien erzählt, der die drahtlose Telegrafie erfunden hatte und gegenwärtig an der Erfindung einer Maschine arbeitete, die Stimmen aus dem Jenseits einfangen würde, also von toten Menschen. Mr Kingsley meinte, vielleicht werde sogar noch zu ihren Lebzeiten ein Funkapparat erfunden, mit dem man die Stimme Gottes einfangen konnte.

Zu Gott äußerte sich der weise Mann nicht. Er sagte nur, der Äther sei überall, selbst in den Elektronen der Atome, den Grundbausteinen aller Materie. Oskar hatte noch nie von Atomen gehört, aber der weise Mann erklärte, alles auf der Welt sei aus Atomen zusammengesetzt, aus Teilchen so klein, dass Millionen von ihnen auf einer Nadelspitze Platz hatten. Und trotz ihrer winzigen Beschaffenheit seien sie mit noch viel viel kleineren Dingern vollgepackt, den Elektronen. Um ein Bild davon zu bekommen, wie verschwindend klein diese Elektronen seien, empfahl der weise Mann, sich Tennisbälle vorzustellen, die in zufälliger Bewegung in der Kuppel einer Kathedrale hin und her flitzten.

Am Ende betonte der weise Mann zwar, die Wissenschaft sei sich noch nicht sicher, ob sich die Atome tatsächlich so verhielten, denn dies sei bislang nur eine Hypothese, aber da war es um Oskar schon geschehen. Sein Kopf fühlte sich heiß an, als wäre er von einem inneren Licht erhellt wie eine Laterne. Er berührte die Wand neben sich, die aus Stuck geformten Flechten und das fischgrätartige Muster im Putz, in dem ein Pinselhaar haften geblieben war. Dass Stuck und Farbe und Pinselhaar ebenso wie seine eigenen Haare und seine Fingerspitzen allesamt aus Atomen bestanden, dass alles auf der Welt, was es auch war und wie es auch aussah, sich aus denselben winzigen Materieteilchen zusammensetzte, von denen jedes einzelne selbst wieder ein winziges Universum mit einem eigenen, heftig rotierenden Sonnensystem darstellte – dieser faszinierende und zugleich schauerliche Gedanke ließ ihm die Nackenhaare zu Berge stehen.

Als die Bibliothekstür krachend ins Schloss fiel, zuckte Oskar zusammen. Instinktiv versuchte er sich in seiner Fensternische noch ein wenig kleiner zu machen. Er durfte sich hier aufhalten, denn Sir Aubrey hatte ihm ausdrücklich erlaubt, die Bibliothek aufzusuchen, wann immer er wolle, solange er nicht die Bücher in diesen Regalen anfasse, die wie Käfige aussahen. Aber das hieß nicht, dass er hier entdeckt werden wollte. Ganz langsam, um nicht laut zu atmen, zählte er im Kopf die Kubikzahlen auf: 1, 8, 27, 64, 125, 216 …

Es war nur ein einzelner Mensch, das hörte man an den Schritten. Wer immer es auch war, er sprach mit sich selbst oder sang leise vor sich hin. Vielleicht war es seine Mutter, überlegte Oskar hoffnungsvoll. Sie sang ja für ihr Leben gern. Manchmal gingen sie gemeinsam ins Clapham Grand, ein Varietétheater, wo viel gesungen wurde und wo Zauberkünstler und Possenreißer auftraten. Seine Mutter kannte sämtliche Lieder und sang bei jedem mit.

Es war ein Kratzen zu hören, als würde etwas über den Boden geschleift, dann krachte es ein ums andere Mal. Wer immer die Person sein mochte, sie warf Bücher auf den Boden. Bei jedem Knall fuhr Oskar zusammen, als steckte ein Teil von ihm selbst zwischen den Seiten. Schließlich, wie ein Paukenschlag, mehrere Bücher auf einmal und ein gellender Zornesschrei.

»Verdammter Mist, der Teufel soll euch alle holen! Sämtliche Gespenster dieser Welt sollen über euch herfallen und euch eine solche Angst einjagen, dass ihr tot umfallt!«

Es war Jessicas Stimme. Oskar verzog das Gesicht und flehte, das Buch in Händen, zum Himmel, sie möge aus der Bibliothek verschwinden. Wenn Jessica seinen Fensterplatz entdeckte, würde sie sicher Theo davon erzählen, und der fände gewiss eine Möglichkeit, ihm diesen Ort zu verleiden. Theo gönnte anderen ein Vergnügen nur, wenn er es als Erster genossen hatte. Oskar schloss die Augen und zählte schneller, 4913, 5832, 6859. Plötzlich lautes Stiefelgetrappel, und die Fensterläden flogen krachend auf. Oskar drehte den Kopf zur Seite und kniff die Augen fest zusammen.

»Was soll das denn?«, sagte Jessica aufgebracht. »Ich seh dich trotzdem.«

Oskar schlug die Augen auf; ihm war elend zumute. Er drückte das Buch fest gegen die Brust.

»Hab’s doch gewusst, dass du hier bist«, sagte sie. »Du machst ein großes Geheimnis daraus, aber wir alle wissen es. Eleanor hält dich für nicht ganz richtig im Kopf. Sie sagt, das sei, als würde man sich in einen Sarg legen.«

Oskar blickte an Jessica vorbei auf die Bücher, die über den Boden verstreut waren. Einmal hatte er zufällig mitgehört, wie eine Frau seiner Mutter erzählte, Eleanor Melville gestatte ihren Kindern deshalb nicht, sie Mama zu nennen, weil sie die festgeschriebene Ungleichheit zwischen Mutter und Kind missbillige. Da hatte seine Mutter dermaßen gelacht, dass er fürchtete, sie würde ersticken. Er hätte sie gern gefragt, was daran so komisch war, aber dann hätte er erklären müssen, warum er sich hinter dem Sofa versteckte.

»Warum hast du mit den Büchern rumgeschmissen?«

Jessica sah ihn böse an. Oskar stellte immer die idiotischsten Fragen. »Weil ich Lust dazu hatte. Warum versteckst du dich hier drin wie eine Leiche?«

»Weil ich Lust dazu hatte. Ich mag Bücher.«

»Nur Verrückte mögen Bücher mehr als Menschen. Wenn du erwachsen bist, wirst du wahrscheinlich ein Buch heiraten.« Sie schob seine Beine zur Seite und kletterte zu ihm auf die Fensterbank. Von dort konnte sie über den Garten blicken und, jenseits der Bäume, die Spitze von Großvaters Turm sehen, die vor dem Himmel wie ein ausgeschnittenes Stück Pappe wirkte. Großvater Melville hatte gewollt, dass er und seine Frau im Turm bestattet werden, aber das hatte sie als unchristlich abgelehnt, deshalb ließ er seinen Leichnam verbrennen, wie es in Indien Brauch war, und die Asche von der Turmspitze aus verstreuen. Manchmal, wenn Jessica Staub auf den Sockelleisten entdeckte, überlegte sie, ob er mit Resten von Großvater Melvilles Asche vermischt sein könnte, die der Wind hereingetragen hatte. »Marjorie Maxwell Brooke will Theo heiraten«, sagte sie. »Wenn sie mit ihm spricht, klingt ihre Stimme ganz komisch.«

Oskar wusste nicht, was er darauf erwidern sollte, und beschloss daher, lieber eine unverfängliche Frage zu stellen. »Ist jetzt schon Teezeit?«

»Mama und Mr Connolly sind noch nicht zurück. Wahrscheinlich hatten sie einen Unfall.«

»Sag so was nicht.«

»Warum nicht? Autos verunglücken ständig, besonders wenn sie von einem so blöden Kerl wie Mr Connolly gesteuert werden.«

»Ich wusste gar nicht, dass Mr Connolly blöd ist.«

»Natürlich ist er das. Er glaubt, Mama mag ihn, weil er so charmant ist, aber in Wirklichkeit mag sie ihn nur deshalb, weil er einen nagelneuen Wagen besitzt und bisher noch nichts getan hat, womit er ihr auf die Nerven geht.«

Oskar dachte daran, wie Patentante Eleanor und Mr Connolly tags zuvor nach dem Tee zusammen am Kamin gesessen und gelacht hatten. Patentante Eleanor hatte die Fingerspitzen an die Lippen gelegt, als sei selbst ihr Lachen ein Geheimnis. Als Oskar noch klein war, hatte er einmal seine Mutter gefragt, warum immer wieder neue Leute nach Ellinghurst kämen, und seine Mutter hatte geantwortet, Eleanor wechsle ihre Freunde wie andere Leute ihre Unterhemden.

»Dich hat sie aber nicht ausgewechselt«, hatte Oskar erwidert.

»Nein«, sagte sie lächelnd. »Ich glaube, sie kommt nicht von mir los.«

»Als würde sie in einem Unterhemd feststecken.«

»Ja, genau, du hast es erfasst.«

Bei der Vorstellung, wie Patentante Eleanor blindlings mit den Armen über dem Kopf herumfuchtelte, gefangen im Unterhemd seiner Mutter, mussten sie herzlich lachen. Wäre Jessica seine Freundin gewesen, hätte er ihr es erzählen und sie ebenfalls zum Lachen bringen können. Es war eine lustige Geschichte.

Jessica beugte sich so unvermittelt zu ihm herüber und entriss ihm das Buch, dass er mächtig erschrak. Sie starrte auf den Band und rümpfte angewidert die Nase. »Im Ernst? Du liest diese gottverdammte Enzyklopädie?«

Oskar blinzelte. Er hatte noch nie ein Mädchen fluchen hören.

»Was ist?«, wollte sie prompt wissen. »Hast du noch nie ein Mädchen fluchen hören?«

Er lief rot an. »Gib es mir zurück«, sagte er, aber Jessica drehte sich schnell zur Seite und schob sich das Buch unter den Hintern.

»Warum sollte ich?«

»Weil ich darin lese.«

»Gehört es dir?«

»Dein Vater sagt, ich kann lesen, was immer ich will.«

»Aha? Das Buch gehört aber ebenso sehr mir, wie es Vater gehört. Wenn ich nicht will, dass du darin liest, dann darfst du es auch nicht.«

Sie zog die Beine unter und thronte auf Band 6 wie auf einem Kissen. Oskar biss sich auf die Lippen. Er verstand nicht, was sie beabsichtigte, aber ihm war klar, je inständiger er sie anflehen würde, ihm das Buch zurückzugeben, desto weniger wäre sie dazu bereit. Jessica hatte ihn schon immer verwirrt. Als sie noch klein gewesen waren, zwang sie ihn zu Spielen, bei denen er so tun musste, als sei er jemand anderer, und machte er es falsch, wurde sie ganz zornig. Ihre Wutanfälle erschreckten ihn. Natürlich war das schon lange her. Bevor er auf die Schule kam und Sayle und McAvoy kennenlernte und die anderen Jungs, die den beiden hinterherliefen wie dem Rattenfänger von Hameln.

»Um Himmels willen, Grunewald, zeig ein wenig Rückgrat«, sagte sein Klassenlehrer zu ihm. »Du hast es dir selbst zuzuschreiben, begreifst du das nicht? Jungen sind Wölfe. Sie wittern Schwäche.«

Er erklärte Oskar, wenn man geschlagen werde, müsse man zurückschlagen. Jessica konnte er nicht schlagen. Sie war ein Mädchen und geübt darin, andere zu ärgern. Aber er konnte so tun, als ließe es ihn kalt. Wortlos kletterte er von der Fensterbank und begann die herumliegenden Bücher einzusammeln. Mehrere waren aufgeschlagen auf dem Boden gelandet und hatten zerknitterte Seiten. Oskar strich sie glatt, bevor er die Bücher zuklappte. Hinter ihm seufzte Jessica geräuschvoll.

»Na gut. Hier hast du dein blödes Buch.« Sie hielt es ihm hin. Oskar zögerte. »Jetzt nimm es schon.«

Oskar streckte die Hand aus. Im selben Moment zog Jessica das Buch schnell wieder zurück und drückte es an ihre Brust. »Was bekomme ich dafür?«

»Was meinst du damit?«

»Du glaubst doch wohl nicht, dass du es umsonst bekommst?«, sagte sie. »Du musst dafür bezahlen.«

»Aber ich habe kein Geld.«

»Wer hat gesagt, dass es Geld sein muss?«

»Was dann?«

Jessica legte den Kopf schief. Dann legte sie das Buch auf die Fensterbank und verschränkte die Arme.

»Zeig mir dein Ding.«

Oskar starrte sie an.

»Komm schon. Zieh die Hose runter und zeig mir dein Ding.«

»Nein!«

Jessicas Mund zuckte. »Wieso nicht? Oder hast du keins?«

»Nein. Ich … ich meine, das mach ich nicht. Auf keinen Fall.«

»Theo hat recht. Du bist jämmerlich. Durch und durch jämmerlich.« Sie schlug auf den Enzyklopädieband. »Tja, das Buch nehme ich mit hoch. Nicht dass ich es lesen will oder so, aber vielleicht taugen die Seiten als Papiergirlanden. Mal sehen, was ich damit mache. Schließlich gehört es mir.« Sie rutschte, das Buch in den Armen, von der Fensterbank, machte aber keine Anstalten zu gehen, sondern baute sich vor ihm auf. Sie roch nach warmem Heu und Zinksalbe. »Du bist so dumm. Wenn du mir dein Ding gezeigt hättest, hätte ich dir höchstwahrscheinlich auch meines gezeigt. Und ich wette, du möchtest gern wissen, wie es aussieht, stimmt’s? Bei einem Mädchen?«

Oskar brachte kein Wort heraus. Er konnte auch nicht mehr denken. Während ihm die Hitze aus der Brust ins Gesicht stieg, starrte er zu Boden.

»Also, willst du?«

»Geh weg«, flüsterte er. Seine Ohren glühten. Er dachte, wenn er sich nur intensiv genug wünschte, dass sie verschwände, würde sie vielleicht ganz klein zusammenschrumpfen. Jessica blickte ihn unverwandt an. Plötzlich legte sie das Buch auf den Boden, hob den Rock und zog den Schlüpfer herunter. Oskar sah glatte blasse Oberschenkel und dazwischen eine Wölbung aus Fleisch wie eine weiße Frucht, mit einem Spalt in der Mitte. Da fiel, wie ein Theatervorhang, der Rock wieder nach unten.

»Weißt du was, Oskar Grunewald«, sagte sie, während sie den Schlüpfer hochzog, »du bist ein feiger, bleichgesichtiger, weichlicher, dämlicher Milchbubi.« Sie packte das Buch und schleuderte es ihm mit aller Kraft entgegen. Von dem Schlag blieb ihm die Luft weg. Benommen hörte er das Klacken ihrer Stiefel auf dem Parkett, dann knallte die Tür zu. Die Bibliothek um ihn herum begann sich zu drehen, doch mochten sich in seinem Kopf die Gedanken auch überschlagen, war er sich einer Sache sicher: Nichts auf der Welt war genau so, wie er es sich vorgestellt hatte.

3

1915

Der Dezember war bitterkalt. Auf dem dick zugefrorenen See von Ellinghurst konnte man Schlittschuh laufen, und an den Fensterscheiben bildeten die Eiskristalle wellige Muster wie auf Muschelschalen. Am zweiten Sonntag des Monats, als der graue Nachmittag in die Dämmerung überging, schneite es. Jessica stand am Fenster des ehemaligen Kinderzimmers. Es brannte kein Licht. Sie beobachtete, wie die weißen Flocken wie Federn in die heraufziehende Dunkelheit schwebten. Jenseits der schwarzen Silhouette der Bäume hing der Vollmond wie ein silbriger Fleck unter der dichten Wolkendecke. Fröstelnd zog sie sich ihre Strickjacke enger um die Schultern.

Theo war tot. Ein Junge hatte das Telegramm gebracht, auf einem roten Fahrrad war er die Auffahrt heraufgekommen. An das Steinsims des Fensters gelehnt, hatte Jessica die silberne Klingel und das dunkle, ausgefranste Stoffband erkennen können, das um den Lenker gewickelt war. Als Mrs Johns den Jungen erblickte, wich sie von der Tür zurück und rief schrill nach Jessicas Mutter. Jessica hörte Eleanor auf der Treppe zur Galerie etwas zu Phyllis sagen und dann das Klacken ihrer Absätze auf den Stufen, begleitet von dem kaum verhüllten Ärger in ihrer Stimme.