Am Ende zu viel - Kathrin Heinrichs - E-Book

Am Ende zu viel E-Book

Kathrin Heinrichs

5,0

Beschreibung

Anton ist alt und weiß nicht, wozu er noch auf der Welt ist. Zofia ist jung und nimmt das Leben, wie es kommt. Thomas ist ausgebrannt und träumt vom Häuschen auf dem Land. Ein langer, heißer Sommer auf dem Dorf. Lähmende Hitze liegt über den Häusern, bis ein junger Familienvater im Wald tot aufgefunden wird. Der Bänker schien aufgerieben von seinem Alltag – das wissen die beiden Alten, die ihre Tage in der Bushaltestelle verbringen, das wissen auch die Damen aus dem Grill, deren Leben aus zwanzig Quadratmetern Frittenschmiede besteht. Anton, Zofia und Thomas entdecken, was sich hinter dem strahlenden Beraterlächeln des Bänkers verbarg, kommen dabei aber an ihre eigenen Grenzen.

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2022 by Kathrin Heinrichs

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung & Satz: Olaf Warburg

Umschlagfoto: Pixabay, Andres Zunino

Erste Auflage 2022

ISBN 978-3-934327-63-4

eISBN 978-3-934327-64-1

Kathrin Heinrichs

Am Ende zu viel

Kriminalroman

Blatt-Verlag, Menden

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Zur Autorin

1

Anton Wieneke wurde bald achtzig Jahre alt und wusste nicht, wozu er noch auf der Welt war. Seit seinem Schlaganfall konnte er kaum laufen, alle Glieder taten ihm weh und manchmal bekam er schlecht Luft. Das Leben war beschwerlich geworden, und oft fragte er sich, wie lange er seiner Umgebung noch zur Last fallen wollte.

Jetzt gerade quälte er sich damit, auf seinem neuen Handy eine Nachricht zu schreiben. Seine Tochter hatte ihm das Ding geschenkt, es hatte besonders große Tasten, damit er mit seinen ungelenken Fingern überhaupt eine Chance hatte, irgendetwas zu treffen. Trotzdem tat Anton sich schwer.

„Liebe Sabine!“, weiter war er bislang nicht gekommen.

„Danke für das Handy, das Du mir geschenkt hast, ich übe fleißig, es zu bedienen, es läuft ganz gut.“

Diesen Satz hatte er auf seinem Schreibblock notiert, aber der Weg vom Block in sein Handy erschien ihm so weit wie die bucklige Strecke mit dem Rollator über den Friedhof, wenn er seine Frau besuchen wollte. Mit seiner unversehrten Rechten tippte er langsam vor sich hin und hatte doch das Gefühl, kaum eine Silbe voranzukommen. Das Tückische war ja, dass diese Handys ein Eigenleben führten. Kaum hatte man ein Wort angefangen, machte das Gerät einen eigenen Vorschlag. Als Anton mal zwischendurch schaute, was er bislang fabriziert hatte, stand dort: „Flanke für das Handout“.

Er fluchte leise vor sich hin. Wie kamen andere Menschen mit diesen Korrekturen zurecht? Seine polnische Pflegerin Zofia beispielsweise tippte mit beiden Händen – und zwar so schnell, dass sie, allein zwischen dem Aufschlagen des Spiegeleis in der Pfanne und dem ersten Wenden nach zwei Minuten, einen ganzen Roman geschrieben hatte. Aber gut, Zofia war vierunddreißig, eine temperamentvolle, kluge Frau. Sie kam mit allem gut zurecht, sogar mit ihm.

Anton verbesserte die Flanke und schrieb eifrig weiter. Nach einigen Minuten las er erneut das Geschriebene durch. Sein Display zeigte: „Danke für das Handy, dass du eingerenkt hast, ich liebe heißer bei den Bienen, es säuft mit Hut.“

Anton hätte das Handy am liebsten in die Ecke gepfeffert. „Feierabend!“ schrieb er aus Trotz. Das Handy machte daraus „Feuerbestattung!“

Resigniert gab Anton auf. Er passte einfach nicht mehr in diese Welt. Die drehte sich so schnell, dass er nicht mitkam. „Online-Banking“. „Internet-Recherche“. „Facetime“. Irgendwann würde er sich sogar für den Seniorennachmittag im Dorfgemeinschaftshaus mit dem Computer anmelden müssen. Ihm wurde das alles zu viel.

Als es an der Haustür klingelte, rührte er sich nicht. Wer konnte das schon sein? Der Bofrost-Mann, dem Zofia manchmal ein paar schnelle Gerichte abnahm? Oder jemand aus dem Dorf, der sich seiner erbarmte und das anschließend als „gute Tat der Woche“ in seinen Kalender eintrug? Anton hörte Zofia zur Tür gehen. Sie hatte offenbar Wäsche aus dem Keller geholt und stellte nun den Korb im Flur ab, um die Haustür zu öffnen.

Gedämpft vernahm Anton eine männliche Stimme, die er nicht einordnen konnte. Kurz darauf steckte Zofia den Kopf zur Tür herein. Ihr flotter Kurzhaarschnitt und ihre großen wachen Augen hatten immer etwas Erfrischendes, aber heute konnte ihn selbst das nicht aufmuntern.

„Ist Besuch für Sie da“, sagte Zofia fröhlich und öffnete die Tür, damit der Gast eintreten konnte.

Und nun war Anton doch überrascht. Nolli! Reinold Weitmann! Wann hatte der noch seine Lehre bei ihm gemacht? Vierzig Jahre musste das her sein, denn Nolli war jetzt selbst schon über sechzig. Er hatte sich irgendwann in seinem Heimatdorf selbständig gemacht, aber nicht als Schreiner, sondern als Bestatter. Feuerbestattung kam es Anton in den Sinn.

„Nolli!“, brachte er trotzdem heraus. „Das ist aber seltener Besuch!“

„Kann man wohl sagen“, Nolli gab ihm die Hand. Er sah gut aus. Weniger Haare inzwischen, aber drahtig wie eh und je. „Tut mir leid, dass ich so lange nicht hier war.“

„Um Gottes willen, das erwartet doch keiner, du hast sicher eine Menge zu tun. Setz dich doch, Nolli.“

Anton spürte, dass Zofia ihn beobachtete. Klar, sie war froh über jeden Besuch. Dann war er „beschäftigt“ und sie hatte ein besseres Gefühl.

„Kann ich bringen etwas zu trinken?“, bot sie jetzt an.

„Vielleicht ein Glas Wasser“, bat Nolli, „bei diesen heißen Sommern muss man ja auf genügend Flüssigkeit achten.“

Zofia verschwand und Nolli wandte sich ohne Umschweife ihm zu, als hätte er keine Zeit zu verlieren.

„Früher bin ich öfter gekommen, weißt du noch, Anton?“

Anton nickte, das wusste er sehr wohl. Nolli hatte ihn manchmal um Rat gefragt, wenn betriebliche Investitionen angestanden hatten: In welcher Größe sollte er das Sarglager planen? Konnte er jemanden einstellen? Und wie war das mit einem Verabschiedungsraum?

Das war ewig her. Anton hatte ihn immer nach bestem Gewissen beraten, obwohl er mit dem Bestattungswesen nichts zu tun gehabt hatte. Trotzdem war er Nolli lange Zeit eine Art väterlicher Berater geblieben, das hatte ihn natürlich gefreut.

„Jetzt brauche ich wieder deinen Rat!“

Anton wurde verlegen. Wo sollte er schon helfen? Er war seit Ewigkeiten aus seinem Schreinereibetrieb raus. Im Grunde war er aus dem gesamten Leben irgendwie raus.

Angespannt rückte Nolli auf seinem Stuhl nach vorn. „Hast du vom Tod dieses jungen Bänkers gehört?“

Anton war überrascht. „Junger Bänker? Nicht dass ich wüsste.“

„Ist gestern Abend passiert. Ich dachte, es hätte schon die Runde gemacht. Bei solch tragischen Fällen geht das ja manchmal ganz schnell.“

„Ist er hier aus dem Dorf?“

„Nein, aus Bramschede, Neubaugebiet oben am Rehberg.“

Bramschede, das Nachbardorf. Das große Nachbardorf mit bestimmt dreitausend Einwohnern. In Bramschede gab es ein bisschen was. Eine Bäckerei, einen Imbiss, ein Schreibwarengeschäft. Hier in ihrem eigenen Dorf war man froh, dass man wenigstens den Gasthof noch hatte, und selbst das war nur eine Frage der Zeit.

„Markus Hammecke, schon mal gehört?“

Anton überlegte. „Ich kenne einen Gerd Hammecke aus Brüsbern, haben die miteinander zu tun?“

„Du kanntest einen Gerd Hammecke. Den habe ich schon vor zehn Jahren unter die Erde gebracht.“

„Genau“, versuchte Anton sich keine Blöße zu geben, „der ist früh gestorben.“

„Stimmt, Herzinfarkt mit Anfang sechzig. Markus ist sein Sohn.“

„Gut, dann weiß ich das jetzt. Aber der Sohn ist mir noch nie untergekommen.“

„Vierundvierzig Jahre, verheiratet, zwei Kinder. Hat bei der Langerner Bank gearbeitet.“

„Oh Gott! Und der ist gestern verunglückt?“

„Nicht verunglückt. Ein Herzinfarkt. Angeblich. Das ist genau der Punkt.“ Nolli kaute auf seiner Unterlippe.

Anton überkam eine Ahnung. Vielleicht war er als Ansprechpartner interessant, wenn es nicht um das Leben ging, sondern um den Tod.

„Kennst du Dr. Busch aus Langern?“, wollte Nolli nun wissen.

„Den Internisten? Den kenne ich. Ich habe seit einiger Zeit mit meinem Herzen zu tun. Ich muss regelmäßig zu ihm hin.“

Nolli nickte. „Er hat den Toten gefunden.“

Jetzt wurde es interessant. „Wo hat er denn gelegen?“

„Es ist beim Joggen passiert, oben am Bramscheder Kamp. Angeblich hatte auch der junge Hammecke Herzprobleme, deswegen hat er mit Ausdauersport angefangen.“

„Und da ist sein Arzt mitgelaufen?“, fragte Anton, allein, um die Sache ein bisschen in Schwung zu bringen.

„Nein, nein“, Nolli wirkte ein wenig zerfahren. „Seine Frau hat sich irgendwann Sorgen gemacht, als ihr Mann nicht vom Joggen zurückkam. Sie haben eine Suchaktion gestartet, und da war Dr. Busch dabei, rein privat.“

„Verstehe, und dann hat man ihn auf seiner Dauerlaufstrecke gefunden.“

„Genau, abends gegen elf. Sie haben den Rettungswagen gerufen, aber der Notarzt konnte nur noch den Tod feststellen – genau wie vorher schon Dr. Busch. Herzinfarkt steht im Totenschein.“

„Aber du hast Zweifel daran“, bohrte Anton nach.

„Allerdings“, Nolli wirkte jetzt aufgewühlt, „wegen der großen Zahl an Petechien.“

„Petwas?“

„Petechien. Das sind Einblutungen in der Haut und im Bindegewebe, stecknadelkopfgroß.“

„Und was bedeuten die?“

„Dass sich das Blut gestaut hat und daraufhin die Gefäße geplatzt sind.“

Anton versuchte sich das zu vorzustellen. Klang wie ein geplatzter Gartenschlauch, wenn das Wasser nicht rauskonnte. „Und wann tritt das auf?“

„Unter anderem, wenn man nicht frei atmen kann.“

Anton ruckte nach vorn. „Du meinst, dieser Hammecke wurde erstickt?“

„Ich weiß es natürlich nicht sicher“, Nolli wand sich auf seinem Stuhl, „denn Petechien können auch in anderen Fällen auftreten.“

„Bei einem Herzinfarkt zum Beispiel?“

„Ja, durchaus“, Nolli wirkte kreuzunglücklich, „das sagt ja auch Dr. Busch!“

„Du hast mit ihm darüber gesprochen?“

Nolli hob die Arme. „Das schien mir leichter als mich im Krankenhaus bei dem Notarzt zu melden, weil ich Dr. Busch kenne. Ich habe Schilddrüse, ich muss auch regelmäßig zu ihm hin.“

„Und was hat er gesagt?“

„Dass Dr. Nowakowski – das ist der Notarzt – die Todesursache eindeutig festgestellt hat. Auch aufgrund der Petechien, weil die ja manchmal beim Herzinfarkt vorkommen. Und dass er keinen Anlass hat, dieses Urteil in Frage zu stellen.“

Anton dachte darüber nach. „Klingt, als wollte er dem Kollegen nicht in die Parade fahren“, hielt er schließlich fest, „aber auch, als könnte er recht haben. Ganz ehrlich, Nolli, da waren zwei Ärzte vor Ort, und der eine hat Hammecke vorher behandelt. Mehr Fachkenntnis kann man sich eigentlich nicht wünschen. Und da diese Petidinger ja auch beim Herzinfarkt auftreten –“

„Sie können auftreten“, grätschte Nolli dazwischen, „aber glaub mir, Anton, ich habe Hunderte Leichen zurechtgemacht, und verdammt viele davon sind an einem Herzleiden gestorben –"

„Aha“, sagte Anton tonlos, wahrscheinlich konnte er sich bald einreihen.

„Aber dabei habe ich nie dieses Ausmaß an Petechien gesehen. Überhaupt ist mir das nur ein einziges Mal untergekommen.“

Nolli machte es so spannend wie der einzig Überlebende eines Schiffsunglücks, der wusste, wo auf der Insel der Goldschatz versteckt war. Worauf wollte er hinaus?

„Es ist schon länger her“, Nolli sprach jetzt gepresst, er schien enorm unter Spannung, „das war die Leiche von – Wilfried Gabinski.“

„Wilfried Gabinski?“, Anton kam der Name vage bekannt vor, aber wirklich nur vage.

„Wilfried Gabinski aus Sendhausen. Er hat sich erhängt.“

Anton fuhr zurück. „Und du meinst … dieser Markus Hammecke …“

„… ist auch erstickt“, beendete Nolli den Satz, nur um sich sofort zu korrigieren, „möglicherweise.“

„Hast du denn Würgemale gesehen?“, fragte Anton nach.

„Das nicht“, gab Nolli zurück, „aber es gibt andere Methoden, um jemandem die Luft abzudrücken.“

„Hm“, brummte Anton. Er fand Nollis Bedenken sehr fragwürdig. Andererseits war der kein Typ, der unnötig Pferde scheu machte.

„Nach meinem Telefonat mit Dr. Busch habe ich alle Bedenken verdrängt und meine Arbeit weitergemacht“, sagte Nolli, als hätte er Antons Gedanken erraten, „aber schon nach drei Handgriffen hatte ich ein schlechtes Gefühl. Vielleicht vernichte ich Beweismaterial, wenn ich die Leiche zurechtmache. Denn eine andere Sache geht mir nicht aus dem Kopf –“

Antons Spannung stieg, trotzdem nahm er aus den Augenwinkeln wahr, wie Zofia das Zimmer betrat. Sie hatte eine Wasserflasche und zwei Gläser dabei.

„Und zwar?“, versuchte Anton sich nicht ablenken zu lassen.

„Es gibt da eine persönliche Beziehung. Dr. Busch ist der Schwager des Toten.“

„Ach!“, rutschte es Anton heraus. Das hatte wirklich ein Geschmäckle!

Nachdenkliches Schweigen lag nun im Raum, das erst unterbrochen wurde, als Zofia die Gläser abstellte.

„Nicht nötig“, sagte Anton an seine Pflegerin gewandt, „Nolli und ich müssen dringend nochmal weg!“

———

Als Zofia den Wagen startete, war sie froh, dass endlich mal etwas passierte! Und noch mehr, dass es von Herrn Anton kam, dass etwas passierte!

In den letzten Wochen hatte sie vieles getan, um ihn wieder fröhlich zu machen. Das war anstrengend gewesen. Umso schöner, dass er heute unternehmungslustig war.

Eigentlich hatte der alte Mann im Auto von diesem Nolli mitfahren wollen. Aber diese Idee hatte sich beim Anblick des Wagens erledigt. Nolli fuhr einen Sportflitzer, bei dem man mit dem Hintern auf der Straße saß, wenn man erstmal eingestiegen war. Aber schon das Einsteigen war für Herrn Anton unmöglich gewesen. Deshalb hatte Zofia schnell sein eigenes Auto geholt.

Mit geöffnetem Fenster fuhren sie nun Richtung Bramschede. Zofia kannte das Dorf. Dort gab es eine Imbissbude, zu der sie fuhren, wenn Herr Anton Lust auf frytki hatte und sie keine Lust auf Kochen. Aber auch, weil dort Weronika wohnte, eine ihrer polnischen Freundinnen.

„Wohin fahren wir?“, fragte Zofia, während sie dem Sportwagen folgte.

„In Nollis Firma“, Herr Antons Stimme klang heute endlich mal wieder munter. „Er hat früher bei mir gearbeitet und sich dann selbständig gemacht.“

„Eine Schreinerei“, meinte Zofia. Damit kannte sie sich inzwischen ganz gut aus.

„Nicht direkt“, sagte Herr Anton belegt, „Nolli hat sich ein bisschen – spezialisiert.“

Worauf Nolli sich spezialisiert hatte, sah Zofia, als sie auf den Hof fuhr. Weil dort nämlich ein Leichenwagen stand!

„Ist das einen – eine –“, sie kannte das deutsche Wort nicht.

„Ein Bestattungsunternehmen“, half Herr Anton aus.

Zofia blickte auf den schwarzen Kombi. „Dort Sie hätten besser einsteigen können.“

„Ich hoffe, Sie meinen vorne“, parierte Herr Anton, und da war Zofia endgültig überzeugt, dass es aufwärts mit ihm ging.

Sie hatten keinen Rollstuhl, sondern nur den Rollator dabei, aber wider Erwarten kam Herr Anton gut damit zurecht. „Na warte“, murmelte Zofia in sich hinein, „muss erst einen Bestatter kommen, um Sie zu machen flott.“

„Vielleicht warten Sie hier!“, sagte Herr Anton, als sie sich in den Vorraum bewegt hatten. „Was jetzt kommt, möchte ich Ihnen nicht zumuten.“

„Die Leichen?“, fragte Zofia. „In Ordnung, die können Sie alleine angucken.“

„Schauen Sie sich gern hier ein bisschen um!“, Nolli machte eine Handbewegung in den Ausstellungsraum hinein.

„Mache ich sehr gerne“, Zofia sah sich stirnrunzelnd um, „suche ich mir einen schönen Sargkissen aus.“

Es gab viele Sargkissen. Mit Spitze und ohne. Mit Hundemotiven und ohne. Zofia war nicht sicher, ob die Kissen mit Hundemotiv für die Vierbeiner waren oder für die Besitzer.

Bei den Urnen gab es ganz schlichte, aber auch ganz ausgefallene, zum Beispiel mit dem Emblem eines Fußballvereins. Da gab es welche in Schwarz-Gelb, welche in Blau-Weiß und welche in Rot. Zofia fragte sich, wie sie es gefunden hätte, wenn ihr Vater in einer grünen Urne von Warta Poznań herumgetragen worden wäre, nur weil er sich gerne deren Spiele angeguckt hatte. Aber nein, ihr Vater war nicht verbrannt worden, schon gar nicht in Grün, und sie selbst wollte das auch nicht. Sie fand es albern, sich in einer kleinen Urne über den Friedhof tragen zu lassen. Sollten sich ruhig ein paar Leute an ihr abschleppen. Sie wollte eine Beerdigung am Stück.

Nach einer Viertelstunde hatte Zofia das Gefühl, alles gesehen zu haben. Wo blieb Herr Anton so lange?

Die Tür, hinter der die beiden Männer verschwunden waren, war nur angelehnt. Sobald Zofia sie weiter geöffnet hatte, merkte sie, wie angenehm kühl es drinnen war. Der Raum war gefliest und wirkte nüchtern und kalt. Die beiden Herren standen an einer Art Operationstisch. Darauf lag ein toter Mensch. Zofia konnte ein behaartes Männerbein sehen, das sehr weiß war und kein bisschen zur Sommerzeit passte.

Herr Anton stand über das Gesicht des Toten gebeugt. Es sah aus, als schaute er ihm tief in die Augen.

„Und wie sieht sowas normalerweise aus?“, hörte Zofia ihn fragen, als er sich wieder aufgerichtet hatte. „Also ohne diese Petidinger?“

„Na, so!“

Nolli hielt sich mit zwei Fingern das rechte Auge weit auf und sah dadurch aus wie ein Monster. Unwillkürlich entwich Zofia ein Laut, die beiden Herren fuhren herum.

„Da sind Sie ja doch!“, sagte Herr Anton mit vorwurfsvoller Stimme.

„Ist es schön kalt hier!“ Etwas anderes fiel Zofia nicht ein.

„Ich will nicht, dass Sie erschrecken!“, Herr Anton wirkte ernsthaft besorgt, und Zofia wusste, warum. Sie war tatsächlich manchmal sehr ängstlich. Andersherum wollte sie glauben, dass vor allem die alte Zofia ängstlich reagierte, die ganz naiv aus Polen gekommen war. Inzwischen war sie eine andere Zofia, die schon einiges kannte.

„Was ist denn mit dem?“, sie zeigte auf die Leiche, ging aber keinen Schritt vor.

„Der ist tot“, sagte Herr Anton.

Zofia hatte jetzt den Oberkörper des Mannes im Blick. Obwohl er auf dem Rücken lag, konnte man in Teilen die dunklen Totenflecke erkennen, die sich auf der Unterseite des Körpers gebildet hatten.

„Ich halte es nicht für gut, wenn noch weitere Personen einbezogen werden“, der Bestatter kam ihr aufgeregt entgegen, sein Gesicht drückte Unwillen aus. „Das hat ja auch mit Pietät zu tun. Schließlich sage ich den Angehörigen zu, dass ich die Leiche mit Würde behandle.“

Er breitete die Arme aus, als könnte er den Körper so vor Zofias Blicken schützen.

„Was ist denn das hier?“, wurden sie von Herrn Anton unterbrochen. Der alte Mann hatte sich heruntergebeugt und besah sich die Wangen des Toten. „Warum ist das hier so bräunlich?“

Nolli ging sofort zu ihm hin. Er trug Handschuhe, das sah Zofia erst jetzt. Vorsichtig untersuchte er die Stelle, die Herr Anton ihm gezeigt hatte. Zofia trat unauffällig näher.

„Das sind Hautvertrocknungen“, erklärte der Bestatter nach intensiver Prüfung, „die entstehen bei heftigem Druck und bilden sich oft erst eine Weile nach dem Ableben aus.“ Er schien alarmiert und begann die Leiche weiter abzusuchen. „Das Gesicht kann in den Dreck gedrückt worden sein“, murmelte er halblaut, „er lag ja auf dem Bauch, als man ihn fand.“

Als er schließlich aufsah, bemerkte er, was auch Zofia schon beobachtet hatte: Herr Anton war dabei, sein Handy aus der Tasche zu ziehen, der alte Mann wollte telefonieren.

———

Noch nie in seinem dreiundvierzigjährigen Leben hatte Thomas sich so müde gefühlt. Zwei Tage lang hatte er durchgeschlafen, so kam es ihm vor. Zumindest hatte er seitdem sein Bett nur noch verlassen, um auf die Toilette zu gehen. Okay, davor hatte er zwei Nächte überhaupt nicht geschlafen. Die sich über Monate hinziehende Ermittlungsarbeit war in einem gewaltigen Zugriff geendet. Vierundzwanzig Festnahmen, acht Hausdurchsuchungen, Befreiung von sechs Zwangsprostituierten, darunter zwei minderjährigen, Waffenbeschlagnahmungen, Drogen. Diese Ermittlung im Clan-Milieu war das Aufreibendste, was Thomas in seinem Polizistendasein mitgemacht hatte. Sie war physisch und psychisch über seine Kräfte gegangen. Die Gesichter der gepeinigten Mädchen geisterten in den kurzen Wachphasen noch immer durch seinen Kopf.

„Überstunden abbauen“, hatte der Chef deshalb ihm und Sascha und Celim verordnet. Offenbar hatten sie am müdesten ausgesehen, die anderen mussten nämlich noch aufräumen.

Thomas war nicht böse drum. Vernehmungen, Berichte, Protokolle – er sah sich zu nichts mehr in der Lage. Und genau das machte ihm Angst.

Er hätte aufstehen, bei Zofia und seinem Vater anrufen oder zumindest den Müll runterbringen müssen, aber all das passierte nicht. Thomas fühlte sich einfach nur leer.

Gestern hatte ihm Sascha eine Nachricht geschrieben: „Kriegst du auch nichts auf die Kette?“

Das hatte Thomas irgendwie beruhigt, den anderen ging es also genauso dreckig wie ihm. Andersherum: Wem nützte es, wenn sie alle miteinander ausgebrannt waren?

Egal, für heute hatte er sich vorgenommen aufzustehen. Er würde es langsam angehen lassen, ja, aber er musste endlich wieder ins echte Leben zurück.

Thomas schreckte hoch, als plötzlich sein Handy klingelte. Sein Vater. Sofort stellte sich der Impuls ein, nicht dranzugehen. Andersherum: Gab es mehr echtes Leben als seinen Vater?

„Hallo Papa“, sagte er deshalb matt.

„Hallo Thomas“, sprudelte der los, „gut, dass du drangehst. Ich habe da einen neuen Fall.“

Alles an diesem Satz war schrecklich. Schon dass sein Vater „einen neuen Fall“ hatte, also etwas, dem er nachgehen wollte, obwohl es ihn überhaupt nichts anging. Und genauso schlimm, dass jetzt er in die Sache hineingezogen werden sollte, obwohl es auch ihn überhaupt nichts anging.

Und dann die Vitalität seines Vaters! Er wurde bald achtzig – warum war er so fit?

Jetzt gerade faselte er etwas von einem alten Freund („Nolli, den kennst du ja vielleicht, er war bei mir in der Lehre, wobei, nein, das war vor deiner Zeit, aber vielleicht kennst du ihn auch so, der war manchmal zu Besuch.“) Die Geschichte drehte sich ansonsten um einen Bestatter und etwas, das der ungewöhnlich fand („Es geht um den Sohn von Gerd Hammecke, der war früher bei der Bäuerlichen, aber der ist früh gestorben. Also, es geht um den Sohn. Martin, nee, Markus. Der ist jetzt auch tot, und irgendwas ist da nicht koscher.“) Thomas hatte das Gefühl, er wurde erschlagen. Und dann kam auch noch Zofia an den Apparat. („Hallo Tomasz, musst du unbedingt dich kümmern. Da stimmt etwas nicht mit den Toten, muss der Leiche in die Ubduktion. Auch weil den Schwager ist Arzt und hat den Totenschein geschrieben, also fast.“)

Eigentlich liebte Thomas es, wenn Zofia so aufgeregt war. Dann vergaß sie noch mehr als sonst die deutsche Grammatik und wusste vor lauter Temperament nicht, wohin. Aber heute hatte er dafür keinen Sinn. Zofia schien es zu bemerken.

„Hallo Tomasz, antwortest du gar nicht. Ist alles in der Ordnung bei dir?“

Sie hatte jetzt vorsichtiger gesprochen, fast ein bisschen ängstlich. Sie machte sich Sorgen um ihn, es brach ihm das Herz. Er liebte Zofia auf irgendeine seltsame Weise, und sie schien ihn auch zu lieben auf eine andere merkwürdige Art. Er konnte das alles nicht einordnen – und jetzt im Moment sowieso nicht.

„Ich bin sehr erschöpft“, brachte er heraus.

Stille am anderen Ende, dann irgendwann ein zartes: „Ist es vorbei?“

„Ja, es ist vorbei. Zumindest für mich. Es ist nur … ich selbst …“

Der Satz blieb unvollendet. Thomas hätte weinen wollen, aber auch das ging irgendwie nicht.

„Es war zu viel“, sagte Zofia.

„Ja, es war zu viel.“

„Tut mir das leid“, sagte Zofia leise, „dass wir dich angerufen haben. Wir machen selbst. Rufen einfach hier die Polizei an. Oder gehen hin. Gibt es ja eine Wache in Langern, da gehen wir hin und melden das dort.“

Thomas hatte plötzlich das Gesicht von Hans-Jürgen vor Augen, dem Streifenbeamten in der Wache vor Ort. Thomas kannte ihn, seitdem er sich oft in seiner alten Heimat aufhielt.

„Schon gut“, sagte er. „Ich muss mich sowieso auf dem Präsidium melden, ich spreche das an.“

„Danke, Tomasz.“ Zofias Stimme war ganz sanft. Sie hatte so viele wunderbare Facetten, er hatte sie einfach nicht verdient.

„Bestattungshaus Weitmann!“, hörte er jetzt seinen Vater im Hintergrund rufen, „in Bramschede, nur damit deine Kollegen wissen, wo sie hinmüssen!“

„Tomasz!“, sagte Zofia. Es klang, als flüstere sie ihm direkt ins Ohr. „Komm nach Hause! Wenn du dich ausruhen musst, ist hier das Beste, das es gibt.“

„Ja“, sagte Thomas, weil er das auch in sich spürte, nur dass er es bislang nicht umsetzen konnte, „ja, ich komme sehr bald.“

———

Als sie wieder im Auto saßen, war es zwei Uhr. Ein Segen, dass es nun mittags nicht mehr so heiß war. Sie hatten eine unerträgliche Hitzewelle erlebt, erst ein Gewitter vor zwei Tagen hatte das Leben erträglicher gemacht.

„Ich habe ein bisschen Hunger“, gestand Anton.

„Nuja“, Zofia starrte durch die Windschutzscheibe nach draußen, „habe ich nichts vorbereitet zu essen.“

„Natürlich nicht“, beeilte sich Anton zu sagen. „Ich wollte vorschlagen, dass wir zur Imbissbude fahren. Frytki essen.“ Das Wort hatte er immer schon lustig gefunden. Aber Zofia reagierte nicht darauf. Offenbar hatte sie keinen Hunger auf Pommes frites.

„Ist bei Ihnen alles in Ordnung?“, fragte Anton nach. „Hat Sie der Anblick der Leiche erschreckt? Ich meine, das war ein junger Mann, das geht einem nahe. Ich könnte verstehen, wenn es Ihnen nach dieser Sache den Appetit verschlagen hat.“

Er schämte sich ein bisschen. Ihm hatte es nicht den Appetit verschlagen. War er unsensibel?

Zofia reagierte immer noch nicht.

„Oder ist es wegen Thomas? Seit dem Telefonat wirken Sie etwas betrübt.“

Das war eine Sache, die Anton schon länger beschäftigte. Vor einem halben Jahr noch hatte er das Gefühl gehabt, Zofia und Thomas wären ein Paar – oder das, was man heute dafür hielt. Er hatte sich deshalb so oft es ging unsichtbar gemacht, was sich als schwierig herausstellte, wenn man im Rollstuhl saß und auf Hilfe angewiesen war. Zofia und Thomas hatten sich sehr dezent verhalten, aber Anton war klar, dass er den beiden im Weg stand, naja, im Weg saß, wenn man so wollte.

Seit einigen Monaten nun war Thomas abgetaucht, angeblich wegen einer komplizierten Ermittlung. Anton vermutete, dass das mit Thomas und Zofia nichts wurde und dass er selbst dafür die Verantwortung trug – einfach weil es ihn gab! Das war kein gutes Gefühl!

„Nein, nein“, holte Zofia ihn in die Gegenwart zurück und startete wie zum Beweis das Auto. „Alles in der Ordnung. Und frytki finde ich gut.“

Auf dem Weg zur Imbissbude schaute Anton mal rechts und mal links aus dem Fenster. In Bramschede war er länger nicht gewesen. Als sie an der Bushaltestelle vorbeikamen, verrenkte er sich beinah den Hals. In dem Holzunterstand saßen zwei Männer in seinem Alter, allein das war ja schon etwas Besonderes. Meistens gab es um die achtzig nur Frauen.

Der eine saß auf der Holzbank, der andere in einem dieser Seniorenmobile, diese aufwändigen Rollstühle, mit denen man selbständig viele Kilometer fahren konnte. Die waren sehr teuer, über zweitausend Euro kosteten die.

„Kannten Sie die beiden?“, fragte Zofia nach.

„Weiß nicht, dafür ging es zu schnell. Ob die mit dem Bus fahren wollen, ich meine, mit diesem Riesengefährt?“

„Nee, die sitzen ofters da“, klärte Zofia ihn auf. „Wenn ich zu Weronika fahre, oft sie sitzen da in den Busstelle.“

„Und warum?“

„Treffen sie sich da und erzählen miteinander. Ist ein schöner Ort, weil er schützt vor Sonne und Regen, und man kann da an der Straße viel sehen.“

„Wie bitte?“, Anton konnte es nicht glauben. „Sie meinen, die sitzen da nur so?“

„Nicht nur so“, korrigierte ihn Zofia, „sie sitzen da wegen Gesellschaft.“

Anton war entsetzt. So tief konnte man also in seinem Alter sinken!

———

Zofia wunderte sich, in der Imbissbude war kein einziger Gast. Die Mittagesser mussten schon durch sein, aber vielleicht war der Hochsommer sowieso nicht die beste Jahreszeit für frytki mit Mayonnaise, auch wenn das Wetter heute angenehm war.

„Oh, das Nachbardorf kommt zu Besuch!“, begrüßte sie eine der beiden frytki-Frauen. Das war das Schöne mit Herrn Anton. Er war überall bekannt, und immer freute man sich, ihn zu sehen.

Die, die gesprochen hatte, war die Chefin, so viel hatte Zofia von früheren Besuchen schon raus. Sie hieß Bärbel und trug dieselbe Frisur wie Mia Großmann, die für die Caritas Spenden sammelte. Die Frisur sah aus, als würde sie mit Kleister in einer festen Form hergestellt. Zofia war es ein Rätsel, warum der fettige Dunst in der frytki-Bude der Chefin nicht das Styling ruinierte. Denn wenn man die andere Bedienung ansah, wusste man, was das Fett anrichten konnte. Die Nicht-Chefin hieß Rita, auch das hatte Zofia schon raus, sie füllte gerade Krautsalat aus einem Riesenbehälter in eine Auslagenschüssel. Rita wirkte auf Zofia wie ein gutmütiges Schaf, das zu viel aus der eigenen Fritteuse verspeiste. Ihr langer blonder Zopf war bei jedem Besuch so fettig, dass Zofia sie gern mal anderswo gesehen hätte, an einem freien Tag vielleicht, nur um zu überprüfen, ob es den Zopf auch ohne Fett gab.

„Beide Damen im Einsatz“, hörte Zofia Herrn Anton schnurren, und sofort war ihr klar, dass er einen Plan hatte. Er wollte von den beiden Damen etwas erfahren, und dieses Etwas hatte höchstwahrscheinlich mit der vertrockneten Leiche zu tun. Womöglich hatte Herr Anton nur deshalb heute Hunger auf frytki!

„Ja, wir sind die zwei Damen vom Grill“, sagte Rita mit dem Fettzopf und lachte, als hätte sie etwas sehr Lustiges gesagt.

Herr Anton lachte mit. „Wir kennen auch schon die zwei Herren aus der Bushaltestelle!“

Zofia stutzte. Es war interessant, dass die beiden Männer Herrn Anton so beschäftigten. „Wir fragen uns“, warf sie mit einem Seitenblick ein, „ob die beiden warten auf den Bus.“

Die Chefin lachte. „Nee, das sind Bruno und Will, die treffen sich da nur.“

„Habe ich auch gesagt“, Zofia lächelte Herrn Anton triumphierend an.

Der wirkte ein bisschen geschockt. „Die wohnen hier im Dorf?“, fragte er stirnrunzelnd nach.

„Will ja, Bruno nicht“, erklärte Rita knapp.

„Beide haben hier in Bramschede gewohnt“, führte Bärbel aus, „aber Bruno kam irgendwann nicht mehr zurecht.“

„Wegen laufen“, sagte Rita, und Zofia ahnte, dass Herr Anton so etwas nicht gerne hörte.

„Er hat sich dieses Monstergerät gekauft und ist damit jeden Tag in die Stadt gefahren“, erklärte nun Bärbel. Die beiden waren nicht nur am Grill ein unschlagbares Team. „Immer an der Bundesstraße entlang, einfach um ein bisschen was zu sehen. Inzwischen ist er in Langern im Altenheim und fährt die Strecke andersherum. Jeden Tag nach Bramschede, um sein Dorf zu besuchen.“

„Das ist lustig“, sagte Zofia. „Ich kann das gut verstehen.“

Sie sah zu Herrn Anton hinüber, aber der fand es offenbar gar nicht so lustig.

„Was soll’s denn sein?“, fragte nun Bärbel und holte damit Herrn Anton aus seiner Schockstarre heraus.

„Ja, was soll’s sein?“, wiederholte er fahrig, aber dann schaltete er wieder in den Säuselgang um. „Was haben Sie denn Schönes für uns?“

Das war nun wirklich eine dumme Frage, denn alle Gerichte standen oben an der Wand.

„Heute als Tagesgericht eine Graupensuppe“, parierte die Chefin, „und alles andere findet ihr da oben!“

„Suchen Sie in Ruhe aus, Zofia!“, Herr Anton blickte sie verschwörerisch an. Sie wollte schon sagen, dass sie heute nur einen Krautsalat wollte, aber dann verstand sie. Herr Anton brauchte Zeit zum Plaudern, also studierte Zofia in Ruhe die Karte.

„Gut, dass es nicht mehr so heiß ist“, sagte Herr Anton. „Das Gewitter am Sonntag hat gutgetan.““

„Das kann man wohl sagen!“ Die Chefin setzte sich auf einen Barhocker, der hinter der frytki-Theke zum Ausruhen stand. „Fragen Sie mal, wie bei über dreißig Grad die Luft hier drinnen ist.“

„Das kann ich mir vorstellen! Mir geht bei solchen Temperaturen immer die Pumpe“, plapperte Herr Anton weiter und fasste sich an die Brust, damit man ihn auch wirklich verstand. „Tatsächlich soll ja bei euch hier im Dorf jemand beim Laufen tot umgefallen sein.“

„Ja, eine schreckliche Geschichte“, die frytki-Chefin seufzte schwer, „der junge Hammecke war das. Hat wohl einen Herzinfarkt gehabt.“

Anton schüttelte mitfühlend den Kopf. „Man will es gar nicht glauben. So ein junger Mann.“

„Hatte Herzprobleme“, konnte Rita beitragen, die jetzt Tsatsiki nachfüllte, „Norbert Reims sagt, der wäre nur gejoggt, weil er diese Herzprobleme hatte.“

„Na, das ist ja gut aufgegangen!“, polterte die Chefin.

Zofia fand es ein bisschen gemein, dass sie dem toten Mann Vorwürfe machte.

„Mir hat die Ärztin auch gesagt, dass ich Sport machen soll“, erklärte nun Rita, „aber nicht wegen Herz, sondern wegen Figur. Seitdem gehe ich ab und zu walken.“

Herr Anton nickte wohlwollend, aber Zofia registrierte seine Unzufriedenheit, weil Rita vom Thema abkam. „Der junge Hammecke hatte ja Familie“, versuchte er wieder auf den Toten zu sprechen zu kommen, „waren die öfter hier?“

„Von wegen“, die Chefin winkte ab. „Die Frau kriegen Sie hier nicht zu sehen. Die macht doch diesen Beauty-Kram. Im Internet kann man die sehen, auf ihrem Kanal, wie heißt der noch, Rita?“

Die Angestellte zuckte ahnungslos die Achseln. „Da kenne ich mich nicht aus. Aber Geli Schröer sagt, dass die bestimmt richtig Geld verdient mit ihrem Kanal. Weil die ja da Kosmetik vorstellt.“

„Was es nicht alles gibt“, Herr Anton schüttelte den Kopf. „Meine Theres hat ihre Cremes immer im Supermarkt gekauft.“

„Da sind sie auch billiger“, stimmte Rita zu.

„Auf jeden Fall isst Frau Hammecke garantiert keine Pommes“, stellte Bärbel klar, weil das ja auch für sie das Wichtigste war.

„Aber der Markus war schon öfter hier“, hielt Rita dagegen.

„Ja klar, weil es bei dem zu Hause ja auch nichts Vernünftiges gab“, schimpfte Bärbel, „bestimmt nur Körner und Beeren.“

Rita lachte über die Bemerkung, und auch Herr Anton tat so, als wäre das wahnsinnig komisch.

„Also, am Sonntag war er noch hier“, Rita hatte die Umfüllerei nun erledigt und die Arme in die Hüfte gestemmt. Ihr Bauch kam unter dem Kittel jetzt noch besser zur Geltung.

„Er war am Sonntag hier?“, wiederholte Herr Anton erstaunt.

„Das sollst du nicht erzählen“, schimpfte Bärbel ihre Angestellte aus. „Nachher heißt es noch, das Schnitzel mit Pommes hätte seiner Gesundheit geschadet.“

„Aber der hat doch Herzprobleme gehabt!“, hielt Rita dagegen. „Da können wir doch nichts für, wenn er einen Herzinfarkt kriegt.“

Bärbel machte ein Gesicht, bei dem Zofia nicht sicher war, was es bedeutete. Dass Rita dumm war oder dass Rita recht hatte.

„Auf jeden Fall tat er mir am Sonntag leid, weil er wieder nicht versorgt war“, erklärte die Chefin. „Ich meine, der hat ja zwei Kinder. Da ist man doch normalerweise mit der Familie unterwegs.“

Zofia hatte Mühe, sich auf die Speiseanzeige zu konzentrieren.

„Aber er hat ja dann Wolle getroffen“, stellte Rita klar. „Ich meine, da war er ja dann nicht mehr alleine.“

„Wolle wer?“, fragte Herr Anton, was Zofia eine lustige Frage fand.

„Wolfram Heise“, gab Bärbel zur Antwort, „ein Kumpel von Markus.“

„Naja, besonders gut verstanden haben die sich nicht“, Rita sah ihre Chefin mit großen Schafsaugen an, „die haben draußen aufs Essen gewartet, aber gestritten haben die so laut, dass man es hier drinnen mitgekriegt hat.“

„Das sollst du doch nicht sagen“, schimpfte Bärbel erneut, „für den Wolle ist das nicht schön.“

„Wird doch um nichts Großartiges gegangen sein“, meinte Herr Anton mit unschuldiger Miene.

„Das wissen wir nicht“, erklärte die Chefin resolut, „aber ihr wisst sicher endlich, was ihr zu essen haben wollt.“

———

Als Thomas es endlich geschafft hatte, die Nummer zu wählen, war der Chef schnell am Apparat.

„Ein großer Ermittlungserfolg!“, sagte er, noch bevor Thomas sein Anliegen vortragen konnte. „Herzlichen Glückwunsch dazu! Ihr habt der Abteilung alle Ehre gemacht!“

Thomas war erstaunt, wie wenig ihm das Lob bedeutete. Dabei hatte er lange im Dortmunder Kommissariat um Anerkennung gebuhlt. Er war viele Jahre beim Drogendezernat in Bielefeld gewesen und erst vor einem knappen Jahr an das Dortmunder KK11 ausgeliehen worden. Bislang war unklar, wie es mit ihm weiterging, eigentlich wollte er bleiben. Deshalb hatte er sich gemeldet, als vor vier Monaten das KK21, die Organisierte Kriminalität, in Thomas‘ Abteilung um Unterstützung gebeten hatte. Im Nachhinein keine gute Entscheidung.

„Ich hoffe, du hast dich schon ein bisschen erholt!“, sagte der Chef.

„Ja, es geht langsam besser“, log Thomas. Zwar hatte er eben geduscht, sich danach aber wieder ins Bett gelegt. So etwas kannte er nicht.

„Rüdiger sagt, ihr feiert erstmal Überstunden ab?“

„Ja, stimmt“, murmelte Thomas und gab sich dann einen Ruck, „allerdings habe ich gerade einen privaten Hinweis bekommen, über den ich dich in Kenntnis setzen möchte.“

„Aha“, der Chef schien erstaunt, „dann schieß mal los!“

Thomas versuchte das Wenige, das er hatte, in professionelle Worte zu setzen. Es fiel ihm nicht leicht.

„Und warum hat sich der Bestatter nicht direkt an die Polizei gewandt?“, wollte der Chef anschließend wissen.

„Hat er ja gewissermaßen“, bemühte sich Thomas zu erklären, „er hat meinen Vater angesprochen, weil er weiß, dass ich bei der Mordkommission arbeite. So ist das nun mal auf dem Land.“

„Aha, so ist das nun mal auf dem Land.“

Thomas hielt sich zurück. Sollte der Chef selbst entscheiden, ob er der Sache nachgehen wollte. Andererseits spürte er just in diesem Moment eine gewisse Energie in sich aufsteigen. Das fand er an sich schon mal gut.

„Aber es hat einen regulären Totenschein gegeben. Ohne Hinweis auf Fremdverschulden“, gab der Chef zu bedenken.

„Ja, das ist wohl so. Aber ganz ehrlich: Der Mann ist vierundvierzig und wird spätabends tot im Wald aufgefunden. Ist schon ungewöhnlich, dass da nicht routinemäßig eine Obduktion angeordnet wird.“

„Aber kommt vor“, hielt der Chef dagegen. „Thomas, du weißt, wie viel bei uns zu tun ist. Wenn wir uns da noch die eindeutigen Todesursachen aufhalsen, gehen wir unter.“

„Absolut“, bestätigte Thomas, „aber wenn ein erfahrener Bestatter sagt, dass da etwas nicht stimmt, gibt es meines Erachtens keine eindeutige Todesursache mehr.“

Thomas spürte, dass der Haken sich verfing. Als der Chef nicht antwortete, ruckelte er noch ein bisschen daran.

„Ich wollte nur weitergeben, was ich gehört habe. Wenn der Bestatter weiterarbeitet, wird die Beweislage schwierig. Ist deine Entscheidung, ich bin da raus.“

„Okay“, raunte der Chef, „ich schaue, wen ich hinschicken kann. Vielleicht lässt sich das Ganze ja schon vor Ort klären.“

„Gute Entscheidung!“, sagte Thomas zufrieden.

Als er sich nach dem Telefonat wieder hinlegte, fühlte er sich besser. In einem Resilienz-Seminar hatten sie gelernt, dass sie selbst herausfinden mussten, was ihnen bei extremer Belastung guttat. Das konnte Chillen auf der Couch sein oder Auspowern in der Muckibude. Vielleicht war es ja bei ihm die Beschäftigung mit einem neuen Fall.

———

Anton hatte sich eine Lupe hinzugeholt, um die Wanderkarte besser studieren zu können. Er fand alles vor, wie er es in Erinnerung hatte: Der Bramscheder Kamp lag inmitten eines Geflechts von Spazierwegen. Dort gingen die Bramscheder spazieren, führten ihre Hunde aus oder übten Rollschuh fahren. Naja, Rollschuhe waren nicht mehr so modern. Oder sie hießen jetzt anders.

„Haben Sie gefunden?“, sprach Zofia ihn an. Sie saß vor ihrem Tablet und suchte ihrerseits etwas, jetzt aber sah sie ihn neugierig an.

„Wo genau es passiert ist, weiß ich leider nicht“, gab Anton zu. „Es gibt dort jede Menge Spazierwege, am besten, wir fragen mal nach.“

„Bei Nolli?“, wollte Zofia wissen. „Oder bei wem?“

Anton überlegte. „Wen haben wir an Kontakten in Bramschede? Nolli, klar. Dann die beiden Damen vom Grill.“

„Und die beiden Männer aus der Busstelle“, fügte Zofia hinzu.

„Die kennen wir ja nicht“, wandte Anton ein. Wobei, das war ein bisschen geflunkert. Seitdem er die Namen wusste, hatte er eine Ahnung, um wen es sich handelte. Bruno, das war Bruno Schwartpaul, nahm er an. Aber Will – dazu fiel ihm tatsächlich nichts ein.

„Lernen wir sie kennen“, ließ Zofia seine Antwort nicht gelten, „wenn sie den ganzen Tag in der Busstelle sind, kriegen sie so einiges mit.“

„Da haben Sie recht“, gab Anton zu. Möglicherweise konnte man ihm anhören, dass er das fragwürdig fand.

Zofia stand auf und schenkte Anton Tee nach. Am späten Nachmittag machten sie es sich hier im Esszimmer immer mit einer Teezeit gemütlich.

„Kenne ich noch Weronika, die in Bramschede wohnt“, führte Zofia an, nachdem sie sich wieder vor ihr Tablet gesetzt hatte.

„Ach, Ihre Weronika, stimmt!“ Die hatte Anton vergessen. Eine Freundin von Zofia. Auch aus Polen. Auch in der Pflege – bei Ingeborg Heinasch in Bramschede!

„Weronika arbeitet nicht nur bei Frau Inge“, erzählte Zofia, während sie etwas eingab, „am Nachmittag sie ist auch in der Schule zu einer Betreuung.“

„Zur Nachmittagsbetreuung?“, fragte Anton nach. Den Ausdruck kannte er, obwohl er ziemlich neu war. Alle Kinder konnten jetzt bis nachmittags in der Grundschule bleiben. Ehrlich gesagt hatte es ihm als Kind schon bis mittags gereicht. Darüber hatte er bereits mit Zofia gestritten.

„Weronika war Lehrerin in Tczew, bevor sie kam zu Frau Inge. Sie sagt, in den Grundschule sie hat noch ein bisschen das Gefühl, eine Lehrerin zu sein. Vielleicht sie kennt die Hammecke-Kinder.“

Bevor Anton etwas dazu sagen konnte, ging in Zofias Tablet ein Film an.

„Schauen Sie mal hier!“ Zofia drückte irgendetwas, so dass der Film stoppte, dann nahm sie ihr Tablet hoch und kam aufgeregt zu ihm um den Tisch. „Habe ich die Frau von Markus Hammecke gefunden. Mit ihren Beauty-Kanal.“

Anton versuchte, sich auf dem Bildschirm zu orientieren. Zofia hatte Youtube aufgerufen, das kannte er, Zofia hatte ihm schon häufiger etwas daraus gezeigt.

Sie drückte den Film wieder an, und Anton fand sich plötzlich vor einem feudalen Schminktisch wieder – zusammen mit einer schönen jungen Frau.

Die Frau trug ein wollweißes leinenes Kleid und erzählte, dass sie heute „country colours“ vorstellen wolle – eine Kosmetik „perfekt für einen Ausflug aufs Land“. Anton fand das lustig. Die Frau wohnte schließlich in Bramschede. Einen Ausflug aufs Land musste sie nun wirklich nicht machen.

Sie sprach im Weiteren über Puder, was sie aber immer als „Pauder“ aussprach. Offenbar war vieles auf Englisch, denn es kamen noch viele andere Ausdrücke vor, die Anton nicht verstand. Flarisching, Augenluk, Topper. Anton kam da nicht mit und war froh, dass Zofia irgendwann den Film anhielt.

„Guckt sich das jemand an?“, wollte Anton wissen. „Ich meine, außer uns?“

„2.314 Leute“, meinte Zofia, „das ist nicht sehr viel.“

„Wie bitte? Ich finde, das ist schon viel“, sagte Anton erstaunt. „Ich kenne keine 2.314 Leute, die sich einen Film darüber ansehen würden, wie ich einen Ausflug aufs Land mache.“

Zofia musste lachen. „Wer weiß? Vielleicht wir sollten Sie zu einem Youtube-Star machen.“

„Ist Martin Hammecke auch im Internet?“, ging Anton darüber hinweg.

„Markus“, sagte Zofia und zog das Tablet zu sich heran. „Habe ich noch nicht geguckt. Schaue ich nach.“

Sie gab etwas ein und bekam ein paar Treffer geboten.

„Ja, als Mitarbeiter der Langerner Bank.“

Sie hielt Anton das Gerät hin. Zu sehen war ein ordentlicher junger Mann mit einem freundlichen Lächeln, ein typischer Bankmitarbeiter.

„Hat er etwas von einen Jungen“, meinte Zofia, und Anton guckte genauer.

Dunkelblondes, leicht welliges Haar, fast runde Brille. Aber das war es nicht. Er hatte etwas Lausbubenhaftes. Anton wusste, was Zofia meinte.

„Sie haben recht“, stimmte er zu.

Zofia zog das Tablet wieder zu sich heran. „Hier ist noch ein Bild“, sagte sie kurz darauf. „Ist er auch Mitglied in Fußballverein.“

Sie hielt ihm erneut das Gerät hin. Diesmal ein Markus Hammecke ohne Anzug, stattdessen in einem T-Shirt. Er war im TuS Bramschede im Vorstand aktiv.

„Er ist Kassenführer“, las Anton vor. „Klar, als Bänker kriegt man immer solche Jobs aufgebrummt.“

Zofia hatte sich genauer in die Seite vertieft. „Sehen Sie hier“, sie zeigte auf ein weiteres Bild. „Wie hieß der Wolle mit richtigem Namen, der Wolle, den die frytki-Frauen genannt haben?“

„Wolfram Heise“, war Anton froh, auch mal etwas beitragen zu können. Er hatte schon überlegt, ob das der Sohn von Albert Heise sein konnte. Der war in Bramschede Dackdecker gewesen.

„Dann da ist er!“, Zofia hielt ihm das Tablet hin. Ein Mann in Hammeckes Alter. Und ja, genauso hatte Albert Heise früher ausgesehen! Wenig Haare, und die Gesichtszüge waren nahezu identisch. Nur hatte Albert keinen Vollbart gehabt wie sein Sohn auf dem Bild.

„Er ist Erster Vorsitzender vom Fußballverein“, hielt Anton fest.

„Und dazu auch noch Trainer!“ Zofia hatte sein Profil angeklickt. „Trainiert er die A-Jugend am Dienstag und Freitag um achtzehn Uhr.“

„Also heute?“, fragte Anton nach.

Zofia sah auf die Uhr. „Ja, und um genau zu sagen, fängt er in einer Stunde mit seinem Training an!“

———

Als Herr Anton endlich im Rollstuhl saß, schob Zofia ihn nur ein paar Meter über den buckligen Rasen, um dann plötzlich stehen zu bleiben.

Der alte Mann blickte sich besorgt um. „Bin ich zu schwer für Sie? Dann lassen wir das!“

„Nein, nein, ist nur –", sie stellte sich neben ihn, in der Hoffnung, dann besser erklären zu können, was sie gerade empfand. „Riechen Sie auch? Diesen Sommergeruch am Abend? Ist ganz besonders. Und hören Sie?“

Zofia fehlte die Sprache, um ihre Gefühle auszudrücken. Dieses Rufen von fußballspielenden Jungs. „Hier!“, „Mach!“, „Los!“. Es war anders als in einem Fußballstadion. Es war die unverwechselbare Geräuschkulisse eines Fußballspiels auf einem Dorfplatz. Einzelne Rufe, die zwischen Wald und Sportwärterhäuschen verhallten. Es klang nach Amateuren. Nach Dorf. Nach Gemeinschaft. So war Heimat in Polen. Und so war Heimat hier.

„Ich weiß, was Sie meinen“, bestätigte Herr Anton, und sein Gesichtsausdruck sagte ihr, dass er es wirklich verstand.

Sie berührte kurz seine Schulter, dann versuchte sie sich zu orientieren. Der Fußballplatz lag direkt am Wald und verfügte auf ihrer Seite über ein paar einfache Holzbänke. Es spielten zwei Mannschaften quer, jeweils mit fünf oder sechs Leuten um die achtzehn Jahre. Am Seitenrand stand der Trainer in einem dunkelblauen Trainingsanzug und rief seinen Leuten hin und wieder etwas zu.

„Er sieht nicht aus wie einen Wolle“, entfuhr es Zofia. „Könnte er eher Glatze heißen so ganz ohne Haar.“

„Stimmt!“, Herr Anton musste lachen. „Der Vater sah genauso aus.“

„Thomas könnte heißen Wolle, weil er hat schönes lockiges Haar wie ein braunes Schaf.“

Diesmal schmunzelte Herr Anton, und Zofia ärgerte sich, dass sie das gesagt hatte. Schafe streichelte man gern, das wusste sogar Herr Anton.

„Stellen wir uns dorthin“, ging Zofia schnell darüber hinweg und schob den Rollstuhl zu den Holzbänken hin. So