Am Fenster - Julian Barnes - E-Book

Am Fenster E-Book

Julian Barnes

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Beschreibung

Julian Barnes' Lieblingsbücher In seinem neuen Buch beschäftigt sich Julian Barnes mit dem Schreiben. Diesmal jedoch nicht in erster Linie mit dem eigenen, sondern mit dem anderer: In siebzehn Essays und einer Short Story erzählt er uns von Lieblingsbüchern und Autoren, die es zu entdecken gilt – und macht unbändige Lust darauf, sofort mit einer langen Wunschliste die nächste Buchhandlung aufzusuchen. Julian Barnes schreibt über U-Bahnfahrten mit Penelope Fitzgerald und über Rudyard Kiplings Leidenschaft für Autofahrten durch Frankreich, er feiert Houellebecqs Kompromisslosigkeit und bricht eine Lanze für seine unterschätzten Kollegen (Sie haben Ford Madox Fords »Das Ende der Paraden« nicht gelesen? Dann aber los!). Barnes hat keine Angst vor Ikonenkritik (George Orwell) und noch weniger vor hymnischem Lob (Lorrie Moore, John Updike). All das ist scharfsinnig beobachtet, mit feinem Humor und manchmal mildem Spott, mit Sinn fürs argumentative Fairplay und mit viel Herzblut. Nebenbei schenkt er uns in einer Short Story überraschende Einsichten über Hemingway und über das Verhältnis von Mythos und Werk dieses Superstars der amerikanischen Literaturgeschichte. Klug, differenziert, humorvoll und sehr, sehr kurzweilig – dieser Essayband ist ein großes Lesevergnügen und macht Lust, sich umgehend durch sämtliche besprochenen Bücher zu lesen.

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Seitenzahl: 398

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Julian Barnes

Am Fenster

Siebzehn Essays über Literatur und eine Short Story

Aus dem Englischen von Gertraude Krueger, Thomas Bodmer, Alexander Brock und Peter Kleinhempel

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Julian Barnes

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

WidmungVorwortDer trügerische Schein von Penelope FitzgeraldDer »unpoetische« CloughGeorge Orwell und der verdammte ElefantFord Madox Fords allertraurigste Geschichte: The Good SoldierFord und die ProvenceFords anglikanischer HeiligerKiplings FrankreichFrankreichs KiplingDie Weisheit von ChamfortDer Mann, der das alte Frankreich retteteDas Profil von Félix FénéonMichel Houellebecq und die Sünde der VerzweiflungMadame Bovary übersetzenEdith Whartons Das RiffHommage an Hemingway: Eine Short Story1. Der Schriftsteller auf dem Lande2. Der Professor in den Alpen3. Der Maestro im Mittleren WestenLorrie Moore schwingt sich emporIn Erinnerung an Updike, in Erinnerung an Rabbit1. Kapitel2. Kapitel»Gegen Herzeleid gibt es kein Heilmittel«Ein Leben mit BüchernÜbersetzerverzeichnisBibliografische HinweiseZitierte WerkeDanksagungRegister
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Für Pat

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Vorwort

Eine Karikatur von Sempé, die ein modernes Antiquariat zeigt. Ein Raum im Obergeschoss, Bücherregale bis an die Decke; nackte Dielen, keine Kunden, eine Hängelampe. Rechts das gesammelte Angebot zur GESCHICHTE. Links spiegelbildliche Reihen mit PHILOSOPHIE. Vorne ist eine ähnliche Abteilung, aber von einem Fenster durchbrochen, durch das wir auf eine Straßenecke hinunterblicken können. Von links kommt ein kleiner Mann, der einen Hut trägt. Von rechts kommt eine kleine Frau, die ebenfalls einen Hut trägt. Sie können sich nicht sehen, aber von unserem Logenplatz aus erkennen wir, dass die beiden gleich zusammentreffen, vielleicht zusammenstoßen werden. Etwas wird geschehen und beobachtet werden. Dieser Teil des Buchladens heißt LITERATUR.

Das ist es, vereinfacht und grafisch ausgedrückt, woran ich als Leser wie als Schriftsteller seit jeher glaube. Literatur erklärt und erweitert das Leben mehr als jede andere schriftliche Form. Natürlich erklärt auch die Biologie das Leben, ebenso die Biografie, die Biochemie, Biophysik, Biomechanik und Biopsychologie. Aber sämtliche Biowissenschaften müssen hinter der Bioliteratur zurücktreten. Romane erzählen uns die reinste Wahrheit über das Leben: was es ist, wie wir es leben, wozu es da sein könnte, wie wir es genießen und was es uns wert ist, wie es misslingt und wie wir es verlieren. Romane sprechen zu und aus dem Verstand, dem Herzen, dem Auge, den Genitalien, der Haut; zu und aus dem Bewussten und Unterbewussten. Was es bedeutet, ein Individuum zu sein, was es heißt, Teil einer Gesellschaft zu sein. Was es heißt, allein zu sein. Allein, und dabei doch in Gesellschaft: das ist die paradoxe Lage des Lesers. Allein in Gesellschaft eines Schriftstellers, der in der Stille des Denkens spricht. Und es spielt – ein weiteres Paradox – keine Rolle, ob dieser Schriftsteller lebendig oder tot ist. Literatur lässt Figuren, die es nie gegeben hat, so real sein wie gute Freunde und tote Schriftsteller so lebendig wie einen Nachrichtensprecher im Fernsehen.

Daher geht es in den meisten Beiträgen in diesem Buch um Romanliteratur und ihre verwandten Formen: das erzählende Gedicht, den Essay, die Übersetzung. Wie diese Literatur wirkt und warum sie wirkt und wann sie keine Wirkung zeigt. Wir sind, im tiefsten Inneren, erzählende Wesen und immer auf der Suche nach Antworten. Die beste Literatur liefert nur selten Antworten, aber sie formuliert die Fragen ganz ausgezeichnet.

J. B.

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Der trügerische Schein von Penelope Fitzgerald

Einige Jahre vor ihrem Tod nahm ich mit Penelope Fitzgerald an einem Podiumsgespräch an der Universität York teil. Ich kannte sie flüchtig und bewunderte sie zutiefst. Ihr Auftreten war schüchtern und leicht zerstreut, als wollte sie auf keinen Fall für das gehalten werden, was sie damals war: die beste lebende Romanschriftstellerin Englands. Daher gab sie sich, als wäre sie eine harmlose, Marmelade einkochende Großmutter, die sich kaum in der Welt zurechtfindet. Das war nicht allzu schwer, schließlich war sie tatsächlich Großmutter und kochte – eine der kleinen Enthüllungen in ihren gesammelten Briefen – Marmelade (und Chutney) ein. Aber die Tarnung konnte nicht überzeugen, da immer wieder, gleichsam gegen ihren Willen, ihre außergewöhnliche Intelligenz und ihr instinktiver Scharfsinn aufblitzte. Beim Kaffee bat ich sie, mir meine beiden Lieblingsromane von ihr zu signieren: The Beginning of Spring [Frühlingsanfang] und The Blue Flower [Die blaue Blume]. Sie kramte lange in der schweren Plastiktasche herum – lila mit einem Blumenmuster, soweit ich mich erinnere –, die alles Nötige für den Tag enthielt. Schließlich kam ein Füllfederhalter zum Vorschein, und nach einer ausgedehnten Denkpause schrieb sie – wie es schien, wie ich hoffte – ein paar persönliche, ermutigende Worte für einen jüngeren Schriftsteller auf die Titelblätter. Ich steckte die Bücher weg, ohne die Widmungen anzusehen.

Die Veranstaltung ging weiter. Danach wurden wir zum Bahnhof von York gefahren, um gemeinsam die Rückreise nach London anzutreten. Bei der Einladung hatte ich zwischen einem bescheidenen Honorar und normaler Anreise oder keinem Honorar und Erste-Klasse-Ticket wählen dürfen. Ich hatte mich für das Zweite entschieden. Der Zug fuhr ein. Ich ging davon aus, dass die Universität einer achtzigjährigen Autorin ihres Kalibers unmöglich etwas anderes als ein Ticket für die erste Klasse gegeben haben konnte. Doch als ich zu unserem vermeintlichen Wagen gehen wollte, sah ich, dass sie sich in eine bescheidenere Richtung aufmachte. Selbstverständlich schloss ich mich ihr an. Worüber wir auf der Fahrt sprachen, weiß ich nicht mehr; vielleicht erwähnte ich den seltsamen Zufall, dass wir beide unser literarisches Hardcover-Debüt im selben Buch (The Times Anthology of Ghost Stories aus dem Jahr 1975) gegeben hatten; womöglich stellte ich die üblichen dummen Fragen danach, woran sie gerade arbeite und wann ihr nächster Roman erscheinen werde (wie ich später erfuhr, log sie Fragesteller oft an). In King’s Cross schlug ich vor, uns ein Taxi zu teilen, da wir beide im selben Teil von Nord-London wohnten. Oh nein, antwortete sie, sie werde die U-Bahn nehmen – schließlich habe sie vom Bürgermeister von London so eine wunderbare Dauerkarte geschenkt bekommen (bei ihr hörte sich das an wie ein persönliches Geschenk statt wie etwas, was alle Rentner bekamen). Da ich annahm, sie müsse den langen Tag noch mehr spüren als ich, drängte ich noch einmal zu einem Taxi, aber sie blieb freundlich stur und hatte auch ein schlagendes Argument parat: Sie musste auf dem Weg von der U-Bahnstation noch einen Liter Milch besorgen, und wenn sie mit dem Taxi nach Hause führe, müsste sie später noch einmal raus. Ich machte unverdrossen geltend, dass wir das Taxi ohne Weiteres vor dem Laden halten und warten lassen könnten, während sie ihre Milch kaufte. »Darauf wäre ich gar nicht gekommen«, sagte sie. Aber nein, auch das konnte sie nicht umstimmen: Sie wollte mit der U-Bahn fahren, und damit basta. Also wartete ich neben ihr in der Bahnhofshalle, während sie im Durcheinander der Tragetasche nach ihrer Dauerkarte suchte. Sie musste doch da sein, aber nein, anscheinend war sie auch nach ausgiebigem Stöbern nicht aufzufinden. Inzwischen verspürte ich eine gewisse Ungeduld – und ließ das womöglich auch erkennen –, darum dirigierte ich uns zum Fahrscheinautomaten, kaufte unsere Fahrscheine und geleitete Mrs Fitzgerald die Rolltreppe hinunter zur Northern Line. Während wir auf die Bahn warteten, wandte sie sich mit dem Ausdruck leichter Besorgnis an mich. »Oh je«, sagte sie, »jetzt habe ich Sie wohl in ein paar niedere Beförderungsarten hineingezogen.« Ich lachte noch vor mich hin, als ich zu Hause ankam und ihre Bücher aufschlug, um die sorgsam erwogenen Widmungen zu lesen. In The Beginning of Spring hatte sie hineingeschrieben »Mit den besten Wünschen – Penelope Fitzgerald«, bei The Blue Flower dagegen – wo die Inschrift erheblich mehr Zeit in Anspruch genommen hatte – hatte sie sich für »Mit den besten Wünschen – Penelope« entschieden.

Wie ihre Wesensart, so sollten anscheinend auch ihr Leben und ihr literarischer Werdegang irreführen, davon ablenken, dass sie eine große Schriftstellerin war oder werden würde. Sicher, sie stammte aus dem Bildungsbürgertum und war durch einen Vater und drei Onkel mit den vielfach begabten Knox-Brüdern verwandt, deren gemeinschaftliche Biografie sie später schrieb. Ihr Vater war Herausgeber der Zeitschrift Punch; ihre Mutter, eine der ersten Studentinnen am Somerville College in Oxford, schrieb ebenfalls. Auch Penelope war eine brillante Somerville-Studentin: Bei ihrem Abschlussexamen war ein Prüfer so beeindruckt von ihren schriftlichen Arbeiten, dass er seine Kollegen bat, sie behalten zu dürfen, und sie später dem Vernehmen nach in Pergament binden ließ. Doch nachdem sie sich so öffentlich hervorgetan hatte, verbrachte sie die gesamte Zeit, die für andere wohl die fruchtbarsten Schriftstellerjahre gewesen wären, als Ehefrau und berufstätige Mutter (bei der Zeitschrift Punch, bei der BBC, beim Ministerium für Ernährung, später als Journalistin und Lehrerin). Beim Erscheinen ihres ersten Buchs, einer Biografie von Edward Burne-Jones, war sie 58 Jahre alt. Danach schrieb sie einen humoristischen Thriller, The Golden Child, angeblich zur Aufheiterung ihres sterbenden Ehemanns. Von 1975 bis 1984 brachte sie zwei weitere Biografien und vier weitere Romane hervor. Diese vier Romane sind alle kurz und halten sich eng an ihre eigenen Erfahrungen: Sie handeln vom Betreiben einer Buchhandlung, vom Leben auf einem Hausboot, von der Arbeit bei der BBC zu Kriegszeiten, vom Unterrichten an einer Theaterakademie. Sie sind flott geschrieben, skurril, überaus vergnüglich, aber ohne höheren Anspruch. Und wie bei fast allen anderen Schriftstellern hätte man wohl angenommen, dass sie es, nachdem das eigene Leben aufgebraucht war und sie inzwischen stark auf die siebzig zuging, dabei bewenden ließe. Ganz im Gegenteil: in den nächsten zehn Jahren, von 1986 bis 1995, kamen die vier Romane – Innocence,The Beginning of Spring,The Gate of Angels [Das Engelstor] und The Blue Flower – heraus, mit denen Penelope Fitzgerald in Erinnerung bleiben wird. Sie haben keinen erkennbaren Bezug zu ihrem eigenen Leben und führen uns nacheinander in das Florenz der 1950er-Jahre, das vorrevolutionäre Moskau, das Cambridge von 1912 und das Preußen des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts. Viele Schriftsteller denken sich anfangs Geschichten aus, die nichts mit ihrem Leben zu tun haben, und wenn ihnen dann das Material ausgeht, wenden sie sich eher vertrauten Quellen zu. Penelope Fitzgerald machte es umgekehrt, und als sie sich von ihrem eigenen Leben freischrieb, fand sie zu wahrer Größe.

Dennoch folgte die öffentliche Anerkennung, als sie dann kam, keiner erkennbaren Bahn und ging mit einem spürbaren Maß männlicher Herabwürdigung einher. Richard Garnett, ihr Sachbuch-Verleger, verstieg sich 1977 zu der Bemerkung, sie sei »nur eine Amateurschriftstellerin«, worauf sie nachsichtig fragte, »wie viele Bücher man geschrieben und wie viele Semikolons man getilgt haben muss, bevor man den Amateurstatus verliert«. Im Jahr darauf wurde sie mit The Bookshop [Die Buchhandlung] für den Booker Prize nominiert und fragte ihren belletristischen Verleger Colin Haycraft, ob es eine gute Idee wäre, einen weiteren Roman zu schreiben. Er antwortete fröhlich, er wolle nicht schuld daran sein, wenn sie weiterhin schriebe, und habe sowieso schon zu viele kurze Romane mit traurigem Ausgang auf dem Schreibtisch. (Verständlicherweise suchte sich Penelope Fitzgerald einen anderen Verleger, und Haycraft behauptete später, er sei missverstanden worden.) Ich erinnere mich, dass Paul Theroux mir erzählte, 1979 habe er als Juror für den Booker Prize seine vorbereitende Lektüre während einer Zugreise durch Patagonien absolviert, und die Bücher, die er indiskutabel fand, seien aus dem Fenster in die vorüberziehende Pampa geflogen. Ein paar Monate später sah er mit höflichem Lächeln zu, wie der Preis an Penelope Fitzgerald für Offshore ging. Auch die hauseigenen Literaturpäpste der BBC behandelten sie mit Herablassung: Frank Delaney vom Radio erklärte ihr, sie habe »den Preis verdient, weil das Buch nichts Anstößiges enthielt und familientauglich war«, und Robert Robinson vom Fernsehen gestand ihr in The Book Programme geringschätzig wenig Sendezeit zu und machte kaum einen Hehl aus seiner Ansicht, sie hätte den Preis nicht bekommen sollen. Und nach ihrem Tod wurde sogar die Trauerfeier durch das gockelhafte Verhalten eines jungen männlichen Schriftstellers vermiest.

Man könnte vielleicht behaupten, sie habe den Booker Prize für den »falschen« Roman bekommen – was nun in der Geschichte des Preises nichts revolutionär Neues wäre –, aber die eigentliche Schande besteht darin, dass sie den Preis mit keinem ihrer vier letzten Romane noch einmal gewann. The Blue Flower, das 1995 häufiger als jeder andere Titel zum Buch des Jahres gewählt wurde, kam nicht einmal auf die Shortlist – und der Preis ging in jenem Jahr an Pat Barker für The Ghost Road [Die Straße der Geister]. Dennoch hatte Penelope Fitzgerald ein paar glückliche Erinnerungen an den Abend, an dem ihr der Booker Prize verliehen wurde: »Das Beste kam, als der Chefredakteur der Financial Times, der mit mir am Tisch saß, auf den Scheck sah und zum Vorstandsvorsitzenden von Booker McConnell sagte: ›Ähm, wie ich sehe, haben Sie einen neuen Prokuristen.‹ Beide Gesichter glühten vor Interesse.«

Es gibt viele solcher Momente in ihren Briefen – Momente, in denen die professionelle Menschenbeobachterin Nahrung und Lohn findet, wo andere nur Langeweile oder Unverschämtheit finden würden. Nach diesen Briefen zu urteilen, führte sie ein weitgehend häusliches und oft unstetes Leben, das von regelmäßigen ökonomischen Krisen begleitet wurde. Die Zeitschrift World Review, die sie herausgab, konnte sich nicht halten; ihr Ehemann Desmond hatte ein Alkoholproblem; das Hausboot, auf dem sie wohnten, sank nicht nur einmal, sondern gleich zweimal, und damit ging auch ihr persönliches Archiv unter (darunter sämtliche Briefe an ihren Mann während des Krieges). Einmal war eine Sozialwohnung in Clapham die Rettung, wo die Schriftstellerin Rabattmarken sammelte und sich mit Teebeuteln die Haare färbte. Zum Schreiben kam sie nur, wenn ihr das Familienleben mal eine Atempause ließ, und sie verdiente erst Geld, als The Blue Flower in Amerika ein Erfolg wurde (das Buch wurde im ersten Jahr, in dem dieser Preis auch an nichtamerikanische Autoren vergeben werden konnte, mit einem National Book Critics Circle Award ausgezeichnet). Es bereitete ihr einen kläglichen Stolz – und sollte aufstrebenden Romanautoren zur Warnung dienen –, dass sie erst mit achtzig in eine höhere Steuerklasse aufrückte. Sie neigte auch zu Unfällen, stürzte von Leitern und aus Fenstern, wurde im Bad eingeschlossen und zum Opfer anderer, eher undurchsichtiger Vorfälle (»Ich wurde in einer Buswarteschlange umgestoßen und habe einen runden Bluterguss am Arm, der wie ein Kainsmal aussieht«). Sie nahm gern die Schuld auf sich für etwas, wofür sie gar nichts konnte, und hatte sogar ein schlechtes Gewissen gegenüber ihrem Verlag, wenn ihre Bücher sich nicht verkauften. Sie mochte andere auch nicht kränken: Einmal ging sie zur Wahl, und beim Verlassen des Wahllokals »riss mir draußen zu meinem Entsetzen die Dame von den Konservativen die Wahlkarte aus der Hand und sagte: ›Ich nehme nur die von uns, meine Liebe‹ – ich mochte ihr nicht sagen, dass ich für die Liberalen gestimmt hatte, weil ich sie nicht verletzen wollte – sie hatte so einen hübschen grünen Hut auf – ich sehe sie oft in der Kirche.«

Dieser »hübsche grüne Hut« verrät die Schriftstellerin, und oft wartet ihre Fantasie nur darauf, das in der Realität Beobachtete umzugestalten. Hier eine Stelle aus einem Brief während des Krieges:

Mein Bruder war eine Woche auf Urlaub hier. Er hat im Korridor geschlafen, und die dänische Köchin hat ihn offenbar für einen einquartierten Soldaten gehalten und ist gnadenlos mit der Teppichkehrmaschine auf ihm herumgefahren.

Was den logischen Schluss zulässt, dass das ein ganz normales (wenngleich dänisches) Vorgehen gewesen wäre, wäre ihr Bruder tatsächlich eine solche Einquartierung gewesen. Mitunter mutet das Leben, das sie beschreibt, durchaus ein wenig kleinkariert an. Etwa: »Ich habe meine Sandalen mit Holzpaste (leider gab es bei Woolworth nur ›Walnuss antik‹) und recht guten neuen Plastiksohlen repariert, auch von Woolworth.« Aber das ist eine Kleinkariertheit mit Pfiff: Erstens ist sie reflektiert, und zweitens schwingt darin ein Hauch von lässiger Boheme mit. Penelope Fitzgerald wusste, was sie tat und schrieb. Und zugleich war das wirklich ihr Leben.

Doch ihre Sanftheit und ihre Neigung, immer die Schuld auf sich zu nehmen, ging auch mit einem ausgeprägten moralischen Empfinden und einer scharfen Ablehnung derer einher, die ihren Ansprüchen nicht gerecht wurden. Robert Skidelsky ist ein »absurd nerviger Mann«, Lord David Cecils Vortrag über Rossetti war »unter aller Kritik«, Rushdies letzter Roman ist »ein Haufen Blödsinn«. Dann ist da der »entsetzliche Malcolm Bradbury«, der aus »Plastik oder einer halbflüssigen Substanz« zu bestehen scheint, die sich »in der Hand auflöst oder verändert«, und der auf ihre Werke herabblickt (»ich hätte ihm am liebsten die zartgrüne Mayonnaise über den Kopf gekippt«), oder der Juryvorsitzende für den Booker Prize Douglas Hurd mit seiner erbärmlichen Ansicht darüber, was ein Roman ist. Zu Peter Ackroyds Dickens-Biografie bemerkt sie nur mit mildem Sarkasmus: »Ich weiß nicht, wie eine Lebensbeschreibung von Dickens gelingen soll, wenn der Autor absolut keinen Humor hat.« Und zu ihrem eigenen Ansehen bei der Kritik: »Angeblich gehöre ich der Schule von Beryl Bainbridge an, was meiner Eitelkeit einen gehörigen Dämpfer aufsetzt.«

»Im Großen und Ganzen«, sagte sie 1987 zu ihrem amerikanischen Lektor, »meine ich, man sollte Biografien über die Menschen schreiben, die man achtet und bewundert, und Romane über Menschen, die man für beklagenswert fehlgeleitet hält.« Penelope Fitzgerald geht liebevoll mit ihren Figuren und deren Welt um, sie ist unvermutet witzig und mitunter überraschend aphoristisch; dabei wirken solche Momente der Weisheit bezeichnenderweise nicht wie von der Autorin geschaffen, sondern scheinen organisch aus dem Text zu wachsen wie Moos oder Koralle. Ihr fiktionales Personal ist selten böse oder absichtlich schlecht; wenn den Figuren etwas misslingt oder wenn sie anderen Schaden zufügen, dann meist aus einem falschen Verständnis heraus; es fehlt ihnen eher an Vorstellungskraft als an Mitgefühl. Das wesentliche Problem ist, dass sie nicht sehen, welche Auflagen und Bedingungen an das Leben geknüpft sind: moralische Tugend und soziale Inkompetenz liegen oft nahe beieinander. Wie Salvatore, der Neurologe in dem »italienischen« Roman Innocence, sagt: »Es gibt Dilettanten in den menschlichen Beziehungen, genau wie es etwa in der Politik Dilettanten gibt.« Die adlige Familie, in die er einheiraten soll, die Ridolfis, »neigen zu unbesonnenen Entscheidungen, die vielleicht immer dazu gedacht sind, das Glück anderer sicherzustellen«. Solche Menschen glauben gerne, die Liebe sei sich selbst genug und Glück deren verdiente Folge. Sie sagen zur falschen Zeit und auf die falsche Art, was sie denken; ihr Metier ist so etwas wie unverwüstliche schädliche Unschuld. Diese Eigenschaft ist gleichmäßig zwischen den Geschlechtern verteilt, wird aber nicht von beiden Seiten erkannt. So wird Salvatore – der sich seiner eigenen, eher intellektuellen Formen der Naivität nicht bewusst ist – von den beiden Frauen in seinem Leben durch die Vehemenz und schiere Unbekümmertheit ihrer Unschuld zur Verzweiflung getrieben:

Er bemühte sich, ruhig zu bleiben. Ihm kam der Gedanke, dass Marta wie auch Chiara ihren Vorteil nutzten, indem sie mit ihrer Einfalt, man könnte auch sagen Unschuld, über ihn herfielen. Gegen Unschuld war ein ernsthaft denkender Erwachsener wehrlos, weil er sie respektieren musste, während der Unschuldige gar nicht recht weiß, was Respekt oder Ernsthaftigkeit ist.

Penelope Fitzgeralds tiefes Verständnis für die Komplexitäten und Weiterungen der Unschuld macht die Kindergestalten in ihren Romanen nicht nur überzeugend und lebensecht, sondern lässt sie die Handlung aktiv vorantreiben. 1996 brachte Hugh Lee, ein alter Freund, die bizarre Klage vor, er finde ihre Kindergestalten »preziös«. Sie bestritt das und erwiderte: »Sie sind genau wie meine eigenen Kinder, die immer alles merkten.« Und die, nachdem sie alles gemerkt hatten, die unheilvolle Wahrheit der Unschuld aussprachen. 1968 gab die Schriftstellerin ein Gespräch mit ihrer jüngeren Tochter wieder, das eher ein vernichtendes Urteil war:

Maria hat mich sehr deprimiert, weil sie 1) nach einem Blick auf Daddy und mich sagte: »Ihr seid vielleicht ein komisches altes Paar!«, und mir 2) erklärte, mit einem Studium der Kunst und Literatur fröne man nur den persönlichen Neigungen, es bringe die Menschheit doch nicht voran und führe zu nichts, und ich glaube, das stimmt eigentlich auch: Sie hat es sehr nett gesagt. Mein Leben zerfällt zu Staub.

Das sind die Momente, in denen Schriftsteller einen kleinen Vorteil vor Nicht-Schriftstellern haben: Sie können den schmerzlichen Moment wenigstens zum späteren Gebrauch aufbewahren. Zwanzig Jahre darauf haben wir also Dolly, die freimütige kleine Tochter von Frank Reid, dem Besitzer einer Druckerei im vorrevolutionären Moskau. Als Franks Ehefrau Nellie aus unerklärlichen Gründen die Familie verlässt und nach London zurückkehrt, fragt Frank seine Tochter, ob sie ihrer Mutter schreiben möchte. Dolly erwidert, es sei besser, wenn sie nicht schriebe. Frank, der in seiner Unschuld keine Selbstgerechtigkeit kennt, fragt: »Warum denn nicht, Dolly? Du glaubst doch nicht, dass sie etwas Falsches getan hat?« Dollys Antwort kommt für ihn wie für uns unerwartet: »Das weiß ich nicht. Wahrscheinlich war es ein Fehler, dass sie überhaupt geheiratet hat.«

Die spontane Reaktion vieler Leser auf einen Roman von Penelope Fitzgerald – vor allem einen der letzten vier – ist: »Aber woher weiß sie das?« Woher weiß sie (The Beginning of Spring), wie man im vorrevolutionären Moskau einen Polizisten besticht und dass an der russischen Grenze alle Spielkarten konfisziert wurden, und woher kennt sie sich mit Drucktechniken aus? Woher weiß sie (Innocence) über Neurologie und Schneiderei und Zwergwuchs und Gramsci Bescheid? Woher hat sie ihre Kenntnisse (The Gate of Angels) über Atomphysik und die Ausbildung von Schwesternschülerinnen und die Eröffnung von Selfridges? Woher kennt sie sich (The Blue Flower) in den Gepflogenheiten des Wäschewaschens im Thüringen des achtzehnten Jahrhunderts, im Brownianismus, in der Schlegel’schen Philosophie und der Salzgewinnung in Salinen aus? Die spontane, simple und naheliegende Antwort heißt: Sie hat sich kundig gemacht. A. S. Byatt hat Penelope Fitzgerald einmal die letzte dieser Fragen gestellt und zur Antwort bekommen, sie habe »die Akten der Salinen von vorne bis hinten auf Deutsch gelesen, um das Arbeitsverhältnis ihres Helden zu verstehen«. Aber wenn wir fragen »Woher weiß sie das?«, dann fragen wir eigentlich auch: »Aber wie macht sie das?« – wie vermittelt sie ihr Wissen auf so kompakte, exakte, dynamische und nachhaltige Art? Wie jeder Schriftsteller (und jeder schüchterne Mensch) fürchtete sie, durch zu viele Informationen zu langweilen: »Ich denke immer, der Leser ist schwer beleidigt, wenn man ihm zu viel erklärt«, sagte sie. Aber es ist mehr als nur ein Sinn für Ökonomie. Es ist die Kunst, Fakten und Einzelheiten so einzusetzen, dass dabei mehr herauskommt als die Summe ihrer Teile. The Blue Flower beginnt mit der berühmten Szene eines Waschtags in einem großen Haus, wo alle schmutzige Bettwäsche, Hemden und Unterwäsche aus den Fenstern in den Hof geworfen werden. Wenn ich an diese Szene und ihre wirkungsvolle Dichte denke, meine ich immer, sie müsse ein ganzes Kapitel einnehmen – auch wenn das in einem Roman von Penelope Fitzgerald nicht mehr als sieben oder acht Seiten heißen muss. Aber beim Nachsehen stelle ich unweigerlich fest, dass die Szene keine zwei Seiten andauert – Seiten, die neben dem Aufbau dieser häuslichen Szenerie auch noch Schlüsselthemen der deutschen Philosophie der Romantik und nicht standesgemäßer Liebe anklingen lassen. Ich habe diese Szene wieder und wieder gelesen und dabei immer versucht, hinter ihr Geheimnis zu kommen, und es ist mir nie gelungen.

Bei diesem meisterhaften Umgang mit den Quellen und diesem Sinn für Prägnanz würde man in Penelope Fitzgeralds Romanen einen höchst luziden Handlungsablauf erwarten. Weit gefehlt: Es waltet eine Art wohlmeinende Irreführung, oft vom ersten Satz an. Hier der Anfang von The Beginning of Spring:

1913 kostete die Bahnfahrt von Moskau nach Charing Cross mit Umsteigen in Warschau vierzehn Pfund, sechs Shilling und drei Pence und dauerte zweieinhalb Tage.

Das klingt geradezu journalistisch klar, und in gewisser Weise ist es das auch, bis man sich überlegt, dass wohl jeder andere Autor einen russischen Roman mit vorwiegend englischem Personal damit begonnen hätte, dass eine Figur von London nach Moskau reist und dabei den Leser mit sich nimmt. Penelope Fitzgerald macht das Gegenteil: Sie beginnt damit, dass eine Figur eben die Stadt verlässt, in der die gesamte Handlung spielen wird. Aber der Satz macht einen so einfachen und unkomplizierten Eindruck, dass man kaum merkt, was da mit einem geschieht. Und hier ist der erste Satz von The Blue Flower:

So dumm war Jacob Dietmahler nicht, dass er nicht sah, dass sie am Waschtag bei seinem Freund angekommen waren.

Wieder hätte ein anderer Schriftsteller sich damit begnügt zu schreiben: »Jacob Dietmahler sah sehr wohl, dass sie …« – weitaus banaler. Eine doppelte Negation im ersten Satz bringt unsere Erwartung eines unkomplizierten Eingangs in einen Roman zu Fall und provoziert darüber hinaus die narrative Frage: »Also, wenn das so ist – wie dumm war Jacob Dietmahler denn genau?« Zudem schreibt Penelope Fitzgerald im Original »on the washday«, wo andere sich mit dem normalen englischen »on washday« begnügt hätten. Der bestimmte Artikel lässt leise das Deutsche – am Waschtag – durchklingen und gibt uns, gewissermaßen unterschwellig, das Gefühl, dass wir uns in einer anderen Zeit, an einem anderen Ort befinden. Er ebnet uns den fiktionalen Weg. Denn das ist ein zunächst frappierender Aspekt dieser letzten vier Romane: Sie wirken überhaupt nicht wie »historische Romane«, wenn historische Romane Bücher sind, die uns als moderne Leser in eine frühere Zeit zurückversetzen, weil der Autor uns im notwendigen Hintergrund und Vordergrund unterweist. Vielmehr wirken sie wie Romane, die nur zufällig einen historischen Schauplatz haben und in die wir auf Augenhöhe mit den Figuren eintreten: Es ist, als läsen wir diese Bücher nicht jetzt, sondern in der Zeit, in der sie spielen – und bleiben dennoch in unserer Gegenwart.

Penelope Fitzgeralds wohlmeinende Irreführung kulminiert in Szenen, in denen die ganze physisch erfahrene und verlässliche Welt plötzlich ins Kippen gerät. Am Anfang von The Gate of Angels kehrt ein gewaltiger Regenguss in Cambridge das Unterste zuoberst – »Baumkronen auf der Erde, Beine in der Luft – und das in einer Universitätsstadt, die sich der Logik und Vernunft verschrieben hatte«; am Ende des Romans geht das titelgebende Tor dann auf wundersame Weise auf, was ein quasireligiöser Moment oder ein unerhörter Griff in die Trickkiste der Gespenstergeschichten sein könnte – womöglich auch beides. Dann ist da die Epiphanie am Ende von The Beginning of Spring. Auf der Datscha der Familie wacht Dolly mitten in der Nacht auf und sieht Lisa, das (russische) Mädchen, das vorübergehend als Gouvernante der Reid-Kinder angestellt ist, zum Weggehen angekleidet auf der Veranda stehen; es nimmt Dolly widerstrebend mit. Sie entfernen sich auf einem Pfad von dem Licht im vorderen Fenster der Datscha. Doch dann »verschwand das Licht, obwohl der Weg ganz gerade zu verlaufen schien«. Der Wald schließt sich um sie. Zwischen den Birkenstämmen erblickt Dolly etwas, was wie menschliche Hände aussieht, Hände, »die sich bewegten und sich durch die Weiße und Schwärze hindurch berühren wollten«. Auf einer Lichtung stehen Männer und Frauen, jeder an eine Birke gelehnt. Lisa erklärt den Baummenschen, sie wisse, dass sie alle ihretwegen gekommen seien, könne aber nicht bleiben; sie müsse mit der kleinen Dolly zurückgehen. »›Wenn sie davon erzählt, wird man ihr nicht glauben. Wenn sie es im Gedächtnis behält, wird sie mit der Zeit verstehen, was sie hier gesehen hat.‹« Sie kehren auf demselben Weg zurück, und Dolly legt sich wieder ins Bett, aber der Wald ist in die Datscha eingedrungen. »Sie konnte noch immer den kräftigen Birkensaft riechen. Der Geruch war im Haus ebenso stark wie draußen.« Versteht Dolly, was sie gesehen hat – und verstehen wir es? Ist diese Szene – die wir nur aus der Sicht des Kindes kennen – ein Traum, eine Halluzination, die Erinnerung einer Schlafwandlerin? Wenn nicht, in welchem Register steht sie? Wird der Wald lebendig, wie in den pantheistischen Gedichten von Selwyn Crane, dem tolstojanischen Träumer in dem Roman? Symbolisiert die Szene weibliches Erwachen oder persönliche Befreiung, für Dolly, für Lisa oder für beide? Vielleicht hat Dolly die Vorbereitungen zu einem heidnischen Frühlingsritual beobachtet (nur wenige Seiten später fällt beiläufig der Name Strawinski). Oder ist die heimliche Versammlung im Wald womöglich eine direkt politische oder gar revolutionäre Zusammenkunft (Lisa ist, wie wir später erfahren, politisch engagiert)? Manche dieser Interpretationen, ja sogar alle sind möglich und schließen einander seltsamerweise nicht aus. Diese kurze Passage nimmt im Text nur drei Seiten ein, aber wie die Wäscheszene in The Blue Flower weitet sie sich in der Erinnerung zu etwas viel Größerem aus. Und wieder fragen wir uns: Wie macht die Autorin das nur?

Ein bekannter englischer Autor beschrieb die Lektüre eines Romans von Penelope Fitzgerald einmal als Fahrt in einem Wagen der Spitzenklasse, nur dass man nach etwa einer Meile feststellen muss, dass »jemand das Lenkrad aus dem Fenster wirft«; ein anderer lobte The Beginning of Spring als »überdreht«. Diese Ansichten scheinen mir völlig verfehlt. In The Beginning of Spring gibt es eine Szene, in der Frank Reid kurz über das russische Bestechungssystem nachdenkt. In seiner Druckerei ist eingebrochen worden; der Übeltäter feuert mit einem Revolver auf Reid, der den Mann festhält, die Sache aber nicht bei der Polizei anzeigen will. Er versäumt es jedoch, dem Nachtwächter, der den Vorfall bemerkt haben muss, hundert Rubel – »eine Summe zwischen Trinkgeld und Bestechung« – für sein Stillschweigen zuzustecken. Infolgedessen geht der Wächter zur Polizei:

Von der Polizei hatte er sicher erheblich weniger bekommen, aber wahrscheinlich brauchte er das Geld sofort. Vermutlich war er in dem engen Geflecht von kleinen Darlehen, Schulden, Rückzahlungen und Pfändungen gefangen, das die ganze Stadt, Viertel um Viertel, so fest umschloss wie das Netz der Straßenbahnen.

Romane sind wie Städte: manche sind mit der farbkodierten Klarheit eines Verkehrsnetzes organisiert und angelegt, und jedes Kapitel bedeutet ein Vorankommen von einer Station zur nächsten, bis alle Figuren erfolgreich zu ihrem thematischen Bestimmungsort gebracht worden sind. Andere, die feinsinnigeren, klügeren, haben keinen solchen auf den ersten Blick erkennbaren Streckenplan zu bieten. Statt den Leser auf eine Reise durch die Stadt mitzunehmen, werfen sie ihn mitten in die Stadt und mitten ins Leben hinein: Er soll seinen Weg selbst finden. Und vielleicht ist ihre Struktur und Zielsetzung nicht unmittelbar ersichtlich, da sie sich auf das heimliche Geflecht von »Darlehen, Schulden, Rückzahlungen und Pfändungen« gründet, das die Beziehungen zwischen den Menschen ausmacht. Solche Romane schreiten auch nicht mechanisch voran; sie schweifen ab, sie halten inne, sie springen hin und her, genau wie das Leben, nur mit mehr Zielstrebigkeit und einer verborgenen Struktur. In The Beginning of Spring will ein Priester verständlich machen, wie sich Gottes Wirken in der Welt zeigt, und sagt, es gebe keine zufälligen Begegnungen. Dasselbe gilt auch für die beste Literatur. Solche Romane sind mit ihrer Fülle an Details, Ereignissen und pulsierendem Leben nicht schwer zu lesen, aber es ist nicht immer leicht, sie zu begreifen. Das liegt daran, dass der abwesende Autor zuversichtlich darauf vertraut, dass der Leser ebenso feinsinnig und intelligent ist wie er selbst. Die Romane von Penelope Fitzgerald sind herausragende Beispiele für diese Art von Literatur.

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Der »unpoetische« Clough

Im April 1849 traf ein dreißigjähriger englischer Dichter in Rom ein. Britische Schriftsteller kamen damals schon seit über einem Jahrhundert regelmäßig hierher. 1764 wirkte diese Stadt auf Gibbon so überwältigend, dass »erst mehrere Tage in lustvollem Rausch verstrichen, ehe ich mich dazu bewegen konnte, eine nüchterne und genaue Erkundung zu unternehmen«. 1818 fand Shelley Roms Denkmäler »erhaben«. Ein Jahr später war Byron von der Stadt »entzückt«. »Sie übertrifft Griechenland – Konstantinopel – alles – zumindest alles, was ich kenne.« 1845 traf Dickens ein, und er berichtete später seinem Biografen John Forster, das Kolosseum habe ihn »erschüttert und überwältigt« wie nichts anderes in seinem Leben, außer vielleicht die Niagarafälle.

Der junge englische Dichter war guter Stimmung und so glücklich wie noch nie in seinem Erwachsenendasein. Seine erste große Lebenskrise – ausgelöst durch einen Konflikt zwischen Glaube und Beruf und die Ursache für die Aufgabe seiner Dozentur in Oxford, da er sich nicht mehr zu den anglikanischen Glaubensartikeln bekennen konnte – war vorüber; im Herbst erwartete ihn eine Stellung am University College London. Er war nicht nur Dichter, sondern auch Altphilologe, und daher stand zu vermuten, dass Rom auf ihn ebenso wirken würde wie auf viele Schriftsteller vor ihm. Doch weder die Stadt der alten Römer noch die der modernen Päpste beeindruckte ihn. An seine Mutter schrieb er:

»Der Petersdom ist enttäuschend: Der Stein, aus dem er ist, wirkt wie billiger Gips, und überhaupt ist Rom ziemlich schäbig. Die Altertümer scheinen mir insgesamt nur als Altertümer interessant zu sein und nicht ihrer Schönheit wegen … Auch das Wetter ist nicht eben schön.«

Wenn man mit einem einzigen Wort eine Einführung in den Ton, das Wesen und die Modernität Arthur Hugh Cloughs haben möchte, dann wäre es dieses (von ihm, nicht von mir) hervorgehobene: schäbig. So wie er die Dogmen seiner Landesreligion nicht akzeptiert, wenn sein Gewissen und sein Verstand ihm dies verbieten, so teilt er auch nicht die allgemeinen Vorstellungen von Pracht und Schönheit, wenn seine Augen und sein ästhetisches Gespür ihm etwas anderes sagen. Und dies war nicht nur anfängliche Geringschätzung, eine mürrische Reaktion auf verlorene Koffer oder Verdauungsprobleme. Es war eine Meinung, die Clough bestätigte, indem er sie im ersten Gesang eines Gedichts wiederholte, das er während seines dreimonatigen Rom-Aufenthalts schrieb:

Rom, es enttäuscht mich sehr; ich kann es noch kaum verstehen, doch

Schäbig scheint mir dafür das treffendste Wort zu sein.

All die dumme Zerstörung und noch törichter all die Bewahrung,

All das krause Zeug aus unterschiedlichsten Zeiten,

Gesammelt, scheint es, zum Hohn der Gegenwart wie auch der Zukunft.

Ach, hätten die alten Goten doch gründlicher aufgeräumt!

Ach, kämen die neuen herbei und zerstörten all diese Kirchen!

Shelley spazierte jeden Abend zum Forum, wo er die »herrliche Verwüstung des Ortes« bewunderte. Claude, der Held von Cloughs Amours de Voyage (Reiseliebschaft), bleibt ungerührt:

Was finde ich auf dem Forum? Ein Gewölbe und zwei, drei Säulen?

Und was ist mit dem Kolosseum, für Dickens ein Wunder, das den Niagarafällen gleichkam?

An der Größe des erhabenen Kolosseums gibt es – zugegeben– nichts zu nörgeln.

Ohne Zweifel, die alten Römer hatten eine Vorstellung von großartiger, großräumiger, überwältigender Unterhaltung. Aber sag’ selbst: Ist das so eine große Idee?

Wo andere Pracht sehen, findet Claude nur Gediegenheit:

»Hab Backstein gefunden und Marmor errichtet!«, prahlte ihr Kaiser.

»Hab Marmor erwartet und Backstein gefunden«, entgegnet der Tourist.

Wie Clough ist auch Claude nicht gerade der typische Tourist auf Bildungsreise. Auch er kommt in eine Stadt, wo sich, nach langem Schlaf, wieder Geschichte ereignet. Zwei Monate zuvor, im Februar 1849, hatte Mazzini die Römische Republik ausgerufen, auf deren Verteidigung sich Garibaldi nun vorbereitete. Am 22. April hatte Clough eine Audienz bei Mazzini und übergab dem anglophilen Triumvir der Republik ein Zigarrenetui, ein Geschenk Carlyles. Am nächsten Tag beschrieb er in einem Brief an seinen Freund Francis Turner Palgrave (den späteren Herausgeber der Golden Treasury) einen Besuch im Kolosseum. Er erwähnte weder dessen zeitlose Großartigkeit, noch Schäbigkeit und Verfall, sondern ein ganz modernes Ereignis, eine politische Kundgebung mit

einer Kapelle irgendwo über dem Eingang, die patriotische Hymnen spielte. Am Ende einer großen Hymne, deren Titel ich nicht kenne, klatschten die Leute, riefen »Hurra« und verlangten eine Zugabe. Und dann Licht, und plötzlich erstrahlte das ganze Amphitheater in den Farben der Trikolore! Das Erdgeschoss feuerrot, die beiden nächsten Etagen grün und oben das schlichte Weiß der normalen Beleuchtung. Seltsam, wirst Du sagen, aber es war wirklich sehr schön, und ich meine, das Kolosseum wirkte nie besser.

In Universitätslehrplänen und im Kanon wird Clough oft als Randfigur behandelt. Die meisten lernen ihn womöglich erst als den Thyrsis in Matthew Arnolds gleichnamigem Gedicht kennen, das sich für ein Gedenkpoem auffällig wenig auf den verstorbenen Freund bezieht (Ian Hamilton nannte es ein »eigentlich herablassendes, wenn nicht gar selbstgefälliges Werk«). Man könnte annehmen, er sei ein jung verstorbener Dichter vom Schlage Arnolds gewesen, oder ihn – aufgrund seines mitreißenden »Sag’ nicht, dass Kämpfen sich nicht lohne« – als einen typischen unbedeutenden viktorianischen Dichter abtun. Nichts könnte falscher sein, doch lässt sich diese Ansicht jetzt wohl kaum noch ändern. Ich versuchte einmal fast fünf Jahre lang, einen unserer renommiertesten Englischprofessoren dazu zu bewegen, Clough zu lesen. Ich schickte ihm die Bücher und stellte irgendwann fest, dass auch sein eigener Sohn gerade eine Kampagne für den Dichter führte. Trotzdem las dieser führende Literaturprofessor Clough erst in seinem Ruhestand.

Die Assoziation mit Matthew Arnold ist irreführend. Obwohl sie Freunde waren, wie Brüder aufwuchsen (Clough wohnte als Schüler bei den Arnolds, da seine Familie in Amerika lebte) und in Rugby und Oxford den gleichen Weg gingen, sind doch gerade die Unterschiede zwischen ihnen entscheidend. Als Studenten wählten sie sogar unterschiedliche Zeichen für die Tage, an denen sie der »abscheulichen Angewohnheit« der Masturbation erlagen: Clough verwendete in seinen Tagebüchern ein Sternchen, Arnold ein Kreuz. Arnold gab sich in seinen Briefen stets älter und weiser als Clough, obwohl er vier Jahre jünger war. Er hielt ihn für zu leicht erregbar, für politisch zu engagiert – er nannte ihn scherzhaft »Bürger Clough« – und für zu wenig distanziert, im Gegensatz zu ihm, der aus gebührender Entfernung das politische Auf und Ab der Nationen beobachtete. Als sich 1848 der gesamte europäische Kontinent in einer Revolution erhob, ging Clough nach Frankreich, um das Geschehen mitzuerleben. Arnold ließ sich »nicht einmal eine Stunde lang vom Strom der Zeit aufsaugen«. Als die Ereignisse des Jahres ihren Höhepunkt erreichten, schickte er Clough ein Exemplar der Bhagavad Gita und lobte deren »Besinnlichkeit und Behutsamkeit«.

Diese Unterschiede zeigen sich auch in ihrer Lyrik. Arnold kommt von der Keats’schen Romantik her, Clough von der Tradition Byrons, besonders der des skeptischen, welterfahrenen, geistreichen Spiels mit den Stimmen in Don Juan. Wenn man Arnold und Clough heute anonym nebeneinanderstellte, könnte man meinen, dass zwischen beiden mindestens eine Generation liege. Arnold ist ein klingender, anspruchsvoller Dichter, einer, der die Kultur gleichermaßen gegen Anarchie und Spießertum verteidigt, aber uns recht eigentlich auf den Kanon zurückverweist, auf die große Tradition der westlichen Zivilisation, die in Griechenland und Rom begann. Clough war sich dieses Erbes gleichermaßen bewusst, und als Arnold ihm in seiner Vorlesung »On Translating Homer«(»Zur Übersetzung Homers«) Anerkennung zollte, nannte er ihn einen Dichter »mit vortrefflichen homerischen Qualitäten« und einen Mann, den die »homerische Einfachheit seines literarischen Lebens« auszeichnete. Doch hiermit versucht Arnold, Clough einzuordnen, anzupassen und – zu zähmen. So wie er bei Clough eine neurotische Veranlagung feststellte, »eine lose Schraube in seinem Organismus«, glaubte er auch, Cloughs Lyrik habe zu wenig Stabilität, zu wenig fein ziselierte Schönheit. Arnold hielt sich einfach für poetischer und künstlerischer, so wie Keats sich Byron überlegen fühlte, dessen Don Juan er »protzig« fand. Doch was Arnold für die Schwächen von Cloughs Lyrik hielt, scheint sich inzwischen als ihre Stärke zu erweisen: eine mitunter unbeholfene, prosaische Umgangssprachlichkeit; Ehrlichkeit und Sarkasmus statt Artigkeit und Takt; direkte Kritik am modernen Leben und Unverblümtheit. Wäre Arnold früher gestorben und Clough hätte eine Elegie auf ihn geschrieben, würde er den Freund wohl »Matt« und nicht nach einem virgilischen Hirten genannt haben.

»Dover Beach« ist das Gedicht Arnolds, das uns am direktesten anspricht (obwohl er selbst es nicht sonderlich schätzte). Seine Analyse unserer metaphysischen Not in einer gottlosen Welt beginnt mit einer Naturbeschreibung, erwähnt Sophokles, verkündet ihre Flutmetapher und findet dann in einer Anspielung auf Thukydides ihren düsteren Abschluss, wobei er Phrasen verwendet wie »das mondgebleichte Land«, »die hellen Falten eines Gürtels« und (die bekannte) »die dunklichte Ebene«. Es ist edel, traurig und prächtig. Und nebenbei: Man vergleiche »dunklicht« mit »schäbig«. Man vergleiche auch den »Neuesten Dekalog«, Cloughs Gedicht über den Gottesglauben, mit dessen Rezeption. Es ist als bittere Parodie konzipiert, und sein Freidenkertum (oder seine Gotteslästerung) geht dem Leben des Brian mehr als ein Jahrhundert voraus.

Nur diesen einen Gott Du hast,

Denn wer fiel’ zweien gleich zur Last?

Kein Gottesbildnis sei verehrt,

doch eines nur: der Münze Wert.

Dieses Gedicht stellt nicht nur Kirche und Staat, sondern auch die Motive jedes bekennenden Christen infrage.

Nicht töten! Doch bemüh’ Dich nicht

Zu retten jedes Lebenslicht.

Ein Tor, der seine Ehe bricht,

Es lohnt gewiss den Aufwand nicht.

Margaret Thatcher ermahnte uns bekanntlich, die »viktorianischen Werte« wiederzuentdecken; Clough hatte sie schon damals seziert.

Nicht stehlen! Welch ein unnütz’ Tun,

Betrug lässt uns viel sanfter ruh’n.

Sollst nicht begehr’n, doch ist es gut,

Wenn man’s im fairen Wettstreit tut.

Die viktorianische Finanzkultur und die Geldverehrung, die man in diesem Land während der letzten dreißig Jahre so erfolgreich wieder eingeführt hat, tauchen auch in Dipsychus als Thema auf, dem letzten seiner drei großen Langgedichte. Die heutigen Börsenspekulanten, die in grellroten Ferraris auf der Autobahn dahinsausen und in teuren Restaurants mit Weinen im vierstelligen Bereich die Rechnungen in die Höhe treiben, haben ihre exakten viktorianischen Pendants:

Ich fahr durch die Stadt ganz sorglos dahin,

Die Leute starren, man fragt, wer ich bin;

Und fahr ich wen um, hör ich Jammern und Flehn,

Den Schaden begleich ich im Handumdrehn,

Ach, wie sehr ist’s doch schön, Geld zu haben, He-ho!

Ach wie sehr ist’s doch schön, Geld zu haben …

Die leckersten Speisen am prächtigsten Tisch,

Die anderen alle, die kümmern mich nicht.

Nicht wir sind doch schuld, wenn das Geld ihnen fehlt,

Wie Prinzen zu speisen, wenn der Hunger sie quält.

Ach, wie sehr ist’s doch schön, Geld zu haben, He-ho!

Ach wie sehr ist’s doch schön, Geld zu haben.

Den Amours de Voyage sind vier Zitate vorangestellt. Die ersten drei führen die Hauptthemen des Gedichts ein – Eigenliebe, Liebe, Zweifel und Reise –, während sich das von Horaz stammende vierte auf die Form bezieht. »Flevit amores / Non elaboratum ad pedem«: »Er beweint seine Lieben in ungeschliffenem Versmaß« (obwohl es bei Horaz eigentlich »amorem« heißt). Cloughs Verse sind im Vergleich zu Arnolds tatsächlich »ungeschliffen«, und in Amours de Voyage wie auch in seinem ersten Langgedicht The Bothie of Tober-na-Vuolich verwendet er den seltenen Hexameter. Dieser hat einen wuchtigeren Rhythmus als der geschliffene, populäre Pentameter, aber er sorgt auch für den spontanen, ungekünstelten Gesprächston. Cloughs Rhythmen ändern sich ständig, sie brummeln, stocken und springen; er braucht die Freiheit, um Richtung und Ton zu wechseln, innerhalb einer Zeile von der Kulturgeschichte zum Beziehungstratsch, von scharfer Analyse zum schnellen Gag zu kommen. Als Clough seinen ersten Gedichtband vorbereitete, beklagte Arnold dessen »Mangel an Schönem« und schrieb ihm: »Ich bezweifle, dass Du ein Künstler bist.« Als er The Bothie veröffentlichte, fand Arnold es zu flapsig: »Wenn ich Dir ganz offen sagen sollte, wie Deine Gedichte auf mich wirken, dann wäre es dies, dass sie nicht natürlich sind.« (Und dies von Matthew Arnold!) Clough solle prüfen, ob er »das Schöne erreiche«, und Arnold erinnerte ihn daran, »wie unpoetisch die Zeit und unser ganzes Umfeld sind. Nicht ohne Tiefe oder Größe, nicht unanrührend – doch unpoetisch.« Arnolds Lösung bestand darin, das Unpoetische zu transzendieren oder umzugestalten – oder zu vermeiden –, während Clough es darstellte: Er ist der »unpoetische« Poet.

In Amours de Voyage wimmelt es daher von unarnoldschen Figuren – Mazzini, Garibaldi, General Oudinot – mit allem Drum und Dran: Murrays Reiseführer und die lautstarke Bestellung eines Caffè Latte. Das Gedicht ist ganz zeitgemäß, geschrieben und handelnd, als Italien unter Schmerzen errichtet wurde. Es kommen Schüsse vor und Krieg und eine der besten literarischen Schilderungen des Durcheinanders bei einem Mordanschlag – mitten auf der Piazza – auf einen Priester, der aus der Stadt zu flüchten und sich den Belagerungstruppen anzuschließen versucht:

Du sahst wohl nicht den Toten? Nein; – Ich begann schon zu zweifeln;

Trug selber Schwarz und wusste nicht, was passieren würde. –

Doch ein Gardist dicht bei mir, abseits des Tumultes,

Zerbrach sein Schwert beim Hieb auf einen staubbedeckten Hut – und

Langsam ging ich vom Platze, den Murray unterm Arm.

Ich bückt’ mich und sah durch die Beine der Menge das Bein eines Toten.

Es ist auch ein nachdenkliches und polemisches Gedicht, über Geschichte, Zivilisation und Handlungspflicht des Individuums. Und es ist, wie der Titel sagt, eine Liebesgeschichte – oder, da es sich hier um Clough handelt, so etwas wie eine moderne Knapp-daneben-, Fast-aber-nicht-ganz-Liebesgeschichte mit Fehlpaarungen, Missverständnissen, qualvoller Selbsterforschung und einer verrückten, hoffnungsvollen, hoffnungslosen Verfolgungsjagd, die zu einer Art Ende führt.

Ob Clough im Frühling und Sommer 1849 in Rom und weiter nördlich ein ähnliches emotionales Auf und Ab wie Claude erlebte, wissen wir zum Glück nicht. Jedenfalls gestaltet er seinen Erzähler so, dass die Unterschiede zwischen beiden deutlich werden. Zum einen wird Claude im ersten Gesang als äußerst unsympathisch dargestellt: Er ist aufgeblasen, arrogant, lebensüberdrüssig und verhält sich herablassend gegenüber der bürgerlichen englischen Familie (mit drei unverheirateten Töchtern), der er sich anschließt. Für Claude ist die Mittelklasse »weder des Menschen noch des Gottes Adel«. Seine versnobten Nüstern wittern »den Krämergeruch«, und er gesteht »das furchtbare Vergnügen«, Leuten, die unter ihm stehen, zu gefallen. So ist er eben, denken wir, damit er – wie die arroganten Männer bei Jane Austen – durch die Liebe zu einer vermeintlich unter ihm Stehenden gezähmt und menschlich werden kann. Zum zweiten vertritt Claude politisch wie religiös andere Ansichten als Clough – Claude wird des Katholizismus verdächtigt, während Clough eher Agnostiker war. Claude hielt sich bislang von öffentlichen Angelegenheiten fern, verachtete die Meinung anderer und pflegte eine distanzierte, kritische, ästhetische Haltung – darin dem Bhagavad-Gita-lesenden Arnold näher als dem liberalen, erlebnisversessenen Clough, der jetzt aus Rom einen weiteren Brief an Palgrave mit »Le Citoyen malgré lui« unterzeichnet.

Die Erzählung des Gedichts kommt in Gang, als Claudes selbstgefällige Vorstellungen und sein dünkelhaftes Nichtstun plötzlich über den Haufen geworfen werden. Der Kampf der Römer für die neue Republik und gegen die französische Armee, die die Stadt belagert, um »Papst und Tourist« wiedereinzusetzen, stürzt Claude in die moderne Welt von Politik und Krieg; und dass er den Trevellyns ausgesetzt ist, die all die Begeisterung zeigen, die ihm fehlt (»Rom ist einfach herrlich«, schwärmt Georgina), katapultiert ihn in einen Liebeszustand, oder – da er ja ein unsicherer Intellektueller ist – in eine Fast-Liebe oder Mögliche-Liebe, oder in einen Geisteszustand, in dem das, was immer Liebe auch sein mag, einer heftigen inneren Debatte ausgesetzt wird. Der Schlussfolgerung seines Freundes Eustace (dessen Briefe nicht wiedergegeben werden, nur Claudes – eine Erzähltechnik mit schnellen Schnitten) widerspricht er: »Ich bin verliebt, sagst Du. Das glaube ich eben nicht.«

Im Mittelpunkt des Gedichts steht eine Debatte über »exaktes Denken« und darüber, wie es sich auf das Handeln überträgt, und ob das Gefühl, das ja im Gegensatz zum Verstand steht, überhaupt eine Handlungsrechtfertigung ist, und vor allem, ob Handeln sich überhaupt lohnt – obwohl es natürlich, falls es sich lohnen sollte, in erster Linie auf absolut exaktem Denken beruhen müsste, und dies ist, wie der kluge Leser sogleich folgern wird, genau das überanalytische »Tamtam« (Claudes Ausdruck), das so entmutigend ist für eine Frau, die vielleicht gerne glauben würde, dass man sie vielleicht gerne lieben würde. Obwohl Cloughs Sicht auf Rom postromantisch ist, hat Claude als Liebhaber weniger mit seinen Byron’schen Vorgängern zu tun als mit den unentschlossenen, unsicheren, gelähmten Geschöpfen in den russischen Romanen des neunzehnten Jahrhunderts. Claude ist zu »wankelmütig«, bemerkt Georgina, während er selbst (wieder ein unarnoldscher Begriff) sein »Gefasel« bedauert. Claude ist ein Musterbeispiel dafür, wie verheerend es ist, wenn ein Liebender die Kehrseite des Problems sieht und sich an die Vorteile des Nichtverliebtseins erinnert: »Im schlimmsten Falle bleiben das Buch und ein Zimmer.« Die Zeile ist ein unheimlicher Voraushall von Larkins entsagender »Poesie des Auf-und-davon«: »Ein Buch; Porzellan / ein schändlich vollkommenes Leben«.

Amours de Voyage, dieses großartige Langgedicht und zugleich eine großartige Kurznovelle, handelt vom Scheitern, vom Nicht-Nutzen des Tages, vom Fehldeuten und Überanalysieren, von Feigheit. Doch Feigheit ist für Schriftsteller im Allgemeinen interessanter als Mut, so wie Scheitern aufregender ist als Erfolg; und vielleicht ist es so, wie Claude in einer eher abschreckenden Schlussfolgerung bemerkt, vielleicht verhindert unser Bedürfnis nach Freundlichkeit, dass wir sie bekommen.

Und was den Erfolg betrifft: Amours de Voyage erschien 1858 im Atlantic Monthly. Und wenn Schriftsteller sich heute über Tantiemen, Vorschüsse, Lesehonorare, Markennamen, Urheberrechte, Agenten und Statusfragen aufregen, sollten sie daran denken, dass dies das einzige Mal war, dass Clough für ein Gedicht bezahlt wurde.

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George Orwell und der verdammte Elefant