Am liebsten bin ich Hamlet - Sebastian Urbanski - E-Book

Am liebsten bin ich Hamlet E-Book

Sebastian Urbanski

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Beschreibung

***Das erste Buch aus der Perspektive eines Menschen mit Downsyndrom*** ›Ich bin ein sogenannter Behinderter. Ich möchte mit meinem Buch allen Lesern zeigen, dass man mit uns genauso umgehen kann, wie mit allen anderen Menschen auch.‹ Sebastian Urbanski schreibt über sein Leben, seine Kindheit in der ehemaligen DDR, seine Jugend im Westen und seine schauspielerische Karriere. Der 36-Jährige hat eine ganz eigene erfrischende Sicht auf die Welt und seine Mitmenschen: einfühlsam, unterhaltsam und anregend zugleich. ›Pablo Pineda ist mein großes Vorbild. Einmal fragte mich ein Journalist, was den spanischen Schauspieler mit Hochschulabschluss und mich verbindet. Ich antwortete ihm: 'Der ist fast so wie ich. Er hat seinen eigenen Kopf. Wie ich. Er steckt sich hohe Ziele. Das mache ich auch. Und er hat das Downsyndrom.'‹

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Seitenzahl: 284

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Sebastian Urbanski | Marion Appelt | Bettina Urbanski

Am liebsten bin ich Hamlet

Mit dem Downsyndrom mitten im Leben

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung]VorwortMe tooHoch stand der Sanddorn auf HiddenseeAls mir das Wasser bis zum Hals standEs macht klickDer kleine BruderEin letztes MalLost Love LostYeah! Oder doch nicht?Wenn das Herz stehenbleibtAlles auf AnfangAm liebsten bin ich HamletSo wie du bistMeine Welt, deine Welt? Unsere Welt!NachwortDankTafelteil

Für meine Familie und meine Freunde

Vorwort

Wenn ich auf die Höhepunkte meines bisherigen Lebens zurückblicke, bestehen diese nicht aus Besitz und beruflichem Erfolg, sondern aus intensiven Begegnungen mit einzigartigen Menschen. Begegnungen, an denen ich wachsen konnte. Während der Dreharbeiten zu meiner ARD-Reihe Zeig mir Deine Welt hatte ich die einmalige Chance, gleich sechs ganz wunderbaren Menschen zu begegnen. Einer von ihnen ist Sebastian. Sebastian, der Schauspieler, Sebastian, der Romantiker, Sebastian, der selbständige junge Mann mit klaren Vorstellungen und einer eigenen Meinung, Sebastian, der das Downsyndrom hat.

»Wir sind, verdammt nochmal, alle Menschen«, hat er mal in einer Pressekonferenz gesagt, und er hat »verdammt nochmal« recht damit. Es gibt nicht das Downsyndrom, sondern nur ganz wunderbare Menschen mit der gleichen Behinderung.

Man sagt ja: »Es ist nicht der glücklich, der anderen so vorkommt, sondern der, der sich selbst dafür hält.« Sebastian hat mir das Gefühl vermittelt, dass er glücklich ist, und das wird bei Ihnen sicher nicht anders sein, wenn Sie das Buch gelesen haben.

 

Ihr Kai Pflaume

Me too

Sag mal, was machst du eigentlich bei der Berliner Synchron?«, fragte mich der freundliche, etwas wortkarge Herr Anfang fünfzig. Es war immer derselbe Taxifahrer, der mich morgens um kurz vor acht bei meinen Eltern abholte, um mich ins Studio zu bringen. Wie gewohnt hatte ich meinen Platz hinter dem Beifahrersitz eingenommen. In der Nacht vorher hatte es geregnet, und der Vorgarten meiner Eltern duftete nach feuchter Erde.

»Gehst du da zur Werkstatt?«, hakte er nach, während wir am Pastor-Niemöller-Platz auf Grün warteten, um rechts in die Grabbeallee abzubiegen.

»Nein, ich spreche die Hauptrolle in einem Kinofilm.« Im Rückspiegel sah ich, wie der Taxifahrer kurz blinzelte.

»Wie, Hauptrolle? In einem Kinofilm?«, seine Stimme klang ungläubig.

»Ja, in einem spanischen Film. Er heißt Me too und hat bald am Ku’damm Premiere.«

Den Rest der Fahrt sagte er nichts mehr, und ich naschte ungestört etwas Schokolade, die ich mir zur Nervenstärkung in meinen Rucksack gepackt hatte. Außerdem noch Wasser und Brause, damit ich über den Tag genug Energie hatte. Denn Synchronarbeit kann trotz guter Vorbereitung wahnsinnig anstrengend sein.

 

Me too – Wer will schon normal sein? erzählt die Geschichte von Daniel, einem 34-jährigen Mann, der wie ich das Downsyndrom hat. Angelehnt ist die Figur an Pablo Pineda, einen spanischen Lehrer und Schauspieler. Er hat als erster Europäer mit Trisomie 21 einen Universitätsabschluss erlangt. Im Filmwerden Vorurteile und Verhaltensweisen von sogenannten normalen Menschen und solchen mit Behinderung ordentlich durchgerüttelt: Als Daniel nach seinem Studium, das er sogar mit Auszeichnung abgeschlossen hat, einen Job antritt, begegnen ihm sein Arbeits- und sein privates Umfeld sehr skeptisch. Er muss sich erst beweisen. Me too ist aber auch eine sehr schöne Liebesgeschichte. Denn Daniel freundet sich mit Laura an, einer seiner Kolleginnen. Sie hat es noch nie leicht gehabt und eckt oft an. Die Freundschaft der beiden stößt auf Ablehnung, aber das schweißt sie immer enger zusammen. Im Laufe des Films verlieben sie sich ineinander. Sie sind selber davon überrascht, und vor allem Daniels Mutter ist dagegen. Er und Laura verbringen am Ende eine Nacht miteinander. Leider werden sie kein Paar.

Pablo Pineda kannte ich schon vorher aus den Medien. Als der Film in Spanien anlief und mehrere Preise bekam, wurde viel darüber berichtet. Meine Mutti hat mir damals alle Informationen über Pablo und den Film zusammengesucht und zum Lesen gegeben. Das, was er geschafft hat, verschlug mir die Sprache. Er beeindruckte mich sehr. Darum fühlte ich mich geehrt, als ich gefragt wurde, ob ich ihm für die deutsche Fassung von Me too meine Stimme leihen wolle. Erfahrung in dem Bereich hatte ich bereits. 2009 synchronisierte ich zusammen mit meiner Kollegin Juliana Götze – die wie ich das Downsyndrom hat und mit mir im Berliner Theater RambaZamba auf der Bühne steht – den amerikanischen Dokumentarfilm Monika und David – Eine Liebe ohne Wenn und Aber. Darin geht es um ein Pärchen mit Downsyndrom, das auf eigenen Füßen stehen will und heiratet.

 

Nun also sollte ich die Hauptrolle in Me too sprechen. Der Tag im Tonstudio begann immer mit einem gemeinsamen Frühstück in der Kantine. Dabei waren der Aufnahmeleiter, der Tonmeister und ein Assistent. Spätestens um fünf nach neun standen Holger Wittekindt, der zuständige Synchronregisseur, und ich im Synchronatelier. Es ist etwa vier, fünf Meter hoch und ca. sechs mal sechs Meter groß. Der Raum hat kein Fenster, aber eine Glasscheibe. Dahinter saß der Tonmeister im Regieraum. Vor ihm stand ein Pult mit Reglern für Lautstärke, Bässe, Höhen und Tiefen.

Im Studio war es dunkel. In der Mitte schwebte ein Monitor, auf dem der Film lief, den wir synchronisierten. Darunter befand sich ein Pult, das aussah wie ein Notenständer. Darauf lag das Textbuch. Die einzige Lichtquelle war eine kleine Lampe. Zwischen Monitor und Lampe hing ein Mikro von der Decke, in das ich sprechen musste. Die dunklen Wände bestanden aus geschäumten Modulen für eine »trockene« Atmosphäre, wie Holger mir erklärt hatte. Kein Schall durfte während der Aufnahme reflektiert werden. In der einen Ecke des Ateliers stand noch eine Leiter für Kinder, da sie sonst nicht nah genug ans Mikro kommen. Schräg hinter dem Pult des Tonmeisters saß an einem schwarzen Tisch der Cutter. Auch er hatte ein Textbuch vor sich. Über eine Gegensprechanlage konnte er sich mit der Regie verständigen.

Die Besetzung von uns Sprechern hing davon ab, wer Zeit hatte beziehungsweise in Berlin war. Als Schauspieler hat man ja meist mehrere Verpflichtungen. Ein Film wird eigentlich chronologisch, Szene für Szene synchronisiert. Dialoge wirken immer am natürlichsten, wenn alle Beteiligten einer Sequenz anwesend sind. Das ist leider nicht immer möglich, und ich war oft allein. Man nennt es X-en, wenn man einen Take allein bestreitet, denn im Textbuch stehen dann für die Sätze des fehlenden Sprechers X-e.

In einer der Szenen, die ich so eingesprochen habe, feiern Daniel und Laura mit Kollegen den Geburtstag der Abteilungsleiterin in einer Disco. Irgendwann tanzen sie eng umschlungen miteinander. Laura hat extra ihre Schuhe ausgezogen, weil sie größer ist als Daniel. Eine sehr romantische Szene. Laura hat die Augen geschlossen und gibt sich der Musik hin. Verliebt wie er ist, versucht Daniel, sie zu küssen. Daraufhin wendet sich Laura ab und sagt, sie müsse nach Hause. Daniel fragt, ob er mitkommen kann, doch sie lässt ihn stehen. Es ist eingetreten, was Daniels Bruder ihm von Anfang an gesagt hat: Eine »normale« Frau wird ihn nie lieben. Daniel ist enttäuscht und verletzt, und das sieht man ihm auch an.

In der nächsten Einstellung läuft er weinend durch die Straßen Sevillas. Er kommt zu einem Bordell, doch der Türsteher sagt, das wäre nichts für ihn, und will ihn nicht reinlassen. Daniel lässt sich nicht abwimmeln, vor allem nicht damit, dass so was nur für Erwachsene wäre. »Ich bin 34 Jahre alt!«, ruft er. Eine Prostituierte steht daneben und versucht zu beschwichtigen. Man könne ihn doch wenigstens mal gucken lassen. Nix da, das sei viel zu teuer, antwortet der Türsteher. Daniel durchschaut, dass man ihm wegen seiner Behinderung den Zutritt verweigert – und entkräftet auch diesen Vorwand: »Ich hab zwei Kreditkarten!« – »Kauf’n Geschenk für deine Mutter!«, bellt sein Gegenüber zurück. Noch einmal setzt sich die Prostituierte für Daniel ein. Ohne Erfolg. Der Türsteher schickt sie ins Haus, und Daniel unternimmt einen letzten Anlauf, ins Bordell zu gelangen. »Hey, das kannst du dir abschminken! An mir kommst du nicht vorbei, Eintritt verboten!« Mit einem lauten Knall fällt die Tür vor Daniel zu. Er wird wütend. So wütend, dass er an die Tür schlägt. Er tritt dagegen und ruft: »Ich bin ein Mann und kann machen, was ich will, wie jeder Mann!«

Ich weiß nicht mehr, wie oft wir diesen Take wiederholten. Holger erklärte mir die Szene. Einmal, zweimal. Doch es half nichts. Mit Nachdruck und lauter Stimme las er meinen Text vor. Auch das brachte mich nicht weiter. Nach dem dritten Anlauf merkte ich, wie Frust in mir aufstieg. Ich wollte es ja gut machen. Holger ging die Szene noch einmal durch. Wut, ja, verdammt. Daniel ist wütend. Das hatte ich inzwischen kapiert. Ich wurde immer ungeduldiger. Die Szene ist so wichtig! Ich versuchte, mich auf den Text zu konzentrieren, und stellte mich gerade hin. »Los, Sebastian«, sagte ich zu mir. »Noch einmal.« Wieder nichts. Mann! Geht’s noch?! Zu meinem Frust gesellte sich Ärger über mich selbst. Irgendwann sagte ich gar nichts mehr. Holger ging um das Pult herum und trat plötzlich heftig dagegen. Bamm! Ich zuckte vor Schreck zusammen.

»Hast du das schon mal gemacht?«, fragte er mich.

»Nein.«

»Wie, du hast noch nie irgendwo gegengetreten?« Ich schüttelte den Kopf.

»Verdammt, dann mach doch mal«, trieb mich Holger an, der sich wieder neben mich hinters Pult gestellt hatte. Zögernd verlagerte ich mein Gewicht auf mein linkes Bein und trat mit dem rechten zu.

»So?«

»Nein, fester. Trau dich, tritt mal richtig zu. So wie ich.« Und zack, trat Holger noch einmal zu. Ich tat es ihm nach.

»So, und jetzt raus damit!«

»Ich bin ein Mann und kann machen, was ich will, wie jeder Mann!«, schrie ich wütend.

 

»Hast du schon mal so gebrüllt?«, fragte Holger mich anschließend beim gemeinsamen Mittagessen in der Kantine.

»Nee.«

»Und, wie hat es sich angefühlt?«

»Gut.«

»Na, dann haben wir heute ja einen richtigen Macho-Kurs gemacht.«

Dieser Take hatte viel Kraft gekostet. Für die paar Sätze hatten wir 45 Minuten gebraucht. Dabei war ich insgesamt nur sieben volle Tage mit Synchronisieren beschäftigt. Holger war die ganze Zeit über entspannt geblieben. Wenn etwas gut war, hat er es mir immer gleich gesagt. Technisch einwandfrei zu sprechen reicht nicht, um zu berühren. Auf der Bühne gelingt es mir leichter, Emotionen zu übertragen, als im Studio. Einen Monitor kann man eben schlecht anbrüllen.

Es war etwas sehr Besonderes für mich, am selben Ort zu arbeiten, wo auch schon der Oscar-Preisträger Christoph Waltz vor dem Mikrofon stand. Inglourious Basterds hat er dort eingesprochen. Außerdem wurden hier auch Ice Age, Knight and Day, Up in the Air und Shrek synchronisiert. Weil ich manchmal beim Synchronisieren vorher oder zwischendurch Lockerungsübungen mache, fragte ich mich, ob die Synchronprofis das auch so handhaben. Ich streiche zum Beispiel mit der rechten Hand über meinen Hals bis zum Schlüsselbein hinab, den Kopf hebe ich etwas an. Oder ich massiere leicht meinen Hals. Ich kenne auch eine Übung, die wir im Theater immer machen, um die Stimme zu lockern. Dafür muss man gähnen, als ob man müde ist, oder mit offenem Mund kauen und dabei Mjum und Mjaum sagen.

 

»Wie ist es denn heute im Studio gelaufen? Hat alles geklappt?«, fragte meine Chefin Gisela, als ich in der ersten Woche nach der Arbeit bei der Berliner Synchron wieder zur Probe ins Theater kam. Gisela Höhne ist Leiterin und Regisseurin des Theaters RambaZamba, wo ich seit 2007 als Schauspieler festangestellt bin. Zum Theater gehört ein Verein, das war ursprünglich die Sonnenuhr, die jetzt auch RambaZamba heißt. Das ist ein Ort, an dem Menschen wie ich künstlerisch arbeiten. Die meisten in meiner Gruppe haben das Downsyndrom, manche sind lernbehindert, sitzen im Rollstuhl oder sind gehörlos. Wir stehen zwar oft auf der Bühne, sind aber auch manchmal im Malatelier, wo wir an einem großen, weiß bespannten Tisch sitzen und mit Wasserfarben, Öl, Acryl, Tusche, Fettstiften oder Pinseln, Schwämmen und Holzfedern Bilder anfertigen. Außerdem gibt es noch eine Keramikwerkstatt, eine Schneiderei und eine Kindertheatergruppe. Manchmal werkeln wir auch mit Holz, bearbeiten es mit Stechbeiteln, Hohleisen, mit Messern, bis Figuren daraus entstehen.

Gisela half mir bei der Synchronisierung von Me too. Dafür trafen wir uns im Juni 2010 jeden Tag nach der Theaterprobe meistens im Malatelier, weil man dort in Ruhe arbeiten und ausprobieren kann, wie Texte am wirkungsvollsten gesprochen werden. Sie unterstützte mich die ganzen zwei Wochen, in denen ich für den Film eingesetzt war.

»Es war toll«, antwortete ich.

»Sebastian, du strahlst ja richtig.« Gisela saß mir gegenüber und lächelte mich an. »Und die Geschwindigkeit war auch kein Problem?«

»Nein, der Regisseur hat mir eine neue Technik beigebracht, die viele Synchronsprecher anwenden. Damit schaffe ich es, schnell genug zu sprechen.« Erwartungsvoll sah mich meine Chefin mit ihren fröhlichen braunen Augen an.

»Man steckt sich zwei Finger in den Mund und sagt einen Satz. Dann nimmt man sie heraus, schluckt einmal und wiederholt ihn.«

»Na, dann zeig mal.« Gisela nahm das Textbuch und strich sich eine Strähne ihres dunklen, kinnlangen Haars hinters Ohr. Dann schlug sie die Seite mit der Szene auf, die wir für den nächsten Tag vorbereiten wollten. Ich merkte ihr an, dass sie gespannt war. Also steckte ich mir meinen rechten Zeige- und Mittelfinger in den Mund und las: »Warum hast du mich angelogen? Du tust mir so leid.« Beim zweiten Mal nahm ich die Finger heraus und staunte erneut, was für ein Riesenunterschied es ist, mal so, mal so zu sprechen.

»Sehr gut, Sebastian. Der Trick funktioniert ja wirklich prima.« Gisela war ihre Freude deutlich anzumerken. »Ich hole uns noch was zu trinken, in der Probebühne fand ich es heute wieder fürchterlich stickig. Und dann fangen wir an.«

Auch im Atelier war es sehr warm.

»Du schaffst es also mit dieser Technik tatsächlich, deinen Text lippensynchron einzusprechen?«, hakte Gisela nach, als sie mit einer Flasche und zwei Gläsern zurück ins Atelier kam.

»Genau. Am Anfang habe ich den Trick vor jedem Take angewendet. Aber irgendwann ging es ohne.«

»Ich wusste, dass du es schaffst«, sagte Gisela.

»Danke für das Kompliment.« Ich musste schmunzeln. Und freute mich, dass ich es gepackt hatte. Schließlich war doch vieles neu, und ich war nicht ganz sicher gewesen, ob ich das schaffen würde, als die Anfrage von der Produktionsfirma kam. Dennoch sagte ich gleich zu, weil ich Filme einfach liebe und oft ins Kino gehe.

Das Ganze stellte sich als anstrengender heraus als gedacht, vor allem, weil ich ja weiter als Schauspieler beschäftigt war und wir gerade mitten in den Proben für ein neues Stück steckten. Anlass war das zwanzigjährige Jubiläum der KulturBrauerei, wo auch das Theater beheimatet ist, das ebenfalls sein zwanzigstes Jubiläum feierte. Aristophanes’ Stück Der Frieden war als Gemeinschaftsproduktion mit einer polnischen und einer israelischen Theatergruppe geplant, die kurz vorher anreisen sollten. Obwohl die Vorbereitung sehr spannend war – wir vom Theater RambaZamba probten in einer großen, alten Werkhalle in Berlin-Schöneweide –, war es für mich eine große Doppelbelastung.

Das heißt, neben den Synchronarbeiten lernte ich den Text für meine Rolle als Hermes. Ich sollte den Text auf einem drei Meter hohen fahrbaren Gerüst sprechen, das über das holprige Kopfsteinpflaster im Hof der KulturBrauerei gerollt werden würde. Dabei habe ich Höhenangst! Dort oben sollte ich mir mit einem polnischen Schauspieler, der als mein Gegenpart ebenfalls auf einem hohen Gerüst stehen musste, ein großes Rededuell liefern. Ich hatte einen wunderbaren Text über das Reden der Götter. Dadurch war ich motiviert, meine Angst zu überwinden. Denn ich mag Literatur, Sprache und liebe schöne Formulierungen. Im Frieden ruft der Landmann Trygaios, der auf der Suche nach der Friedensgöttin in den Olymp gekommen ist, zu mir hoch: »Die Götter machen ja gar nichts!«, und ich antworte ihm: »Oh, doch! Sie reden übers Reden. Und wenn sie dann übers Reden reden, dann reden sie übers Reden. Wenn sie dann immer noch übers Reden reden, dann reden sie wieder über das Reden. Und wenn sie dann immer noch übers Reden reden, sind sie am Ende gerädert.« Das hatte ich also gepackt: Ich stand sicher auf dem hohen Gerüstturm und beherrschte meinen Text aus dem Effeff. Die Jubiläumsfeier konnte kommen. Blieb die zweite Herausforderung in diesem Sommer: Me too, der Film, in demich das erste Mal lippensynchron sprechen musste. Meine Worte mussten also genau zu dem passen, was Pablo Pineda auf Spanisch sagt. Holger, den ich von der Arbeit an Monika und David kannte, hatte die deutsche Übersetzung bearbeitet. Er weiß, was ich kann, und passte den Text genau auf mich an. Denn bei Menschen, die das Downsyndrom haben, ist der Gaumen schmaler und die Zunge breiter. Deswegen sprechen manche von uns oft etwas langsamer und undeutlicher als andere Menschen. Viele benutzen auch lieber kurze Wörter, mit wenigen Silben. Hinzu kommen noch andere sprachliche Besonderheiten. Manche stottern oder ihnen fallen sogenannte Labiallaute schwerer, weil sie die Lippen nicht so gut spitzen können. Wörter mit m und n sowie mit d und t sind manchmal ein Problem. Diese Schwierigkeiten habe ich eigentlich nicht, denn schon als kleines Kind haben meine Eltern intensiv mit mir geübt, und ich war viele Jahre mehrmals in der Woche bei einer Logopädin. Aber mit einem so großen Tempo sprechen, wie es die Spanier tun – das kann ich trotzdem nicht.

Darum hatte Holger neben der Wortwahl auch die Satzstruktur von meinem Text in Me too auf mich zugeschnitten. Das, was ich im Film spreche, sollte mir gut und vor allem schnell »über die Zunge gehen«, wie er sagte. Holger erzählte mir in diesem Zusammenhang, dass die Aktion Mensch damals die Idee hatte, Monika und David von Schauspielern mit Downsyndrom synchronisieren zu lassen. Sonst würde es nicht authentisch sein, Nachmachen würde »behindert« klingen. Die damalige Produktionsleiterin war dann auf das Theater RambaZamba gestoßen. In der Synchronsprecher-Datenbank gab es keine Schauspieler mit Downsyndrom. Es war ein Experiment – keiner konnte einschätzen, ob wir es hinbekommen. Doch es klappte.

Bei Monika und David war es vor allem um den Inhalt gegangen. Die Sprache war auch recht einfach. Meine Stimme wurde dabei über das Original gelegt, das leise im Hintergrund zu hören war. Bei Me too war das ganz anders – und viel schwieriger. Das ist ja ein richtiger Spielfilm von über hundert Minuten. Er hat viel mehr Handlung und vor allem viel längere Dialoge, und es sollte ja auch so aussehen, als wenn die Schauspieler wirklich Deutsch sprächen.

Außer mir wurden noch zwei weitere Sprecher benötigt. Ein Mann, der Pedro synchronisiert, und eine Frau, die Luisas Rolle einspricht. Als Paar mit Downsyndrom behaupten sich die beiden gegen alle äußeren Widerstände und bleiben am Ende glücklich zusammen. Juliana Götze, die wir alle nur Jule nennen, war wie ich von Anfang an für Me too vorgesehen. Sie ist jünger als ich, und wir mögen uns sehr. Ihre Aussprache und ihre Sprechgeschwindigkeit sind sehr gut. Ich bewundere sie, weil sie für ihre Rolle im Polizeiruf 110 mit dem Medienpreis der Lebenshilfe, dem »Bobby«, ausgezeichnet wurde. Der Dritte im Bunde war ein Theaterkollege, der deutlich älter als ich und schon lange dabei ist.

Das erste Treffen für die Arbeit an Me too fand im Theater RambaZamba in der Gruppe statt. Dabei ging es zunächst um den Inhalt des Films. Gekommen waren der Produktionsleiter und seine Assistentin. Sie fragten uns nach unseren Wünschen und Erlebnissen. Eigentlich war es mehr ein Kennenlernen, denn ausschlaggebend war unsere Erfahrung als Sprecher, unser Können hatten Jule und ich ja schon bewiesen. Wenig später gab es noch ein Einzelgespräch, bei dem auch Gisela dabei war. Der Produktionsleiter wollte wissen, ob ich schon mal davon geträumt hätte, wie Daniel zu studieren und mit einer schönen Frau zusammen zu sein. Ich hatte ihm geantwortet, ich würde gerne Meeresbiologie studieren – ein Thema, das mich brennend interessiert. Und am besten wäre so ein Studium zusammen mit einer schönen Frau. Da war allen klar, dass ich die Thematik von Me too wirklich verstanden hatte.

Doch auch ich hatte viele Fragen. Selbst wenn ich keinen Moment gezögert hatte, meine Mitarbeit zuzusagen, wollte ich es natürlich so gut wie möglich machen. Dafür musste ich wissen, wie sie sich das Ganze denken und wie es funktionieren soll. Ich glaube, ermutigt hat mich auch Pablo Pineda selbst. Wir sind uns sehr ähnlich, so dass ich das Gefühl hatte, es schaffen zu können.

 

»Was ist denn?«, las Gisela mit verwunderter Stimme, das Textbuch vor sich. Darin stand, dass Daniel und Laura auf dem Sofa sitzen und einen Film gucken.

»Dass du Waise bist, macht mich traurig«, antwortete ich als Daniel. Dann versuchte ich zu schluchzen.

»Bin ich doch gar nicht«, fuhr Gisela mit dem Text fort. Und nach einer kurzen Pause: »Ich habe einen Vater und zwei Brüder, aber ich hab seit Jahren nicht mehr mit ihnen gesprochen.« Ich zog meine Nase hoch, laut Textbuch weinte Daniel inzwischen.

»Warum hast du mich angelogen?«, las ich weiter.

»Weil …«, setzte Gisela an, und ich versuchte erneut zu schluchzen.

»Weil …« Ein weiteres Mal sollte ich schluchzen, diesmal sogar noch lauter.

»Weil es für mich so ist, als wären sie tot.«

Nun versuchte ich so zu tun, als würde ich weinen. Es fiel mir schwer. »Ah, du tust mir so leid!«, schob ich hinterher. Bereits als ich den Satz aussprach, wusste ich, dass es das noch nicht war.

Giselas Hände sanken neben das Textbuch. Sie lehnte sich zurück und strich sich bedächtig ihr Haar aus der Stirn. Ein Zeichen, dass mein Eindruck richtig war.

»In welcher Situation befindet sich Daniel in diesem Moment?«, fragte sie mich.

»Er und Laura sitzen bei ihr auf dem Sofa.«

»Was noch?«

»Sie gucken einen Film, und Daniel fängt an zu weinen.«

»Ja, genau. Versuche, dich auf Daniel einzustellen. Warum kommen ihm die Tränen?«

»Weil er traurig ist.«

»Ganz richtig. Aber was macht ihn traurig?« Ich überlegte.

»Erinnere dich an das, was vorher passiert ist.« In jener Szene machen Daniel und Laura einen Strandausflug. Nach ihrer Ankunft rennen sie ins Meer, bespritzen sich mit Wasser und planschen wie zwei vergnügte Kinder. Die Sonne scheint, außer ein, zwei Anglern und einer Handvoll Radfahrer sind nicht viele Leute da. Am Ende der Szene fragt Daniel, ob er Laura den Rücken eincremen soll. Sie liegt auf dem Bauch und löst das Band ihres Bikinioberteils, damit es nicht fettig wird. Mit der Sonnenmilch malt Daniel dann zwischen ihre beiden Schulterblätter ein großes, weißes Herz.

»Was meinst du, warum berührt es dich, dass Laura behauptet hat, keine Eltern zu haben?«, riss mich Gisela aus meinen Gedanken. Mein Blick glitt über die Bilder im Malatelier, die hinter ihr an der Wand hingen. Und ich fühlte die Hitze, die den Raum füllte.

»Ich habe mit Laura einen wunderschönen Sonnentag am Meer verbracht«, setzte ich an. »Bis dahin waren wir nur Kollegen, die sich gut verstanden haben.«

»Fühlst du dich zu ihr hingezogen?« Ich nickte. »Ja, aber warum? Ist es die Art, wie sie auf dem Sofa sitzt? Oder berührt dich, dass sie eine hübsche, begehrenswerte Frau ist und eine gute Figur hat? Oder war es der gemeinsame Spaß, den ihr hattet?« Ich nahm einen Schluck Wasser. »Hast du den Wunsch, noch näher an sie heranzurutschen? Was fühlst du? Hast du Hemmungen?«

»Ich bin verliebt in Laura, und ich habe Sehnsucht.« In dem Moment fing Gisela an zu strahlen.

»Genau, ihr seid euch noch nie so nahe gekommen«, brachte sie es auf den Punkt.

»Ich bin glücklich, denn ich liebe Laura.« Auf einmal wurde mir warm ums Herz. Aber nur kurz, denn ich musste an meine erste große Liebe denken. Das machte mich traurig, sehr traurig. Ich konnte mir auf einmal sehr gut vorstellen, wie sich Daniel im Film neben Laura auf dem Sofa fühlt.

»Aus eurer Freundschaft ist also mehr geworden. Wie verändert das Daniels Haltung? Versetze dich in ihn hinein.«

»Der Gedanke, dass Laura keine Eltern hat, macht mich betroffen. Ich bin so traurig, dass ich weinen muss«, sagte ich nach kurzem Zögern. Erneut griff ich zu meinem Wasserglas. Nun wurde es kompliziert. Denn als Nächstes gingen wir die Szene noch einmal durch. Verstanden hatte ich alles, aber ich weine eher selten. Manchen in meiner Theatergruppe reicht eine Kleinigkeit. Mir kommen nicht so schnell die Tränen, und wenn, dann weine ich höchstens mal, wenn mir ein Abschied von jemandem schwerfällt, den ich sehr gern habe.

»Weinen tut manchmal richtig gut«, sagte Gisela, nachdem wir alles noch einmal wiederholt hatten. »Es kann richtig befreiend sein, weißt du.«

»Hmhm«, stimmte ich ihr zu.

»Es ist so wichtig, seine Gefühle rauszulassen«, fuhr Gisela fort. »Versuche, weniger zu denken, Sebastian.«

Gisela und ich kannten uns sehr gut. Daher wusste sie, dass es für mich eine große Herausforderung war, diese Szene zu synchronisieren. Gisela fordert sehr viel von uns Schauspielern, ist aber dabei sehr einfühlsam. Am Ende bin ich immer wieder verblüfft und beeindruckt, dass sie genau das aus mir herausholt, was ich auf der Bühne zeigen muss.

Sie achtet dabei auf die Körperspannung, die Mimik, darauf, wie wir Impulse aufnehmen und weitergeben. In unterschiedlichen Szenen müssen wir immer wieder anders reagieren, das Gesicht und die Körperhaltung von einem Augenblick auf den anderen ändern und zum Teil vollkommen gegensätzliche Gefühle zeigen. Bei den Proben sagt sie uns, in welcher Szene wir an welcher Stelle stehen sollen. Oder wir bewegen uns zu unseren Worten und laufen über die Bühne. Dabei müssen Gestik und Mimik stimmen. Oder wir nehmen eine Haltung ein, die zur Stimmung passt. Manchmal hocken wir uns traurig auf den Boden, schütteln enttäuscht den Kopf oder fallen einander vor Freude um den Hals und lachen. Wir schlüpfen auch mal in eine Tierrolle und hüpfen oder krabbeln.

Ein Satz, den Gisela oft sagt, ist: »Ich muss dein Denken hören können.« Damit gibt sie uns zu verstehen, dass wir eine Rolle noch nicht richtig verkörpern. Und manchmal dauert es eben, bis wir es richtig packen.

Wie an diesem Nachmittag im Malatelier. Sie erinnerte mich auch immer wieder daran, dass ich Pausen machen muss: »Bilder können erst entstehen, wenn du innehältst.«

»Tut mir leid, ich habe nicht daran gedacht, weil ich mich auf den Text konzentriert habe«, entschuldigte ich mich.

»Lies bitte erst einen Teil und mach dann eine Pause. Denn das, was du sagst, hat Folgen …«

»Ich weiß.«

»Erst wenn ein Bild seinen Effekt beim Zuschauer erzeugt hat, gehst du zum nächsten Satz. So entsteht Bild für Bild. Sie alle sollen ja auch wirken, jedes für sich.«

Während Giselas warme braune Augen aufmerksam auf mich gerichtet waren, rückte ich das Textbuch noch einmal zurecht und las nach einem lauten Schluchzen: »Ah, du tust mir so leid!« Aus dem Augenwinkel heraus erkannte ich an Giselas leichtem Nicken, dass ich auf dem richtigen Weg war.

»Daniel, ich bitte dich.« Ich weinte laut auf.

»Oh, je.« Gisela und ich hielten kurz inne, laut Textbuch tätschelt Laura Daniels Arm, während er noch mehr weint und den Kopf in den Nacken legt.

»Nicht weinen«, fuhr meine Chefin mit deutlich sanfterer Stimme fort, bis sie wie vorgegeben leise anfing zu kichern.

»Wie peinlich«, las ich, während Gisela in der Rolle der Laura lachte, was ich wiederum mit einem lauten Schnauben beantwortete. Denn Daniel hat sich inzwischen wieder gefangen und muss über sich selber schmunzeln. Dabei fährt er sich mit dem Taschentuch über die Augen.

Als wir fertig waren, hob ich meinen Blick vom Textbuch und sah, dass Gisela mich anlächelte. Sie war offensichtlich zufrieden mit meiner Arbeit. Und als die Szene dann tatsächlich im Studio synchronisiert wurde, war Holger Wittekindt erstaunt, wie schnell wir diese Szene geschafft hatten. »Klasse, gut gemacht.« Er klopfte mir auf die Schulter, das war fast ein Ritterschlag. »Ja, Vorbereitung ist eben alles«, erwiderte ich, und wir mussten lachen.

Am schönsten waren die Tage, an denen Jule und unser Theaterkollege mit im Studio waren. Beim Einsprechen meiner Lieblingsszene hatten wir viel Spaß. Hier erklären Daniel und Laura Pedro und Luisa in einem Hotelzimmer, wie Verhütung funktioniert. Es ist Daniel, der ihnen mit Hilfe einer Banane demonstriert, wie sie ein Kondom verwenden müssen. Der Moment, als Luisa – also Jule – sagte, »Eine Banane ist zum Essen da«, war einfach zu komisch. Vorher sagte ich zu ihr: »Das ist der Penis. Und das hier ein Kondom. Man muss hier drücken, damit die Luft entweicht.« Diese Szene wiederholten wir oft, weil wir so lachen mussten über die Banane und über Daniels Versuch, genau zu beschreiben, wie das Kondom drübergezogen wird.

Wenn wir zusammen Pause machten, saßen wir im Regieraum auf dem Sofa. Manchmal neckten wir uns. Auch mit Holger ging es außerhalb des Tonstudios anders zu, nämlich viel lustiger. Aber sobald wir vor dem Mikro standen, zählte nur die Arbeit. Wir mussten schließlich pünktlich fertig werden, denn der Premierentermin stand bereits fest.

Die Premiere von Me too war am 4. August 2010 um 20 Uhr im Cinema Paris am Ku’damm. Die Tische in den Restaurants und Cafés waren bis auf den letzten Platz besetzt, auch wenn es nicht mehr ganz so heiß war wie im Juni. Im Foyer des Kinos wartete ich auf Gisela und ihren älteren Sohn Moritz. Er ist auch in meiner Theatergruppe, hat ebenfalls das Downsyndrom und ist einer meiner besten Freunde.

Meine Eltern hätte ich gern in diesem großen Moment dabeigehabt. Aber etwas hat mit der Organisation der Premiere nicht so richtig geklappt. Sie hatten keine Einladung bekommen. Sehr schade fand ich auch, dass Pablo Pineda nicht anwesend sein konnte, ich hätte mich gefreut, ihn kennenzulernen. Doch wäre er gekommen, hätte man mich nicht kurzfristig dazu gebeten, denn ich sollte ihn vertreten. Was für eine Ehre! Mein Gefühl am Tag der Vorführung war eine Mischung aus Aufregung und Vorfreude. Ich wusste ja, dass wir gute Arbeit geleistet hatten und uns nicht verstecken mussten.

Bevor ich von zu Hause abgeholt wurde, hatte ich mir noch etwas zu essen gemacht. Weil es schnell gehen sollte, schlug ich mir nur zwei Eier in die Pfanne und rührte um. Dazu gab ich noch etwas Schinken und bereitete mir eine Trinkschokolade zu. Als Nervennahrung, dachte ich, brauche ich unbedingt Schokolade. Ich war vorher extra noch beim Friseur gewesen und hatte auch überlegt, was ich anziehen würde. Meine Wahl fiel auf meine graue Hose und ein gestreiftes, kurzärmliges Hemd.

Während ich so dastand – Gisela hatte gesagt, sie wollten vorher noch ein Bier trinken –, schaute ich mir die Plakate im Foyer an. Darauf zu sehen waren Daniel und Laura, wie sie lachen. Die Sonne scheint, im Hintergrund sah man Wasser und Boote. Oben links waren die Preise genannt, die der Film bis dahin bekommen hatte: die silberne Muschel für die beste Hauptdarstellerin und den besten Hauptdarsteller in San Sebastian 2009, den Publikumspreis 2010 in Rotterdam, den »Goya« für die beste Hauptdarstellerin und die beste Musik 2010. Und er war beim Sundance Festival im Wettbewerb gelaufen, einem der renommiertesten Independent-Filmfestivals. Neben dem roten Teppich vor dem Kino waren für den Sektempfang, der nach dem Film stattfinden sollte, Stehtische aufgestellt worden. Darauf lagen Flyer. Mir war ganz schön warm. Hochsommer ist wirklich kein guter Zeitraum für einen Kinostart, dachte ich. Zudem war die Thematik des Films alles andere als einfach. Doch so langsam füllte sich der Raum mit Zuschauern und Leuten von der Presse. Besonders gespannt war ich auf Lola Dueñas, die die weibliche Hauptrolle gespielt hatte. War sie wirklich so schön wie im Film?

Um mir das Warten zu verkürzen, ging ich in den Saal, in dem der Film gezeigt werden sollte. Auf den Stühlen der ersten Reihe lagen Zettel mit den Namen meiner Schauspielkollegen und Freunde vom Theater: Juliana Götze, Mario Gaulke und Jenny Lau waren eingeladen, obwohl sie nicht alle mitgemacht haben. Ich war gespannt, was sie zum Film sagen würden.

Als ich wieder rausging, waren Moritz und Gisela bereits da. Sie strahlte. Ihr Haar, das ihr im Sommer gebräuntes Gesicht mit den Sommersprossen umrahmte, war ganz leicht verschwitzt.

»Na, Kumpel, bist du aufgeregt?«, begrüßte mich Moritz.

»Und wie!«

»Lass dich mal drücken, Sebastian«, sagte Gisela. »Du bist ja ganz aufgelöst. Bekommst du in deinem Rausch überhaupt noch alles mit?« Im Theater gehen wir vor der Vorstellung auf die Bühne und bilden einen Energiekreis. Dabei fassen wir uns an den Händen und schicken Kraft und Energie vom einen zum anderen. Oder wir klatschen reihum. Das hilft gut gegen Aufregung. Ich laufe meist hin und her, das beruhigt mich ebenfalls. Mut macht mir auch der Gedanke an meine Freunde und ihre Erwartungen an mich. Es baut mich auf, wenn sie sagen, dass ich etwas schaffe. Und so ist es dann auch. Das konnten wir hier natürlich nicht machen, aber ich muss auch sagen, dass es nicht dieselbe Art von Aufregung war.

»Wo bleiben denn die anderen?«, fragte ich Gisela.

»Ich fürchte, sie werden nicht dabei sein«, sagte sie bekümmert.

»Doch, sie kommen bestimmt gleich! Auf den Kinositzen liegen doch Schilder mit ihren Namen. Ich war eben im Saal.«

»Es tut mir leid, Sebastian. Im Vorfeld gab es ein ganz schönes Hin und Her. Meine Assistentin und ich haben die letzten Tage viel telefoniert.« Giselas Stimme merkte ich an, dass sie sauer war. Ansonsten deutete nichts auf ihren Ärger hin. »Keiner hat sich so richtig dafür zuständig gefühlt, Juliana und die anderen einzuladen.«

Nun gut. Meine Enttäuschung vergaß ich schnell, denn Lola Dueñas betrat zusammen mit ihrem Manager das Foyer. Ihr Anblick war überwältigend. Sie trug einen weißen kurzen Rock mit schwarzen Knöpfen und ein weißes Top. Sie hatte rotes Haar, im Film ist sie blond. Ihre nackten Füße steckten in schwarzen Schuhen mit Absatz. Doch das Beste war ihre großartige Ausstrahlung.

Die Veranstalter der Premiere schoben mich zu Lola Dueñas auf den roten Teppich und stellten mich ihr vor. Ich konnte kein Wort mehr sagen, denn sofort begannen die vielen Fotografen von allen Seiten zu rufen: Lola, hier! Sebastian, schau her! Lola, Lola, zu mir! Sebastian, lächeln! Mir schwirrte der Kopf, ich wusste nicht, wohin ich zuerst schauen sollte. Lola Dueñas nahm mich in den Arm und drehte sich mit mir zu den Fotografen. Das Feuer Spaniens in meinen Armen, dachte ich. Wie großartig musste es sein, mit ihr zusammen in diesem Film zu spielen und nicht nur die Stimme von Daniel zu sein … Und ich konnte noch viel besser verstehen, warum sich Daniel in diese Frau verliebt.

Gleich nach dem Fotoshooting wurden wir in den Kinosaal gebeten, und es begann auch schon die Vorstellung, so dass keine Zeit blieb, sich zu unterhalten.