Amberlough – Stadt der Sünde - Lara Elena Donnelly - E-Book
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Amberlough – Stadt der Sünde E-Book

Lara Elena Donnelly

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  • Herausgeber: Cross Cult
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

In Lara Elena Donnellys glamourösem Spionagethriller opfert ein Doppelagent all seine Ideale, um seinen Schmuggler-Geliebten zu retten, bevor ein Regierungsputsch ihre dekadente Stadt übernehmen kann. Inmitten wachsender politischer Spannungen verflechten sich in Amberlough drei Leben mit dem Schicksal der Stadt selbst. Der Schmuggler: Tagsüber ist Aristide Makricosta Conférencier des exklusivsten Nachtclub in Amberlough. Nachts hingegen schmuggelt er Drogen und Flüchtlinge direkt unter der Nase korrupter Polizisten. Der Spion: Geheimagent Cyril DePaul denkt, er könne Geheimnisse gut bewahren, doch nach einem katastrophalen Einsatz im Ausland trifft er eine gefährliche Entscheidung, um sich zu schützen … und Aristide hoffentlich ebenfalls. Die Tänzerin: Cordelia Lehane, eine gewiefte Burlesque-Tänzerin im Bumble Bee Cabaret und Aristides' Mädchen für alles, könnte der Schlüssel zu Cyrils Plan sein … wenn ihr zu trauen ist. Während die strahlenden Neonlichter von den wachsenden Flammen einer faschistischen Revolution abgelöst werden, müssen diese drei alles und jeden benutzen, um zu überleben, einschließlich einander. Eine großartige Mischung aus Kabarett und John Le Carré.

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Für meine Eltern, die mir vorgelesen haben.

INHALT

DANKSAGUNGEN

TEIL EINS

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

TEIL ZWEI

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

TEIL DREI

KAPITEL 24

KAPITEL 25

KAPITEL 26

KAPITEL 27

KAPITEL 28

KAPITEL 29

KAPITEL 30

KAPITEL 31

KAPITEL 32

KAPITEL 33

KAPITEL 34

KAPITEL 35

KAPITEL 36

KAPITEL 37

WEITER GEHT ES IN ARMISTICE

DANKSAGUNGEN

Ohne meine Lektorin Diana M. Pho und meinen Agenten Connor Goldsmith würden Sie dieses Buch nicht in Händen halten. Sie haben so sehr an Amberlough geglaubt, dass sie ihm eine wunderschöne Gestalt verliehen haben. Danke schön, Max Gladstone, dass du zum richtigen Zeitpunkt im richtigen Whirlpool gesessen hast, um den richtigen Kontakt zur richtigen Lektorin zu vermitteln. Und danke auch an Victo Ngai für das prächtige Titelbild.

Mein Dank gilt gleich mehreren Sarahs (Sarah Brand, Sarah Mack, Sarah Gulick) sowie Olivia Sailor, Ken Schneyer und Kendra Leigh Speedling. Sie haben mich dabei unterstützt, aus der Modelliermasse dieser Welt und Figuren eine zusammenhängende Geschichte zu formen. Die Reaktion meines Dads auf mein Roman-Pitching hat mir gezeigt, dass mein Buch so weit war, um es Verlagen vorzustellen. Meine Mom hat überhaupt erst einen Roman daraus gemacht.

In seinen Anfängen als Kurzgeschichte erhielt Amberlough von wunderbaren Alumni des Alpha-SF/F/H-Workshops für junge Autoren gnadenlose, aber herzliche Kritik. Diese Kurzgeschichte brachte mich zu Clarion und wurde später mein erstes Belletristikwerk, das in den Verkauf kam. Nach ein paar Startschwierigkeiten half mir mein unvergleichlicher Clarion-Kurs dabei, den Roman zu perfektionieren. Vielen Dank, Awkward Robots, für eure Zeit und Hinweise und bedingungslose Liebe.

Seth Dickinson und Rich Larson, deren Romane ich rezensiert habe, während ich diesen schrieb, haben mich inspiriert. Ihre komplexen Handlungsstränge und strahlende Prosa ließen mich meinen Text noch strenger überarbeiten, meinen Entwürfen mehr abverlangen. Sam J. Miller ging dazwischen, als mir dieses Buch praktisch bis hier stand, und führte mich mit einer wunderbaren Zusammenarbeit auf Abwege, sodass mein Kopf endlich etwas ausruhen konnte. Leah Zander – literarische und buchstäbliche Retterin, wahrer Engel und Spaßkomplizin – half mir durch einige größere Lebensturbulenzen und den bitteren Rattenschwanz der Redaktion. Brayton Joseph Phair stellte mir Microsoft Word zur Verfügung, als ich es unbedingt brauchte.

Gwenda Bond und Christopher Rowe haben mir während eines Schneesturms Unterschlupf gewährt und wunderbare Ratschläge über die Verlagswelt gegeben. Pat Donnelly und Marty Ruff haben mich die meiste Zeit, in der ich dieses Buch geschrieben habe, in ihrem eigentümlichen und wunderhübschen Haus einquartiert. Die ganze Raff-Donnelly-Von-Roenn-Sippe hat mir bei sich Platz gewährt und mir in Louisville das Gefühl vermittelt, zu Hause zu sein.

Und ich danke Sunshine Flagg, Co-Kween des Pickle Palace, die mit Pasta und Gin meinen Hunger und Durst gestillt und sich einige herrlich schlüpfrige Witze für Aris Nummer ausgedacht hat. Sie hat mir dermaßen in den Hintern getreten, dass ich in New York City gelandet bin, dem magischen Fleckchen Erde, das sie hervorgebracht hat.

Er fragte sich, ob es zwischen den Menschen denn überhaupt Liebe gab, die nicht auf irgendeiner Art von Selbsttäuschung beruhte.

– John Le Carré, Dame, König, As, Spion

Ist es denn so wichtig, solang Sie Spaß dran hatten?

– Sally Bowles, Cabaret

KAPITEL

1

Zu Beginn der Arbeitswoche krochen die meisten Lohnempfänger in Amberlough nur zögerlich aus ihren Betten – oder denen von jemand anderem – und ließen sich, verkatert und verschlafen, von den Straßenbahnwagen ins Büro schleppen. In Amberlough-Stadt, der Hauptstadt des gleichnamigen Staates, waren nur wenige Frühaufsteher beheimatet.

Im angesagten Teil der Baldwin Street – nah genug am Fluss, dass der Duft des Geldes noch die Luft parfümierte, und nahe genug am Hafen, um gute Straßenimbisse und radikale Gespräche zu genießen – schälte sich Cyril DePaul in einer Wohnung in der zweiten Etage aus einer schweren Moiré-Seidenbettdecke. Außerhalb seines Deckennests roch es intensiv nach Kaffee. Ein frühes Frühlingsgewitter besprenkelte die Schlafzimmerfenster mit Regentropfen.

Obwohl es nicht Cyrils Wohnung war, stand er auf und ging, ohne zu zögern, ins Badezimmer. Er fuhr sich mit einem nassen Kamm durch die Haare, putzte sich mit süßer Zahncreme mit Veilchengeschmack die Zähne und lieh sich den Morgenmantel aus, der an der Stange über der Badewanne hing. Obwohl Aristide dazu tendierte, seine Räumlichkeiten eher zu stark zu beheizen, war auf dem gefliesten Bodenmosaik ein letzter Hauch des Winters zu spüren. Cyril verließ das Badezimmer und trat dankbar auf den dicken Teppich, der im gesamten Flur ausgelegt war. Der mit Troddeln gesäumte Läufer reichte bis in den Salon hinein, aus dem ihm das Dienstmädchen mit einem leeren Tablett entgegenkam.

»Er sitzt am Tischchen, Mr. DePaul«, sagte sie, ohne mit der Wimper zu zucken.

»Vielen Dank, Ilse.« Wenn sie lächelte, bildeten sich zauberhafte Grübchen auf ihren Wangen.

Am anderen Ende des Salons, dort, wo dieser ins Esszimmer überging, öffnete der Flur sich zu einem von Fenstern eingefassten Frühstückserker. Dort saß ein eleganter Mann mit ockerfarbener Haut entspannt auf einem der vergoldeten Stühle. Er trug eine Lesebrille mittig auf der dramatisch geformten Nase, oben schmal, unten breit, stark geschwungen: als hätte eine Bildhauerin ihm den Daumen zwischen die Augen gedrückt und fest nach unten gezogen. Die schmalen Lippen waren zu einem Schmollmund verzogen, den er so oft im Spiegel geübt hatte, dass er zur Gewohnheit geworden war.

Auf einem Knie balancierte er die Gesellschaftssparte der Amberlough Clarion. Der Rest der Zeitung, noch feucht vom Gewitter, lag zwischen zwei silbernen Kaffeegedecken und kleinen Tellerchen mit Mandelgebäck verstreut. Als Cyril sich neben die unbenutzte Kaffeetasse setzte, zog Aristide mit lautem Rascheln die Zeitung auseinander und sagte, ohne ihn anzusehen: »Endlich. Ich habe mich schon gefragt, ob du im Schlaf g… g… gestorben bist.«

»Und mir die Freude deiner Gesellschaft beim Frühstück entgehen lassen? Niemals.« Cyril goss sich Kaffee ein, genoss Aristides gekünsteltes Stottern und das leise Säuseln, mit dem der Kaffee in die glänzende Tasse floss. »Bist du mit der Titelseite fertig?«

»Schon seit einer Ewigkeit.«

Cyril griff nach der Zeitung und verzog das Gesicht, da die feuchte Tinte auf seine Handfläche abfärbte. »Schon lange wach?« Die Frage stellte er beiläufig, doch während er ihn über die verwaschenen Schlagzeilen hinweg musterte, ordnete er Aristides Aussehen haargenau ein: Satinpyjama unter einem gestepptem Morgenmantel, dieselbe Kleidung, die er beim Zubettgehen getragen hatte – zumindest beinahe. Seine vollen dunklen Locken hatte er locker über die Schulter geworfen, allerdings glänzte nach wie vor etwas Feuchtigkeit darauf. Seine Wangen waren leicht gerötet. An diesem Morgen hatte er die Wohnung bereits verlassen, sich aber wieder umgezogen. Also hatte er bei seinem Ausflug etwas Unerlaubtes getan und Cyril sollte davon nichts bemerken. Folgsam ignorierte er es, genau wie Aristide seinen eindringlichen Blick und seine Frage ignorierte.

»Iss.« Aristide schob etwas von dem Gebäck über den Tisch. »Sonst kommst du zu spät zur Arbeit. Beim Gedanken daran, wie C… C… Culpepper wütend wird, kommt mir das Grausen. Sie ist unter normalen Umständen schon zum Fürchten.«

»Ari …«

»Ich weiß, ich weiß. Ich sollte es gar nicht wissen.« Er steckte zwei knöchrige Fingern in die Brusttasche seines Morgenmantels und holte einen Zettel heraus, der in der Mitte gefaltet war. »Und sie auch nicht, oder?« Ohne Cyril anzusehen, gab er ihm den Scheck. »Wie sagt man so schön? Diskretion ist u… u… unbezahlbar.«

Cyril ließ das Schmiergeld im Ärmel verschwinden. »Daran musst du mich nicht erinnern.« Das Geld war eine symbolische Geste, damit sie alles glaubhaft abstreiten konnten. »Aber es freut mich, wenn du es tust.« Er ignorierte das Gebäck, trank seinen Kaffee aus und erhob sich. »Kleidung?«

»Ilse hat sie g… g… gebügelt. Hängt im Kleiderschrank.«

Cyril beugte sich hinunter und drückte Aristide einen Kuss auf den Scheitel. Seine Haare rochen nach Regen, Salz und Rauch. Also hatte er sich irgendwo am Hafen herumgetrieben. Wahrscheinlich am Südende, bei den Sandbänken. Der miese Teil der Stadt – dort legten in den frühen Morgenstunden Schmuggler an.

Aristide packte Cyril an seinem Fuchspelzrevers und zog daran, zwang ihn dazu, sich tiefer hinabzubeugen, bis sie sich in die Augen sahen. »Cyril«, säuselte er, die Drohung war nicht zu überhören. »Du hast doch keine Z… Z… Zeit.«

»Ach ja«, sagte Cyril, »aber wünschst du dir nicht, dass das der Fall wäre?« Wieder küsste er Aristide, diesmal auf die gespitzten, unzufriedenen Lippen. Nach kurzem Widerstand gab Ari nach und lächelte.

Als der Straßenbahnwagen, in den er in der Baldwin Street gestiegen war, in der Talbert Row anhielt, hatte sich der Regen verzogen. Cyril stieg aus und schloss sich einer nassen Welle spät ankommender Pendler an, die alle denselben Anschluss erreichen wollten.

Am vorderen Ende des Wagens, eingeklemmt zwischen der Fahrerkabine und einer Frau im auffällig karierten Anzug, zog Cyril seine eigene Ausgabe der Clarion unter dem Arm hervor, die er sich an der Bahnhaltestelle Heynsgate gekauft hatte, und ließ sie auf dem Bein ruhen. Den Aufmacher bildete die Geschichte über einen Bombenanschlag auf einen Bahnhof in Totrajov, eine umstrittene Siedlung an der Grenze von Tatié.

Von den vier Staaten im lockeren Gedda-Bund war Tatié der aufsässigste. Im Gegensatz zu den anderen Nationen unterhielt man dort ein stehendes Heer, außerdem herrschte seit Generationen ein bitterer Konflikt mit der Nachbarrepublik Tzieta, bei dem es um den Anspruch auf ein bestimmtes Territorium ging. Zum Glück für den Rest des Landes durften Subventionen und Energie des Bundes nur für Projekte des Allgemeinwohls wie Infrastruktur und Außenpolitik und – für Cyril besonders relevant – nationale Sicherheit eingesetzt werden, deshalb hatten die jahrzehntelangen Auseinandersetzungen die Bundeskasse nicht geleert, sondern lediglich ein wirtschaftlich angeschlagenes Tatié beinahe in den Bankrott getrieben.

Im Großen und Ganzen ignorierten die Amberliner ihren östlichen Verwandten, außer um sich über ihn lustig zu machen; ab und an schlich sich angesichts der tatienischen Schlagkraft auch ein wenig Nervosität ein. Obwohl dies eigentlich nicht den guten Sitten entsprach, behielten die amberlinischen Geheimagenten Tatié genau im Auge. Selbst die beste Marine brachte nichts, wenn man es mit einem militarisierten Binnenstaat zu tun hatte, und sie waren nicht gerade die besten Nachbarn.

Direkt unter dem schrecklichen Bericht über den Bombenanschlag war eine kleinere Schlagzeile zur anstehenden Westwahl platziert worden. Die Parlamentswahlen der einzelnen Länder fanden abwechselnd jeweils im Abstand von zwei Jahren statt und in diesem Jahr war Nuesklend an der Reihe. Das dazugehörige Foto zeigte die scheidende Erste Repräsentantin Annike Staetler an der Seite einer jungen Frau mit gewellten Haaren und tiefliegenden Augen. Die Bildunterschrift lautete: Staetler unterstützt Stellvertreterin Kit Riedlions, Süd-Gestraacht. Darunter ein weiteres Foto, ein Mann mit blassem, plattem Gesicht und randloser Brille, der von einem mit Wimpeln verkleideten Podium herunterschaute. Caleb Acherby tritt in Nuesklend für die One State Party an.

Die arme Staetler. Sie hatte ihre Wähler gut behandelt und diese hätten sie weitere acht Jahre behalten, wenn sie zugelassen hätte, dass die Staatsversammlung Nuesklends Begrenzung der Amtszeit aufhob. An dem Lunch, bei dem Director Culpepper und der Erste Repräsentant von Amberloughs Parlament, Josiah Hebrides, sie bearbeitet hatten, hatte Cyril nicht teilgenommen, allerdings war Culpepper schlecht gelaunt und in Endzeitstimmung zurückgekehrt. Staetler war eine standhafte Verbündete gegen den schleichenden Einfluss der One State Party – OSP oder von der Bevölkerung auch Ospies genannt – im Parlament. Solange die Regionalisten Amberlough und Nuesklend den Unionisten Farbourgh und Tatié gegenüberstanden, blieb es bei einem Patt. Doch wenn Acherby zum Ersten Repräsentanten wurde … nun ja, er war stets der Kopf hinter der Ospie-Bewegung gewesen. Zwei Wahlperioden hatte er abwarten müssen, da er nicht außerhalb seines Geburtsstaates kandidieren konnte. Nun war er an der Reihe und er hatte sicher viel vor.

Wahrscheinlich würde er die Situation im Osten beruhigen und die hungernden Waisen in Farbourgh versorgen, allerdings zu einem schrecklichen Preis für ganz Gedda. Acherbys Ziel lautete Vereinigung: Er wollte den lockeren Bund zu einer streng überwachten Einheit machen, die schillernde Vielfalt von Geddas Bevölkerung zu einer homogenen Kultur.

Seufzend schlug Cyril die Zeitung in der Mitte auf und klappte sie nach hinten um, sodass Acherbys strenge Miene unter billigem Papier verborgen lag.

Gerade als er in einen konservativen Kommentar vertieft war, der sich für die weitere Erhöhung der innerstaatlichen Grenzzölle aussprach, ebenjener Zölle, die Aristide in den frühen Morgenstunden geschickt umgangen hatte, da packte das Kabel der Bahn und der Gripman rief laut: »Station Way!«

Cyril stieg aus und legte den restlichen Weg zu Fuß zurück. Die Rinnsteine quollen über, Radfahrer und Automobile spritzten im Vorbeifahren öliges Wasser auf den Gehsteig. Hinter dem marmornen Kapitol stachen Masten und Schlote in den Hafenhimmel. Meeresvögel zogen schreiend ihre Kreise und übersäten die grüne Kupferkuppel des Regierungssitzes mit ihrem Mist.

Amberloughs Zweigstelle des Federal Office of Central Intelligence Services verbarg sich in den obersten drei Etagen eines unscheinbaren Bürogebäudes, auf der anderen Seite des Station Way gegenüber den von Gärten überzogenen Hängen des Kapitols. Wie alles beim FOCIS besaß sie ihren eigenen spöttischen Spitznamen: der Fuchsbau.

»Morgen, Mr. DePaul«, grüßte Foyles, als er an ihm vorbeieilte. Foyles bewachte die Empfangshalle bereits, seit Cyril seine Stelle im Fuchsbau angetreten hatte, und arbeitete wahrscheinlich schon doppelt so lange hier wie er. Sein Gesicht war von tiefen Falten durchzogen und die dichten Spiralen seiner weißen Haare setzten sich deutlich von der schieferfarbenen Haut ab.

Cyril winkte ihm im Vorbeigehen zu, betrat den Fahrstuhl und stellte sich an die Rückwand, während die Fahrstuhlführerin das Gitter schloss. Seine Etage musste er ihr nicht nennen.

Einmal hielt der Fahrstuhl an, in der dritten Etage, wo die Buchhalter und Rechnungsprüfer inmitten der Kakofonie klingelnder Lacktelefone Hof hielten, die Köpfe über Bleistifte und Rechenmaschinen gesenkt. In der vierten und fünften Etage ging es um Spionage zum Schutz der Sicherheit des Staatenbundes Gedda, doch in der dritten fand die wahre Magie statt. Die Finanzabteilung verwandelte die Veruntreuung unglaublicher Summen in unbedeutende Abrechnungsfehler. Schmier- und Bestechungsgelder verschwanden in endlosen Zahlen- und Namenreihen. Agenten wurden im Geheimen bezahlt, wobei die Feinheiten dieser Geschäfte manchmal sogar dem genehmigenden Abteilungsleiter entgingen. Die Buchhalter waren ausnahmslos diskret, adrett und die Höflichkeit in Person. Sie versetzten alle anderen in der Zentrale in Angst und Schrecken.

Die Fahrstuhlführerin schob das Gitter auseinander und trat zurück, um einen weiteren Passagier hereinzulassen. Ein junger Mann im abgetragenen grauen Anzug und mit hellroten Haaren, er senkte den Blick. Cyril lächelte er an, ohne ihm in die Augen zu sehen. Gegen die Brust gedrückt hielt er einen Stapel Dokumente unter einem dicken Lederkalender, die Arme hatte er schützend darüber verschränkt. Cyril ging in Gedanken Namen und Gesichter, Geschichten und Fakten durch.

Junger Rechnungsprüfer. Seit zwei Jahren im Büro. Für einen Amberliner ungewöhnlich geradlinig: Er hatte es noch nie mit Erpressung versucht. Sein Gesicht war so blass, dass es schmerzte, mit der liebenswürdigen Angewohnheit, zu erröten, wenn ihm etwas peinlich war. Was sehr schnell passierte. Wie hieß er noch gleich? Lourdes. Genau. Finn Lourdes.

Sie hatten sich nur ein- oder zweimal unterhalten – Finn hatte Cyril besucht, als er gerade aus dem Krankenhaus entlassen worden war, um ihm im Namen der Zentrale sein Mitgefühl auszusprechen und persönlich einen großzügigen Bonus und ein Beförderungsversprechen zu überbringen: Culpeppers Blutgeld.

Manchmal begegneten sie sich auf dem Flur, nun, da Cyril hinter einem Schreibtisch eingesetzt worden war. Wie dem auch sei … Cyril würde nicht in der fünften Etage arbeiten, wenn er nicht ein solches Auge für Details besessen hätte.

KAPITEL

2

Auf der anderen Seite der Stadt, in der Nähe des Güterbahnhofs, stahl sich eine Handvoll dünner Strahlen der Morgensonne durch die Wolken und schien in ein offenes Fenster; sie wärmten die sommersprossigen Arme von Cordelia Lehane.

Mit den Händen fuhr sie Malcolm durch die Haare. Normalerweise kämmte er sie in einem Ducktail glatt nach hinten, doch nun standen sie in alle Richtungen ab. Die Pomade vom Vorabend ließ ihre ohnehin klebrigen Finger fettig werden. Malcolm wandte ihr das Gesicht zu, dunkel auf ihrer schneeweißen Haut, und seine Bartstoppeln rieben ihr über den Bauch. Das Sonnenlicht verfing sich in den grauen Strähnen an seinen Schläfen. Cordelia folgte einer davon mit den Fingern und rieb über den Schweiß, der sich auf seiner Stirn gesammelt hatte.

»Du bist das Beste, was mir seit Ewigkeiten passiert ist«, sagte er.

Sie lächelte schwach und schob seinen Kopf von sich weg. »Ach, komm schon«, sagte sie.

Erneut presste Malcolm das Gesicht an Cordelias weichen Körper, zwischen Beckenknochen und Nabel. Dadurch drückte er ihr auf die Blase, doch sie sagte ihm nicht, dass er es lassen sollte. Der Schmerz mischte sich mit dem schwindenden Kribbeln, das sie immer nach dem Sex empfand.

»Ich beweise es dir«, sagte er und schob ihre Schenkel auseinander.

»Mal.«

Sein Kopf blieb gesenkt. Sie packte ihn an den Haaren und zog ihn hoch. »Ich muss dringend auf die Toilette. Gib mir einen Augenblick.«

Lachend ließ er sie los und rollte sich auf den Rücken, bis er an der Stelle lag, wo sie gerade noch gelegen hatte. »Du bist ein Schatz.«

»Sogar Schätze müssen ab und zu pissen.«

Als sie abzog, ächzten und zitterten die Rohre. »Zur Königin noch mal. Wann rufst du endlich einen Klempner?« Sie wusch sich die Hände mit rostrotem Wasser.

»Kann ich mir nicht leisten. Die Toiletten im Theater müssen diesen Monat renoviert werden.«

»Vielleicht solltest du da einziehen.« Sie kam wieder ins Bett und warf sich auf die Laken. Durch den Raum zog eine frische Brise, erfüllt vom Salzduft, den die Flut mit sich brachte. Zitternd schmiegte Cordelia sich an Malcolms warmen Körper.

»Du achtest nicht auf dich«, sagte sie, allerdings ohne dabei sonderlich vorwurfsvoll zu klingen. Ein kurzes Kopfschütteln, ein mattes Lächeln. »Du würdest selbst deine Ma verkaufen, wenn das mehr Zuschauer bringen würde.«

Sanft stieß Malcolm ihr mit der Faust gegen den Kopf. »Vielleicht meinen alten Herrn. Aber nie Ma. Sie war …«

»Das Juwel der Halbinsel, ich weiß.« Cordelia ließ den Kopf auf seinem harten Bizeps ruhen und blickte hinauf in sein von Bartstoppeln gesäumtes Gesicht. »Die beste Tänzerin in Hyrosia.«

»Sie hätte dich liebend gern kennengelernt«, murmelte er, fuhr ihr mit der schwieligen Hand durch die Haare. Das ziepte etwas, doch sie beschwerte sich nicht. Wenn Malcolm über seine Mutter sprach, veränderte sich sein Blick: Die Härte verschwand. »Meine Mutter hätte dich geliebt« – näher kam er nie an ein »Ich liebe dich« heran.

Alle wussten jedoch, besonders Cordelia, dass Malcolm nur das Bee liebte.

Seine Mutter hatte ihre Bühnenkarriere aufgegeben, um in den Norden zu ziehen und zu heiraten. Und das hatte ihr nichts weiter eingebracht als Rechnungsbücher und zwei Söhne, die auf See gestorben waren, umgebracht von lisoanischen Piraten irgendwo südlich ihres Heimatlands. Den Jüngsten, Malcolm, hatte sie trotz des Geschreis ihres Mannes zu Hause behalten. Malcolm hörte alle ihre Geschichten, sah alle ihre Ferrotypien und Souvenirs. Versprach ihr, dass sie eines Tages wieder über eine Bühne schreiten würde.

Als sie an einem Fieber starb, nahm er, was sie ihm hinterlassen hatte, und verließ das Schifffahrtsunternehmen seines Vaters für die Bretter, die die Welt bedeuteten. Seine ganze Liebe zu Inita Sailer steckte er in den Erfolg des Bumble Bee Cabaret & Nachtclub.

»Wie läuft die neue Nummer?«, fragte Malcolm. »Wenn wir schon vom Tanzen sprechen.«

Cordelia schüttelte den Kopf. »Ich habe sie drauf, aber das Orchester hat Probleme.«

Malcolm setzte sich auf und schwang die Beine über die Bettkante. »Ich werde Liesl danach fragen.« Er nahm seine Taschenuhr vom Nachttisch und klappte sie auf. »Sollte langsam mal rübergehen. Gleich kommt eine Lieferung für die Bar.«

»Um die kann Ytzak sich kümmern«, erwiderte Cordelia, schlang die Arme um Malcolm und spielte mit den dunklen Haaren auf seiner Brust. Sie versuchte, ihn zurück ins Bett zu ziehen, doch er wehrte sich.

»Nein, der hat heute Morgen frei – hat gesagt, seine Ma wäre krank, aber du weißt, dass er diese Rasierklinge umwirbt, die in Cantys Band Bass spielt, und gestern hatte er es etwas zu eilig, Feierabend zu machen.«

»Dann zwing ihn doch einfach, zur Arbeit zu kommen«, sagte Cordelia und hakte Malcolm ein Bein um den Schenkel.

Er lachte, zwickte sie, stand aber trotzdem auf. Schmollend ließ sie von ihm ab und sank zurück auf die Tagesdecke.

»Das hast du dir bei Makricosta abgeschaut. Du weißt, dass das bei mir nicht funktioniert.« Er zog sich ein fadenscheiniges Baumwollunterhemd über den Kopf und fügte hinzu: »Wenn du willst, kannst du gern hierbleiben. Aber ich komme höchstwahrscheinlich nicht zurück, bevor der Vorhang fällt.«

Cordelia seufzte. »Soll ich wegen deinen Klamotten wieder bei der Wäscherei vorbeischauen?«

»Wärst du so lieb?« Er beugte sich zu ihr herunter und küsste sie auf die Wange. »Sag Kieran, dass er es anschreiben soll.«

»Du schuldest ihm diesen Monat schon ein kleines Vermögen.«

»Er weiß, dass ich meine Schulden immer begleiche, sobald ich wieder flüssig bin. Und das wird der Fall sein, sobald diese neue Show erst mal läuft.« Malcolm zog sich die Hosenträger über die Schultern und nahm Jackett und Hut von den Haken an der Schlafzimmertür. »Bis später, Gewürztörtchen.«

»Vergiss nicht, mit Liesl zu sprechen!«, rief sie ihm hinterher. Unten knallte die Tür, sodass die Flaschen mit Haartonikum und billigem Eau de Cologne auf Malcolms Nachttisch wackelten.

Cordelia schüttelte ein löchriges Kissen auf, lehnte sich zurück und betrachtete die Risse im Deckenputz. Das Bee war gut im Geschäft. Malcolm lebte nur deshalb in solch ärmlichen Verhältnissen, weil er alles, was er mit dem Betrieb des Theaters verdiente, sofort wieder hineinsteckte.

Nicht, dass sie sich beschweren würde. Jedes Bühnentalent in Amberlough wollte einen Platz auf den Kieferbrettern des Bee. Malcolm zahlte seinen Künstlern mehr als alle anderen Clubs der Stadt – verglichen mit Büroangestellten zwar immer noch ein Hungerlohn, aber Cordelia verdiente sich noch etwas dazu, indem sie nebenher ein wenig mit Teer dealte. Das war keine schöne Arbeit, dafür allerdings profitabel und brachte ihr regelmäßig etwas ein.

Apropos, sie musste an diesem Nachmittag bei ihrem Kontaktmann am Hafen etwas abholen. Malcolm schnallte nicht, dass sie einen Nebenverdienst hatte, und wäre damit auch nicht einverstanden gewesen. Doch er würde nichts davon spitzkriegen, solange sie ihm seine Klamotten rechtzeitig und in gutem Zustand mitbrachte.

Malcolms Abendgarderobe hing von der Gepäckstange, schwang sanft im Takt des ratternden Straßenbahnwagens hin und her. Gegen die Fenster prasselte Regen. Alles roch nach Wolle und Feuchtigkeit. Cordelia war spät dran, aber in der Bahn war es so gemütlich, dass ihr das egal war. Sie hatte einen guten Nachmittag gehabt – die Übernahme war glattgelaufen und danach hatte sie bei Tory vorbeigeschaut.

Der saß nun an ihre Seite geschmiegt, warm und laut wie immer; er quatschte über … tja, wer wusste das schon? Dieser Kerl redete einfach pausenlos. Für gewöhnlich verstand sie nicht mal die Hälfte seines Geplappers, doch es klang nett. Er bemühte sich, seinen currinischen Akzent abzumildern, doch der setzte sich immer durch, wenn er stocksauer wurde oder, und das hatte sie mit Freude herausgefunden, im Bett.

Tory zog an ihrem Mantelärmel. »Unser Halt.« Die Passagiere standen im Gang, holten Pakete und Handtaschen von der Gepäckablage herunter, banden ihre Schals enger und klappten gegen den Regen ihren Kragen nach oben. »Komm schon«, rief Tory und hüpfte von seinem Sitz. Mit dem Kopf reichte er den anderen Passagieren bis zum Bauch, doch angesichts der Art, wie sie ihm Platz machten, hätte man das nie vermutet.

Sie traten in den Rinnstein und Cordelia schrie auf, als das kalte Wasser ihr die Schuhe durchweichte. Tory dirigierte sie über den Bordstein zu zwei Metallstühlen unter der Markise eines Cafés. An der Ecke hatte ein Herder-Prediger eine Seifenkiste aufgestellt, um seine Straßenpredigt zu halten. Er war nun seit bald zwei Jahren ein fester Bestandteil der Temple Street, bemühte sich, abgehalfterte Schauspieler und die Kavaliere, die ihnen zujubelten, zu konvertieren. In letzter Zeit trug er eine grau-weiße Ospie-Schärpe. Die meisten Herder-Gemeinden der Stadt unterstützten die Ospies. Damit hatte Cordelia kein Problem. Sollten die Spießer sich ruhig zusammentun und miteinander Spaß haben, wie auch immer sie wollten. Die Menschen im Theaterbezirk hatten Wichtigeres zu tun.

Dem Prediger gegenüber auf der anderen Straßenseite stand das Bee und überragte die Weinbar und das Casino neben ihm, es leuchtete heller als alle anderen Theater auf der Baldwin Street. In Schnörkeln angeordnete blendend weiße Glühbirnen, die an diesem grauen Nachmittag eingeschaltet worden waren, ließen den goldenen Stuck des Vordaches doppelt so hell glänzen. Bunt illustrierte Plakate strahlten in ihren beleuchteten Rahmen entlang der Gebäudefassade – gleich links neben dem Eingang entdeckte Cordelia sich selbst, rote Locken und schwarze Rosen, die Lippen geschwollen dank der Stiche des Schwarms vergoldeter Bienen, die sich an dem Plakatrand entlangwanden.

»Schau noch mal nach«, bat Cordelia und zog den Kragen ihres Kleides hinunter. »Keine Flecken?«

Tory spähte konspirativ bis zu ihren Schultern hinauf, musterte erst die eine Seite und dann die andere, bevor er das Gesicht in ihrer Brust vergrub. »Keine Flecken.« Seine Stimme klang gedämpft.

Der Prediger sah sie, hob drohend den Finger und begann einen strengen Vortrag über Sittsamkeit, Anstand und gute, ehrbare Bürger.

Cordelia machte eine unhöfliche Geste in seine Richtung, dann packte sie Tory an den Ohren und zerrte ihn aus ihren Brüsten. »Hör auf damit! Ernsthaft.«

»Keine Flecken«, wiederholte er und fuhr ihr mit dem Daumen über das Brustbein. »Ich weiß, dass Malcolm sich redlich bemüht, diese wunderhübsche helle Haut nicht zu beflecken …«

»Manchmal ist redlich aber nicht redlich genug.«

»… und auch ich würde sie nicht verderben wollen. Außerdem könnte er die Bissspuren erkennen.« Tory grinste so breit wie ein Nussknacker. »Und das würde der eifersüchtige alte Sailer niemals hinnehmen.«

Cordelia strich die feuchte Kleiderhülle über Malcolms Frack glatt. »Gehen wir rein. Bevor wir uns noch mehr verspäten.«

Tory stellte sich auf die Zehenspitzen und gab ihr einen schnellen Kuss, dann rannte er über die Straße, während der Prediger hinter ihm herschrie. Unter dem Vordach fing er ihren Blick auf. Er stellte sich direkt unter die illustrierte Cordelia in ihrem Ring aus schwarzen Rosen, hob die Hände und tat so, als würde er sie in die unter der Blumengirlande verborgenen Brustwarzen zwicken. Sie bedachte ihn mit der gleichen unhöflichen Geste wie vorhin den Herder. Lachend zog Tory die schweren schwarz-goldenen Türen auf und verschwand stolpernd über die Schwelle.

Eigentlich sollten sie nicht durch die Vordertür gehen, doch Malcolm mochte Tory sehr und ließ ihm einigen Unsinn durchgehen. Dass er ihr unter den Rock krabbelte, würde er ihm nicht verzeihen, da war Cordelia sich sicher, dachte allerdings bei sich: Was er nicht weiß, macht ihn nicht heiß.

Einen Augenblick wartete sie noch ab und zupfte gedankenverloren am tropfenden Saum des Kleidersacks herum. Der Regen ließ nach, aber ein plötzlicher Windstoß vom Hafen schüttelte Tropfen von den knospenden Pflaumenbäumen und bespritzte die Markise des Restaurants. Sie drückte sich ihre Handtasche und Malcolms Klamotten eng an die Brust, wartete, bis die Straße frei war, eilte dann hinüber, wobei sie den Pfützen auswich, und schlüpfte in eine Gasse, die an einer Seite des Bee entlangführte.

Der Bühneneingang wurde mit einem Stuhl offen gehalten, damit wenigstens ein bisschen frische Luft in die stickigen Flure hinter der Bühne dringen konnte. Stella, einer der beiden Zwillinge, die als Akrobaten und Schlangenmenschen auftraten, saß auf dem Stuhl und rauchte eine selbst gedrehte Zigarette. Cordelia roch das süße Aroma von Haschisch. Stella bekam schlimmes Lampenfieber – ihre Schwester Garlande war die Rampensau.

»’tschuldigung«, murmelte die Akrobatin und trat zur Seite, damit Cordelia an ihr vorbeigehen konnte. Der Flur bestand hauptsächlich aus unverkleideten Balken, hier und da etwas Putz, sowie einer Treppe, die ins Dachgeschoss mit den Kostümen führte. Ein Bühnentechniker saß unten auf der Treppe, umwickelte Garlandes Trapez neu und flirtete mit einer Näherin, die kurzfristige Reparaturen durchführte. Irgendwo lief eine Schallplatte. Die dünnen Wände dämpften und verzerrten die Klänge eines Schnulzensängers mit Samtstimme. Der Staub von Sägespänen und der Geruch nach Theaterschminke hingen in der Luft.

Auf dem Weg zu ihrer Garderobe musste Cordelia an Malcolms Büro vorbeigehen, und als sie sich der offenen Tür näherte, stellte sie sich auf eine Abreibung ein. Doch er schrie schon jemand anderen an. Die neue Revuesängerin, Thea Marlow, stand vor Malcolms großem zerkratzten Holztisch und hatte den Kopf eingezogen wie ein ungezogenes Schulmädchen, das auf den Stock wartete. Also hatte Malcolm anscheinend mit Liesl gesprochen und die Dirigentin hatte die verpatzte Nummer auf Thea geschoben. Ehrlicherweise hatte sie große Probleme mit den Tonartwechseln. Revuegesang war ein schweres Geschäft, wenn man sich auch nur ansatzweise für halbnackte Mädchen interessierte, und wenn man bedachte, was für große Augen Thea jedes Mal machte, wenn Cordelia die Bühne betrat, war sie der Aufgabe ganz offensichtlich nicht gewachsen.

Cordelia hängte Malcolms Klamotten an den Türknauf und wollte sich schon davonschleichen, doch er erwischte sie. Allerdings schimpfte er sie nicht aus, sondern sagte lediglich: »Delia, heute Abend im Antinou’s? Tory zahlt – er schuldet mir was.«

An die dreckigen Witze, die der kleinwüchsige Komiker daraus basteln würde, wollte sie gar nicht denken. Sie nickte und warf Mal eine Kusshand zu.

Gerade als Cyril Feierabend machen wollte, schrillte sein Telefon und schreckte ihn aus seinem jüngsten Bericht auf, der vom Güterbahnhof gekommen war.

Es meldete sich ein junges Ding von der Vermittlung, ein Mädchen mit leichtem Lispeln. »Mr. DePaul? Der Schädel will Sie sprechen.«

»Vielen Dank, Vermittlerin.« Traditionell wurden alle jungen Dinger, die in die Vermittlungszentrale gepfercht wurden, Vermittlerin genannt. Cyril schob die Seiten des Berichts in seine Aktentasche und schloss diese ab, dann legte er sich den Mantel über den Arm und ging in den Flur.

Culpeppers Sekretär, Vasily Memmediv, war Ende vierzig oder Anfang fünfzig, seine dichten schwarzen Haare zeigten allerdings bisher kaum eine Spur von Grau. Die Falten in seinem Raubvogelgesicht bildeten tiefe und ausdrucksstarke Furchen neben seiner Nase und zogen sich unter seinen tiefliegenden Augen entlang. Cyril hatte eine kurze, schreckliche Leidenschaft für Memmediv gehegt, doch die Gerüchteküche besagte, dass er Culpepper treu ergeben war – in mehrfacher Hinsicht.

Cyril ließ den Ellenbogen auf der Kante von Memmedivs Schreibtisch ruhen. »Die Vermittlerin hat gesagt, dass der Schädel mich sehen will.«

»Ja, Director Culpepper hat darum gebeten, Sie zu sehen, bevor Sie das Haus verlassen.« Sein tatienischer Akzent war im Laufe der Jahre, die er hier im Süden verbracht hatte, schwächer geworden, färbte seine Sprache jedoch bis heute mit überbetonten Vokalen und verschluckten, fließenden Konsonanten.

Als wäre Culpepper durch die Nennung ihres Namens herbeigezaubert worden, schallte ihre Stimme durch die halb offene Tür aus ihrem Büro. »Ist das DePaul?«

Bevor Memmediv antworten konnte, rief Cyril: »Sieht ganz so aus, aber man weiß ja nie.« Er umrundete den finster dreinblickenden Sekretär und betrat Culpeppers Höhle.

Sie schaute nicht auf. »Nicht so vorlaut, DePaul. Das ziemt sich nicht.«

»Tatsächlich?« Er ließ sich ihr gegenüber auf den Stuhl fallen. Zwischen ihnen erstreckte sich die breite, unaufgeräumte Platte ihres Schreibtisches. »Normalerweise finden die Leute das charmant. Vielleicht solltest du dich mal untersuchen lassen.«

Im Fuchsbau nannte man sie »den Schädel«, weil sie die Haare kurz rasiert trug. Unter ihrer dunklen Gesichtshaut zeichneten sich scharf die Knochen und Muskeln ab. Wenn sie mit den Zähnen knirschte, so wie in diesem Augenblick, zuckten ihre Kiefermuskeln unter dem zarten Schatten geschorener Locken. Für Frauen wie sie hatte man in der Stadt einen besonderen Namen: Rasierklingen. Damen in elegant geschnittenen Anzügen mit abrasierten Haaren, die mit je einem ihrer Bewunderer am Arm posierten und sich gegenseitig wie Raubkatzen anfauchten. Vasily beneidete er nicht, Rasierklingen besaßen meist ein genauso messerscharfes Temperament, wie ihr Name andeutete.

»Du musst dich bald untersuchen lassen, wenn du nicht das Maul hältst und zuhörst«, drohte Culpepper. »Die Beulen verpasse ich dir persönlich.«

Ein Musterbeispiel. »Ach, Ada. Ich liebe es, wenn du grausam wirst.«

Sie verschränkte die Arme. »Weniger Zuckerbrot, mehr Peitsche? Ist das etwa das Geheimnis, das mir all die Jahre entgangen ist?«

»Schon seit den Anfängen ist eine sanfte Hand nichts mehr für mich. Meine Premiere war ein Einpeitscher bei der Carmody-Jagd.«

»Erspare mir die Details«, knurrte Culpepper und ließ sich gegen die hohe Lehne ihres Sessels sinken. Der Lederbezug der Polsterung knarzte. »Du sagst also, wenn ich dich ein bisschen herumschubse, würde deine Brut sich endlich zusammenreißen und Makricostas Netzwerk auffliegen lassen?«

»Sei nicht albern. Bei derart hohen Grenzzöllen sind Leute wie er das Einzige, was uns vor einem Bürgerkrieg schützt.« Außerdem hatten Aristides Schmugglermannschaften zusätzliche Arbeit angenommen und schafften Flüchtlinge in die Stadt. Ospie-Unterstützer, Schwarzstiefel genannt, zogen in Farbourgh und Tatié durch die Straßen und machten Einwanderern, Schriftstellern, Radikalen, Windverehrern und Anhänger des Kultes der wandernden Königin … das Leben schwer. Auch in Amberlough hatten die Schwarzstiefel eigene kleine Straßen in Beschlag genommen, doch das ACPD – das Amberlough City Police Department – mochte sie nicht, und das wussten sie.

»Ich möchte gern glauben«, sagte Culpepper mit an die Schläfen gepressten Fingern, »dass die Stabilität Geddas nicht nur von illegalem Handel abhängt.«

»Ada, wenn der Nordosten nichts mehr über die Schmuggler verkaufen könnte, würde er …«

»Sich auf die Seite der Ospies schlagen? Vielleicht hast du es, mit dem Gesicht zwischen Makricostas Schenkeln, nicht bemerkt, DePaul, aber wir haben diesen Punkt längst überschritten. Pinegrove und Moritz sind jeweils mit überwältigender Mehrheit gewählt worden und die Ospies stellen immer wieder den zweiten Repräsentanten.«

Ihre sexuelle Anspielung ließ er unkommentiert. »Ich wollte sagen, dass sie sich möglicherweise abspalten könnten. Oder schlimmer noch, sie könnten sich zusammentun, um das Parlament zu stürzen.«

»Abspalten? Die brauchen unseren Hafen. Bis Moritz eine wie auch immer geartete Vereinbarung mit den Tzietanern trifft, ist der Hafen in Dastya Kriegsgebiet. Den Exportweg über Land kann man vergessen. Du hast die heutigen Schlagzeilen gelesen: Züge in Richtung Westen werden von tzietanischen Terroristen angegriffen. Und Farbourgh ist nichts weiter als ein tragischer Roman in drei Bänden. Berge, Felsen und aufgedunsene Schafe. Was würden sie ohne Hilfe vom Bund tun? Nein, eine Abspaltung steht nicht an.«

»Dann bleibt also nur ein Staatsstreich.« Er wollte sie zum Lachen bringen, hatte jedoch keinen Erfolg.

»Du hast recht, weißt du?« Sie seufzte. »Wegen Makricosta würde ich dir liebend gern den Arsch aufreißen – sieh mich nicht so an. Wie viel zahlt er dir dafür, dass du seine Geschäfte nicht in deinen Berichten erwähnst? Oder geht es nur um Sex? Oder … Mutter und all ihre Söhne, sag nicht, dass du dich verliebt hast.«

Cyril schnaubte verächtlich. »Ada.«

»Er hat schon dickere Stangen gebogen, das kannst du mir glauben.«

»Du solltest über solche Sachen wirklich nachdenken, bevor du sie aussprichst.«

»Eigentlich solltest du noch nicht mal Kontakt zu ihm haben … Cyril, ich meine das ernst, lach nicht. Abteilungsleiter führen Agenten, sie tun nicht so, als wären sie welche.«

»Das habe ich! D… das tue ich ja. Ada, niemand wusste, wie tief er in den Markt verstrickt ist, und das hätten wir nicht herausgefunden, wenn … Sein Name ist immer wieder in den Meldungen aufgetaucht, verstehst du? Und keiner meiner Füchse kam an ihn heran. Oder er hat sie dafür belohnt, es nicht zu tun.«

»Aber du bist ihm wirklich nahegekommen. Gute Arbeit.«

»Was war damit, dass du mir den Arsch aufreißen wolltest?«

»Oh, ich bin deswegen stocksauer, glaub’s mir. Aber damit hast du bewiesen, dass du dich im Einsatz noch immer zurechtfindest.«

Cyrils Hand zuckte. Er überspielte es, indem er nach seinem Zigarettenetui griff. Culpepper tat, als fiele ihr nichts auf, doch ihn konnte sie nicht täuschen. Sie kannten sich zu gut. Bevor Culpepper zum Schädel geworden war, zur unerbittlichen Königin des Fuchsbaus, war sie als Agentenführerin für Cyrils Einsätze zuständig gewesen. Durch gute Arbeit war sie zum Assistent Director und dann zum Director der FOCIS-Zweigstelle in Amberlough befördert worden, als er noch unter einem Decknamen im Einsatz gewesen war.

»Hör zu, Cyril.« Seufzend legte Culpepper sich die Hand über die Augen. »So, wie du in letzter Zeit gearbeitet … oder eher nicht gearbeitet hast, wissen wir beide, dass du zum Abteilungsleiter nicht geeignet bist. Dafür hast du nicht das richtige Temperament. Ich will dich wieder in den Einsatz schicken.«

Er war kurz davor, sich zu übergeben, spürte bereits, wie ihm die Galle in die Kehle stieg.

»Wie alt bist du, fünfunddreißig?« Culpepper, vielleicht zwanzig Jahre älter als er, musterte ihn von Kopf bis Fuß. »Du bist zu jung, um hinterm Schreibtisch zu sitzen. Du solltest dir da draußen deine Sporen verdienen, nicht an deinem Platz versauern. Kennst du Yeffa, aus der Personalabteilung? Wir haben sie im Einsatz gehabt, bis sie über sechzig war.«

Cyril klemmte sich eine Kippe zwischen die Lippen, zündete sie aber nicht an, denn er traute seinen verräterischen Händen nicht. Sein aktueller Titel – Meister der Jagdhunde, Zentralen-Jargon für den Abteilungsleiter, der den Polizei-Marionettenspieler mimte – war eine nach Schuldgefühlen stinkende Entschädigung, eine Gefälligkeit, die Culpepper ihm erwiesen hatte, nachdem sein letzter Einsatz schiefgegangen war.

»Außerdem«, fuhr sie in der viel zu beiläufigen Art und Weise fort, die alle ernsten Gespräche mit ihr kennzeichnete, »langweilst du dich vermutlich zu Tode.«

Langeweile. Einst hätte das der Wahrheit entsprochen. Langeweile war Cyrils größte Schwäche. Als Kind war ihm langweilig gewesen, weswegen er in alle möglichen Schwierigkeiten geraten war. An der Universität hatte er sich gelangweilt und wäre fast hinausgeworfen worden. Allein das rechtzeitige Einschreiten eines Talentsuchers von Culpepper hatte ihn davor bewahrt, in Schmach und Schande davongejagt zu werden. Auch am Schreibtisch war ihm langweilig gewesen, ein desinteressierter Abteilungsleiter, der die Schachzüge der inländischen Spionage dirigierte. Schmuggler und Steuerhinterzieher, Geldwäsche und Korruption. Für jeden Amberliner ein alter Hut. Gelangweilt, aber ängstlich, von feigem Selbsthass und dem Schmerz des Heilungsprozesses zerfressen. Gelangweilt, bis Ari die Sache hatte interessant werden lassen.

»Cyril.«

Hastig wandte er seine Aufmerksamkeit wieder Culpepper zu, die die ganze Zeit weitergeredet hatte. »Entschuldigung. Wie bitte?«

»Bascombe ist verschwunden.«

»Ira? Wie das?«

Sie schaute ihm in die Augen. »Früher war Tatié dein Aufgabenbereich. Was glaubst du?«

»Tot?«

Culpepper schüttelte den Kopf, halb reuevoll, halb verneinend. »Einfach … verschwunden. Der Fuchsbau in Tatié wird allmählich schlau. Die wissen, dass wir nicht viel von dem Manöver Dastya an Tatié halten. Überleg mal, wie viele Steuereinnahmen Amberlough verlieren würde, wenn Tatié nicht davon abhängig wäre, über den Heyn zu verschiffen.«

»Mit der Rechten die Hand schütteln, mit der Linken schießen?«

»Und dabei einen guten Schalldämpfer verwenden, ganz genau. Sie haben aus … dem letzten Mal gelernt. Keine Spur. Keine chaotischen politischen Aktionen. Aber sie wissen, dass wir es wissen. Und dass wir den Druck spüren.«

Bei den Titten seiner Mutter, er würde nach Liso überlaufen, wenn sie versuchte, ihn zurückzuschicken. Wenn er für Bascombe übernahm, würde er ein Netzwerk leiten und nicht selbst die Arbeit machen. Kaum weniger gefährlich. Innerhalb von Gedda die anderen Staaten auszuspionieren wurde nur inoffiziell gedeckt. Wurde man gefasst, war man auf sich allein gestellt.

Cyril schien es, als wäre seine Kehle schon voller Staub aus dem Niemandsland: diese verdammten, verbrannten Steppen zwischen den Obstplantagen und dem Meer. Für einen Augenblick befand er sich wieder unter den verlotterten khakifarbenen Uniformen der Streitkräfte von Tatié, in den stickigen Kammern der Offiziere, die an ihren Zigarillos pafften. Trockene Erde und endloser Himmel, der Gestank nach Blut und Kordit …

»Aber du sollst nicht in den Osten«, sagte Culpepper und verdrängte damit seine Erinnerungen. Dem kaum verhohlenen Mitleid in ihrem Gesicht zufolge wusste sie, woran er gedacht hatte. »Wir befördern einen unserer hellikanischen Agenten …«

»Der arme Fuchs.«

»Sei ehrlich, Cyril. Du würdest lieber nach Tatié als auf die hellikanischen Inseln gehen. Selbst jetzt noch.«

Das würde er nicht. Er hatte dazugelernt: lieber gelangweilt als tot.

»Aber egal. Er hatte für uns einen Einsatz geplant, aber die ganze Sache lässt sich problemlos an einen neuen Agenten übergeben.«

»Also übergibst du sie an mich.«

Ein leichtes Nicken. »Der Deckname lautet Sebastian Landseer. Ein Wollhändler. Hat was von einem Lebemann, ist nie zu Hause. Skifahren in Ibet, Überwintern im porachinischen Golf. Polo, Segeln. Du verstehst schon.«

»Allmählich erkenne ich deine Logik.«

»Warum ich dich ausgewählt habe? Ja. Diese privilegierte Art zu leben kann man jemandem schlecht beibringen. Ich weiß, was deine Eltern dir in ihrem Testament vermacht haben. Sehr großzügig, wenn man bedenkt, dass Lillian die eigentliche Erbin war. Bei diesem Einsatz musst du nichts vorspielen. Zumindest nicht viel.«

»Schon gut, schon gut.« Sie wollte, dass er die Frage aussprach. »Dann erzähl mal: Was genau ist los?«

»Die Wahl.«

Cyril nahm sich das Tischfeuerzeug, weil er sich endlich an seine Zigarette erinnert hatte. »Acherby wird sie nicht gewinnen.«

»Doch, wenn er sie fälscht.«

»Wird er nicht. So was macht er nicht. Ada, der hat ein Brecheisen als Rückgrat. Der verbiegt sich für nichts. Rast einfach schnurstracks und schwungvoll auf sein Ziel zu, bis er sich durchgesetzt hat.«

»In diesem Fall wird er. Drei Erste Repräsentanten und eine Mehrheit im Unterhaus? Weißt du, was er damit anstellen könnte?«

»Ich habe da so eine Ahnung.«

»Ernsthaft, DePaul. Die Ospies wollen Amberlough in die Knie zwingen – sie glauben, dass wir den Handel behindern und Gedda für unsere eigenen Staatsinteressen opfern. Pinegrove und Moritz haben sich bereits für Acherby ausgesprochen und die Geheimdienstinformationen aus beiden Hauptstädten sagen, dass sie noch weiter gehen werden. Sie wollen Josiah des Amtes entheben.«

Mit dem Feuerzeugdocht auf halbem Weg zum Mund erstarrte Cyril. Die Flamme flackerte in seinem stockenden Atem. »Ada. Seit vierzig Jahren ist kein Staatsrepräsentant mehr des Amtes enthoben worden.«

»Den Geschichtsunterricht kannst du dir sparen. Ich bin nicht mehr in der Schule.«

»Tut mir leid.« Er zündete sich die Zigarette an und atmete eine schmale, kunstvolle weiße Säule aus. Josiah Hebrides war seit sechs Jahren Amberloughs Erster Repräsentant, was zwei Dritteln seiner Amtszeit entsprach, und davor war er acht Jahre lang der Bürgermeister von Amberlough-Stadt gewesen. Er war so korrupt wie kaum jemand sonst, dabei aber charmant, und seine ebenfalls gewissenlosen Wähler vergötterten ihn. Falls er sich als Erster eine noch nie da gewesene zweite Amtszeit sichern wollte, müsste er nur die Hand ausstrecken und sie sich nehmen. Er besaß nicht einen Hauch von Staetlers nobler Haltung. »Heilige Steine, Ada, das wirft du mir vor die Füße, direkt nach meiner Rückkehr?«

»Du bist ein schlauer Fuchs, zumindest warst du das mal. Ich glaube an dich. Also enttäusch mich nicht.«

»Vielen Dank. Da fühl ich mich gleich viel entspannter.« Die Spannung zwischen seinen Schulterblättern kroch ihm in den Nacken, löste Kopfschmerzen aus.

»Ich will nicht, dass du dich entspannst.« Sie schnippte eine Aschesäule in ihre leere Kaffeetasse. »Kennst du Konrad Van der Joost?«

»Das ist der stellvertretende Kampagnenleiter von Acherby.«

»Reine Tarnung. Er leitet den dortigen Geheimdienst.«

Cyril stützte das Kinn auf die Hand. Die Zigarette wärmte seine Wange wie ein zarter Kuss. »Soll ich Kontakt zu ihm aufnehmen?«

»Das musst du.« Sie klappte ihre Uhr auf und erblasste. »Heiliger Bimbam, schon so spät? Tut mir leid, aber ich muss los.«

»Wir sind noch nicht fertig.« Cyril protestierte allerdings nur halbherzig. Je länger er seine vollständige Besprechung hinauszögerte, desto länger konnte er sich etwas vormachen.

»Komm morgen früh wieder her. So gegen halb neun? Ich bestelle Hebrides ein, dann können wir alles zu dritt besprechen. Bis dahin … Hier ist die Landseer-Akte.« Aus ihrer Schreibtischschublade holte sie einen dicken Ordner und klatschte ihn laut auf die rote Lederunterlage. Culpepper schob sie zu Cyril hinüber. »Schau sie dir in Ruhe an, wenn du nach Hause kommst. Wenn du mich jetzt entschuldigen würdest, Cross ist aus Liso zurück und ich will an ihrer Nachbesprechung teilnehmen.«

»Ein paar Neuigkeiten aus dem alten Land erhaschen?« Das war ein Witz, und zwar ein ziemlich schlechter. Culpepper hatte das Heimatland ihrer Vorfahren nie besucht. Ihre Eltern waren politische Dissidenten, die, lange bevor der Gewürzkrieg den Norden aus dem Würgegriff des Königs befreit hatte, aus Liso geflohen waren. Ihr Nachname war stets Culpepper gewesen, nie Kuleppah – sie hatten ihn geändert, um Vergeltungsmaßnahmen zu entgehen, selbst so weit von der Heimat entfernt. Cyril hatte ihre Akte gesehen.

»Ich lasse dich ausmustern. Hau ab und mach dich an die Arbeit.«

Er hätte zurück in seine Wohnung fahren und sich der Landseer-Akte widmen sollen, doch allein der Gedanke daran bereitete ihm Übelkeit. Darum kehrte Cyril in eine Kellerweinbar in Harbor Terrace ein und trank sich mit überteuertem Sherry einen angenehmen Schwips an, bis ihn die Flut der Abendessensgäste die enge Treppe hinauf in die nasse Dämmerung trieb.

Cyril sollte nun wirklich nach Hause gehen und nach der Post schauen. Vielleicht könnte er sich sogar selbst austricksen und die Landseer-Briefe lesen, wenn er sie unter den Stapel packte. Schwungvoll stieg er in den nächsten Straßenbahnwagen der Hafenlinie, hing dabei am Geländer, bis er bei Armament in die Nordlinie umsteigen konnte.

Als sie sich dem Loendler Park näherten, wurden die Fahrgäste um ihn herum unruhig. Sie sahen sich um, murmelten untereinander. Als die Frau vor Cyril ihr Fenster öffnete, hörte er die Rufe. Pfiffe. Hunderte von Stimmen, laut, durcheinander. Der Straßenbahnwagen folgte einer leichten Kurve in der Straße und kam plötzlich stotternd zum Stehen.

In Amberlough hielt die Straßenbahn nie mitten auf der Strecke an. Cyril war nicht der Einzige, der aufstand und den Gang entlangspähte.

Allerdings konnte er nicht besonders viel erkennen, seine Mitreisenden waren im Weg, darum setzte er sich wieder und kurbelte sein Fenster herunter. Nun waren die Stimmen viel deutlicher zu hören, und als er den Trilby abnahm und den Kopf nach draußen steckte, sah er Dutzende Menschen auf der Straße stehen, ein eng zusammengedrängter Pulk, der von den Straßenlaternen in kränkliches Gelb und schattiges Schwarz getaucht wurde. Weiter vorn verdichtete sich die Menschenmenge, die Armament Avenue war vom einen Gehsteig bis zum anderen mit Leuten gefüllt, sie drängten sich gegen Ladenfronten und Markteingänge, die nachts abgeschlossen waren. Darüber versammelten sich die Bewohner auf dem Balkon oder beugten sich über den Fenstersims. Glühende Zigaretten funkelten in der Dämmerung.

Der Straßenbahnfahrer stand auf und wandte sich an seine Passagiere: »Weiter komme ich nicht, tut mir leid. Entweder Sie steigen aus und laufen, oder Sie fahren zurück zum Station Way.«

»Was ist denn da los?«, wollte eine Frau weiter vorne im Wagen wissen. Sie drückte sich den Strohhut an die Brust, die Glaskirschen leuchteten vor ihrer weißen Bluse.

Der Fahrer zuckte mit den Achseln. »Wahrscheinlich bauen im Park wieder ein paar Künstler irgendwelchen Mist.«

Letzten Monat hatte eine Studentengruppe im Musikpavillon ein eher geschmackloses Performance-Stück aufgeführt, doch da war die Menschenmenge bei Weitem nicht so groß gewesen.

»Wie sieht’s aus?«, fragte der Fahrer. »Laufen oder fahren?«

Die meisten Passagiere blieben sitzen, waren mit dem Umstieg am Station Way zufrieden, doch Cyrils Wohnung befand sich nur wenige Straßen entfernt. Er setzte den Hut wieder auf, nahm sich Mantel und Aktentasche und schob sich zu den hinteren Türen durch.

Nach der Enge und feuchten Wärme der Straßenbahn war der erste Atemzug draußen eine echte Erfrischung. Dann zitterte Cyril und blieb stehen, um sich Mantel und Handschuhe anzuziehen. Sorgfältig zupfte er das Leder über seinen Fingern zurecht. Als er fertig war, verschwand der Wagen bereits um die Kurve.

Er mischte sich unter die laut schwatzende Menschenmenge und tippte einer jungen Rasierklinge auf die Schulter. Sie drehte sich um, spuckte eine Ladung Kautabak aus und musterte ihn abschätzig. »Was?«

»Worum geht’s hier?« Cyril deutete vage auf die versammelten Menschen.

Sie zuckte mit den Achseln. »Hab’ gehört, dass es im Park einen Marsch gibt. Irgendwas Politisches.«

»Für welchen Zweck?«

»Woher soll ich das wissen?«, keifte sie. »Ich will nur zu meiner alten Tante in die Wohnung, verstehste? Und jetzt steck ich in dem Chaos hier fest.«

Cyril tippte sich an den Hut und entschuldigte sich bei ihr, dann schob er sich um Verzeihung bittend zwischen den Leuten hindurch und wich bösen Blicken aus, während er sich die Häuserzeile entlang zur Blossom Street durchkämpfte.

»Da vorne kommen Sie nicht durch!«, rief ihm jemand hinterher. Das ignorierte er und drängte sich weiter voran, bis er am Rand des Parks direkt vor einem stattlichen Polizisten zum Stehen kam – einem in einer langen, durchgehenden Reihe, die sich quer über die Straße zog.

»Tut mir leid, Sir«, sagte der Polizist durch einen beeindruckenden Busch struppiger Gesichtsbehaarung. »Kann niemanden durchlassen.«

»Warum nicht?«

»Unfall.« Er musste die Stimme heben, da die skandierten Rufe aus dem Park plötzlich anschwollen.

»Ein Unfall? Mir hat man gesagt, dass da eine Demonstration stattfindet.«

Der Polizist verkrampfte sich. »So könnte man es auch nennen.«

»Hören Sie«, meinte Cyril, »ich wohne gleich da vorn in der Straße. Mein Haus können Sie von hier aus sehen.« Er deutete über die Schulterklappe des Beamten hinweg.

»Tut mir leid, aber ich habe meine Befehle, Sir.«

Obwohl er der Meister der Jagdhunde war, konnte Cyril seine Position einem Polizeibeamten gegenüber nicht ausnutzen. Als Bundesbeamter gehörte er rein rechtlich nicht zu ihnen. Er wechselte die Aktentasche von einer Hand in die andere und griff nach seiner Brieftasche. »Und wie viel sind diese Befehle wert? Sagen wir mal fünfunddreißig?« Der Beamte lief rot an, schwieg jedoch. »Fünfzig?«

»Bitte, Sir. Es geht wirklich nicht.«

»Na gut«, sagte Cyril, der sich ärgerte, dass er ausgerechnet den einzigen ehrlichen Jagdhund in ganz Amberlough erwischt hatte, »vielleicht geht es bei Ihrer Freundin hier.« Er wandte sich an die nächste Beamtin in der Reihe. »Das ist doch lächerlich. Ich wohne da drüben. Was geht denn da gerade so Wichtiges vor sich?« Der Frau steckte er einen zusammengefalteten Geldschein zu.

Diese Beamtin, jünger und schlanker als ihr sturer Kollege, war offenbar empfänglicher für Bestechung. Sie ließ das Geld verschwinden. »OSP-Demonstration. Ist ein bisschen aus dem Ruder gelaufen. Einige Gegendemonstranten sind dazugekommen und haben einen Unionisten schlimm zusammengeschlagen. Hat eine Schlägerei gegeben und jetzt lautet der Befehl, alle draußen zu halten, die keine Parteimitglieder sind.«

»Würden Sie für fünfzig so tun, als wäre ich ein Ospie?« Cyril schenkte der Frau ein Lächeln, das charmant wirken sollte, aber vermutlich eher nach einem Zähnefletschen aussah. Der Frust ließ seine Gesichtszüge beinahe erstarren.

Die jüngere Beamtin warf ihrem Nachbarn, der schweigend tiefe Missbilligung ausstrahlte, einen Seitenblick zu.

»Es geht wirklich nicht, Sir, tut mir leid«, sagte sie kopfschüttelnd.

Cyril ließ die Schultern hängen. »In Ordnung. Viel Erfolg mit diesem Mist.« Dann wandte er sich ab und schlängelte sich wieder durch die Menschenmassen.

Auf halber Höhe der Häuserzeile stieß er frontal mit einem Mann im schweren Mantel zusammen, der sich mehr auf die Polizeiblockade weiter vorn konzentrierte als auf seine direkte Umgebung. Cyril stolperte zurück und der Mann hielt ihn fest, half ihm, das Gleichgewicht wiederzufinden.

»Bitte entschuldigen Sie«, sagte er. »Wie ungeschickt von mir. Geht es Ihnen gut?«

»Ja, ja.« Cyril strich sich vorne über den Mantel. »Ich fürchte, Sie beeilen sich ganz umsonst. Die lassen niemanden durch.«

»Niemanden?«

»Sehen Sie das da?« Cyril deutete auf ein Haus. »Da vorne wohne ich.«

»Schrecklich. Und die lassen sich auch nicht irgendwie überreden?«

»Nicht mal mit fünfzig knackigen Scheinchen.«

Der Fremde seufzte. »Na ja, ist vermutlich auch besser so. Ein ehrlicher Jagdhund ist mir allemal lieber.«

Cyril lachte. »Das meinen Sie doch nicht ernst.«

»Todernst. Wäre es Ihnen lieber, wenn die Diener der Justiz für eine Handvoll Geld sofort klein beigeben würden?«

»Dann wäre ich jetzt wenigstens zu Hause und könnte die Füße hochlegen.« Cyril betrachtete den Mann mit zusammengekniffenen Augen. »Wohin wollten Sie noch mal?«

»Natürlich zur Kundgebung.« Er öffnete den Mantel, sodass eine grauweiße Kokarde an seinem Knopfloch zum Vorschein kam. »Die Wahl steht an. Wir müssen unsere Leute in Nuesklend unterstützen. Acherby kämpft für uns alle, nicht nur für die westliche Wählerschaft. Für die ehrlichen, aufrechten Bürger, die genug davon haben, wie die Dinge laufen. Genug von all der Bestechung und Untreue und der Küstenblockade. Die Leute sollen wissen, dass wir eine laute Stimme haben, sogar in Amberlough.«

»Laut ganz sicher. Sogar ohrenbetäubend.« Cyril klappte den Mantelkragen hoch und wandte sich ab. »Entschuldigen Sie mich bitte.«

»Schon in Ordnung, hauen Sie ruhig ab.« Die Rufe des Mannes verfolgten ihn die Straße entlang. »Angst vor einer vernünftigen Diskussion, was? Angst, dass wir recht haben könnten?«

Obwohl Cyril wusste, dass es eine schlechte Idee war, drehte er sich um und erwiderte rufend: »Wenn Sie mir Angst machen wollen, sollten Sie in den Umfragen etwas besser abschneiden.«

Der Mann errötete, schimpfte los und Cyril ließ ihn zurück, bevor ihm eine schlagfertige Antwort einfiel. Seine bittere Erkenntnis war jedoch, dass Wahlumfragen keinen Unterschied machen würden, wenn das stimmte, was Culpepper ihm erzählt hatte. Dass er den Mann in die Irre geführt hatte, verschaffte ihm wenigstens einen Hauch von Schadenfreude. Die Jagdhunde hatten gesagt, dass sie Ospies durchließen, doch dieser Kerl würde wahrscheinlich umkehren und nach Hause gehen.

Diese Möglichkeit bestand für Cyril unglücklicherweise nicht. Ohne die Aussicht auf Wechselkleidung und ein Glas Roggenwhiskey zum hervorragenden Nachtmahl seines Vermieters drohten ihn Erschöpfung und Ekel wie eine graue Welle zu überfluten. Ihm blieb nichts anderes übrig, als weiterzugehen. Seine Post musste warten. Langsam arbeitete er sich bis zum Ende der Menschenmenge vor und folgte den Straßenbahnschienen Richtung Buttermarket.

Der Himmel war von einer niedrigen Wolkendecke überzogen und drohte mit weiterem Regen. Cyril setzte sich unter dem dürftigen Schutz eines jungen Birnbaums auf eine Bank, die Aktentasche auf den Knien, und wartete auf den Straßenbahnwagen Richtung Süden, der ihn zur Hafenlinie bringen würde, zur Temple Street und zum Bumble Bee Cabaret.

KAPITEL

3

Von der Bühne aus konnte Aristide nicht besonders viel vom Publikum erkennen. Nicht mit dem Scheinwerferlicht in den Augen, das die Schmucksteine auf seinen künstlichen Wimpern funkeln ließ. Doch den tosenden Applaus hörte er. In seinem Bauch kribbelte es vor Freude und er verbeugte sich.

Zwischen ihm und seinen Bewunderern fiel der Vorhang aus schwerem, schwarzem Samt. Noch immer vom Scheinwerferlicht geblendet, blinzelte Aristide und wartete darauf, dass die Bühnenlichter angingen. Doch bevor er wieder richtig sehen konnte, hörte er Malcolm eine der Ensemble-Tänzerinnen anfauchen, die verzweifelt schluchzend in Tränen ausbrach. Tja, sie hatte ihre Seite der Kickline aus dem Takt gebracht. Was erwartete sie denn?

Mit einem tiefen Atemzug ließ Aristide den warmen Mikrofonständer los.

»Da wünsche ich mir fast, wir würden keine neue Show starten.« Malcolm stand plötzlich neben ihm, das Gewicht auf einem Bein, die Arme verschränkt. Unter dem schwarzen Frack zeichneten sich seine Oberarmmuskeln ab, die er durch das Schleppen von Seilen und Kulissenteilen bei Streiks und Proben kräftigte. Er stank nach Aftershave und Whiskey.

»Meinst du nicht, die G… G… Gäste würden sich langweilen, wenn wir das ganze Jahr dieselbe Show zeigen?« Aristide senkte den Kopf und nahm die hohe gepuderte Perücke ab, die er in der zweiten Hälfte des ersten Aktes trug. In seiner Rolle als Showmaster mimte er einen eitlen Geck mit trockenem, spitzem Humor und einem beinahe karnevalesken Hang zu Glamour. Eigentlich spielte er sich selbst mit vergoldeten Absatzschuhen und Schminke im Gesicht.

»Das glaube ich eher nicht«, sagte Malcolm. »Aber die Herrin weiß, dass es uns so gehen würde.«

Aristide schnippte Malcolm ein unsichtbares Staubkorn vom Revers. »Wenn du meinst«, erwiderte er und schwebte auf den Wellen des abebbenden Beifalls in seine Garderobe.

Im Bee arbeitete ein Kartenjunge, der während des ersten Akts herumging und für alle Bühnenstars in beschrifteten Fächern Visitenkarten einsammelte. In der Pause drehten die Ensemblemitglieder unter den Bewunderern ihre Runden. Auf diese Art verschafften sie sich Trinkgelder, kostenlose Drinks und Wohlwollen. Jeden Abend schärfte Malcolm ihnen ein, dass sie wie rosa Jungs flirten sollten, obwohl er jedes Mal auf nahezu alberne Art und Weise eifersüchtig wurde und besorgniserregend errötete, wenn er Cordelia auf dem Schoß eines anderen erwischte.

Bevor Aristide sich an diesem Abend dem beeindruckenden Kartenstapel auf seinem Schminktisch widmete, musste er noch an der Frau vorbei, die ihn auf seiner Chaiselongue erwartete.

»Merrilee, schon wieder aus Liso zurück?«

»Es sind zwei Jahre vergangen.« Ihr herzförmiges Gesicht war tief gebräunt und die Äquatorsonne hatte ihr graumeliertes Haar an den Spitzen ausgebleicht. »Oder sind dir die ganzen hübschen Profite entgangen, die regelmäßig reingekommen sind?«

Merrilee Cross vertrat Aristides Interessen in Süd-Liso, wo Gedda seit der Katastrophe des Gewürzkrieges sehr wenig Einfluss hatte. Vor etwas mehr als zwanzig Jahren hatte Gedda im Rahmen unbedachter Bemühungen um mehr Einfluss ein Heer in die ressourcenreiche, von einer repressiven Monarchie gelähmte Nation Liso geschickt, um eine aufkeimende Revolution niederzuschlagen. Wie Treibsand oder ein Becken voll Teer war die Situation immer heikler und tödlicher geworden, je länger Gedda sich daran beteiligt hatte.

Die Bundesregierung versenkte massenhaft Geld und Soldaten in dieses Fiasko. Das Geld stammte zum Großteil aus den Steuereinnahmen der Bundeskasse, denn für diese Unternehmung schossen alle vier Staaten Finanzmittel hinzu, was den Südwesten etwas schmerzte, den Nordosten jedoch regelrecht ruinierte, und die meisten Soldaten waren Tatiener. Im Gegensatz zu den Leuten aus den restlichen Nationen waren sie entsprechend ausgebildet. Schließlich aber war es die amberlinische Strategin General Margaretta DePaul, die Gedda einen recht … hohlen Sieg erkämpfte. Die Frau war ganz sicher irgendwie mit Cyril verwandt und eine überaus umstrittene Persönlichkeit des öffentlichen Lebens, um es milde auszudrücken.

Nach der Beilegung der militärischen Krise war Farbourgh bankrott und Tatié stinksauer gewesen, was die aktuellen Probleme des Landes mit den Ospies noch verschärft hatte. Die Armee war aus Liso abgezogen und hatte ein geteiltes Land hinterlassen. Nord-Liso handelte und verhandelte noch mit Gedda, im abgeschotteten Süden jedoch wuchs der Mohn.

Glücklicherweise erwies sich der Schmuggel für Geheimagenten als lukratives Nebengeschäft, solange Ada Culpepper keinen Wind davon bekam.

»Ist das ein rein privater Besuch?«, fragte Aristide. Er setzte die Perücke auf den Ständer und zog sich die Strumpfhaube von den festgesteckten Locken. »Leider muss ich dir mitteilen, dass ich für heute Abend b… b… bereits gebucht bin.«

Cross griff nach dem Kartenstapel. »Beeindruckend. Taorminos kleiner Beitrag würde einige ihrer größeren Abteilungen für eine ganze Weile gut versorgen. Anscheinend habt ihr wichtige Dinge zu besprechen.«

»Merrilee, das trifft mich. Du weißt, dass ich k… k… keinesfalls korrupt bin.« Er nahm ihr die Karte von Police Commissioner Taormino aus der Hand. Sie war an einem dicken Bündel gefalteter Banknoten befestigt.

»Was ist das hier?« Cross nahm die zweite Karte vom Stapel, diese bestand aus schwerem, satiniertem Papier in Cremefarben. Als sie sie umdrehte, erhaschte Aristide einen Blick auf den tief eingeprägten blauschwarzen Kupferdruck. Diese Karte kannte er.

Cross zischte abfällig. »Apropos korrupt. Was macht Culpeppers Goldjunge? Und warum liegt seine Karte in deiner Garderobe?«

Dass Aristides Grinsen lüstern wirkte, war ihm scheißegal. »Mr. DePaul ist seit eurer letzten Begegnung etwas … angelaufen, k… k… könnte man sagen.«

»Falsches Edelmetall«, widersprach sie. »Gold läuft nich’ an.«

»Ich bin ein f… f… furchtbar schlechter Einfluss.«

Sie lachte wie ein Hund, hechelte mit weit geöffnetem Mund, mehr Atemgeräusch als Klang. Mit erhobener Hand sagte sie: »Dass das stimmt, würde ich unter Eid vor jedem Gericht bezeugen. Sag mal, ist er ein harter Kerl? Ich dachte immer, dass er in Ordnung ist, aber beachtet hat er mich nie.«

Er nahm ihr Cyrils Karte ab. »Gibt es einen Grund für diesen Besuch, Miss Cross?«

Aus ihrer Jackentasche holte sie einen Samtbeutel, wie ihn Juweliere zur Aufbewahrung von Diamanten verwendeten. Aristide nahm ihn entgegen und kippte den Inhalt in seine Hand aus. Drei Würfel Mohnteer fielen heraus. Aristide fuhr mit dem Daumen darüber, was einen dunklen und klebrigen Pechstreifen hinterließ.

»Ungestreckt, das stärkste Zeug, das du je geraucht hast. Mein Kontakt kann es kiloweise besorgen.«

»Und ich, meine Süße, kaufe es.« Er gab ihr einen Kuss auf die Wange.

»Muss los«, sagte Cross und erhob sich von der Chaiselongue. »Viel Spaß mit Cy, aber verdirb ihn nicht zu sehr. Ich will nicht, dass er sich meinem Markt widmet.«

»Keine Sorge. Er ist nur auf den eigenen K… K… Komfort bedacht.« Aristide wand sich aus dem durchgeschwitzten Kostüm und zog den Brokatmorgenmantel an, der über der Chaiselongue hing. »Du warst lange weg. Ich glaube, irgendein Unsinn aus dem Fuchsbau hat seine h… h… hübsche Fassade b… b… bröckeln lassen.«

»Tja, du kennst ja das Sprichwort.«

»›Auch mit einem verbeulten Kessel kann man Suppe kochen‹?«

»Ich dachte eher an: ›Auch mit einer einbeinigen Hure kann man noch vögeln‹.«

»Wie… ausdrucksstark. Aber jetzt, wenn es dir nichts ausmacht …« Er deutete auf die Tür.

Wieder lachte sie wie ein Hund, dann ließ sie ihn allein.

Aristide schlüpfte zwischen den Gästen hindurch und entkam nur knapp den ausschweifenden Gesten ausdrucksstarker Hände, die Zigarettenspitzen schwenkten. Ein rosa Junge wollte ihm mit juwelenbesetzten Fingern in den Hintern zwicken, bekam dafür aber lediglich einen harschen Blick. Für solche Fälle gab es Türsteher.

Zu Beginn ihrer Bekanntschaft, als Cyril einfach neugierig gewesen war, hatte er fast jeden Abend im Bee verbracht. Doch als ihm klar geworden war, dass Aristide nicht nur seine Finger im Spiel hatte, sondern die ganze Partie beherrschte, hatte er seine Besuche eingestellt. Schließlich konnte Cyril es sich nicht leisten, mit einem Schwarzmarktkönig gesehen zu werden, darum kam er inzwischen nur noch selten ins Bee und traf sich lieber an vertraulicheren Orten mit seinem Liebhaber.